Jul 262014
 

Notizen aus Bethlehem II, 6. April 2010

Ich bin daran gewöhnt, den Samstag in der Karwoche als einen stillen Tag zu begehen, womöglich als den stillsten im Jahr. Hier in Palästina jedoch habe ich den lautesten Karsamstag meines Lebens erlebt, überschäumend fröhlichen, voller lebhafter Eindrücke.

Zur Erklärung muss ich von dem uralten orthodoxen Ritus des heiligen Feuers erzählen. Alljährlich am Ostersamstags zur Tagesmitte scheint in Jerusalem, in der Grabeskirche, in der Dunkelheit der Grabeshöhle Jesu, ein wunderbares Licht auf. Der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem allein darf die Grabeskammer betreten, um das Licht in Gestalt einer Flamme zu empfangen. Mit zwei brennenden Kerzen tritt der Patriarch unter dem Jubelruf der die Kirche füllenden Menschenmenge aus der Grabkapelle hervor, entzündet die Kerzen des armenischen und des koptischenErzbischofs von Jerusalem, und dann wird das Licht von Kerze zu Kerze, von Öllampe zu Öllampe weitergereicht und vervielfacht, in der Kirche und hinaus auf die Gassen der Altstadt zu den Scharen der palästinensischen Christen und der Pilger aus aller Welt. Die Zeremonie wird zu einem bewegten Volksfest. Jede Familie möchte ein Licht an der Flamme der Auferstehung entzünden und das eigene Haus damit schmücken und segnen.

Aufgeklärte Zeitgenossen mögen mancherlei über den wundersamen Brauch denken. Unbestritten ist, dass er ein ehrwürdiges Alter hat. Seit dem 4. Jahrhundert ist er bezeugt und ausführliche Beschreibungen aus dem Beginn des 12. Jahrhunderts belegen, dass die Zeremonie durch die Jahrhunderte hindurch unverändert geblieben ist. Es ist das älteste und bestbezeugte christliche Mirakel.

Mein lärmerfüllter Karsamstag trug sich nicht in Jerusalem zu. Das Fest ist nicht auf die heilige Stadt beschränkt. Aus ganz Palästina und darüber hinaus kommen Vertreter der Gemeinden, um Licht von diesem Licht zu nehmen und in ihre Heimatkirchen zu bringen. Unser EAPPI-Team ist in Beit Sahour, Schwesterstadt von Bethlehem zu Gast. Wir kommen zur Mittagszeit an. Der Hof der lutherischen Kirche und Schule ist angefüllt mit Jungen und Mädchen, die heute Musiker in einem stolzen Pfadfinder-Spielzug der Schule sind, sehr ansehnlich blau und schwarz uniformiert. Trommeln wirbeln, Trompeten, Posaunen, Saxophon und Flöten erklingen in munterem Durcheinander. Schräg gegenüber liegt die orthodoxe Kirche. Und sie hat ebenfalls ihre eigenen Pfadfinder und einen Spielmannszug dazu, diesmal in rotweißen, ebenso phantasievoll-prächtigen Uniformen. Und auch dort wird zur bereits getrommelt, geblasen und geklingelt. Schließlich rückt ein dritter Zug an, in dem zwanzig Dudelsackpfeifer, begleitet von einer Trtommlerschar, den Ton angeben. Nebenher erklingt Musik aus einer kräftigen Lautsprecheranlage und im Abstand von wenigen Minuten läuten unermüdlich und eindringlich die Kirchenglocken vom Turm. 

Endlich formieren sich die Pfadfinder- und Musikantenreihen in einer offenbar vom Protokoll vorgegebnenen und von zahlreichen Dirigenten mit fröhlichem Nachdruck exekutierten Ordnung. Es ist recht eigentlich ein griechisch-orthodoxes Begängnis, und diese Kirche ist Ausgangs-und Endpunkt der Zeremonie. Doch alle Pfadfinder der Stadt beiderlei Geschlechtes und dreier Generationen sind auf den Beinen, dazu anscheinend die ganze Bevölkerung der Stadt, unabhängig von Religion, Konfession und Parteizugehörigkeit. Die Pauker und Trommler, Bläser und Pfeifer geben ihr allerbestes her, während der Zug die engen, widerhallenden Gassen durchschreitet. Am Rathaus stoppt der bunte Menschenstrom. Ein langes, lärmendes Warten beginnt. Inmitten der Menge weihrauchumweht und in vollem Ornat die orthodoxen Priester der Stadt. Der Ministerpräsident der palästinensischen Autonomiebehörde ist gekommen und gesellt sich zur Geistlichkeit. 

Schließlich steigt der Lärmpegel noch einmal an und Bewegung entsteht. Ein Taxi ist vom Bethlehem-Check-point her eingetroffen. Unter Jubel wird das Licht in einem laternenartigen Behälter in priesterliche Obhut gegeben. Und nun bewegt sich der Zug auf gleichem Weg, unermüdlich begleitet von gewaltig beschwingter Marschmusik zurück zur Kirche, wo die Lampen am Altar angezündet und das Licht an die Menschen von Beit Sahour „verteilt“ wird. Das Osterfest hat begonnen und alle konnten Anteil daran nehmen. 

Die Zeremonie der „Heiligen Feuers“ ist in Europa wenig bekannt. Ich selbst habe davon zuerst durch das ÖRK-Programm gehört. Welche Bedeutung der Licht-Ritus für die Menschen in Palästina hat, habe ich erst hier verstanden. Wir in Deutschland -die vereinfachende Verallgemeinerung sei mir verziehen -wissen sehr wenig von den Christen in Palästina, von ihrer bis in die ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt zurückreichenden Tradition, ihrem Ringen um das Recht im Land ihrer Vorfahren zu bleiben, ihrem Widerstand gegen die Besatzung, Seite an Seite mit ihren muslimischen Nachbarn. Solidarische Gefühle mit den Menschen in Israel sind unter uns verbreitet. Solidarität mit den christlichen Schwestern und Brüdern eher rar. Dabei ist ihr Beitrag zur zunehmenden Akzeptanz gewaltfreier Widerstandsform erheblich. Das Kairos-Dokument, das von palästinensischen Christen im Dezember 2009 der Weltöffentlichkeit übergeben wurde, ist eine deutlicher Beleg dafür. Und es kann für sich in Anspruch nehmen, nicht nur für die Christen, sondern für die Palästinenser insgesamt zu sprechen.