Jul 262014
 

Notizen aus Bethlehem III

Kommt und seht! das ist eine Aufforderung, die wir oft hören. Hinsehen und hinhören ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, Eindrücke aufnehmen und, so gut es geht, weiter vermitteln.

Gestern Mittag klingelt das Telefon: „Kommt und seht! In Al Kahdar ist ein Hausabriss im Gange.“ Al Khadar ist ein Dorf am Rande von Bethlehem. Eine halbe Stunde später sind wir vor Ort. Eine Handvoll Menschen ist versammelt. Sie versuchen von den Soldaten der israelischen Armee, die das Gelände abriegeln, die Erlaubnis zu erwirken, passieren zu dürfen. Doch die verhalten sich strikt abweisend, auch uns gegenüber. Im Hintergrund ist das Geräusch einer schweren Baumaschine zu hören, die, für uns nicht einsehbar, ihre Arbeit verrichtet.

Schließlich eilt ein Rechtsanwalt herbei. Auf ihn muss sich der Offizier der schwerbewaffneten Militäreinheit einlassen. Er weist ein Dokument vor. Der Offizier führt per Funk ein Gespräch. „Yes, the job is done“ hören Umstehende ihn ins Mikrofon sprechen. Das Dokument enthält die Entscheidung des israelischen Obersten Gerichtshofes vom Vortag, die den Befehl zum Hausabriss für ungültig erklärt. Aber der Job ist bereits erledigt. Die Soldaten ziehen sich zurück. Der Weg ist für uns frei.

Wir kommen an der Trümmerstätte an. Frauen wehklagen händeringend. Männer starren mit ausdruckslosen Gesichtern in den Berg von Schutt und Schrott. Kinder irren weinend umher. Ein kleiner Junge, den Schulrucksack noch auf dem Rücken, schluchzt immer wieder: „Wo ist meine Haus? Wo ist mein Haus?“

Neun Menschen war das bescheidene, wellblechgedeckte Gebäude ein Zuhause. Die 7 Kinder von Ali Salim Musa und seiner Frau waren im Alter zwischen einem und acht Jahren. Aus drei kleinen Räumen, Küche und Bad bestand die Wohnung. Einige verstreute Möbel und Küchengeräte zeugen von äußerst ärmlichen Verhältnissen.

Einige Meter weiter ist ein bereits abgestandener Schutthaufen aufgetürmt. Es sind die Reste eines früheren Hauses. Es ist das zweite Mal, dass die Familie auf diese Weise ihr Haus verliert.

Die Obdachlosen werden vorerst in zwei benachbarten Hütten Unterkunft suchen müssen. Sie gehören zwei Söhnen des Vaters aus erster Ehe. Achmad lebt mit Frau und 5 Kindern in einem Raum von ca. 12 Quadratmetern und einer kleinen Küche. Mahmoud hat drei Kinder, und sein Haus ist etwa ebenso groß.

„Wir kommen wieder!“ sagte er, bevor er abzog, einer der Soldaten zu dem fassungslosen Achmad mit Blick auf die verbliebenen zwei Häuser. 

Auf meine Frage, die ich einem uns bekannten palästinensischen Menschenrechtler stelle, was wohl der Grund für den Abriss sei, reagiert dieser mit fast zornigem Unverständnis. „Sie brauchen keinen Grund. Egal ob Zone A oder B oder C des palästinensischen Autonomiegebietes, sie machen, was sie wollen.“

Der Ort am Rande des Dorfes liegt auf einer Anhöhe, von der aus man die Fernverkehrsstraße Nr 60 überblickt, die nicht nur Jerusalem und Hebron miteinander verbindet, sondern auch die Zufahrt zu etlichen israelischen Siedlungen in dem besetzten Gebiet darstellt. Sollte das der Grund sein? Aber die Straße ist ohnehin durch Zäune und Gitter vor Steinwürfen geschützt? 

Noch ist keine Stunde vergangen. Ein Frontlader von einer nahegelegenen Baustelle kommt und beginnt, den Schutt beiseite zu räumen. Ein Trennschleifer ist zur Hand. Stahlschienen werden durchtrennt und beiseite gelegt. Einrichtungsreste aus dem Schutt gezerrt. Das Aufräumen und zugleich der Wiederaufbau hat begonnen. Selbstverständlich ohne Genehmigung, denn deren Beantragung würde Jahre dauern, und es wäre unwahrscheinlich, dass sie erteilt werden würde. Die Drohung, „Wir kommen wieder“, ist nicht aus der Luft gegriffen.

Als wir uns von Achmud verabschieden, dankt er uns mit warmen Worten, dass wir gekommen sind, um zu sehen und zu hören. Und er lacht dabei sogar ein wenig. Es wird hier viel gelacht, trotz alledem.