Jul 262014
 

Notizen aus Bethelehem VI, 15. Mai 2010 (Nakba-Tag)

Ich habe eine lange Schreibpause eingelegt, u.a. weil wir eine Woche lang in Israel unterwegs gewesen sind. Davon wird noch zu berichten sein. Zunächst aber ist einiges nachzuholen. So habe ich bisher noch nichts über den Bethlehem-Checkpoint geschrieben, dessen Beobachtung in unserer Arbeit einen wichtigen Platz einnimmt. Wer frühere Berichte über das EAPPI-Programm in Bethlehem gelesen hat, wird sich an eindringliche Schilderungen dazu erinnern.

Es ist gar nicht ganz leicht zu erklären, welche Funktion der Kontrollpunkt hat. Auf beiden Seiten liegt palästinensisches Gebiet – Bethlehem, von der palästinensischen Autonomiebehörde regiert, auf der einen und Ostjerusalem auf der anderen Seite, seit 1967 von Israel annektiert. Es ist noch ein wenig komplizierter: Israel hat das Stadtgebietes von Jerusalem bis hinein in das Stadtgebietvon Bethlehem ausgeweitet. Über 40 palästinensische Dörfer und die dazugehörigen Gemarkungen wurden per Verwaltungsakt nach „Groß-Jerusalem“ eingemeindet. Der Bethlehem-Checkpoint verbindet also palästinensisches Autonomiegebiet mit palästinensischem Gebiet unter israelischer Annexion, die bis heute völkerrechtlich von keinem Staat der Welt anerkannt wurde.

Wenn ich Besuchergruppen den Checkpoint erkläre, merke ich immer wieder, dass ich von „Grenzübergang“ reden will. Denn so sieht die Anlage aus. Es gibt eingezäunte Gänge, Drehkreuze, Metalldetektoren, Röntgeneinrichtungen für Gepäck und mitgeführte metallische Gegenstände und schließlich Schalter für die Ausweiskontrolle. Über der Normalität dieser in aller Welt vorfindlichen Kontrollstruktur vergisst man leicht die Anormalität: Es handelt sich nicht um die Sicherung einer Staatsgrenze, sondern um eine militärische Einrichtung auf besetztem Territorium. Der Checkpoint ist Teil der Mauer, deren Verlauf nicht der völkerrechtlich anerkannten Grenze von vor 1967 entspricht. Das allein ist der Grund dafür, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Mauer für illegal erklärt hat. Niemand könnte Israel das Recht bestreiten, seine Staatsgrenze mit welchen Sicherungsanlagen und Grenzkontrollen auch immer zu schützen. Aber auf okkupiertem Gebiet verbietet das Völkerrecht die Errichtung derartiger militärischer Einrichtungen. Insofern handelt es sich im Sinne des Völkerrechtes um einen illegalen Checkpoint und die Erschwernisse, die für die Bevölkerung dadurch entstehen, stellen Verletzungen des Internationalen Humanitären Rechts dar. 

Das ist der Grund dafür, dass wir die Arbeit der Soldaten am Checkpoint beobachten, Zwischenfälle dokumentieren und die Durchlässigkeit statistisch erfassen. Daneben wollen wir mit unserer Präsenz während der kritischen Morgenstunden, zwischen 4:30 Uhr und 8:00 Uhr, schlicht bezeugen, dass wir sehen und hören was geschieht, und den Betroffenen Beistand leisten. Denn für über 2000 Menschen ist die morgendliche Prozedur eine tägliche Tortur. Jerusalem ist natürlich für viele Bewohner des benachbarten Bethlehem und der umliegenden Dörfer der Arbeitsort. Darüber hinaus zieht die florierende Wirtschaft Israels Arbeitsuchende aus den besetzten Gebieten an, die hier kaum die Chance haben, einen Job zu finden. Wenn man eine Familie zu ernähren hat, treten ideologische Bedenken zurück. Selbst in den „Settlements“, die rechtswidrig auf palästinensischem Land gebaut werden, arbeiten Palästinenser. Ohne deren billige Arbeitskraft wäre der Bauboom der Settlements, die wie Pilze aus dem Boden schießen, gar nicht denkbar. 

Jedes Mal, wenn ich im Morgengrauen an der Reihe der eingezwängt Wartenden vorbeigehe, bin ich erschüttert – nicht so sehr über die metallenen, käfigartigen Zäune und das an Gefängnisserinnernde Überwachungssystem, auch nicht über die gleichgültigen Gesichter der sich mitunter „halbstark“ gebärdenden Soldaten und Soldatinnen. All das ist unschön. Aber ich kenne keine Checkpoints, weder an Grenzen, noch auf Flughäfen, noch in schutzbedürftigen zivilen Gebäuden, in denen ich mich wohlfühlen würde. Und bunte Plakate der Tourismusindustrie an den Betonwänden oder spärliche Blumenrabatten mögen wohlgemeint sein, sie wirken jedoch deplatziert, wenn nicht gar zynisch. Nein, erschüttert bin ich regelmäßig, wenn ich in die Gesichter sehe, und mehr noch wenn ich die Hände sehe, die die Gitterstangen umklammern – Gesichter von Schwerstarbeit gezeichnet und geschundene Hände. Ich bin nicht Profi genug, um das im Foto festzuhalten.

Vielleicht kennen einige von Euch Emile Zolas Roman „Germinal“: Kohlerevier in Nordfrankreich, zweites Kaiserreich. Immer wieder fällt mir das Bild ein, das Zola eindringlich mit Worten zeichnet: Der Zug der Bergleute im Morgengrauen zur Grube -müde sich schleppend, zwanghaft getrieben, stumpf, böse. Mir ist als begegnete ich am Checkpoint dem 19. Jahrhundert. Keine Spur von proletarischer Romantik. Es ist Kampf ums Dasein, um den Arbeitsplatz, ohnmächtiger Widerstand gegen Gewaltstrukturen, Kampf eines jeden gegen jeden.

Entscheidend ist die „working permit“, die Arbeitserlaubnis. Ohne sie bleibt der Checkpoint verschlossen. Ausgestellt wird sie von der Besatzungsarmee. Man muss von der schwarzen Liste gestrichen sein. Man muss über 35 Jahre alt und verheiratet sein und Kinder haben. Die „working permit“ muss von einem Arbeitgeber in Israel beantragt werden. Palästinenser können aber nicht nach Israel einreisen, um einen Arbeitgeber zu suchen. Wie das überhaupt funktionieren kann, konnte mir noch niemand erklären.

Verständlich, dass dieses Stück Papier eine Kostbarkeit ist, die es zu verteidigen gilt. Der Durchlass am Checkpoint stockt immer wieder. Meist hapert es an den Metalldetektoren, wo bis aufs Hemd, einschließlich der Schuhe, all und jedes untersucht werden muss. Manchmal geht es quälend langsam voran, manchmal gibt es eine halbe Stunde Stillstand. Mitunter lässt sich der Eindruck der Schikane kaum vermeiden. Um 2:00 Uhr morgens haben die ersten sich angestellt. Um 4:30 Uhr warten 500 bis 700 Arbeiter in der Schlange vor dem ersten Drehkreuz. Wenn dort ca. 4:45 Uhr zum ersten Mal das grüne Licht aufleuchtet, beginnt der Kampf um einen Platz möglichst weit vorn in der Reihe.

Männer klettern auf die Überdachung des Zugangs und zwängen sich irgendwo vorn durch eine Öffnung, sie kriechen katzengleich geschmeidig unter der Absperrung hindurch, sie schieben sich gewandt durch den Stacheldraht, sie versuchen sich harmlos unter die Frauen, Alten und Kranken zu mogeln, denen ein Sonderweg, der „humanitäre Zugang“, gewährt wird. Schieben und Drängen und Schreien und Rennen. Zwei bis drei Stunden muss man für den Durchlass rechnen. Auf der anderen Seite wartet der Unternehmer, der seine billigen Arbeitskräfte abholt, oder der Bus nach Jerusalem. Wer nicht rechtzeitig durchkommt, riskiert den Arbeitsplatz und damit die Arbeitserlaubnis und damit den Unterhalt für die Familie.

Am Checkpoint in Bethlehem begegnet mir die „Dritte Welt“. Er ist eine um einen Spalt breit geöffnete Tür in die „Erste Welt“.

Ich werde angesichts der Mauer von Besuchern oft gefragt, ob ich mich an die Berliner Mauer erinnert fühlte. Und natürlich wird auch von Palästinensern selbst oft auf den Fall der Berliner Mauer Bezug genommen als Metapher dafür, dass generell Mauern fallen können. Architektonische Ähnlichkeiten gibt es es durchaus und rein formal betrachtet handelt es sich in beiden Fällen um einen von Staats wegen errichteten Sicherheits-Kordon. Aber politisch stimmt der Vergleich nur cum grano salis. Was ich hier beobachte, lässt mich eher an die Mauer an der Grenze der USA zu Mexiko denken, an die Zäune um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika und an das Frontex-Programm der EU zur militärischen Abwehr von Eindringlingen aus Afrika und Asien. Es ist eine Festungsanlage der „Ersten“ gegenüber der „Dritten Welt“.

Nach 7:00 ändert sich das Bild der Wartenden. Immer mehr gebügelte Hemden und blanke Schuhe erscheinen auf dem Plan. Palästinensische Geschäftsleute, die eine bestimmte Umsatzhöhe im Handel mit israelischen Unternehmen erreichen, können passieren; auch bestimmte Angestellte der Kirchen. Einmalige Genehmigungen zum Besuch der heiligen Stätten werden an Alte erteilt. Es gibt ein ganzes System von Sondergenehmigungen und Privilegien. Auch das gehört zum modernen Erscheinungsbild der „Dritten Welt“, die nicht mehr aussieht, wie in den 50er und 60er Jahren. Zu den Bevorzugten gehören auch wir mit unseren Pässen aus EU-Ländern. Als Mitarbeiter des EAPPI-Programms des Ökumenischen Rates der Kirchen sind wir als Beobachter in der sensiblen Zone im Inneren des Checkpoints mehr oder weniger akzeptiert. Israel versteht sich selbst als demokratisch legitimierter Rechtsstaat. Ich will auch nicht verschweigen, dass ich dankbar beobachte, wie manche Offiziere sich redlich bemühen, das System am Laufen zu halten, und den Wartenden unnötige Qualen zu ersparen. Israelische Soldaten sind gewiss keine Unmenschen, auch wenn sie in einem Kontext arbeiten, der Unrecht darstellt.

Unsere Berichte gehen wöchentlich an das UN-Büro für Humanitäre Angelegenheiten, an das Internationale Rote Kreuz, an bestimmte diplomatische Vertretungen, an israelische und internationale Menschenrechts-Organisationen. Das ist uns wichtig. Ebenso wichtig ist, dass unsere Gegenwart für die Palästinenser ein Signal darstellt, dass die Demütigung, die ihnen widerfährt, nicht im Verborgenen geschieht.