Jul 262014
 

Notizen aus Bethlehem VII, 25. Mai 2010 (Gaza-Nachbarn)

Liebe Freundinnen und Freunde, von der Anhöhe außerhalb von Sderot hat man einen weiten Rundblick, gen Osten und Norden auf die Stadt selbst, vorwiegend Siedlungen aus Einfamilienhäusern, locker ausgebreitet und von Grün durchzogen, im Westen etwas weiter entfernt aber immer noch greifbar nahe, das Weichbild eines sich lang hinziehenden Konglomerates aus Wohnhäusern und Fabrikgebäuden: Gaza.

Während des Gaza-Krieges vor eineinhalb Jahren war der Hügel, auf dem wir stehen, bevorzugter Standpunkt von Fotojournalisten und Schaulustige – Krieg einmal nicht nur im Fernsehen, sondern life, für die Einwohner von Sderot allerdings alles andere als ein Spektakel. Die junge israelische Stadt mit knapp 20.000 Einwohnern im südwestlichen Negev, ist als bevorzugtes Ziel von Qassam Raketen-Angriffen aus dem Gazastreifen bekannt geworden.

Wenn Julia erzählt, merkt man ihr die inneren Verletzungen an, die sie erfahren hat. „Es gibt ein Warnsystem“, erzählt sie. „Wenn die Lautsprecherstimme ‚Tseva Adom‘ = ‚Farbe Rot‘ verkündet, haben wir 15 Sekunden, um vor dem Einschlag der Rakete Schutz zu suchen. Stell dir vor, du bist mit dem Auto unterwegs, um die Kinder in den Kindergarten zu bringen. Und du weisst, wenn jetzt das Signal ertönt, kannst du höchstens eines der Kinder zu greifen und in Sicherheit zu bringen. Die anderen musst du im Auto zurücklassen.“ Solche und ähnliche Situationen häuften sich in Zeiten, als es 10-60 Angriffe pro Tag gab. Ein normales Leben war nicht mehr möglich. In den Jahren 2001 bis 2009 war die Stadt Ziel von 8600 Raketenangriffen. 40 Menschen starben. „Krieg ist schlimm, aber schlimmer ist ein nie endender Konflikt.“  

In Sderot wurden viele Millionen Dollar in Sicherheits-Strukturen investiert. Aric weist uns auf die bunt bemalten Bushaltestellen hin, die durchgängig zu gefällig aussehenden, raketensicheren Schutzräumen umgebaut wurden. Über die Dächer aller öffentlichen Gebäude, wie Kindergärten und Schulen, wurden weitausladende Schutzschilde aus Stahlbeton gespannt. Die Bauaufsicht schreibt vor, dass jedes Wohnhaus einen Schutzraum aufweisen muss. Schäden, von den Einschlägen verursacht, werden sofort repariert und die Spuren beseitigt. Aber die seelischen Schäden, die ein jahrelanges Leben unter Bedrohung mit sich bringen, lassen sich nicht schnell, wenn nicht gar niemals heilen. 

Julia und Aric gehören zu den Gründungsmitgliedern einer Bürgervereinigung, die sich den Namen die „Andere Stimme“ gegeben hat. Ihre Stimme war zunächst an Menschen in Gaza gerichtet, die in Sichtweite und doch in einer anderen Welt leben. Bis zur ersten Intifada, 1987, war der Strand von Gaza ein beliebtes Naherholungsziel für die Einwohner von Sderot und der Kontakt lebhaft. Seitdem ist das Verständnis für die anderen immer mehr verloren gegangen. „Diese Unfähigkeit, die andere Seite zu sehen, ist ein fundamentaler Verlust an Menschlichkeit“, sagt Julia.

Und Aric erzählt, dass sein Drängen unter Freunden, Verbindung mit Menschen in Gaza aufzunehmen, immer wieder mit dem Hinweis abgetan wurde, dies sei jetzt nicht der rechte Moment. Bis er sich sagte: „If it’s never the time, it’s always the time“. Es war nicht leicht, Gesprächskontakte nach Gaza zu knüpfen. Solche Bemühungen werden auf beiden Seiten mit Misstrauen verfolgt, aber in Gaza kann dieses Misstrauen tödlich sein. Die Kontakte werden meist per Telefon wahrgenommen. Mit einem erheblichen Aufwand gelingen auch gemeinsame Seminare und Begegnungen im Ausland. 

Aber die „Andere Stimme“, die Wert auf ihre politische Unabhängigkeit legt, ist auch an die israelischen Mitbürger und Politiker gerichtet. Die Kampagne zur Beendigung der Belagerung von Gaza ist momentan ein Schwerpunkt der ihrer Arbeit. Denn viele Bürger in Sderot haben begriffen, dass Zwangsmaßnahmen gegen die 1,5 Millionen Einwohner des Gazastreifens Extremismus eher fördern als verhindern. Ihr Motiv ist neben dem elementaren Mitgefühl unter Nachbarn die Furcht vor neuem Beschuss und das wohlverstandene Bedürfnis nach eigener Sicherheit. Die Gruppe schrieb am 30. April in einem Brief an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu:

“ … wenige Minuten entfernt von unseren Wohnungen leben Menschen unter unmenschlichen Bedingungen im größten Gefängnis der Welt. Für die seit Jahren anhaltende Belagerung Gazas durch Israel gibt es keine Rechtfertigung. Sie bringt uns keine Sicherheit. Das Gegenteil ist der Fall: Die Blockade schadet der Sicherheit Israels, weil sie Hass und Abneigung verschärft und Rache-und Terrorakte ermutigt. Es ist ein Pulverfass aus Verzweiflung, Enttäuschung und Wut, das jeden Moment exlodieren kann. … Die Belagerung verursacht Schäden und Leiden für eineinhalb Millionen Menschen, die nicht zu rechtfertigen sind … Die Belagerung ist gefährlich und unmoralisch. Wir bitten Sie, auf die Beendigung der Belagerung von Gaza hinzuwirken und damit die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen für uns, die wir diesseits der Grenze leben, zu treffen. Wir bitten Sie, unseren Nachbarn, und damit auch uns, die Chance für ein Leben in Würde zu geben. Bitte, geben Sie uns Hoffnung statt einer neuen Runde der Gewalt!!“ (eigene Übersetzung und Hervorhebung)

Mir scheint, das ist eine kostbare Einsicht, die uns jüdische Menschen in Israel vermitteln: Wer zur Entwürdigung anderer Menschen beiträgt oder diese toleriert, verliert selbst seine Würde. Es ist eine Einsicht, die uns theoretisch nicht neu sein mag, auch wenn wir keinen Grund haben, uns ihrer zu rühmen. Ich bewundere die Eindringlichkeit, mit der sie von Menschen in Israel ausgesprochen, erlebt und erlitten wird.