Jul 262014
 

Notizen aus Bethlehem IX, 14. Juni 2010 (Ibrahim)

Sacharja ist einer der biblischen Propheten aus der Zeit kurz nach dem babylonischen Exil im 6. vorchristlichen Jh. An seinem Grab, im Eingangsbereich der Moschee von Khallet Sakarija, beten die gläubigen Muslime, wenn sie das Gotteshaus betreten.

Gleich neben der Moschee liegt das zweitwichtigste Gebäude des Dorfes, die Schule. Sie wird ausgebaut – dank eines Fußballvereins aus Europa, den der für den Bezirk zuständige UNO-Mitarbeiter für Humanitäre Angelegenheiten (UNOCHA) gelegentlich eines Vereinsausfluges nach Palästina als Sponsor gewinnen konnte. (Wozu Fußball doch gut sein kann!)

Khallet Sakarija ist eines der Dörfer in der Umgebung von Bethlehem, die um ihr Überleben kämpfen. Es ist ringsum von „Settlements“ umgeben. Der jüngste „Außenposten“ ist auch nach israelischem Recht gesetzwidrig. Doch die israelische Armee ist für den Schutz aller ihrer Bürger in den besetzten Gebieten zuständig, unabhängig davon, ob sie sich an geltendes Recht halten oder nicht. Geltendes Völkerrecht verpflichtet die Armee Israels allerdings vor allem, für den Schutz der Bevölkerung in den von ihr besetzten Gebieten zu sorgen. Das gilt ihr als deutlich nachrangig.

Für die Schulerweiterung um ein Klassenzimmer hat die UNO eine Baugenehmigung bei der Militärverwaltung erwirkt. Sonst darf im Ort nicht gebaut werden. Ein Großteil des Bodens ist konfisziert. Viele Häuser haben einen Abrissbescheid. Einige sind bereits vollzogen. Denn die Siedler fühlen sich von den Bauern bedroht. Sie, die Siedler, greifen das weidende Vieh der palästinensischen Bauern an, sie werfen mit Steinen nach den Dorfbewohnern, sie entsorgen ihre Abfälle auf den Feldern der Bauern.

Der Dorfälteste, Ibrahim Atala, ist laut Ausweis 107 Jahre alt, vermutet aber, dass er älter sei. Er hat die türkische, britische, jordanische und jetzt die israelische Besatzung erlebt. Letztere sei die schlimmste. Seine Familie, das weiß er, hat vor 360 Jahren Grund und Boden erworben und das Dorf wieder aufgebaut. Er hat Eigentumstitel von allen drei früheren Besatzungsmächten. Das Oberste Gericht in Israel hat sein Eigentumsrecht bestätigt. Aber die Armee erkennt die Entscheidung nicht an – aus Sicherheitsgründen. 

Wenn Ibrahim anfängt zu erzählen, kann er schwer wieder aufhören, und wir hören gern der immer noch ungebrochen energischen Stimme zu. „Im Krieg 1948 kam eines Abends ein großer Treck von Flüchtlingen ins Dorf, Juden, die vor den Kampfhandlungen flohen oder vertrieben worden sind. Es waren Menschen in Not. Egal woher sie kamen, wir haben sie aufgenommen und untergebracht.“ Am nächsten Tag habe er Kontakt zu einem Befehlshaber der jordanischen Armee gesucht und das freie Geleit für die Flüchtlinge erwirkt. Sie durften weiter nach Jericho und von dort über die Grenze nach Jordanien. „Ich würde heute noch genauso handeln. Nicht die Israelis sind meine Feinde, sondern die meinen Boden rauben und mich aus dem Land meiner Väter vertreiben wollen.“ Ibrahim hat einen Sohn bei einem Brandanschlag und zwei Enkel bei weiteren Angriffen der Siedler verloren.

Ibrahim kommt mir in den Sinn bei unser Begegnung mit zwei Vertretern des „Elternkreis“ (The Parents circle“). Er würde hineinpassen: Menschen haben sich dort zusammengefunden, die um Kinder oder engste Angehörige trauern, die der israelisch-palästinensische Konflikt ihnen genommen hat.

Das erlittene Trauma hat sie dazu gebracht, die Kluft zwischen Besatzern und Besetzern zu überbrücken. Der palästinensische Scharfschütze, der während der Intifada den israelischen Soldaten am Checkpoint erschossen hat, kannte sein Opfer nicht, wusste nichts über ihn. Er meinte nicht den Sohn, den die Eltern im Geist der Toleranz und Mitmenschlichkeit erzogen haben, und der unter den rassistischen Attitüden seiner Mitsoldaten gelitten hat. Hätte er auch geschossen, wenn er sein Gegenüber gekannt hätte? Und hätte der israelische Soldat dem tödlichen Befehl gehorcht, wenn er die Geschichte seines palästinensischen Opfers gekannt hätte, seine Verletzungen, Verzweiflung, Hoffnungen und seinen Glauben?

Seit dem Mauerbau haben die Kontaktmöglichkeit zwischen Israelis und Palästinensern drastisch abgenommen. Viele Israelis sind nie in den besetzten Gebieten gewesen und es ist ihnen sogar untersagt, die Zone A (palästinensische Verwaltung und Polizeigewalt) zu betreten. Die große Mehrzahl der Palästinenser, die keine Arbeitserlaubnis erhalten, habt keine Chance, nach Israel zu gelangen. So begegnen sie einander nur als Besatzer und als unter der Besatzung Leidende. Dem wollen die „Elternkreise“ etwas entgegensetzen. Sie organisieren Begegnungen, Seminare, Gespräche, Korrespondenzen. Sie gehen gemeinsam in Schulen, auf beiden Seiten. Sie treten bei öffentlichen Veranstaltungen auf. Sie beteiligen sich an Programmen zur Vorbereitung von Jugendlichen auf den Militärdienst.

Sie sind nicht die einzigen, die den Schritt wagen, den Stereotypen abzusagen, die die israelische Gesellschaft beherrschen. Da sind die Soldaten von „Breaking the Silence“, die über ihre Erfahrungen in der Armee zu sprechen beginnen, auch über den Verlust an Würde, den der erfährt, der anderen Erniedrigung zufügt. Da sind die Frauen von Machsom Watch, denen wir regelmäßig auf der israelischen Seite des Checkpoints begegnet sind und die unerlässliche Partnerinnen für uns waren, wenn es darum ging, in einzelnen Fällen zu helfen, Verbindung zu Vorgesetzten in der Armee aufzunehmen oder auch nur zu übersetzen. Da sind die Frauen in Schwarz, mit denen wir an verkehrsreicher Stelle in Westjerusalem gestanden haben, um Zeugen ihres Protestes gegen die Besatzung zu sein. Da ist das „Israelische Komitee gegen Hauszerstörungen“, die uns durch Jerusalem geführt haben und die Pläne zur fortschreitenden „Israelisierung“ der Stadt erläutert haben. Da ist „Ta’ajush – für eine arabisch-israelische Partnerschaft“, die uns geholfen haben, wo die Mauer ein Dorf von der Westbank getrennt hat und unser palästinensische Dolmetscher keinen Zugang hatte. Da ist „Neues Profil“, die Bewegung zur Zivilisierung der israelischen Gesellschaft, die der Allgegenwart des Militärs eine Friedenserziehung entgegensetzen will. Da sind die Rabbis für Menschenrechte, die ihre religiöse Autorität zugunsten der unter Gewalt Leidenden einsetzen und im Glauben gegründete politische Stellungnahmen nicht scheuen. Da ist „Zochrot“ (Erinnerung), deren Vertreterin uns auf unserem Gang durch Yad Vashem begleitet hat. Und da sind die vielen israelischen Friedensaktivisten jeden Alters, denen wir bei Demonstrationen rund um Bethlehem und in Jerusalem stets begegnet sind. Oft genug waren sie es, die zuerst verhaftet wurden.

Das sind nur einige der israelischen Gruppen, die aus Sorge um ihr Land gegen den Strom schwimmen. Denn auch das ist wahr: Der Strom der Meinungen in der israelischen Gesellschaft fließt, soweit ich sehen kann, in die andere Richtung und sei es nur, weil eine Mehrheit der Menschen sich ein Umlenken einfach nicht vorzustellen vermag. Trotzdem: Wer heute mit Sympathie auf Israel schaut, muss sich entscheiden, wem diese Sympathie gilt. Mag sein, dass es in der Vergangenheit unter anderen Konstellationen eine Berechtigung gab, sich innerlich vorbehaltlos an die Seite des offiziellen Israel zu stellen. Heute jedenfalls würde man damit nicht nur Menschen wie dem 100jährigen Ibrahim Atala aus Khallet Sakarija, sondern auch dem Elternkreis mit seinem Versöhnungskonzept in den Rücken fallen, den Rabbis für Menschenrechte, den Frauen in Schwarz und vielen anderen.

Vor einiger Zeit schrieb mir ein Freund in Reaktion auf eine meiner Bethlehem-Notizen: „Ich spüre beim Lesen, wie zerrissen ich bin – zwischen dem Marquardtschen Programm „eine Theologie zu entwickeln, vor der die Juden keine Angst mehr zu haben brauchen“ und der gebotenen Solidarität mit den Palästinensern. Manchmal denke ich, dass es sehr schwer ist über dem Einen -den Einen das Andere -die Anderen -nicht zu vergessen. Denn einander gegenüber stehen zwei zutiefst traumatisierte Völker.“ Eben dies ist die Frage, mit der ich hergekommen bin und die ich die ganze Zeit im Hinterkopf habe. Und sie ist nicht schon mit dem Hinweis beantwortet, dass man auf beide Seiten hören müsse. Ich bin froh, Menschen begegnet zu sein, die begriffen haben und ihr Handeln daran ausrichten, dass es nicht zwei Wahrheiten gibt, eine für Israelis und eine für Palästinenser. Ohne Befreiung für Palästina wird es keinen Frieden für Israel geben. Und ohne Frieden für Israel wird es keinen gerechten Frieden für Palästina geben. Das ist der bescheidene Beginn einer Antwort.

Postscriptum

Morgen läuft mein Visum ab, und die Heimkehr nach Berlin wird mich daran hindern, weitere Notizen in Bethlehem anzufertigen (abgesehen von einem X. Artikel zu ökonomischen Beobachtungen, der schon in Arbeit ist.) Ich möchte Euch/Ihnen sehr herzlich danken, die Ihr/Sie meinen Aufzeichnungen bis hierher gefolgt seid/sind. Sie sind ein bisschen zufällig und erschreckend unvollständig. Viel mehr und Genaueres müsste gesagt werden. Aber es gab vor mir und es wird nach mir andere ‚ökumenische Begleiter‘ geben. Im Übrigen bin ich gern bereit, nach meiner Rückkehr über meine Erfahrungen und das Ökumenische Programm, EAPPI, zu berichten.