Jul 262014
 

Suche nach Antwort auf die Frage: Wer braucht diesen Krieg?

Eindrücke von einer Reise nach Kiew vom 14. bis 22. Juni 2014

Von Giselher Hickel

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Maidan

Natürlich führt der erste Weg auf den Maidan. Der Begriff steht für den ‚Maidan niezaleshnosti‘, d.i. ‚Platz der Unabhängigkeit‘. Der Platz wird durchschnitten von der Kiewer Flaniermeile, dem ‚Khreschatyk‘, ein Boulevard der nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg im sowjetischen Stil der 50-60er Jahre, breit angelegt und auf Repräsentation bedacht, wiederaufgebaut wurde. Der Platz selbst und ca 500 m nördlich und südlich davon auf dem Khreschatyk sind seit Monaten eine Art Heerlager des Aufstandes. Hier begannen im November die Demonstrationen. Hier verbarrikadierten sich im Dezember die Besetzer. Hier spielten sich im Januar und Februar die tragischen Kämpfe ab. Hier starben Menschen – genaue Zahlen scheint es nicht zu geben, weil der Verbleib vieler nach wie vor ungeklärt ist. Hier wurde der Sturz von Janukowitsch bewerkstelligt. Der ‚Maidan‘ ist inzwischen nicht nur ein Ort im Zentrum der Stadt, sondern eine politische Struktur. Und er ist zu einem ukrainischen Mythos geworden.

Das Bild, das sich uns bietet, ist eine eigentümliche Mischung aus Feldlager, Volksfest und Touristenattraktion. Auf der 6- oder 8-spurigen Fahrbahn reihen sich große Armee-Gruppenzelte. Die einmündenden Straßen sind durch Barrikaden blockiert, Aufschüttungen aus Schutt, Müll, Autoreifen, Betonteilen. Die Besetzer haben sich im November/Dezember 2013 sehr schnell nach dem Vorbild der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) in Hundertschaften organisiert, jeweils mit eigenem Namen, Hoheitszeichen, Kommando- und Versorgungsstrukturen. Jedes Zelt steht für eine Hundertschaft und ist umgeben von einem provisorisch abgegrenzten Terrain, auf dem sich meist ein wüstes Durcheinander häuft: Sitzgelegenheiten, Kochtöpfe, Werkzeuge, Schutzutensilien wie Helme und blecherne Schilde, gelegentlich Schlagwaffen, aber keine modernen Schusswaffen, und vieles mehr. An vielen Stellen sind schlichte Gedenkstätten zu sehen – Galerien von Fotos, die Getötete, Verletzte oder Verschwundene zeigen, daneben Kerzen und Blumen. Gelb-blaue Fahnen der Ukraine, neben den rot-schwarzen der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), sind überall sichtbar, außerdem Flaggen westlicher Länder, die der USA, der EU, Deutschlands, Großbritanniens usw. Plakate, Bilder, Großfotos wollen informieren. Porträts von Stepan Bandera und Iwan Masepa (Kosaken-Hetman 17./18. Jh.), beide historische Gestalten der ukrainischen Unabhängigkeitskämpfe, sind allenthalben sichtbar. Alle diese Zeltlager sind Tag und Nacht mit Männern, seltener auch Frauen, in paramilitärischen Kampfanzügen besetzt. Sie sitzen müssig oder sind miteinander beschäftigt, kaum mit Umstehenden im Gespräch. Die Präsenz wirkt demonstrativ. Die Botschaft ist: Die Hundertschaften sind nicht aufgelöst. Die Kampfbereitschaft ist jederzeit aktivierbar.

Auf den Fusswegen zu beiden Seiten spazieren die Kiewer und die Touristen in der warmen Sommersonne, letztere in der Minderheit. Die Getränke- und Imbisskioske bieten Eis, Obst, und Hotdogs. Angestellte tragen Aktentaschen oder Einkaufsbeutel. Jugendliche fingern auf ihren i Phones. Die Mode unterscheidet sich nicht von der, die wir kennen, höchstens dass die Absätze der eleganten Frauen besonders hoch sind, auffällig zumal angesichts aufgerissener Fußwege und fehlender, anderweitig verwendeter Pflastersteine. Fliegende Verkaufsstände bieten neben dem üblichen Andenkenkram Devotionalien des ‚Maidan‘, besonders Spottbilder auf Janukowitsch und Putin. Das bunte Markttreiben wird kontrastiert von haus-hohen Riesenplakaten des neuen, offiziellen Kiew, auf denen Worte wie „Frieden“, „einige Ukraine“ und „Ruhm den Helden“ in den Nationalfarben gelb-blau prangen.

Das Wissen um die Tragik der Maidan-Vorgänge erstickt das spontane Gefühl von Unernsthaftigkeit. Später werden wir Zeugen einer Demonstration vor dem Gebäude des Sicherheitsdienstes. „Das sind Leute vom Maidan“, wird uns erklärt. Ca. 50 Männer in Kampfanzügen protestieren dagegen, dass sogenannte Janukowitsch-Leute unbehelligt bleiben. Größer die Zahl derer, die wir vor dem Parlamentsgebäude beobachten. Die Volksvertretung tagt, Vertreter der ‚Partei der Regionen‘ gehören dazu, Gewählte Palamentarier, jetzt als Gestrige gebrandmarkt und als Feinde behandelt. Eine Bannmeile existiert nicht. Die Männer vom Maidan bilden so etwas wie eine Mahn- oder Drohwache: „Wir sind noch da. Wir können jederzeit wieder auf die Barrikaden steigen.“

Dennoch – der Maidan ist nicht Kiew, oder jedenfalls heute nicht mehr. Ich habe das deutliche Gefühl, dass es zwischen den Platzhaltern der Hundertschaften und den Alltags-Passanten auf dem Khreschatyk wenig Gemeinsames gibt. (Inwieweit die Mehrzahl der Kiewer, etwa die in den weitläufigen Neubaubezirken auf dem Ostufer des Dnjepr lebenden, je eine Beziehung zu den Vorgängen in der Altstadt hatten, bleibt uns verborgen.) Gewiss, die Protestwochen des Winters haben tiefe Spuren hinterlassen. Das Erlebnis ist für die Beteiligten unvergesslich: Teil einer großen Bewegung sein, die staatliche Ordnung außer Kraft setzen, engagiert sein in einem Streit von nationaler Bedeutung, nächtelang der Angst und der Kälte trotzen, in großer Gemeinschaft singen, rufen, Rednern applaudieren, Aktivisten verpflegen, Barrikaden bauen. Angesichts solcher Dramatik verblassen die Fragen nach Hintergründen und Aussichten.

Der Respekt vor solchen Gefühlen lässt uns zögern, nach dem Woher und Wohin zu fragen. Aber viele unserer GesprächspartnerInnen nicken zustimmend, wenn wir vorsichtig zweifeln, ob die das Chaos konservierende Szenerie am Maidan noch als authentisch gelten kann. Geblieben ist die Angst vor dem Krieg und die bange Sorge um die Jungen, die enthusiasmiert vom Maidan als Freiwillige der Nationalgarde in den Osten gezogen sind.

Rolle der radikalen Rechten

Die Frage nach der Rolle der radikalen Rechten ist ein Reizthema. Man muss gar nicht danach fragen, um bereits die erregte Antwort zu hören. Diese beruft sich zuerst auf eine verleumderische russische Propaganda und danach auf die niedrigen Ergebnisse der rechten Parteien, ‚Swoboda‘ und ‚Rechter Sektor‘, bei den Präsidentschaftswahlen im Mai. Doch dahinter verbirgt sich ein Kernproblem. Der Aufstand nimmt sehr bewusst Bezug auf die nationale Unabhängigkeitsbestrebungen besonders der Kosaken im 17./18. und der Nationalisten im 20. Jahrhunderts. Die Geschichte ist äußerst kompliziert. Es war immer zugleich ein Kampf gegen die Uneinigkeit des Landes mit häufig wechselnden Fronten und Gegnern und oft genug kämpften Ukrainer gegen Ukrainer. In einer bestimmten Phase, Anfang der 1940er Jahre, sah die ‚Organisation Ukrainischer Nationalisten‘ (OUN) unter der Führung von Stepan Bandera die Chance, mithilfe der deutschen Okkupanten nationale Unabhängigkeit zu erlangen. Einheiten der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), des bewaffneten Armes der OUN, kämpften an der Seite der faschistischen deutschen Wehrmacht gegen die Rote Armee und waren an Massakern gegen Polen und Juden beteiligt. Die Hoffnung auf Eigenständigkeit von deutschen Gnaden erwies sich sehr schnell als Illusion, und Bandera verbrachte drei Jahre im KZ Sachsenhausen. (Die UPA führte den Kampf gegen die Sowjetmacht auch nach Kriegsende bis in die 50er Jahre weiter.)

Die Ukraine trug unter allen Sowjetrepubliken am schwersten unter der faschistischen Gewaltherrschaft. Ihr Volk brachte die größten Opfer. Der Sieg jedoch, so empfinden es ukrainische Patrioten, wurde in Moskau gefeiert. Es stehen sich zwei gegensätzliche Narrative gegenüber: der Große Vaterländische Krieg mit dem gemeinsamen bitteren Sieg über den deutschen Faschismus einerseits und die Jahrhunderte alte, gescheiterte Hoffnung auf nationale Eigenständigkeit anderseits. Ist es erstaunlich, dass Russen Verrat am Heiligsten wittern? Und ist es verwunderlich, dass Ukrainer sich angesichts russischer Dominanz erneut betrogen fühlen? Ich spreche nicht von den Russen und den Ukrainern, denn es gibt wohl genügend Menschen hier und dort, deren Weltbild nicht ganz so simpel ist.

Im Gespräch mit sehr aufgeschlossenen, gut informierten Kiewer Germanistikstudentinnen erwähnte ich die Bandera-Bilder auf dem Maidan und deutete Zweifel angesichts der Zwielichtigkeit der von ihm geführten Bewegung an. Ich erntete Erstaunen ob meiner historischen Kenntnisse. Die Mehrzahl der Ukrainer, werde ich belehrt, wisse kaum mehr über ihn als dass er ein Held des nationalen Unabhängigkeitskampfes aus der Vergangenheit sei.

Radikale Rechte? Radikal will die Bewegung sein. ‚Rechts‘ und ‚links‘ sind Begriffe für eine Relation, abhängig vom Standort dessen, der sie gebraucht. Ihre inhaltliche Fixierung hat schnell den Beigeschmack von Agitation. Ein rassistisch motiviertes Überlegenheitsgefühl jedenfalls hat, soweit ich das beurteilen kann, in der Ukraine keine Tradition. Die Deutung und Indienstnahme von Geschichte als Mittel des ideologischen Kampfes spielt allerdings eine große Rolle – freilich nicht nur hier.

Holodomor

Holodomor – zu deutsch: Hungermord – der Begriff kam in meinem Schulunterricht über die Geschichte der Sowjetunion nicht vor, konnte auch nicht vorkommen, denn erst Ende der 70er Jahre wurde er geprägt. Der Sache nach wurde die sowjetische Hungersnot von 1932/33, wenn ich mich recht erinnere, im Zusammenhang mit der Unterdrückung des Kulakentums erwähnt, ohne dass die Dimensionen anschaubar wurden. Die Opferzahlen schwanken extrem. Auf der Website der Bundeszentrale für Politische Bildung ist die Zahl der Toten mit 3,5 Millionen angegeben. Die ökonomischen und politischen Zusammenhänge und damit die Schuldfrage sind unter Historikern umstritten, auch die Ausdehnung des über die Ukraine hinausreichenden betroffenen Territoriums. Klar ist, dass die Bevölkerung der Ostukraine am härtesten von der Katastrophe betroffen war, weil hier der Widerstand gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft und die rigide Abgabenordnung besonders heftig war. Klar ist, dass die SU zur gleichen Zeit Getreide für Devisen zur Finanzierung der industriellen Entwicklung exportiert hat. Klar ist, dass die Maßnahmen, die seitens der sowjetischen Führung getroffen wurden, nicht der Linderung der Not dienten, sondern diese verstärkten. Ganze Dörfer und Landstriche wurden entvölkert. Die Augenzeugenberichte der grausamen Hungersqual sind unerträglich.

Präsident Viktor Juschtschenko, Amtszeit 2005 – 2010, hat sich besonders darum bemüht, die menschen-gemachte Katastrophe dem Vergessen zu entreißen. Das ukrainische Parlament erklärte den Holodomor zum Völkermord. Eine Reihe von Staaten stimmten dem offiziell zu. Auf dem Höhenzug des westlichen Dnjeprufers wurde eine zentrale Gedenkstätte eingerichtet mit einem Dokumentationszentrum, in dem Zeitzeugnisse, Forschungsergebnisse, die Namen der entvölkerten Ortschaften und der Opfer gesammelt und sichtbar gemacht werden. Es ist ein Ort des würdigen Gedenkens an Millionen von Menschen, die jenseits von kriegerischen Ereignissen Opfer von tödlichen politischen Spannungen wurden.

Wie jeder Gedenkort ist auch das Holodomor-Museum nicht nur Ort der Trauer, sondern auch der Suche nach Ursachen, der Darstellung von Zusammenhängen. Ein Bild von dem Geschehen wird erstellt. Nach den Worten der Leiterin der Gedenkstätte soll die Ausstellung deutlich machen, dass nicht Stalin oder Molotow oder andere einzelne Politiker und nicht erst die stalinistische Linie der 30er Jahre für das grausame Geschehen verantwortlich sind, sondern das nachrevolutionäre System der Sowjetunion insgesamt. Der Kommunismus als solcher sei tödlich. Zitate sowjetischer Politiker, in Stein gemeißelt, sollen das belegen, darunter ein Satz von Lenin: „Der Brotvorrat der Ukraine ist gigantisch. Es ist unmöglich, ihn sofort zu nehmen und zu exportieren“ (eigene Übersetzung).

Das Holodomor-Museum gleicht einem Schrei des Schmerzes und der Empörung darüber, dass Hunger menschengemacht und politisch instrumentalisiert werden kann. Auf die heutige, ja doch ebenfalls menschengemachte Hungersituation, von der ca. 10 Millionen Menschen permanent betroffen sind, und der im Minutenabstand Kinder zum Opfer fallen, habe ich keinen Hinweis entdecken können. Schade.

Kiewer Höhlenkloster

Nur wenige Schritte entfernt von der Holodomor-Gedenkstätte liegt der ausgedehnte Komplex des Kiewer Höhlenklosters, UNESCO-Weltkulturerbe und wichtigster Touristenmagnet der Stadt. Seine Entstehung reicht zurück ins 11. Jahrhundert, in die Zeit des Kiewer Rus, also des altrussischen Zusammenschlusses von Waräger- und Slawen-Fürsten. Nach Nowgorod war Kiew lange Zeit die Hauptstadt, begünstigt durch die Lage am Ufer des Dnejpr, dem wichtigen Verkehrsweg zwischen Ostsee und Orient, auch Missionsweg für das byzantinische Christentum. Das Bewusstsein, Nachfolgestaat dieses ersten stolzen slawischen Großreiches zu sein, verbindet Ukrainer mit Russen und Weißrussen – oder es trennt die Völker voneinander im Streit um das wahre Recht der Nachfolge. Die vorherrschende Architektur der unzähligen über- und unterirdischen Kirchen, Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude der riesigen Klosteranlage ist vom Stil des ukrainischen Barock geprägt, schlichter als der russische Barock, aber mit großer Freude an Farbe und realistischer Lebendigkeit der Darstellung von Mensch und Natur. In der Ikonenmalerei hebt er sich deutlich von dem sehr viel stärker spiritualisierten und formalisierten russischen Stil ab. Er geriet deshalb auch unter das Verdikt des Moskauer Patriarchats und ist nur noch selten im Original zu finden. Der Wiederaufbau von Kirchen und die Restauration des kirchlichen Lebens ist hier, wie in der ganzen Stadt seit der Unabhängigkeit in vollem Gange.

Denkmal Große Mutter

Noch einige hundert Meter weiter auf den Dnjeprhöhen nach Süden liegt ein drittes schwergewichtiges Denkmal, das zu Ehren des Großen Vaterländischen Krieges mit der hochaufragenden Kolossalfigur der Großen Mutter, Sinnbild für Russland. Dass das ursprünglich für Moskau vorgesehene Denkmal hier realisiert wurde, hat wohl mit der besonderen Rollen der Heldenstadt Kiew und der Ukraine insgesamt zu tun. Die Republik war völlig von Deutschen besetzt. Das Land wurde als Getreidelieferant für das Reich ausgebeutet. Der Anteil der rekrutierten Zwangsarbeiter war besonders hoch. In den Wäldern und auch bis hinein in die Städte tobte der Partisanenkrieg.

Nicht nur der triumphalistische Monumentalstil der sowjetischen Denkmalsarchitektur des vorigen Jahrhunderts mag Grund dafür sein, dass die Erläuterungen, die uns gegeben werden, einen dezent ironischen Unterton zu haben scheinen. Offensichtlich empfinden viele Ukrainer die Gedenktradition aus sowjetischer Zeit als ‚zu russisch‘. Mit diesem ‚Russisch‘ mögen einst die Völker der Sowjetunion insgesamt ehrenvoll gemeint gewesen sein, aber sie wurden eben auch vereinnahmt. Das macht die Ambivalenz der Erinnerungskultur aus. Das weitläufige Areal, einschließlich zweier Museen des II. Weltkriegs, ist wohl gepflegt. Offiziersschüler des Kiewer Militärinstituts kommen in Reih und Glied zur Besichtigung. Aus Lautsprechern erklingen russische Siegeschöre. Der Respekt gegenüber den Opfern ist ohne Einschränkung gewahrt. Dennoch ist ein Gefühl von Fremdheit spürbar.

Massaker von Babi Jar

Fürchterlich konkret werden die Schrecken der deutschen Besetzung beim Hören auf die Berichte der wenigen Überlebenden der Massaker von Babi Jar. Die Mehrzahl der Kiewer jüdischen Einwohner war vor Einmarsch der deutschen Truppen Richtung Osten evakuiert worden. Viele Alte, Kranke, Frauen, Kinder waren zurückgeblieben. Ende September 1941, wenige Tage nach der Einnahme der Stadt, wurden sie unter Androhung der Todesstrafe aufgefordert, sich zur Umsiedlung an Sammelpunkten einzufinden. Der vorgetäuschte Abtransport endete nach kurzem Fußmarsch bei einer am Rande der Stadt befindlichen, durch Geländeeinschnitte von den Wohngebieten abgeschirmten tiefen Schlucht. Hier wurden 33.771 Menschen innerhalb von 36 Stunden mit Maschinengewehren und Maschinenpistolen erschossen, in die Schlucht geworfen und unter einer von den Schluchtwänden abgesprengten Erdschicht begraben. Es waren nicht die einzigen Massenmorde in Babi Jar und an anderen Orten der Ukraine. Die später eingerichteten Vernichtungslager waren eine Konsequenz der hier gewonnenen Einsicht der Heeresleitung, dass das massenweise Töten von Frauen und Kindern den Soldaten auf Dauer nicht zumutbar wäre. Es bedurfte anderer Tötungstechniken, bei denen sich das Sterben hinter verschlossenen Türen vollzog. Zwei Jahre später, beim Rückzug der Deutschen mussten russische Kriegsgefangene die Massengräber öffnen und mehr als 40.000 Leichname verbrennen, um die Spuren der Massaker zu tilgen, bevor sie selbst verbrannt wurden. Wenige konnten fliehen.

Die Direktorin des Studienzentrums der Kiewer jüdischen Gemeinde berichtet sehr lebhaft, engagiert und sichtlich bewegt. Ihre Familie wurde in Babi Jar ermordet, bis auf ihren Vater, damals ein Kind. Eine Freundin der Großmutter, die die Nachbarn zum Sammelplatz begleitet hatte, schöpfte rechtzeitig Verdacht. Sie nahm den Jungen an die Hand und, indem sie, die Nichtjüdin, ihn beim Passieren des Polizeikordons als ihren Sohn ausgab, rettete sie ihm das Leben.

Breiten Raum beim Gang über das Gelände von Babi Jar nimmt die Rezeptionsgeschichte ein. Die fehlende oder mangelhafte Aufarbeitung der Geschichte in sowjetischer Zeit dient als Negativfolie. Die Frage nach den Ursachen, Vergleiche des Umgangs mit kollektiven Traumata in anderen Völkern, Gründe, warum heute erst intensive Reflexionen möglich sind und geboten erscheinen, fehlen. Das Thema passt sich ein in die radikale Distanzierung von der sowjetischen Vergangenheit, so als ob das niemals auch die eigene gewesen wäre. Der jüdischen Historikerin gesteht man das auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen zu.

Tschernobyl

Ein vergleichsweise junges Trauma der ukrainischen Gesellschaft ist die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986. Dem Thema ist ein spezielles Museum im Zentrum der Kiewer Unterstadt gewidmet. Der Vorgang wird technisch verständlich. Die Unfähigkeit der ersten Stunden, das Ausmaß der Gefahr zu begreifen wird nicht verschwiegen. Der aufopferungsvolle Kampf der „Liquidatoren“, mit den zur Verfügung stehenden unzureichenden Mitteln Schaden zu begrenzen, wird gewürdigt. Sehr bewusst will die Ausstellung nicht nur Information über Tatsachen vermitteln, sondern die Katastrophe deuten. „Ziel ist es, das Bewusstsein dafür zu wecken, dass es zu einer Versöhnung kommen muss zwischen dem Menschen, der Wissenschaft und Technologie, die eine Gefährdung der menschlichen Zivilisation darstellt, und der Erde“ (homepage). Dazu werden künstlerische Mittel eingesetzt und auch spirituelle, wobei der religiöse Bezug nicht vermieden aber auch nicht aufgedrängt wird. Neben Symbolen des Todes tauchen solche des Lebens auf. Der Apfelbaum ist ein Grundmotiv, als Baum des Lebens und zugleich als biblische Metapher für gut und böse. ‚Fukushima‘ ist ein eigener Raum nahe dem Eingang gewidmet. ‚Tschernobyl‘ erscheint nicht als isoliertes Ereignis. Man verlässt die Räume betroffen aber nicht bedrückt, eher mit einem hoffnungsvollen Gefühl und dem Impuls diese Hoffnung weiterzutragen. Darin scheint mir dieses Museum wirklich außergewöhnlich zu sein.

Der Verein ‚Landsleute‘

Das Gefühl, Beeindruckendes zu erleben setzt sich fort bei der Begegnung mit einstigen BewohnerInnen der evakuierten Todeszone um Tschernobyl. Der Verein ‚Landsleute‘ hat seinen Sitz auf der anderen Seite des Dnjepr, wo sich Neubau an Neubau reiht, soweit das Auge reicht. Hier bekamen die obdachlos gewordenen Einwohner der leergezogenen Dörfer und Städte Wohnungen zugeteilt. Die jetzt ca. 60-jährigen waren 1986 jung verheiratet, hatten Familien gegründet, kleine Kinder, hatten zum großen Teil einen sicheren Arbeitsplatz im Energiekombinat und fühlten sich geborgen. Erstaunlich mit welcher Ruhe und Abgeklärtheit sie von dem schrecklichen Bruch in ihrer Biografie erzählen können. Sie verschweigen nicht die Härten. Aber es fehlt jede Bitterkeit. Sie sind dankbar, dass sie vom achtwöchigen Sanatoriumsaufenthalt auf der Krim bis hin zur Neueinrichtung der Wohnung sich nicht von der Gesellschaft in Stich gelassen fühlten. „Wenn uns Ähnliches wie 1986 heute passieren würden, wären wir sicher verloren.“ Sie halten Kontakte in viele Länder. Sie hatten mehrfach Besuch aus Fukushima von Menschen und Behörden, die von ihren Erfahrungen lernen wollten. Sie haben den 26. April als Tag der Erinnerung eingeführt. In Anlehnung an die Kraniche von Hiroshima und Nagasaki haben sie eine aus Papier gefaltete Taube zu ihrem Symbol gemacht, eine Friedenstaube besonderer Art. Sie wissen sehr wohl, das die Gefahr in Tschernobyl selbst noch nicht vorüber ist, aber noch weniger die atomare Gefahr weltweit. Sie kümmern sich um die Invaliden von Tschernobyl, besonders um die krank geborenen Kinder, und wollen gleichzeitig Teil der internationalen Anti-Atombewegung sein. Es ist gut, ihnen begegnet zu sein.

Zeitschrift Kritika

‚Kritika‘ ist eine in Kiew erscheinende Zeitschrift, und zugleich ein Treffpunkt ukrainischer Intellektueller. Unser Gesprächspartner gehört zur Redaktion. Der Maidan wollte nach seinen Worten mehr sein als ein Aufstand, vielmehr Revolution. Ziel sei die Veränderung der Gesellschaft durch das totale Auswechseln der korrupten politischen Klasse. Es fällt der Begriff Lustration, d.h. Säuberung. Am Ende sollte die dritte Ukrainische Republik stehen. Dieser Anspruch bleibe mit dem dazugehörenden revolutionären Pathos bestehen, der Prozess sei aber zum Stillstand gekommen angesichts des Krieges im Osten des Landes.

Für meine Ohren bleibt in der Schwebe, ob der erfahrene Journalist tatsächlich meint, ein Macht- und Personalwechsel könne den Anspruch erheben, Revolution zu sein. Jedenfalls spricht er sehr offen von den inneren Mängeln: Vor allem fehle eine neue Elite, die die alte ersetzen könne. Die existierenden oppositionellen Parteien hätten nicht das Vertrauen der Massen. Dass der ‚Rechte Sektor‘ und ‚Swoboda‘ wenig Wähler anziehe, hätten die Wahlen vom 25. Mai gezeigt. Doch der Maidan habe keine Leitfigur hervor-gebracht, die die Bewegung in demokratischem Sinne einigen könnte. Die ukrainischen Intellektuellen – ‚Kritika‘ repräsentiert sie zum guten Teil – seien Sympathisanten, aber ohne Führungsanspruch.

In meinen Ohren noch schwerer wiegt das Eingeständnis, es sei eine Revolution, die das Soziale vergessen habe. Die militante Sympathie für die EU habe in erster Linie Wohlstand und Rechtstaatlichkeit im Sinn, d.h. ein Funktionieren staatlicher Institutionen ohne Korruption, jedoch keine gesellschaftlich-ökonomischen Veränderungen. Die prowestliche Option sei kulturell motiviert. Es sei die Kehrseite eines Sich-Wehrens gegen die russische Dominanz.

All das habe nach dem Sturz Janukowitschs zu einem politischen Vakuum geführt, dass nun von der Aufmerksamkeit gefüllt werde, die der Krieg im Osten fordere.

Im unteren und mittleren Beamtenapparat habe es kaum Wechsel gegeben und notgedrungen würde den bestehenden Institutionen erneut Vertrauen entgegengebracht. Immerhin seien einige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht worden, so eine Reform des Gerichtswesens. Allerdings habe die Umsetzung bis zur Beendigung der kriegerischen Ereignisse ausgesetzt werden müssen.

Ein Potential zur Fortführung der Erneuerung sei in der Rolle zu sehen, die einige Oligarchen übernommen hätten. Die Wahl von Poroschenko im ersten Wahlgang sei ein hoffnungsvoller Kompromiss. Die Rückkehr zur Verfassung von 1997 schränke seine Befugnisse ein gegenüber denen, die Janukowitsch besaß. Er habe sich auf dem Maidan selten als populistischer Bühnenredner hervorgetan, sei aber an Brennpunkten präsent gewesen. Seine Millionen habe er nicht im zwielichtigen Banken- oder Energiesektor erworben, sondern in der Realwirtschaft als Süßwaren- und Autofabrikant. Er gälte als entschlusskräftig, ein Ruf der allerdings angesichts seines zögernden Vorgehens bei der Anti-Terror-Aktion bereits hier und da in Frage gestellt werde. Ein weiterer Hoffnungsträger sei der Großunternehmer aus Dnjepropetrowsk, Igor Kolomojski, von Kiew als dortiger Gouverneur eingesetzt, der mit Hilfe einer von ihm selbst aufgestellten Privatarmee verhindert hätte, dass die Stadt sich den Seperatisten angeschlossen habe. Er sei inzwischen nahezu populärer als der Präsident.

Wie immer die Dinge sich weiterentwickelten, aus Sicht des Kritika-Redakteurs stehe die ukrainische Gesellschaft vor schwierigen Herausforderungen: Es gelte nach der erregten Spannung zur Normalität zurückzufinden, Hassausbrüche zu vermeiden, eine Militarisierung der öffentlichen Lebens zu verhindern, die irregulären militärischen Verbände, die am aktivsten am Kriegsgeschehen teilnähmen, aufzulösen oder in die regulären Streitkräfte einzugliedern, die Effizienz der vorläufigen und verunsicherten Verwaltungsstrukturen zu sichern, regionale Oligarchen zu hindern, eine Zersplitterung des Machtapparates herbeizuführen.

Wahrhaftig, die Fülle der Aufgaben und Themen, die unser Gesprächspartner vor Augen hat, und die die ukrainische Gesellschaft zu bewältigen hat, ist gewaltig. Verblüfft hat mich, dass in unserem ca. zwei-stündigen Gespräch nicht ein einziges Mal ein ausländischer Name fiel (außer dem von Putin als Erzfeind), weder eines Politikers, noch eines Staates, noch einer internationalen Organisation.

Neben der scharfsinnigen Analyse des Intellektuellen hat deshalb vielleicht das bekümmerte Votum einer Rentnerin aus dem Tschernobyl-Opfer-Verein seinen Platz und seinen Sinn: „Manchmal kommt es mir so vor,“ sagte sie, „als ob die USA und Russland ihren Machtkampf auf unseren Rücken austragen.“ 


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