Jul 242014
 

Erinnerungen von Werner Hanschmann, 2013

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Mein Vater war Paul Max Hanschmann wurde am 13 Juni 1885 in Schweta, Kreis Oschatz in Sachsen geboren. Sein Elternhaus steht gegenüber dem Gasthaus Schweta. – Getauft wurde er in der evangelisch lutherischen Kirche Schweta im gleichen Jahr. Sein Vater war Tischlermeister und Gemeindevorstand Wilhelm August Hanschmann. Seine Mutter war Anna Selma Hanschmann geborene Flemming, ehemals Haushälterin und Köchin bei Familie Pfarrer Germann in Schweta. Mein Vater war meines Wissen das älteste Kind seiner Eltern. Er hatte eine wesentlich jüngere Schwester namens Alma Hanschmann. Sie ist im Sommer 1908 plötzlich am Hitzschlag verstorben, war damals 14 Jahre alt. – Auch soll er zwei Brüder gehabt haben, die er aber nicht gekannt hatte, weil sie als Säuglinge verstorben sind, als er Kleinkind war. – Mein Vater wuchs im Elternhaus auf. Sein wesentlicher Spielplatz war die Tischlerwerkstatt seines Vaters. Er besuchte acht Jahre lang die Volksschule in Schweta. Vater bedachte seinen Lehrer später stets mit Achtung aber schätzte dessen Fähigkeiten nicht sonderlich hoch ein. Erst dreizehn Jahre alt wurde er aus der Schule entlassen und trat die Tischlerlehre an. Schon als Kind waren kunstvolle Laubsägearbeiten seine Lieblingsbeschäftigungen, meist an Winterabenden unter Beleuchtung der Petroleumlampe neben dem Familientisch. 

Seine Lehrzeit begann Vater in einer Mügelner Werkstatt, in der bereits Jahrzehnte vorher sein Vater gelernt hatte. Nicht lange Zeit hielt er das Leben dort aus. Denn, anstatt an der Hobelbank werken und die Handwerkskniffe lernen zu können, wie er sich das vorgestellt hatte, wurde er mit dem Handwagen täglich losgeschickt, um gefertigte Möbel zu den Kunden in Stadt und Land zu karren. Das passte ihm keineswegs. Er wechselte eigenmächtig die Lehrwerkstatt und fand in dem Tischlermeister Carl Pein in Mügeln einen sehr tüchtigen, verständnisvollen Lehrherren. Weil er jedoch die Werkstatt ohne Wissen seines Vaters gewechselt hatte und dieser dem Kollegen Pein nicht sonderlich gewogen war, musste er im letzten Halbjahr die Lehrzeit in der väterlichen Werkstatt in Schweta beenden und die Gesellenprüfung ablegen. Während der Lehrzeit besuchte er freiwillig Kurse der Fortbildungsschule in Mügeln mit Erfolg, wie Zeugnisse ausweisen. 

Nach der Freisprechung durch die Innung trieb es ihn in die Fremde. Er wollte neue Arbeitsweise und moderne Fertigungsmethoden kennen lernen. Als Geselle arbeitete er seit 1903 in der Stadt Dahme in der Mark Brandenburg, wenig später in Jüterbog. Dort wurden damals Möbel für die aufstrebende Stadt Berlin fabrikmäßig in größeren Mengen hergestellt. Man nutzte damals dort bereits Hobelmaschinen, Band- und Kreissägen, Leimpressen und viele andere Maschinen, welche in den vielen dörflichen und kleinstädtischen Handwerksbetrieben unbekannt waren. Mit Staunen lernte er die damals modernen Fertigungsmethoden kennen, jedoch freundete er sich nicht mit ihnen an. 

Nur wenige Monate hielt es ihn in den brandenburgischen „Galopptischlereien“, wie er sie nannte. Er wollte gediegene, kunstvolle Handwerksarbeit leisten, Werkstücke schaffen, an denen er selbst auch Freude hatte. Deshalb wanderte er nach Süddeutschland, denn dort pflegte und schätzte man stilvolle, schmuckreiche handwerkliche Holzarbeiten. In Wertach bei Kempten im Allgäu fand er in einer größeren Tischlerei als Geselle einen Arbeitsplatz. Sehr bald hatte er sich in dem Betrieb eingearbeitet. Seine exakte Arbeitsweise wurde geschätzt. Viele praktische Erfahrungen sammelte er bei seiner Arbeit dort und sein Stilempfinden wurde wesentlich geprägt vom süddeutschen Barock. Er avancierte zum Altgesellen, sozusagen Vorarbeiter trotz seiner jungen Jahre. In Bayern verlebte er die schönste Zeit seiner Jugend, wie er später oft erzählte. Dort wollte er sich beruflich und privat etablieren, denn er hatte Chancen, durch Einheirat die Werkstatt zu übernehmen. Damals wohnten viele Handwerksgesellen im Familienverband des Meisters, so auch er. Jedoch sein Schicksal entschied anders. 

Im Frühjahr 1907 schrieb ihm seine Mutter aus Schweta, sein Vater war schwer an Typhus erkrankt. Er sollte möglichst bald nach Hause kommen, um die Werkstatt zu übernehmen und weiterzuführen. Schweren Herzens nahm er von Wertach Abschied. Der Pfarrer der katholischen Gemeinde kutschierte ihn, dem Lutheraner aus Sachsen, persönlich zum Bahnhof und schenkte ihm zum Abschied noch Zigarren. Das erzählte er mir manchmal schmunzelnd. Zu Hause in seines Vaters Werkstatt, erwartete ihn viel Arbeit. Möbel aller Art, Türen, Fenster, manchmal auch ein Sarg waren zu fertigen. Am 2. Juli 1907 verstarb Vaters Vater Wilhelm August Hanschmann im Alter von 56 ½ Jahren an Typhus in Schweta. Seinem Vater baute er selbst den Sarg aus schwerem Kiefernholz. 

Im Alter von 22 Jahren übernahm Max die volle Verantwortung für die Arbeit in der Werkstatt. Auch die Arbeit auf Feld und Wiese waren zu erledigen, denn zum elterlichen Anwesen gehörten ein Acker Feld und eine Wiese, weil damals die Grundnahrungsmittel auf eigener Scholle angebaut und neben dem Handwerksbetrieb noch Schweine und Ziegen gehalten wurden. Mein Vater Max war seit dem so frühen Tod seines Vaters der Ernährer seiner Mutter Anna Selma Hanschmann und seiner damals 13 Jahre alten Schwester Alma Hanschmann. Die Mutter Selma führte den Haushalt und versorgte das Vieh. Seine Schwester Alma besuchte die Volksschule in Schweta. Mir wurde berichtet, Alma war eine sehr begabte Schülerin, aber ein wenig eigenwillig. Sie war Mitschülerin meiner Mutter Erna gewesen.

Im Sommer 1908 verstarb Vaters Schwester Alma Hanschmann plötzlich infolge eines „Hitzschlages“ im Alter von 14 Jahren. – Alma und Gespielinnen hatten im Garten des Gasthofes gegenüber während brütender Sommerhitze getanzt und getobt. Dabei war das schlanke große Mädchen bewusstlos geworden und sofort tot. – Das war wieder ein harter Schicksalsschlag für die Hanschmanns, nachdem ein Jahr vorher der Großvater August verstorben war. – Die exakten Lebensdaten meiner Tante Alma kann ich zurzeit nicht nennen. 

Im Jahre 1909 wurde in Schweta ein neues Gebäude für die Volksschule der Gemeinden Schweta mit und neben der alten Schule erbaut. Mein Vater fertigte mit seinen Gesellen für das Gebäude die Türen, alle Schulbänke, Pulte und andere Möbel. Sein Meisterstück ist heutzutage noch zu bewundern. Es ist die große Eingangstür der neuen Schule, die er selbständig aus schwerem Eichenholz nach der Zeichnung des Architekten Schulze herstellte. Von der Tischlerinnung bekam er dafür Lob. – Für den Bogen über dieser Eingangstür stiftete er eine Holztafel mit dem kunstvoll gemalten Bibelspruch Matth. 19 Kap. 14 „Lasset die Kinder zu mir kommen, spricht Jesus.“ Unter diesem Spruch betrat man Jahrzehnte lang die Schwetaer Schule. Erst im Sommer 1945 nach dem Einmarsch der sowjetischen Besatzung im kommunistischen Regime entfernte er den Bibelspruch. – In den 1907 folgenden Jahren hat sich mein Vater offenbar wegen seiner geschickten Arbeit, der stilvollen Möbel und angemessenen Preise einen guten Kundenkreis erworben. Von dem Verdienst seiner Hände Arbeit konnte er mit seiner Mutter ein gutes Leben als angesehener Bürger führen.

Im August 1914 brach der erste Weltkrieg über Deutschland herein, das Militär beherrschte nun das Leben. Mein Vater musste bald nach Kriegsausbruch seine Werkstatt verlassen, er wurde Pioniersoldat und Sanitäter. Fünf Jahre lang trug er die feldgraue Uniform, als Kamerad wohl geschätzt aber ohne Ehrgeiz auf militärischen Dienstrang. Als Soldat nahm er 1915 an der Tannenbergschlacht teil. Von Tagesmärschen erzählte er, bei denen Infanteristen 50 bis sogar 70 Kilometer zu Fuß mit Gepäck auf dem Buckel zurücklegten. Einmal, so erzählte er, mussten die Soldaten am Abend nach so einem anstrengenden Tagesmarsch noch wieder zum Appell antreten, weil „seine Majestät der Kaiser Wilhelm II“ seine Truppen inspizieren wollte, obwohl die Männer müde zum Umfallen waren.

Im Jahre 1916 wurde seine Truppe an der Westfront eingesetzt. Während der Schlacht an der Somme erlebte er einen Giftgasangriff der Feinde. Tagelang war er blind und die Folge war bleibende Sehstörung. Seit dem war er fortan Brillenträger.- Während der Materialschlacht vor Verdun wurde Vater verwundet, ein Granatsplitter traf ihn in der rechten Lende. Die Wunde wurde infiziert und hinterließ eine etwa faustgroße Narbe, an die ich mich mit Gruseln erinnere. Nach seiner Genesung kam er an der Ostfront zum Einsatz. Dort blieb er mit seiner Truppe auch noch nach der Kapitulation im November 1918. Die Truppe formierte sich zum Freikorps, bestehend aus freiwilligen Soldaten mit der Aufgabe das Land Ostpreußen vor den russischen Bolschewikenüberfällen zu schützen, ein Einsatz mit Leib und Leben für sein deutsches Vaterland, der ihm niemals gedankt wurde. Als Gefreiter wurde er gegen Ende des Jahres 1919 vom Militär entlassen.

Seine Mutter, deren Ernährer er gewesen war, erhielt währen der vielen Jahre seines Kriegsdienstes vom Staat lediglich die finanzielle Unterstützung eines Kindes, aber erst nach langwierigen Beantragungsformalitäten ihres Sohnes, der als Soldat an der Kriegsfront stand.

Als Vater Ende 1919 nach Schweta heimkehrte, war sein Gesundheitszustand nicht sonderlich gut. Dennoch nahm er zuversichtlich die Handwerksarbeit in seiner Tischlerwerkstatt wieder auf. Bei seiner Arbeit fühlte er sich stets besonders wohl. Er hatte große Freude, gute Werkstücke zu schaffen und zu vollenden, besonders, wenn er ahnte, dass das Werk seiner Hände sein Leben einmal überdauern würde. Die wirtschaftliche Lage in Deutschland war damals miserabel, die Geldentwertung hatte begonnen und wurde rasant schlimmer.

Als selbständiger Tischlermeister musste er wieder Kunden gewinnen, sozusagen neu anfangen, den Betrieb aufzubauen. Das Geld wurde jedoch immer wertloser, kaum jemand konnte kaufen, geschweige denn Anschaffungen vor-nehmen. Im Jahre 1922 war der Wert eines US-Dollars auf mehr als 1 Billion Mark gestiegen, die deutsche Mark war vollkommen wertlos geworden. In Deutschland war der Handel völlig zum Erliegen gekommen, und im Gewerbe behalf man sich mit Tausch Arbeitsleistung gegen Ware oder Ware gegen Ware. Die primitivste Stufe der Wirtschaft war erreicht. Vater war 37 Jahre alt, lediger Tischlermeister im Dorf Schweta. Er ernährte mit seinem Arbeitsverdienst auch seine Mutter Selma Hanschmann. Sie war die Besitzerin von Grundstück, Haus Scheune, Werkstatt, Feld und Wiese. Sicherlich war er ein geachteter und angesehener Mann in der Gemeinde, denn im Sommer 1922 wurde er vom Gemeinderat zum Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Schweta mit Schlanzschwitz und Ockritz gewählt. Auch wurde er Vorsitzender des Volksschulzweckverbandes Schweta – Oetzsch. Bei dem Bau der neuen Volksschule in Schweta hatte er 1912 selbst tatkräftig mitgewirkt.

Während der schlimmsten Inflation übernahm er den Gemeindevorstand, damit die Gemeindekasse in volle Verantwortung. Man rechnete mit Billionen und Billiarden Mark! Für den Umgang mit Zahlen, das Rechnen und die Geometrie war mein Vater besonders begabt, wie es auch seine Schwester Alma gewesen war. Es waren damals schlechte Zeiten. Geldentwertung vernichtete die Ersparnisse. Viel Mut und Anstrengung gehörten dazu, das Leben zu überstehen und zu gestalten.

Im Sommer 1923 verlobte sich Max Hanschmann mit Erna Hamm aus dem Nachbarort Oetzsch. Am 14 .Oktober 1923 fand die Hochzeit statt. Getraut wurde das Paar in der Kirche in Altmügeln. Die Feier richteten der Vater der Braut, der Maurerpolier Richard Hamm und seine Frau Wilhelmine in Oetzsch aus. – Das Hochzeitsfoto zeigt außer dem Brautpaar 14 Gäste.

Erna hatte nach dem Krieg im Hause ihres Vaters selbständig eine Damenschneiderwerkstatt eingerichtet und einen beachtlichen Kundenkreis beliefert. Nach der Hochzeit verlegte sie diese in das Haus ihres Ehemannes nach Schweta und konnte von dort ihre alten Kunden bedienen. Im Haus Schweta Nr. 25, gegenüber dem Gasthaus waren fortan zwei Werkstätten etabliert, nämlich die Tischlerei und die Damenschneiderei. Meine beiden Eltern betrieben jeder sein Handwerk und meine Großmutter Selma besorgte den Haushalt, kochte das Essen, fütterte die Ziegen und die Schweine. An der Arbeit auf dem Feld und der Wiese waren wir alle beteiligt.

Im Oktober 1923 hatte die Geldentwertung den Höhepunkt fast erreicht. Damit waren alle deutschen Bürger um ihre Ersparnisse betrogen worden. Meine Mutter konnte von ihren gesamten Ersparnissen ihrer arbeitsreichen Jugendzeit vor der Hochzeit nur noch den Bezugstoff für ein Sofa erwerben. Das Holzgestell dafür baute mein Vater und der Sattlermeister Alfred Knoof in Naundorf, ein Jugendfreund Vaters, schenkte Spannfedern, Gurte, Bindfaden, Nägel und die Arbeitskraft für unser Familiensofa zur Hochzeit. Geschenke waren damals sehr bescheiden. Für das Festmahl wurde nur verwendet, was eigene Ernte in Feld und Garten erbrachten, denn die Preise waren für die Menschen in den Dörfern unerschwinglich geworden. 

Die Einführung der deutschen Rentenmark im November 1923 beendete die Inflation. Die Preise der Waren wurden stabil, demzufolge normalisierten die wirtschaftlichen und gewerblichen Verhältnisse in Deutschland allmählich. Meine Eltern konnten von nun an jeder in seiner Werkstatt ertragreich schaffen. Arbeiten lohnte sich wieder, denn in den Dörfern war in der Zeit des Mangels erheblicher Bedarf an Waren aller Art entstanden, Reparaturen waren notwendig. Die Lebensverhältnisse der deutschen Menschen auf dem Lande wurden besser. 

Am 20.September 1924 wurde ich im Elternhaus geboren und bereicherte fortan das Leben in der Familie, denn als einziger Spross wurde mein Gedeihen zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeiten Im Elternhaus erlebte ich eine unbeschwerte und behütete aber freie und sehr anregende Kindheit. Meine Spielplätze waren vorwiegen die Tischlerei, die Schneiderwerkstatt, auch Garten und Dorfteich hinter unserem Grundstück. Auf meine Erlebnisse gehe ich in anderem Bericht ein. 

Mein Vater war seit den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als selbständiger Handwerksmeister ein geachteter Mann als Bürgermeister und Friedensrichter. Sein Rat und seine Hilfe nahmen viele Mitmenschen gern in Anspruch, denn er hatte für alle ihm wohl gesonnenen ein offenes Ohr. Wem er misstraute, „den ließ er links liegen“. Streit vermied er, wo er konnte, Hass kannte er nicht, wohl aber Verachtung für Böswillige.

In der Tischlerei stellte er Gesellen ein, um die viele Arbeit zu bewältigen. Unseren Altgesellen Alfred Richter aus Oetzsch habe ich noch in bester Erinnerung. Alfred gab mir Abfallklötzchen zum Spielen, zeigte mir den Umgang mit Hammer, Nägeln, Sägen, Hobel und Stemmeisen. Denn mit fünf Jahren bekam ich zu Weihnachen meinen ersten Werkzeugkasten. Alfred half mir, wo er konnte. Als ich neun Jahre alt war, lernte ich unter Alfreds Leitung das Radfahren. Dafür opferte er sogar einen Teil seiner Mittagspause. Er war der gut Geist in der Werkstatt bis 1939. Alfred Richter wurde, wie die meisten Männer seines Alters, bei Kriegsbeginn Soldat. Leider ist auch er irgendwann gefallen. Seiner gedenke ich gern und meinem Vater war er ein treuer Mitarbeiter.

Am Ende der zwanziger Jahre verursachte der Börsenkrach eine Welle von Insolvenzen kleinerer und mittelgroßer Gewerbebetriebe und Fabriken. Die Folge war weit verbreitete Arbeitslosigkeit. Meine Eltern waren davon nicht betroffen. Ihnen beiden wurden stets mehr Aufträge angeboten, als ihre Werkstätten schaffen konnten. – Mein Vater war noch im Alter stolz darauf, dass er stets mehr als genug Arbeit hatte. Die Schreibtischarbeiten für sein Bürgermeisteramt erledigte er vorwiegend in den Abendstunden.

Die allgemeine Arbeitslosigkeit betraf nicht die Landbevölkerung in unserem Dorf Schweta, aber wir erfuhren sie da-ran, dass jeden Tag Bettler an die Tür klopften. Das waren rüstige Männer und immer öfter junge Handwerksgesellen, arbeitswillige Leute, von Gewerbebetrieben oder Fabriken entlassen, ohne Lohn oder Verdienst. Vater gab jedem einen Groschen (10 Pfennige), meist mit der Bemerkung: „aber setz es nicht gleich in Schnaps um“. Einen Groschen kostete damals ein halber Liter Vollmilch auf dem Rittergut oder ein klarer Schnaps im Gasthof gegenüber. Kam jedoch ein Geselle der Tischlerzunft, der seinen Begrüßungsspruch kannte. „Ein wandernder Tischlergeselle geht den Meister um Arbeit an“, der bekam zwei Groschen Handgeld oder er durfte ein paar Stunden an der freien Hobelbank mitarbeiten, wenn genug Arbeit vorhanden war. Dann bekam er Stundenlohn bar auf die Hand. Das kam nur selten vor.

Zu Anfang 1930 nahm die Zahl der bettelnden Tippelbrüder deutlich zu, Vater war als Bürgermeister gefordert zu helfen. Die wandernden Gesellen brauchten ein Nachtlager. Deshalb ließ er im Gasthof gegenüber unserem Haus ein Notquartier einrichten. Die Übernachtungen und ein mageres Frühstück bezahlte die Gemeindekasse. Die Zahl der arbeitslosen Männer, die bettelnd anklopften, nahm bis Ende 1932 spürbar zu, so dass es schwer fiel, jedem den gewohnten Obolus zu geben, denn üppig war damals der Verdienst mit Handwerksarbeit nicht. Man half aus Mitleid. An die bettelnden Tippelbrüder kann ich mich noch genau erinnern. Wenn einer vor dem Mittagessen anklopfte, füllte ihm meine Großmutter einen Teller Suppe auf. Den aß er im Hausflur auf der Treppe sitzend auf, denn unsere Küche war ziemlich eng. 

Arbeitslose junge Männer fanden sich damals auch im freiwilligen Arbeitsdienst zusammen. Sie erledigten Notstandsarbeiten, für die man keine anderen Arbeiter fand, für einen Stundenlohn von 80 Pfennig. Eine solche Kolonne reinigte 1932 die Dorfteiche hinter unserem Grundstück. Diese Männer waren sehr arbeitswillig, jedoch meist ungenügend für die Schmutzarbeit ausgerüstet. Einem von ihnen gab mein Vater seine Wasserstiefel für die Arbeit, der war darüber froh. 

Zu Anfang der Dreißiger Jahre ließ mein Vater in unseren Dörfern Schweta und Schlanzschwitz die Ortsbeleuchtug installieren. An den Leitungsmasten der Elektrizitätsversorgung wurden Laternen montiert. Technische Ratschläge hatte der Leiter des Schalthauses Vaters Freund Oskar Schöbel gegeben. Unsere Gemeinde war damals im weiten Umkreis die einzige mit nächtlicher Beleuchtung, wie in Städten üblich. Dadurch wurde der Nachtwächter Emil Böhle entlastet. Einige Zeit später stellte der zuständige Gendarm Hohfeld fest, dass bei uns die Zahl der nächtlichen Diebstähle von Kleintieren wie Kaninchen und Hühnern erheblich geringer wurde. 

Richtfest Hanschmann 1932

unten am Zaun Selma Hanschmann, daneben Nachbars Tochter Hildegard Busch
Foto: Oskar Schöbel

Im Sommer 1932 baute Vater unser Wohnhaus um. Das Dach wurde abgerissen, das obere Stockwerk voll ausgebaut, denn bislang hatten wir oben nur zwei Zimmer, nachher fünf. Den Bauplan hatte der Baumeister Hugo Kaiser in Naundorf, Vaters Freund und Bürgermeisterkollege erstellt. Die Bauleitung oblag dem Oetzscher Großvater Richard Hamm. Er maß alles sehr genau. Den Dachstuhl zimmerte Vater selbst. Auf einer Wiese wurden die Balken zugeschnitten und bearbeitet. Ihm halfen die Zimmerleute Emil Voigt und der Nachbar Max Hessel. Die Maurerarbeiten verrichteten der Neusornziger Großvater Hermann Geißler, sein Sohn Otto Geißler, Onkel Reinhold Lösche aus Niedergoseln, die Nachbarn Hermann Roßberg und Max Busch. Am 1. Juli 1932 wurde das Richtfest gefeiert. Oskar Schöbel hat es mit seiner Leica im Bild verewigt. 

Hanschmanns Richtfest am 1. Juli 1932 in Schweta

Ausschnitt von Hanschmanns Richtfest am 1. Juli 1932 in Schweta
Der kleine Junge ist Werner Hanschmann.

Im Jahr 1932 fanden vier Reichstagswahlen statt. Als Gemeindewahlleiter musste Vater sie organisieren, die Zeit an den Sonntagen opfern, um Aufsicht zu führen im Wahllokal im Gasthaus. Für die Wahl im November 1932 waren 52 Parteien angetreten. Ich erinnere mich an den langen Stimmzettel. Allgemein war die politische Ratlosigkeit groß.

Vater war zum dritten Mal in Folge zum Bürgermeister gewählt worden. Für seine Amtsführung und Gemeindekassenverwaltung bekam er monatlich 80,00 Mark Aufwandentschädigung. Das war ein magerer Lohn für den großen Zeitaufwand und die Verantwortungen, welche die Amtsführung beanspruchten. Das „Ehrenamt“ verwaltete er sehr gewissenhaft, aber unseren Lebensunterhalt verdiente er in der Tischlerwerkstatt. Im Frühjahr 1933 änderte sich manches. Viel Arbeit bekam Vater angeboten, mehr als er bewältigen konnte. Möbel aller Art, Türen und Treppengeländer wurden gebaut. Fenster überließ er der Glaserei in Mügeln. Arbeitslose, betteln-de Handwerksgesellen kamen keine mehr an die Werkstattpforte. Die Handwerksarbeit wurde wieder rentabel.

Das Gemeinschaftsleben im Dorf war während der folgenden sechs Jahre nach meiner Erinnerung in gutem Zu-stand. Die handwerklichen Gewerbebetriebe waren voll ausgelastet. Das waren außer unserer Tischlerei die Schmiede, Schmiedemeister Richard Eichler, die Wassermühle, Müllermeister Otto Hofmann, die Käserei, Käsermeister Lisper und der Ofensetzermeister Daate, die Damenschneiderei meiner Mutter Erna Hanschmann. Andere Gewerbebetriebe damals waren der Gasthof Schweta, zuerst Hermann, nachfolgend Paul Specht, und die Lebensmittelläden Max Geißel vor der Mühle Schweta und Paul Grumbach in Schlanzschwitz. Otto Hofmann war der Standesbeamte, Paul Specht verwaltete die Agentur der Reichspost bis zu seinem Lebensende 1963, Richard Eichler war der Brand-meister der Feuerwehr im Ort. Bedeutendster Betrieb unseres Dorfes war das Rittergut Schweta. Besitzer war bis 1935 der Ökonomierat Rockstroh, nachfolgend sein Sohn Kurt Rockstroh bis zu dessen Vertreibung 1945 .Das Rittergut war damals der größte Arbeit- und Auftraggeber, auch der stärkste Helfer bei der Instandhaltung der Gemeindewege und öffentlichen Angelegenheiten. Vater pflegte stets gutes Einvernehmen mit den Rittergutsbesitzern und dem lang-jährigen Inspektor Otto Gehre, einem seiner verlässlichsten Freunde. 

Zu Anfang der Dreißiger Jahre wurde der bis dahin selbständige „Gutsbezirk Rittergut Schweta“ in die Gemeindeverwaltung eingegliedert. Zur Entlastung übergab Vater die Verwaltung der Gemeindekasse ab an Paul Specht. Das Rittergut war der bedeutendste Steuerzahler damals. Schweta war keine arme Gemeinde, Meines Wissens veranlasste Vater im Jahr 1935 den Bau der Leichenhalle am Ende des Friedhofes in Schweta. Damals konnten viele Familien ihre Verstorbenen nicht zu Hause aufbahren, was derzeit im Dorf noch üblich war. Der alte Geräteschuppen war zu klein und baufällig geworden. 

Im Frühjahr 1935 bestand ich die Aufnahmeprüfung an der Deutschen Oberschule in Oschatz, die ich bis zur Einberufung zur Kriegsmarine 1942 mit Erfolg besuchte. Damit begann unbemerkt der Ausstieg aus der Familientradition. Denn meine Vorfahren waren seit mehr als drei Generationen Holzhandwerker, nämlich Zimmerleute, Mühlenbauer und Tischler gewesen. 

Das Jahr 1938 brachte wesentliche Veränderungen in unser Familienleben. Der Großvater Richard Hamm aus Oetzsch wurde kränklich und nahm zeitweise bei uns Wohnung. Auch Großmutter Selma, 84 Jahre alt, ließen merklich die Kräfte nach. Bislang hatte sie das Kochen und den Gemüsegarten versorgt. Auf Mutter kamen erhöhte Belastungen zu, obwohl sie mit ihrer Damenschneiderei und dem Handarbeitsunterricht in den Schulen Schweta und Limbach reichlich beansprucht war.

Unser Tischlergeselle Alfred Richter wurde in diesem Jahr mehrmals für einige Wochen zu Wehrübungen einberufen. Gründe waren die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich und die Sudetenlandkriese. Vater hatte viele Aufträge in der Tischlerei zu bewältigen, nebenbei das Gemeindeamt zu verwalten. – Alfred verließ unsere Werkstatt am Ende des Jahres, um in einer Fabrik zu arbeiten. Als Soldat ist er im Krieg leider gefallen. Seiner gedenke ich noch gern.
Seit Alfreds Abschied arbeitete Vater nur allein in seiner Werkstatt. Bei seiner Handwerksarbeit fühlte er sich sehr wohl bis zu seinem Lebensende. Er hatte Freude an jedem gelungenen Möbel oder Werkstück, mit seiner Hände Geschick gefertigt, wenn es die Werkstatt verließ. Von manchem Werkstück ahnte er, dass es ihn dereinst überleben werde. Mit soliden, gut gestalteten Möbeln seine Kunden zufriedenzustellen, war stets sein Bestreben. 

Das Jahr 1939 wurde allgemein und für unsere Familie ein Schicksalsjahr. Der Großvater wurde sehr krank. Er verstarb am 17. März 1939 im Krankenhaus Mügeln. Die letzte Ruhe fand er im Friedhof Altmügeln. Vater war von ihm als Nachlassverwalter eingesetzt worden, ein Aufgabe, die er gewissenhaft erledigte. Vater und Großvater, beide Gemeindevorstände, verstanden einander sehr gut und schätzten sich, besonders auch, wegen ihrer exakten und zuverlässigen Arbeitsweise. In allen wesentlichen Lebensfragen waren sie einer Meinung gewesen. 

Nach dem Besuch des Konfirmandenunterrichtes in unserer evangelischen Kirchgemeinde wurde ich am 2. April 1939 mit nach meiner Erinnerung neun Mitschülern vom Pfarrer Gustav Ludwig in der St. Andreaskirche in Schweta konfirmiert und nahm am folgenden Gründonnerstag zum ersten Mal am heiligen Abendmahl teil. Meine Konfirmation wurde im kleinen Familienkreis gefeiert, denn wegen Großvaters Versterben wenige Wochen vorher war noch Trauerzeit. Meine Großmutter Selma Hanschmann, 85 Jahre alt, nahm noch aufrecht und mit Freude an der Familienfeier teil. Kurze Zeit später wurde sie gebrechlich. Die Hausarbeit, welche sie viele Jahrzehnte lang fürsorglich und gewissenhaft zum Wohl der ganzen Familie gern getan hatte, war ihr schon Monate vorher von Mutter abgenommen worden. 

Am 15. Juni 1939 verstarb Vaters Mutter, meine Großmutter Anna Selma Hanschmann geborene Flemming im 86. Lebensjahr in ihrem Zimmer in unserem Haus in Schweta. Vor Mitternacht hatte ihr Vater noch „gute Nacht“ gesagt, am frühen Morgen fand er sie friedlich für immer entschlafen in ihrem Bett. Sie wurde im Grab ihres Gatten auf dem Friedhof in Schweta nahe dem Grab ihrer 1908 verstorbenen Tochter Alma beigesetzt. Ihn, meinen Großvater Wilhelm August Hanschmann hatte sie fast 32 Jahre im Witwenstande überlebt. Sie hat mich sehr gern gehabt und umsorgt, wo sie konnte. Ihr fürsorgliches aber selbstbewusstes, dennoch zurückhaltendes Wesen ist mir in dankbar bester Erinnerung. Meine Großmutter hatte ich sehr lieb. Meinen Vater sah ich ein einziges Mal mit Tränen in den Augen, das war bei der Beerdigung seiner Mutter. 

Den Sommer 1939 habe ich als sonnig, strahlend hell und ruhig friedvoll in Erinnerung. Die Nachrichten in den Zeitungen und im Radio beachtete man weniger. Beide Eltern hatten in ihren Berufen viel Arbeit zu schaffen, Vater in der Tischlerei, wobei ich ihm sehr gern half, sobald mir die Schularbeiten Zeit ließen, und Mutter in der Schneiderei. Beiden Eltern half ich gern bei ihrer Arbeit, denn die ihre Handwerke interessierten mich von früher Kindheit an. Dabei lernte ich viele praktische Handgriffe und Geschicklichkeiten selbst auszuführen, was mir bis heute zugutekommt. 

Mit dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 kam Unruhe in unser Privatleben. Vater hatte als Bürgermeister der Gemeinde viele verantwortliche Aufgaben zu übernehmen, denn es setzte die Zwangsbewirtschaftung aller Nahrungsmittel, Bekleidungen und lebensnotwendigen Güter ein. Allmonatlich mussten die Lebensmittelkarten, Bezugsscheine und Berechtigungsbelege für alle Einwohner der Gemeinde, große wie kleine, vom Landratsamt Oschatz oder anderen Dienststellen abgeholt werden, die Verteilung an die Haushalte war zu organisieren, durchzuführen, zu überwachen und endlich die Schlussabrechnung zu erledigen. Mutter und ich halfen ihm so oft wie möglich. Viele Stunden verwendeten wir alle für den Dienst für die Gemeinde. Das reichte jedoch keineswegs aus, jeden Monat die aufwendige Verwaltungsarbeit und die damit verbundenen Wege zu schaffen. Dankenswerter Weise halfen dem Vater einige befreundete Mitbürgerinnen und Mitbürger bei der nicht immer geachteten Tätigkeit. Einen Lohn bekam niemand für diese „ehrenamtliche“ Arbeit während der fünf Kriegsjahre.

Besonders Ärger und Verdruss bereitende Aufgaben wurden damals im Krieg den Bürgermeistern der Dorfgemeinden aufgehalst, so auch meinem Vater. Eine war die Verteilung von Bezugsscheinen für Arbeitskleidung, Schuhe und alle zwangsbewirtschafteten aber notwendigen Dinge an die bedürftigen Mitbürger. Stets waren die Zuteilungen vom Landratsamt viel zu gering für den großen Bedarf der hart arbeitenden Menschen in der Landwirtschaft und in den vielen Handwerksbetrieben. Eine gerechte Verteilung der Bezugsberechtigungen war schlechterdings kaum zu erreichen. Mein Vater war um äußerste Gerechtigkeit bemüht und versuchte seinen Schwetaen zu helfen, soviel er konnte.

Eine andere wesentlich schwierigere Aktion wurde den Bürgermeistern der Gemeinden im Bezirk Leipzig damals auferlegt. Das war die Aufnahme der Flüchtlingsfamilien aus den Ostgebieten und deren Unterbringung in Wohnungen in den Dörfern. Obwohl die meisten Dorfbewohner in Anbetracht der bitteren Zeitumstände bereit waren zusammenzurücken und Wohnraum zu teilen, brachten die Eingliederungen von Flüchtlingen oft Verdruss und Ärgernis, am meisten denen, welch die Einweisungen verantwortlich durchzuführen hatten, so auch meinem Vater. – Von letzteren Schwierigkeiten erlebte ich persönlich nicht viel, weil am Anfang August 1942 mein Dienst bei der Kriegsmarine in Flensburg-Mürwik begann.

Mein Vater musste die schwierigen, aufwendigen Aufgaben neben seiner eigentlichen Erwerbsarbeit in seiner Tischlerei erledigen, ganz allein, denn einen Gesellen hatte er nicht mehr. Die jungen Männer waren als Soldaten im Kriegsdienst. Nur noch Frauen, alte Männer und Kinder waren in der Heimat. Auch in Vaters Tischlerwerkstatt wurde viel Arbeit verlangt. Neue Möbel wurden weniger verlangt, aber Reparaturen an Bauten, Türen, Fenstern und Treppen wurden immer mehr nötig, solange der Krieg dauerte. Neubauten fanden damals kaum noch statt. Vaters Fleiß wurde sehr in Anspruch genommen. Begütert wurde er jedoch damit nicht. Dennoch war er mit seinem Besitz zufrieden und froh, wenn er seinen Mitmenschen helfen konnte. Im weiten Umkreis einer Wegstunde war er bei den einheimischen Landsleuten bekannt, meist auch geschätzt. Wegen seiner Klugheit, Offenheit und selbständig ehrlichen Meinung wurde er gern um Rat gefragt. Er liebte keine Beschönigungen, selbst wenn er mit seiner Wahrheit Anstoß erregte. Nur war damals in der Öffentlichkeit oft Vorsicht geboten. Diese schützte ihn vor Gefahren. 

Am Anfang 1945 stand Vater im sechzigsten Lebensjahr, der Krieg dauerte schon fünf Jahre, viele gefallene Soldaten hatte die Gemeinde zu beklagen, die Kampffronten rückten von beiden Seiten aus Ost und West auf das Sachsenland zu. Eine Schreckenszeit drohte und begann, auch für meinen Vater. Flüchtlingszüge strömten durch die Dörfer, mussten betreut werden. Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht Anfang Mai 1945 besetzten amerikanische Truppen das Dorf. Sie blieben nur wenige Tage, ohne großes Aufheben räum-ten sie die Gegend wieder. Zum Schrecken der Menschen rückten die russischen Soldaten der Roten Armee in die Dörfer ein und setzten sich dort fest.

Die Zeit der sowjetrussischen Besatzung begann auch für Vater mit lebensgefährlicher Bedrohung und Schikane durch die nun herrschenden russischen Rotarmisten, weil er als Bürgermeister für alle öffentlichen Angelegenheiten verantwortlich zu machen war, auch für deren Einquartierung und damit verbundene Eingriffe in das Eigentum seiner Mitbürger.- Vaters Freund und Bürgermeisterkollegen den Baumeister Hugo Kaiser im Nachbardorf hatten die sowjetischen Soldaten bald nach deren Einmarsch und Übernahme der Herrschaft ohne offensichtlichen Grund erschossen. Die Ursache wurde niemals bekannt. Aber die Nachricht von der Bluttat verbreitete sich sehr bald in der ganzen Gegend mündlich und versetzte viele Menschen in Angst und Schrecken, auch meine Eltern.- Mein Vater wurde derzeit mehrmals von Sowjetsoldaten tätlich bedroht, die irgendwelche Requirierungsforderungen durchsetzten. Mitunter trat meine Mutter laut schimpfend und keifend dazwischen, wenn die Russen meinen Vater zu arg bedrohten. Mutters Auftritte sollen nicht ohne Wirkung auf die Rotarmisten geblieben sein, wurde mir berichtet. Mitunter machten sie sich dann davon. 

Im Juli 1945 konnte Vater das Gemeindeamt an einen Nachfolger abgeben. Er war dankbar, nun in der unsicheren, wirren Umbruchzeit einer großen Bürde ledig zu sein. – Im Jahr 1922 war er von den demokratisch gewählten Gemeinderäten zum Bürgermeister der Gemeinde Schweta gewählt und vom Amtshauptmann des Kreises Oschatz ins Amt eingeführt und bestätigt worden. – Er führte es sehr gewissenhaft, zur Zufriedenheit der meisten der Mitbürger.

Nach jeder Amtsperiode wurde er in freier Wahl erneut bestätigt bis nach dem Kriegsende. Insgesamt waren es 23 Jahre, in denen er die Angelegenheiten seiner Heimatgemeinde verantwortlich zu deren Wohl geregelt hat, soweit es in seiner Macht und Möglichkeit stand. Die minimale Aufwandsentschädigung, die er bekam, entsprach nicht im Geringsten dem Lohn, den er verdient hätte für seinen Einsatz an Zeit und Arbeitskraft. Der Dank seiner alten Freunde im Dorf waren ihm der beste Lohn und die Anerkennung für sein Mühen. 

Nach dem Krieg unter der sowjetischen Besatzung begann in Schweta die Notzeit. Für den Lebensunterhalt mussten die Eltern wieder wie in alten Zeiten nebenher Landwirtschaft betreiben, Schwein, Ziege und Hühner halten und im Garten das nötige Gemüse anbauen. In den Werkstätten waren beide nur mit Reparaturen voll ausgelastet, solange Material vorhanden war. Möbel konnte nur bekommen, wer das nötige Holz lieferte, denn während der Kriegsjahre war Vaters Vorrat fast aufgebraucht. Und Metallbeschläge waren besonders rar. Vater arbeitete gern in seiner Tischlerwerkstatt. Seiner Handwerksarbeit galten sein ganzes Geschick, seine Kraft und sein Fleiß. Peinliche Genauigkeit, solide Festigkeit und schlichte, harmonische Formen zeichneten sein Werkstücke aus.- In seiner Werkstelle bei seiner Arbeit fühlte er sich am wohlsten, das merkte ich am meisten, wenn ich ihm helfen und das Handwerk von ihm lernen konnte. Viele gute Gespräche hatten wir damals dabei geführt, denn Vater war geistig sehr rege und vielseitig interessiert. Das war in der Zeit von 1938 bis 1942 bevor ich einberufen wurde.- Jetzt nach dem Krieg wurde es still in der Tischlerei. Mit Kopfschütteln und Unverständnis verfolgte er die Zerstörungswut, die im Dorf um sich griff. Er verschloss sich, behielt seine Meinung für sich. Man wurde allgemein misstrauisch. Im Sommer 1950, Vater wurde 65 Jahre alt, meldete er offiziell die Bau- und Möbeltischlerei bei den betreffenden Behörden ab und beantragte die Rente. Damit endete eine lange Tradition der Holzbearbeitungswerkstätte in Schweta. 

Am Ende des 18. Jahrhunderts war mein Ururgroßvater Johann Gottlieb Thieme als Zimmermeister im Dorf ansässig. Sein Schwiegersohn Carl Gottfried Hanschmann (1818-1882) hatte seine Werkstatt als Zimmermann in einem Seitenflügel auf dem Rittergutsgelände. Mein Großvater Wilhelm August Hanschmann (1851-1907) war Tischlermeister und Mühlenbauer. Er ließ 1879 seine Werkstatt auf dem elterlichen Grundstück, Schweta Nr. 25, (gegenüber dem Gasthaus) erbauen, teilweise finanziert vom Erbteil meiner Großmutter Selma Hanschmann geb. Flemming. Mehr als 28 Jahre arbeitete der Großvater mit Gesellen und auch Lehrlingen. Jedoch im Sommer 1907 erkranke er, 56 Jahre alt, an Typhus und verstarb. Mein Vater, damals 22 Jahre alt, arbeitete als Geselle in einer Tischlerei in Wertach in Bayern. Er kündigte seine gute Stellung umgehend und übernahm die Werkstatt seines Vaters. Von 1907 bis 1950 bestand die Bau- und Möbeltischlerei Max Hanschmann 43 Jahre lang selbständig. Die Übernahme in die Produktionsgenossenschaft blieb meinem Vater erspart. Obwohl mein Vater seit 1905 regelmäßig in die Altersversorgung, die Invalidenkasse und die Angestelltenversicherung, eingezahlt hatte, wurde er bis Lebensende mit der damals niedrigsten Rente bedacht, das waren 145 Mark. – Der Dank des Vaterlandes blieb ihm „erspart“. 

Mit Hilfsbereitschaft, Gefälligkeiten und gutem Rat war Vater niemals geizig. Deshalb hatte er viele Freunde und wohlgesonnene Mitmenschen in der Gemeinde und Umgebung. Das zahlte sich in seinem Alter aus. Man half sich unter den gegebenen Umständen, wo und womit man konnte. An Arbeit fehlte es Vater auch als Rentner nicht. Er konnte mit gewissem Stolz sagen: „Ich bin niemals nach Arbeitsaufträgen gelaufen, denn mir wurde immer mehr angetragen, als ich bewältigen konnte. Oft musste ich Kunden vertrösten oder weiter vermitteln.“ Er hat 56 Jahre lang in seiner Werkstatt, seinem „liebsten Platz auf der Welt“ mit seinen geschickten Händen schaffen können. Manches Möbelstück entließ er mit den Worten: „Na, du wirst mich überleben.“

Während meiner Studienzeit von Ende 1945 bis Mitte 1948 verdanke ich meinen Eltern sehr viel materielle Unterstützung, obgleich sie wegen der allgemeinen Lebensumstände damals in Sachsen äußerst sparsam zu wirtschaften genötigt waren. Erst nach meinem Ein-tritt ins Berufsleben konnte ich ihnen einiges davon erstatten. 

Besonders bedeutende Ereignissen im Leben meiner alten Eltern war 1954 meine Heirat und die Geburt von Enkeln. Meine beiden Eltern waren darüber sehr froh und uns zugetan. Sofern es staatlicherseits gestattet wurde, besuchten uns die Eltern in Bremen, unserem damaligen Wohnsitz. Für Vater war der Aufenthalt bei uns offensichtlich jedes Mal Erholung. Besonders freute er sich über seine Enkelkinder. Er war jedoch nicht willens, auf Dauer in unsere Nähe zukommen. Er wollte sein Leben in seiner Heimatgemeinde Schweta beschließen, der er stets viel Aufmerksamkeit, Energie, Anstrengung und Zeit gewidmet hat. Mit Staunen konnte Vater noch im hohen Alter wahrnehmen, wie in der Bundesrepublik der Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Deutschland begann und rasch fort schritt. 

Zu Pfingsten 1963 konnte ich meinen Vater zum letzten Mal in unserem Haus in Schweta besuchen. Einem Enkel seine Werkstatt und sein Heimathaus zeigen und ihn beschenken zu können, war ihm besondere Freude. Es folgte unser endgültiger Abschied.

Während des Sommers 1963 nahmen Vaters Körperkräfte erheblich ab, dennoch schaffte er täglich in seiner Werkstatt, soviel er konnte. Wenige Wochen vor seinem Ableben legte er den Hobel für immer aus der Hand und ruhte sich aus. Altersbeschwerden hatten ihn zunehmend geplagt. Die damals Regierenden verboten strikt, von der Bundesrepublik aus Heilmittel oder Medikamente zur Linderung solcher Beschwerden in unsere sächsische Heimat zu senden, weshalb jegliche Hilfe unterbunden war. Man war dort seinen Leiden im Alter überlassen.

Am 21. September 1963 verstarb mein Vater an Altersschwäche im eigenen Haus in Schweta im Alter von 78 Jahren und 3 Monaten. – In der Leichenhalle neben dem Friedhof wurde er aufgebahrt. (Diese hatte er früher, als er Bürgermeister war, gegen Widerstand des Rittergutes errichten lassen.) In der St. Andreaskirche fand am 29. September 1963 die Trauerfeier mit sehr großer Beteiligung seiner Freunde und Bekannten statt. Erstaunlich viele Menschen erwiesen ihm die letzte Ehre. – Neben der Grabstelle seines Vaters und seiner Mutter in der hinteren Ecke des Schwetaer Friedhofes wurde er beigesetzt, dort fand er seine endgültige Ruhe in ewigem Frieden. 


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