Jul 032014
 

Der Mann, der den Zügen nachsah

Von Georges Simenon

Leseprobe 

„… Kees Popinga gründet seinen fliegenden Haushalt und hält es für seine Pflicht, der französischen Polizei bei ihrer Untersuchung heimlich etwas nachzuhelfen.

Wie oft leitet man aus irgendeiner winzigen Begebenheit große Gesetzmäßigkeiten ab. Als Popinga an jenem Morgen in den Spiegel sah – das war etwas, was er schon immer voller Ernst getan hatte -, bemerkte er, dass er sich seit seiner Abreise aus Holland nicht mehr rasiert hatte, und obwohl sein Bart weder besonders lang noch besonders dicht war, verlieh ihm das nicht gerade ein gewinnendes Aussehen.

Er wandte sich zu dem Bett um, wo eine ihm unbekannte Frau auf der Kante saß und ihre Strümpfe anzog.

„Wenn du fertig bist, kauf mir doch bitte ein Rasiermesser, Rasierseife, einen Pinsel und eine Zahnbürste …“

Da er sie im voraus bezahlt hatte, hätte sie nicht zurückzukommen brauchen, aber sie war anständig und rechnete bei ihrer Rückkehr bis auf den Centime genau mit ihm ab. Da sie nicht wusste, ob sie nun gehen oder noch bleiben sollte, setzte sie sich wieder auf die Bettkante und sah Popinga beim Rasieren zu.

Sie befanden sich in einer Nebenstraße des Faubourg Montmartre und das Hotel war um einiges heruntergekommener als jenes in der Rue Victor-Masse. Auch die Frau war drei oder vier Klassen billiger als Jeanne Rozier.

Zum Ausgleich versuchte diese Frau, deren Namen Kees nicht kannte, ihm wirklich gefällig zu sein und sich seiner Stimmung anzupassen, was sie schon dadurch bewies, dass sie aufseufzend sagte:

„Du bist bestimmt traurig, wie? Hast wohl Liebeskummer …“

Sie sagte dies überzeugt und doch zögernd wie eine Kartenlegerin.

„Wie kommst du darauf?“, fragte er, während er eine Wange einseifte.

„Ich kenne mich langsam aus bei den Männern … Was glaubst du, wie alt ich bin? … Sage und schreibe achtunddreißig Jahre, mein Lieber! Ich weiß, dass man mir die nicht ansieht. Aber du darfst mir glauben, dass ich schon so manchen wie dich erlebt habe, Männer, die dich mitnehmen, dich dann aber nicht anrühren. Die meisten fangen irgendwann zu reden an, sie reden und reden und erzählen dir ihre ganzen Geschichten … Dafür sind wir sehr praktisch! … Wir hören uns alles an, und es bleibt ohne Folgen …“


Inhalt

Von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr so, wie es war. Kees Popinga, der brave holländische Familienvater und Prokurist, verliert seinen Job. Seine Firma geht Pleite, der bewunderte Chef verschwindet mit der Firmenkasse. Für Popinga ist das nicht nur eine persönliche Enttäuschung, sondern auch eine finanzielle Katastrophe, da er an der Reederei beteiligt ist. Dazu kommt, dass die Umstände es nahelegen, er sei an dubiosen Machenschaften der Firma beteiligt. Popinga fasst einen Entschluss: Er nimmt den nächsten Zug nach Amsterdam und taucht ein in ein neues Leben. Wenn schon alles zusammenbricht, dann möchte er wenigstens einmal richtig frei sein, leben und lieben, wie es ihm gefällt. Für seinen Traum vom neuen Leben geht Popinga sogar über Leichen, und schon bald ist er auf der Flucht.


Das nackte Monster

Von Alex Rühle

Georges Simenon sagte oft, Antrieb für sein Schreiben sei die Angst davor, als raté, als Versager und Clochard an den Rändern der Gesellschaft zu stranden. Wie groß diese Furcht war, lässt sich schon daraus ersehen, wie häufig solche verkrachten Existenzen durch seine Romane geistern. Er selbst führte seine manische Schaffenskraft auf diese dunkle Angst zurück. Geradezu eruptiv entstanden seine Bücher, sechs bis elf Tage schrieb er daran im Zustand der „Gnade”, einem Zustand, in dem er scheinbar in die Haut eines Anderen zu schlüpfen vermochte: „Ich neutralisiere mich, vergesse mein eigenes Ich”, schreibt er 1938 an Gide, im Jahr, da „Der Mann, der den Zügen nachsah”, entstand.

Ist Kees Popinga ein Gescheiterter? Oder ist er ein mutiger Mensch, weil er aus den Zwängen eines bürgerlichen Lebens ausbricht, um radikal seine Lust zu leben? So wurde der Roman oft gedeutet. Aber das ist deshalb falsch, weil es zu eindeutig ist: In dem Versuch, seinem bisherigen Leben zu entfliehen, wird Popinga zum gehetzten Outlaw, der nach und nach alles verliert, wirklich alles, bis er splitternackt gefangen genommen und in die Psychiatrie gesperrt wird. „Der Mann, der den Zügen nachsah” ist deshalb so unheimlich, weil Simenon in der Schwebe lässt, inwieweit Popinga nur scheitert oder in diesem Scheitern doch auch eine Art von Freiheit gewinnt; und inwieweit er in dem Bestreben, die festgezurrten Verhältnisse in seinem Leben zu verrücken, tatsächlich verrückt wird.

Popinga ist ein unauffälliger Biedermann: Eigenheim im holländischen Hafenstädtchen Groningen, Frau und Kinder, ein Job in der alteingesessenen Firma „Coster und Sohn”. Eines Abends aber eröffnet ihm sein betrunkener Chef, die Firma sei pleite, er, Coster, werde sich noch diese Nacht absetzen. Für den korrekten Buchhalter Popinga müsste eine Welt zusammenbrechen. Zu seinem eigenen Erstaunen aber wird er ganz ruhig und erkennt, als er die Bilanzfälschungen seines Chefs durchschaut, wie sehr sein bisheriges Leben von einem Bluff bestimmt wurde, von dem Bestreben zu gefallen, irgendwelchen Konventionen zu gehorchen. Er verlässt Groningen, um die Geliebte des Chefs zu erobern – und bringt sie (versehentlich?) um.

Simenon - Züge

Ähnlich wie sein Autor einige Jahre zuvor, nimmt Popinga den Nachtzug von Amsterdam nach Paris. Anders aber als Simenon, der dort als rasender Reporter und Romanmaschine zum „Phänomen” aufstieg, wird Popinga zum „Monster” und obdachlosen Gejagten. Kommissar Lucas ist ihm auf den Fersen, die Zeitungen berichten gierig vom „Ungeheuer aus Amsterdam”, das irgendwo im Bauch von Paris sein Unwesen treibe. Popinga, der aufgebrochen war, um keinerlei Vorstellungen mehr genügen zu müssen, versucht nun verzweifelt in Leserbriefen, das Image, das die Zeitungen von ihm entwerfen, zu korrigieren. Zwar zeichnet er dabei ein scharfsichtiges Bild seiner selbst, zugleich aber steigert er sich in grotesken Größenwahn hinein.

Am Ende sitzt er in der Irrenanstalt, spielt ab und zu eine Partie Schach gegen seinen Psychiater und bittet diesen um ein Heft: Er, Popinga, wolle sein Leben aufschreiben. Nach einigen Wochen schaut der Psychiater, was aus den Aufzeichnungen wurde. Das Heft enthält nur sieben Wörter: „Die Wahrheit über den Fall Kees Popinga”.

Rezension aus der Süddeutschen Zeitung


Biographie des Autors

Der Belgier Georges Simenon (1903-1989) war einer der bekanntesten und produktivsten Autoren von Kriminalgeschichten im zwanzigsten Jahrhundert. Er wurde am 13. Februar 1903 in Lüttich geboren, doch weil sein Geburtstag auf einen Freitag den 13. fiel, änderte seine abergläubische Tante das Datum in den 12. Februar um. Da sein Vater früh starb, musste Simenon mit sechzehn Jahren die Ausbildung abbrechen, um als Bäcker, Buchhändler und Journalist zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Mit siebzehn veröffentlichte er bereits seinen ersten Roman. Anschließend verkehrte er in einer Künstlergruppe, die über Philosophie debattierte und mit Drogen experimentierte. 1922 zog Simenon nach Paris, wo er unter rund zwanzig Pseudonymen unaufhörlich Romane veröffentlichte. In den folgenden elf Jahren produzierte er rund 200 Werke. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog er nach Kanada und von dort in die USA. 1948 veröffentlichte er mit „Pedigree“ einen naturalistischen Roman, der als Vermächtnis an seinen Sohn gedacht war, da ihm ein Arzt nach der Missinterpretation eines Röntgenbildes vorausgesagt hatte, dass er nur noch zwei Jahre zu leben habe. Stattdessen hatte Simenon noch 41 Jahre vor sich, in denen er weiterhin produktiv war. Insgesamt schuf er über 400 Bücher, darunter allein 84 Detektivromane mit Inspektor Maigret in der Hauptrolle. Seine Bücher wurden in mehr als 50 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt.


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