Okt 292014
 

Jüdisch Aufwachsen in Lahore und in einem Internierungslager

Von Gabe Friedman

Als Hazel Kahan im Jahr 2011 zum ersten Mal nach 40 Jahren nach Lahore, Pakistan, zurückkam, hatte sich die Heimat ihrer Kindheit ganz verändert. Ihr erstes Zuhause, früher ein Herrenhaus aus ocker-gelbbraunem Gestein mit blühenden Ranken bedeckt, war jetzt weiß angestrichen und von einer Familie der Rokhri, einer der mächtigsten politischen Clans Pakistans, bewohnt. Das zweite Haus, in dem ihre Eltern eine medizinische Klinik betrieben hatten, war jetzt das Sanjan Nagar Institute of Philosophy and Arts, ein Institut für Philosophie und Kunst, geworden.

Nachdem sie in England, Australien und Israel gelebt und seit Jahren in Manhattan in der Marktforschung gearbeitet hat, lebt Frau Kahan, 75, heute in Mattituck, in North Fork auf Long Island. Sie macht Interviews für das Radio WPKN in Bridgeport, Connecticut, und hat vor kurzem begonnen, ihre Familiengeschichte in öffentlichen Präsentationen zu diskutieren, indem sie eine Geschichte erzählt, die zeigt, wie kompliziert Staatsbürgerschaft und Loyalitäten für Juden waren während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Pakistan und darüber hinaus. Sie hat ihr Stück „The Other Pakistan“ („Das andere Pakkistan“) in Woodstock und Greenport, New York, und zweimal in Berlin präsentiert. Sie plant, ihre Performance im November nach Montreal zu bringen.

„Die Geschichte hat mich eigentlich nie interessiert, ich hab mich nie damit beschäftigt, bis [mein Vater] starb [2007],“ sagte Kahan über das Projekt. „Dann erkannte ich, dass es keinen mehr gibt, der diese Geschichte erzählen kann. Er (mein Vater) tat sein Bestes, um es an uns weiterzugeben. Und wir sind jetzt zuständig! „

Dr. Kate und Dr. Hermann Selzer in Rome, 1935
© Hazel Kahan

Die Geschichte beginnt im Jahr 1933, als Hermann Selzer und Kate Neumann, später Hazels Kahans Eltern, unabhängig voneinander Nazi-Deutschland verließen und nach Italien gingen, wo die Juden Medizin studieren durften. Hermann und Kate, die sich vor vielen Jahren in Berlin kurz getroffen hatten, begegneten sich wieder in Rom und heirateten 1935. Da Europa zunehmend gefährlicher für Juden wurde, beschlossen sie, den Kontinent zu verlassen. Die meisten Juden wanderten ins britisch-kontrollierte Palästina aus, aber Kahans Eltern machten diese Entscheidung, wohin man gehen solle, aus einer Laune heraus. Bei einem Abendessen in Rom, schlug ein italienischer Monsignore vor, dass sie nach Lahore in Pakistan, das damals noch Teil von British-India war (in der damaligen Bombay Precidency,) auswandern sollten, eine Stadt mit dem exotischen Ruf als Treffpunkt für Reisende und Kaufleute.

“Warum wollt ihr nach Palästina gehen?“ habe er zu ihnen gesagt, erzählt Kahan, „Ihr seid jung, ihr seid weltoffen, ihr habt Qualifikationen als Mediziner; in Indien brauchen sie europäische Ärzte. Geht nach Indien!“

Es stellte sich als eine großartige Entscheidung heraus – zunächst eine Zeit lang. Kahan sagte, dass ihre Eltern sehr freundlich in Lahore begrüßt wurden. Sie gründeten eine erfolgreiche Arztpraxis, und ihr Vater wurde Teil der britischen Elite-Klasse. Lahore war eine Welt-Stadt mit einer lebendigen internationalen Kultur.

„Lahore war ein ganz besonderer Ort, denn es war der Umschlagpunkt der vielen Handelsunternehmen aus dem Osten in den Iran und in die Türkei. Es kamen viele Leute durch und der ganze Ort wurde ein Raum für Reisende“, sagte Kahan, die dort im Jahre 1939 geboren wurde.

Das bedeutet nicht, dass es viele Juden in Lahore gab. In den 40er Jahren lebten etwa 2000 Juden im (heutigen) Pakistan (im westlichen Gebiet der damaligen britisch-indischen Bombay Precidency, und die meisten von ihnen hatten sich in der Hafenstadt Karachi niedergelassen.

Kahans Familie lebte ein weitgehend säkulares weltliches Leben. Zum Passah Fest, erinnert sich Kahan, aßen sie Chapati (häufiger Roti genannt), das ungesäuerte Fladenbrot in ganz Indien und Pakistan, ohne wirklich zu wissen, warum. Nur das Fasten ihres Vaters, das ihm jedes Jahr Kopfschmerzen brachte, war ein jährliches Anzeichen vom Jom Kippur Fest.

„Es ist etwas schwierig, ein Jude zu sein, wenn es um einem herum keine Juden gibt“, sagte Kahan.

Im Dezember 1940 in den frühen Phasen des Zweiten Weltkriegs wurde Kahans Familie von der britisch-indischen Regierung in das Internierungslager in Purandhar Fort und später in Satara verbracht im Südwesten Indiens (in der damaligen Bombay Providency und im heutigen Maharashtra). Dies geschah, weil die Selzers „staatenlos“ waren und daher von der Regierung als „enemy aliens“, als feindliche Ausländer, betrachtet wurden. Polen hatte 1938 ein Gesetz verabschiedet, dass die Staatsbürgerschaft von jedem polnischen Staatsangehörigen widerrief, der mindestens für fünf Jahre im Ausland gewesen war. Die Selzers passten in diese Beschreibung: Hermann Selzer wurde in Polen geboren, aber seine Familie war nach Oberhausen in Deutschland gezogen, als er ein Kind war. Kate wurde in Deutschland geboren, aber sie erhielt die polnische Staatsangehörigkeit, als sie Hermann Selzer heiratete. Sie besaßen polnische Pässe um nach Britisch-Indien zu reisen, aber sie waren keine Bürger Polens mehr, nachdem die neuen Staatsbürgerschaftsrechte in Kraft getreten waren.

„Ich glaube, es waren vielleicht etwa 200 Familien [im Internierungslager]. Sie wurden als German Nazis, German anti-Nazis – das waren wir – und italienische Faschisten eingestuft. So wurde das Lager in dieser Weise unterteilt, und wir wurden zu den deutschen Anti-Nazis gesteckt, die vor allem Missionare waren,“ sagte Hazel Kahan.

Im Internierungslager hatte die Familie ein Haus und lebte ein relativ normales Leben (interniert unter Parole) unter Aufsicht von lokalen Beamten für fünf Jahre (1940 – 1946). Dennoch hatten die Selzers ihre medizinische Praxis aufgeben und Lahore verlassen müssen. Die meisten internierten Familien waren mit finanziellen Nöten konfrontiert. Ihre Beziehungen zur Regierung und zu den Menschen um sie herum veränderten sich unweigerlich.

Im Internierungslager begann Hermann Selzer seine Erfahrungen aufzuschreiben. Er fuhr fort zu schreiben, bis er einen Schlaganfall erlitt ein paar Jahre vor seinem Tod im Jahr 2007. Viele seiner Schriften als auch eine Sammlung seiner Briefe, Urkunden und Fotografien aus den 40er Jahren bis zu den 60er Jahren sind nun auf Mikrofilm archiviert im Leo Baeck Institute, in the Center for Jewish History in New York, eine Forschungsbibliothek der deutsch-jüdischen Geschichte im Zentrum für jüdische Geschichte in New York untergebracht. Selzer hat keine seiner Arbeiten je veröffentlicht.

„Er war ein sehr disziplinierter Mensch“, sagte Kahan von ihrem Vater. „Und ich kaufte ihm eine Schreibmaschine. Er saß und schrieb jeden Morgen und dann kaufte ich ihm eine elektronische Schreibmaschine. Und als er diese verbraucht hatte, kaufte ich ihm noch eine.“

Hazel, Kate, Michael Selzer 1948

Hazel Kahan, Kate Selzer, Michael Selzer in Lahore 1948
© Hazel Kahan

Nach Kriegsende zogen die Selzers zurück nach Lahore und starteten von neuem ihre Praxis. Mit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 hatten sich die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen verschlechtert. (Pakistan ist die Heimat der zweitgrößten muslimischen Bevölkerung in der Welt). Bis 1971 hatte sich die Atmosphäre so angespannt, dass die Selzers beschlossen, nach Israel zu gehen. Kahan sagte, dass ihre Eltern ihr ganzes Leben in Pakistan verbringen wollten und davon träumten, eine kostenlose medizinische Versorgung für Menschen im gesamten Nahen Osten durchzuführen, nachdem sie im Ruhestand waren.

„Aber das Jüdisch Sein war nicht mehr das Jüdisch Sein. Es wurde das Zionist Sein,“ sagte Kahan. „Und das war das Problem.“

In Israel arbeitete Selzer Teilzeit am Hadassah Medical Center in Jerusalem und schrieb weiterhin. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Selzers vier Pässe gesammelt, ein Beweis für die internationalen Turbulenzen, die sie durchlebt hatten: Sie hatten ihre polnischen Pässe behalten, erhielten pakistanische Pässe, bekamen deutsche Reisepässe nach dem Krieg (als Anerkennung des Leidens, erklärte Kahan) und erhielten israelische Pässe, als sie sich in Jerusalem ansiedelte.

Jahrzehnte später ging Kahan durch ihres Vaters Briefe und Dokumente und schrieb zwei unveröffentlichte Memoiren – “A House in Lahore” and “An Untidy Life”, („Ein Haus in Lahore“ und „Ein Unordentliches Leben“) – über ihre Kindheit; beide wurden mit dem Untertitel „Growing Up Jewish in Pakistan“ (Jüdisch Aufwachsen in Pakistan“) .

Der Titel ihrer neuen Präsentation, „The Other Pakistan“ („Das andere Pakistan“), bezieht sich auf die scheinbar unerwartete Gastfreundschaft und Herzlichkeit, die sie immer wieder als Jüdin in einem überwiegend muslimischen Land erlebt hat. (Heute leben höchstens 800 Juden dort.)

„Pakistan ist offensichtlich ein wirklich schreckliches Land mit allem, was schlecht ist, von Taliban bis zu jedwedem, was Sie nennen wollen,“ sagte Kahan. „Aber der Punkt ist für mich, dass das andere Pakistan ein gastfreundlicher Ort ist.“

Trotzdem Kahan in England auf Internatsschulen gegangen war und in verschiedenen anderen Ländern in ihrem Erwachsenenleben gelebt hat – ganz zu schweigen vom gezwungenen Leben in einem Internierungslager als Kind – liegt Pakistan ihr immer noch nah am Herzen. Sie erklärte, dass sie in der pakistanischen Gemeinde jedes Mal bei Besuch herzlich empfangen wurde.

„Ich fühle, dass es in einer sehr tief greifenden Weise meine Heimat ist, weil ich dort geboren bin“, sagte sie, „auch wenn ich nicht aus dem Land bin, bin ich von dort.“


Quelle: Forward 18.10.2014  Übersetzung: Erik Speck-Rosenbaum

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  One Response to “Als Juden Zuflucht in Pakistan fanden”

  1. For what it’s worth, the interview did not mention that I gave my talk in Southampton, Woodstock and Greenport, NY and also in Silver Spring, Md. Also, for now at least, Montreal is off the list bur I am scheduled to speak in Michigan and Westchester, NY in 2015. I am surprised at how much interest our family story has generated.

    It’s been a very exciting two weeks: the article went viral and I’ve received hundreds of emails, Twitter and Facebook responses, many from Pakistanis but also from all over the world, as well as personal communications from people who were my parents‘ patients or who remember Lahore for other reasons. It’s been quite an experience but I’m glad it’s no calmed down. I will do a brief summary of all this because it seems somehow important to me.