Jan 182015
 
Wir und die Gesellschaft

Von Pfarrer Dr. Willibald Jacob, 1968
* 26. Januar 1932   † 3. Juli 2019

Karl Barth soll gesagt haben: Um recht beten zu können, braucht der Christ Bibel und Zeitung. – Wir brauchen uns nicht hinter die Autorität eines großen Lehrers der Kirche zu verschanzen, um zu erkennen: Zum Gebet gehört die Information. Auch um unsere Aufgaben zu erkennen, müssen wir informiert sein. Während er zur Kenntnis nimmt, was in seiner Umwelt geschieht, lernt jeder Einzelne seine Verantwortung für das Ganze des menschlichen Lebens. Das Hören auf den Anruf Gottes und das Achten auf die Hoffnungen und Sorgen unserer Mitmenschen lassen uns erkennen, was wir zu beten und was wir zu tun haben. – In diesen Tagen ist es der Entwurf der neuen Verfassung unseres Staates, der uns vor die Frage stellt, ob wir unsere Aufgaben erkannt haben.

Der Einzelne und die Gesellschaft

Da ich annehme, dass es für alle Leser nochmals wichtig ist, einen Überblick über das ganze Gesetzeswerk zu erhalten, gebe ich zuerst den Aufriss wieder: Nacheinander werden

  1. die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft und Staatsordnung 
  2. die Bürger und die Gemeinschaften in der sozialistischen Gesellschaft 
  3. der Aufbau und das System der staatlichen Leitung und 
  4. die sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege beschrieben und bestimmt.

In einem 5. Abschnitt kommen die Schlussbestimmungen. Schon dieser Aufbau der Verfassung macht deutlich, dass das Modell der sozialistischen Gesellschaft dadurch gekennzeichnet ist, dass die Gemeinschaften der Bürger und das System der staatlichen Leitung ineinanderergreifen und sich gegenseitig ergänzen. Betriebe, Städte und Gemeinden, Gewerkschaften und Genossenschaften bilden die Voraussetzungen für den Aufbau des Staates. „Die Souveränität des werktätigen Volkes, verwirklicht auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus, ist das tragende Prinzip des Staatsaufbaues“.(Artikel 47,2). Besonders bedeutsam erscheinen mir in diesem Zusammenhang die Artikel 41 “ bis 43. Sie sehen die Gemeinde und den Betrieb, den Wohnort und Arbeitsplatz des Menschen parallel. Beide Stellen sind das Übungsfeld menschlicher Mitverantwortung. Dies ist eine reife Frucht eines hundert fünfzigjährigen Kampfes des in der modernen Industrie tätigen Menschen. „Die sozialistischen Betriebe, Städte, Gemeinden und Gemeindeverbände sind im Rahmen der zentralen staatlichen Planung und Leitung eigenverantwortliche Gemeinschaften, in denen die Bürger arbeiten und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten. Sie sichern die Wahrnehmung der Grundrechte der Bürger, die wirksame Verbindung der persönlichen mit den gesellschaftlichen Interessen, sowie ein vielfältiges gesellschaftlich-politisches und kulturell-geistiges Leben.. …“ (Artikel 41).

Dem einzelnen Bürger fällt bei all dem eine überaus wichtige Rolle zu. Er erscheint als der denkende Mensch. Denn er soll im Gegenüber und Zusammenspiel mit den für ihn jeweils in Fra kommenden gesellschaftlichen oder staatlichen Institutionen seine Aufgaben erledigen. „Die Übereinstimmung der politischen, materiellen und kulturellen Interessen der Werktätigen und ihrer Kollektive mit den gesellschaftlichen Erfordernissen ist die wichtigste Triebkraft der sozialistischen Gesellschaft“.(Artikel 2,4)

„Die Volksvertretungen sind die Grundlage des Systems der Staatsorgane. Sie stützen sich in ihrer Tätigkeit auf die aktive Mitgestaltung der Bürger an der Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle ihrer Entscheidungen“. (Artikel 5,2). Dabei „sollte gerade von Christen nicht übersehen werden, dass der gesellschaftliche Aufbau und die staatliche Leitung unter Führung der Partei der Arbeiterklasse geschieht. Wenn Christen die Bedeutung der Arbeiterklasse und ihre Erfahrungen immer erkannt und gewürdigt hätten, brauchte dies nicht betont zu werden. „Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, dass der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen“ (Bruderrat der Bekennenden Kirche 1947).

Sicherheit und Frieden

Die Artikel 6 bis 8 beschreiben die Grundsätze der Aussenpolitik unseres Staates. Wir werden daran erinnert, dass wir nicht nur für uns selbst da sind. In der Situation der Kleingewordenen Erde und bei dem Stand heutiger technisch hochqualifizierter Armeen ist es wichtig zu wissen, in welchem Geist die außenpolitischen Beziehungen gestaltet werden. Die Artikel sprechen für sich. Es seien einige Absätze zitiert: „Die DDR hat getreu den Interessen des deutschen Volkes und der internationalen Verplichtung aller Deutschen auf ihrem Gebiet den deutschen Militarismus und Nazismus ausgerottet und betreibt eine dem Frieden und dem Sozialismus, der Völkerverständigung und der Sicherheit dienende Aussenpolitik“ (Artikel 6,1). „Die DDR erstrebt ein System der kollektiven Sicherheit in Europa und eine stabile Friedensordnung in der Welt. Sie setzt sich für die allgemeine Abrüstung ein. Militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass werden als Verbrechen geahndet“. (Artikel 6, 4 und 5). “Die allgemein anerkannten, dem Frieden und der friedlichen Zusammenarbeit der Völker dienenden Regeln des Völkerrechts sind für die Staatsmacht und jeden Bürger verbindlich. Die DDR wird niemals einen Eroberungskrieg unternehmen oder ihre Streitkräfte gegen die Freiheit eines anderen Volkes einsetzen“. (Artikel 8,1) Im Blick auf den einzelnen Bürger heißt es: „Kein Bürger darf an kriegerischen Handlungen und ihrer Vorbereitung teilnehmen, die der Unterdrückung eines Volkes dienen“. (Artikel 23,2). Somit sind die Grundsätze einer auf Frieden und Verständigung zielenden Außenpolitik in der Verfassung verankert und auch der Soldat ist als denkender Mensch gefordert. Dabei ist die Außenpolitik auch nicht unparteiisch. Sie steht gegen den deutschen Militarismus und Nazismus und unterstützt die Bestrebungen der Völker nach Freiheit und Unabhängigkeit. Gerade über diese Artikel sollten wir Christen nachdenken, bevor wir auf die“ Artikel zu sprechen kommen, die die Kirchen und ihre Angelegenheiten betreffen. Die Entscheidungen „christlicher“ Politiker haben in der Vergangenheit unser Volk an den Rand des Abgrundes gebracht. Wir sollten der in der Verfassung umrissenen Außenpolitik unsere Unterstützung.nicht versagen.

Freiheit in Verantwortung

Die Verfassung ist im Ganzen Widerspiegelung unseres gesellschaftlichenen und staatlichen Lebens in der Gegenwart. Dabei spiegelt sie auch das wider, was heute zur Sicherung des Bestandes der Staates dient. Die Freiheit des Einzelnen wird nicht in einem absoluten Sinne verstanden, sondern im Verhältnis zur Sicherheit aller Bürger der sozialistischen Gesellschaft und im Verhältnis zur Sicherheit des Staates. In den Artikeln 27 – 29, die das Recht der Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit feststellen, haben die Formulierung „den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß“ oder ähnliche Formulierungen Aufnahme gefunden. Ein Maßstab wird aufgerichtet: Der Bestand der sozialistischen Gesellschaft. Artikel 32 lautet:.“Jeder Bürger der DDR hat im Rahmen der Gesetze das Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Staatsgebietes der DDR.“ Damit ist klar: Das Recht auf Auswanderung, in früheren Zeiten ein Notrecht, ist keine Selbstverständlichkeit. Im Jahrhundert der hinter uns liegenden Weltkriege und der neben uns wütenden Welthungersnöte muss das Wort und die Entscheidung jedes Einzelnen verantwortbar sein. Dazu wollen uns die Artikel 27 bis 29, der Artikel 32 und auch den Artikel 31 anleiten. Wo der Bestand der DDR gefährdet wird, da wird Frieden und Sicherheit in Europa gefährdet.

Besondere Rechte?

Christen kann es nicht um ihr eigenes Recht gehen; schon gar nicht um ein Recht über das hinaus, was für jeden Bürger gilt. Deshalb habe ich bisher die meines Erachtens im allgemeinen wichtigen Linien der Verfassung ausgezogen. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sollte klar werden. Die Aufgaben zur Sicherung des Friedens sollten hervorgehoben werden. Die Grenzen der Freiheit des Einzelnen in der Verantwortung fürs Ganze sollten aufgezeigt werden. All das geht den Christen an. Nun aber gibt es Artikel der Verfassung, die Religion, Glauben und Kirche besonders betreffen. Sie lauten: „Jeder Bürger der DDR hat unabhängig von seiner Nationalität, seiner Rasse, seinem weltanschaulichen oder religiösen Bekenntnis, seiner sozialen Herkunft und Stellung die gleichen Rechte und Pflichten. Gewissens-und Glaubensfreiheit sind gewährleistet. Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich“. (Artikel 20,1). Jeder Bürger der DDR hat das Recht, sich zu einem religiösen Glauben zu bekennen und religiöse Handlungen auszuüben. – Die Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften ordnen ihre Angelegenheiten und üben ihre Tätigkeit aus in Übereinstimmung mit der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der DDR. Näheres kann durch Vereinbarungen geregelt werden“. (Artikel 39, 1 und 2). Die Verfassung ist damit auch Spiegel eines Teiles christlicher Existenz: Christliche Gemeinden sind da. Menschen leben im Glauben. Menschen mit religiösem Bekenntnis haben die gleichen Rechte und Pflichten wie jeder Bürger. Die beiden entscheidenden Zusätze des 2. Verfassungsentwurfes seien besonders hervorgehoben: „Glaubens- und Gewissensfreiheit sind gewährleistet“ (in Artikel 20, Absatz 1). „Näheres kann durch Vereinbarungen geregelt werden“ (Artikel 39 am Ende). In diesen beiden Zusätzen sind wichtige Dinge ausgesprochen: Gewissensfreiheit, was ist das? Das Gewissen, der Mensch in seinem Wesenskern, wird durch das Evangelium von Jesus Christus gebunden an die Verantwortung vor Gott und vor den Mitmenschen. So, mit einem an Gottes Wort gebundenen Gewissen stehen wir im Prozess des gesellschaftlichen Lebens. Wissen wir das? Sind wir bereit zur Verantwortung? – Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche: Wer wird sie treffen von Seiten der christlichen Gemeinden? Werden die Sprecher der christlichen. Gemeinden deutlich machen können, dass es ihnen nicht um Privilegien geht, sondern um die Regelung des christlichen Dienstes zum Heil und zum Wohl aller Menschen? .Nicht die Kultkirche ist das Ziel der Verkündigung des Evangeliums, sondern die Befreiung des Menschen zu freiem dankbarem Dienst an Gottes Geschöpfen. – Hier würde sich der Ring schließen. Dieser Dienst kann geschehen und geschieht auf all den Gebieten., die die Verfassung umreißt und beschreibt.

Zum Schluss sei ein Bekenntnis zitiert, das uns in der Sorge um den Bestand der Menschheit in unserer Verantwortung einweist:

„Das neue Leben aus dem Evangelium Jesu Christi schließt in sich die tätige Mitverantwortung der Gemeinde wie des Einzelnen für die Erhaltung menschlichen Lebens, und darum auch für die durch Gottes Geduld ermöglichte Einrichtung menschlicher Rechtsordnungen. Der christliche Glaube erkennt den Staat an als von. Gott in seiner Gnade gebrauchtes Mittel zur Erhaltung des Lebens der Menschen, denen das Evangelium gepredigt werden soll bis zum Ende der Tage. Die Mitverantwortung der Christen für den Staat besteht darin, durch die Verkündigung und das ihr entsprechende Handeln die Träger der Staatsgewalt an ihren Auftrag zur Erhaltung des menschlichen Lebens zu erinnern, ihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu helfen, und sie vor dem Missbrauch der Macht zu bewahren. So gehört unser Tun zum Regiment Christi, der sein Reich dadurch von der Welt bekundet und in unsrer Schwachheit seine Macht offenbart.“


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