Jun 042015
 

Initiative für eine neue Ostdenkschrift

Fünfundzwanzig Jahre nach Ende des Kalten Krieges ist die internationale Sicherheit  erneut bedroht. Der Krieg in der Ukraine hat zu besorgniserregenden Spannungen  zwischen Russland und der NATO geführt. Ein neuer Rüstungswettlauf droht. An den Ursachen der schwerwiegenden Krise sind beide Seiten beteiligt. Russland durch seine völkerrechtswidrige Annexion der Krim, durch seine Einmischung in der Ost- Ukraine, die NATO durch ihre Osterweiterung, die Europäische Union durch das Versäumnis, bei den Verhandlungen um ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine Russland einzubeziehen. Überwunden geglaubte Feindbilder und konfrontative Politikmuster bestimmen erneut die Diskussion. Entspannungsbemühungen werden durch demonstrative Aufrüstungsgesten beider Seiten konterkariert.

In dieser Situation rufen wir die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland auf, diese Initiative für eine neue Ostdenkschrift in Zusammenarbeit mit ihren oekumenischen Partnern aufzunehmen.

Sie wird es so schwer haben wie die erste Ostdenkschrift, die 1965 von der EKD veröffentlicht wurde. Sie galt als Tabubruch und löste heftige Auseinandersetzungen aus. Sie hat aber damals einer neuen Ostpolitik der Bundesrepublik den Boden bereitet. Mit der heutigen Krise ist die Situation vor 50 Jahren nicht  einfach zu vergleichen. Denn heute geht es um mehr als unser Verhältnis zu Polen und den osteuropäischen Staaten. Es geht um den Frieden in Europa. Das 1965 formulierte Ziel, „ eine haltbare Friedensordnung durch einen neuen Anfang zu verwirklichen“, ist jedoch heute dringlicher denn je. Eine neue Ostdenkschrift muss die Herstellung einer europäischen Friedensordnung zum Thema haben.

Welche Ziele sollte eine  neue Ostdenkschrift benennen?

Wir gehen in die Irre, wenn wir meinen, eine Front der Guten gegen die Bösen vor uns zu haben. Russland darf nicht zum Feind gemacht werden.  Sicherheit in Europa gibt es nur mit Russland. Gesprächs- und Kontaktebenen zwischen der NATO, der Europäischen Union und Russland müssen in Gang bleiben oder erneuert werden. Das Sicherheitsbedürfnis Russlands ist ebenso berechtigt wie unser eigenes. Dies gilt auch für die an Russland grenzenden Staaten und die Unverletzlichkeit der Grenzen überall in Europa.Über die Sorge um die Sicherheit hinaus, bedarf es einer kooperativen Friedensordnung.  Als wichtigstes Instrument dafür muss an Stelle der NATO die OSZE  wieder gestärkt werden. Die Übernahme des Vorsitzes in der OSZE durch Deutschland im Jahr 2016 sollte entsprechend vorbereitet und unterstützt werden.Die Denkschrift sollte die Europäische Union dazu ermutigen, sich als zivile Friedensmacht zu bewähren. Dazu müsste die Europäische Union, und darin vor allem Deutschland, damit aufhören, Waffenexporte außerhalb der NATO als Beitrag zur Friedenssicherung zu kaschieren.

Welche Erfahrungen können die Kirchen einbringen?

Bei der allmählichen Überwindung des Kalten Krieges haben die Kirchen in Europa in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in einem ökumenischen Prozess vor allem dies gelernt und ausgesprochen: Gewaltfreie Lösungen sind möglich. Gewalt kann minimiert werden. Gewaltfreie Überzeugungen müssen ins Politische übersetzt werden. Die auch sichtbar gewordene Gefahr einer zunehmenden Politisierung religiöser Überzeugungen in Europa muss durch beharrliche ökumenische Verständigung überwunden werden. Eine zweite Ostdenkschrift müsste schließlich zum Ausdruck bringen, dass sich  Deutschland seiner doppelten Verantwortung für Frieden und Versöhnung in Europa bewusst bleibt. Deutschland steht bis heute in der Mitverantwortung für die schuldhafte Zerstörung der europäischen Ordnung und ihre Folgewirkungen. Siebzig Jahre nach Ende des 2.Weltkrieges wissen wir heute besser als je zuvor, dass ohne das Zusammenwirken der Alliierten und vor allem ohne die Zustimmung der Sowjetunion es keine Chance für eine Einheit der Deutschen gegeben hätte. Daraus wächst eine besondere Verantwortung Deutschlands für einen Frieden in Europa, der Russland einschließt.

In seiner später als historisch angesehenen Rede vom 8. Mai 1985 hat Richard von Weizsäcker eine Bitte an junge Menschen formuliert. Sie gilt weiter und fordert nicht nur junge Menschen heraus:

„Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“

Eine neue, europäische Ostdenkschrift sollte in diesem Horizont gedacht und geschrieben werden. 


Almuth Berger, Ruth Misselwitz, Elisabeth Raiser, Heino Falcke, Hans Misselwitz, Konrad Raiser, Gerhard Rein, Hans-Jochen Tschiche