Jun 282015
 

Für einen respektvollen und solidarischen Umgang mit Griechenland
Gegen den Zerfall der politischen Kultur in Deutschland und Europa 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Tsipras, 

die Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel“ zitierte am 13. Juni 2015 den deutschen Politiker Volker Kauder mit diesen Worten: 

  • „Das sollte sich das freche Bürschchen Tsipras mal hinter die Ohren schreiben. Rotzfrech auftreten und dabei die Hausaufgaben nicht machen, das geht gar nicht.“ 

Herr Kauder ist nicht irgendwer. Er ist der Vorsitzende der Parlamentsfraktion der deutschen christdemokratischen Regierungspartei CDU. Diese Äußerung fiel auf einemLandesparteitag der Berliner CDU, mithin also in aller Öffentlichkeit. Herr Kauder hat sie bis heute nicht dementiert, wir müssen also davon ausgehen, dass er vom Tagesspiegel korrekt zitiert wurde. 

Herrn Kauders Äußerung stellt eine in der deutschen Nachkriegsgeschichte bis vor Jahresfrist noch unvorstellbare Grenzüberschreitung dar: Wann jemals hätte ein hochrangiger deutscher Politiker den gewählten Ministerpräsidenten einer benachbarten europäischen Demokratie auf derart herabwürdigende Weise, in einem solch verachtungsvollen Tonfall öffentlich angegriffen? Schon dies ist ein unerhörter Tabubruch. 

Wenn auch – was die Sache nicht besser macht – kein vereinzelter. Wir beobachten derzeit in Deutschland mit zunehmendem Entsetzen einen hemmungslosen Verfall der politischen Kultur: Es scheint, als sei unter – vornehmlich dem Regierungslager angehörenden – deutschen Politikern ein regelrechter Wettbewerb entstanden, wer die schrillsten Pöbeleien gegen Sie, gegen Herrn Varoufakis und gegen „die Griechen“ ganz allgemein vorzubringen vermag. „Irrläufer“, „Spieler“, „Zocker“, „Spieltheoretiker“, „dumpfe Linkspopulisten“, „neunmalkluge Regierung“, „Täuscher und Trickser“, „Faxen-Macher“ , „unverschämt“, „hassvoll“, „Maul aufreißen“ – dies sind nur einige der stets auf Beleidigungund persönliche Entwürdigung abzielenden Äußerungen. Und es sind nicht nur die deutschen Konservativen, denen der wertkonservative Flügel restlos abhanden gekommen zu sein scheint, auch die Sozialdemokraten, die einst würdevolle Partei eines Willy Brandt (und Schwesterpartei der griechischen PASOK), haben sich offenbar haltlos dem Wettlauf um die schrillsten Töne verschrieben. Die einfache Einsicht, dass es Ihr legitimes Recht und sogar Ihre Pflicht als Ministerpräsident Griechenlands ist, für die Interessen der griechischen Bevölkerung einzutreten, ist aus dem öffentlichen Bewußtsein in Deutschland fast vollständig verschwunden. Ebenso die grundlegende Achtung vor dem selbstverständlichen Recht des griechischen Volkes, in demokratischen Wahlen politische Entscheidungen zu treffen. Letzten Endes befördern auf diese Weise also Politiker der deutschen Regierungsparteien aktiv eine tiefgreifende gesellschaftliche Verachtung für das Prinzip der Demokratie selbst! 

Die Äußerung Herrn Kauders stellt allerdings darüberhinaus noch einen besonders skandalösen Tiefpunkt dar, was mit einer historischen Besonderheit der deutschen Sprache zu tun hat. Die Rede vom „frechen Bürschchen“ ist nämlich tief verwurzelt in der Lingua Tertii Imperii, der Sprache des Dritten Reiches. „Der freche Judenbengel… “ lautete eine gebräuchliche Redewendung jener Zeit. Dies war die typische Sprache etwa des „Stürmers“, eines nationalsozialistischen Hetzblatts. Solche auf Entpersonalisierung und Entwürdigung abzielenden Redensarten bildeten das sprachliche Fundament der Entrechtung, Beraubung und Ermordung der europäischen Juden in den schwärzesten Jahren der europäischen Geschichte. Es kann Hernn Kauder nicht verborgen geblieben sein, dass er sich mit dieser Formulierung in eine bedenkliche assoziative Nähe zur Idiomatik des Nationalsozialismus begibt, denn weder ist er ein ungeschickter Redner, noch sollte man ihm eine ungenügende Kenntnis der deutschen Geschichte vorwerfen können. Wenn also heute ein namhafter deutscher Politiker auf solche historisch tief diskreditierten Sprachmuster zurückgreift, tut er dies wohl kaum „aus Versehen“, aus Unwissenheit, sondern, wie man annehmen muss, durchaus bewußt. Es ist also ein doppelter Tabubruch! Und ein Spiel mit dem Feuer obendrein, denn damit werden dunkelste Instinkte angesprochen. 

Wenn Äußerungen wie die Herrn Kauders schon fast als „normal“ wahrgenommen werden, bedeutet dies, dass sich die „Normalität“ der politischen Debatte in Deutschland rasant verschoben hat und dass sich die politische Kultur Deutschlands offenbar in freiem Fall befindet. Was wir gegenwärtig erleben, ist der Absturz der politischen Sprache ins Bodenlose. Wir sind darüber tief besorgt und wollen dies nicht länger hinnehmen! 

Wir, die Unterzeichner, möchten uns daher bei Ihnen, Herr Ministerpräsident, und bei der griechischen Bevölkerung insgesamt, für diese ungeheuerlichen Entgleisungen deutscher Politiker aufrichtig entschuldigen! Herr Kauder spricht nicht in unserem Namen, er repräsentiert keinesfalls die Deutschen schlechthin! Und wir sehen uns auch nicht von Frau Merkel repräsentiert, die diesen eklatanten Verfall der politischen Sitten in ihrer Partei duldet, ebensowenig wie von Herrn Gabriel, dem Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten, der sich der Polemik gegen Sie und das griechische Volk nahtlos anschließt und der Herrn Kauders verbalen Übergriffen nichts entgegenzusetzen weiß. 

Wir bitten Sie und das griechische Volk, zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch andere Stimmen aus Deutschland und Europa gibt: 

  • Wir, die Unterzeichner, wünschen uns mit Ihnen ein weltoffenes, tolerantes Europa, kein Europa der schrillen Töne und nationalistischen Ressentiments! 
  • Wir wollen ein Europa der Solidarität, des Ausgleichs, der Achtung demokratischer Wahlentscheidungen anstelle eines Europas der Reichen, eines Europas, in dem nur die Arroganz der Macht zählt! 
  • Wir brauchen in Europa eine pluralistische wirtschaftspolitische Debatte, nicht die politische Vorherrschaft einer Bankenlobby und ihrer neoliberalen Gefolgschaft in den Regierungen, Parteien und Medien! 
  • Wir wollen kein Europa dulden, das das ärmste Drittel der Gesellschaft in die Verelendung treibt und wir ertragen kein Europa, das ungerührt in Kauf nimmt, wenn in einem Land die ärmsten 30 Prozent der Bevölkerung von medizinischer Versorgung ausgeschlossen werden! 
  • Wir werden ein Europa nicht akzeptieren, das den Begriff der „Reform“ in solch schamloser Weise mißbraucht und in sein Gegenteil verkehrt, wie dies gegenwärtig der Fall ist! 

Wir wollen und können uns ein Europa ohne Griechenland nicht vorstellen! Ein solches Europa wird in Euro und Cent vielleicht viel wert sein, aber in menschlichen Kategorien wird es versagt und seine Grundideen eines geeinten, friedvollen, demokratischen und an humanistischen Werten orientierten Gebildes unwideruflich verraten haben! 

Die Unterzeichner: Attac-Projektgruppe Eurokrise 


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