Jul 062015
 

Insel-Erkenntnisse über die Ethik Europas

Von Christian Schüle

Christian Schüle hat auf Naxos unter der griechischen Sonne über Europas Ethik nachgedacht. Die Griechen haben gegen die Sparauflagen der Geldgeber und für den Kurs der Regierung Tspiras gestimmt. Bedeutet das den Grexit? Der Essayist Christian Schüle war im Urlaub auf Naxos – und kehrte mit vier Erkenntnissen von der Insel zurück.

Der stolze Musiker Dimitros verkauft jetzt auch noch selbstgemachten Schmuck und klappert jeden Morgen auf seinem Mofa die Apartment-Studios ab. Das ist neu.

Der sonst mürrische Supermarktchef Manolis lächelt neuerdings ab 8 Uhr früh jeden Kunden an, was in acht Jahren nicht vorgekommen ist. Der Hotelwirt Fotis erfasst seine Gäste jetzt schriftlich per Formular, stellt Rechnungen aber nach wie vor nur auf Nachfrage aus.

Der Sonnenschirmvermieter Tassos verdient seit diesem Jahr mit vielen Touristen aus Deutschland, Österreich, Italien und Norwegen wieder gutes Geld – 7 Euro pro Schirm-Einheit, schätzungsweise 40.000 Euro in vier Sommermonaten.

An dieser Stelle lautet die erste Erkenntnis:

  • Nie ist klar, ob von Netto oder Brutto die Rede ist.

Überhaupt Tassos. 47 Jahre alt, Baseballkappe, verspiegelte Sonnenbrille, Ein-Mann-Unternehmer. Er lebt im Winter auf dem Festland, im Sommer auf Naxos. Er muss für sich, seine kranken Eltern und seine alleinerziehende Schwester in Athen sorgen; täglich steht er um sieben auf und geht um 22 Uhr ins Bett.

„Wann schmeißt ihr uns endlich raus?“

Und jeden Morgen begrüßte er mich mit der fordernden Frage: „Wann schmeißt ihr uns endlich raus?“ „Warum sollten ‚wir‘?“, war meine tägliche Gegenfrage.

Weil, so Tassos in vielen Variationen, seine Landsleute selbstbezogen und unzuverlässig seien, weil ihnen jegliches Verantwortungsbewusstsein fehle, ebenso das Gefühl für Staatsbürgerpflicht und Unternehmergeist und grundsätzlich das Interesse an Volkswirtschaft und Gemeinwohl; ja, weil in Griechenland weitgehend Familien- und Clanstrukturen herrschten.

So lautet die zweite Erkenntnis:

  • Der Kleinunternehmer Tassos aus Naxos verehrt die Deutschen. Erstens, weil sie seine Schirme mieten. Zweitens, weil sie immer Wort halten. Drittens weil er, der Grieche, deshalb gerne ein Deutscher wäre.

Stella zum Beispiel, in deren schlichter Apartment-Anlage ich seit Jahren sehr zufrieden wohne, hat über den Winter einen großen Pool bauen lassen. So gut wie alle Studio-Vermieter entlang des Plaka-Beaches besitzen nun schicke Pools fast direkt am Meeresufer – finanziert, so hört man, aus europäischen Fördertöpfen und eigenen Rücklagen.

Die Festland-Großstädte sind das Problem

Will heißen: Arm und darbend ist man auf der Insel folglich nicht – das Land gehört wenigen Familien, die von Tavernenbetrieb, Landwirtschaft und Tourismus einträglich leben können. Die dritte Erkenntnis also:

  • das griechische Problem ist ein Problem der Festlands-Großstädte.

Historisch betrachtet war Griechenland immer Teil des oströmischen Reichs, Orientierungspunkt Byzanz und Konstantinopel, mit der einst legendären Weigerung, dem osmanischen Fremdherrscher Steuern zu entrichten. Deutschland, Holland, Frankreich und Österreich hingegen sind Erben des weströmischen Reichs, Orientierungspunkt Rom, später Paris, mit der Philosophie des „pacta sunt servanda“ – Verträge sind einzuhalten.

Die Erben Westroms sind von calvinistischer Erwerbsethik, Protestantismus, Rechtssicherheit und Rationalität geprägt; die Erbens Ostroms von Orthodoxie, Kirchenpatriarchiat, staatlicher Bürokratie und osmanischem Imperialismus – ohne Tradition gelebter Aufklärungsmoral, wodurch sich Klientelwirtschaft, Korruption und Rebellentum erklären.

Ein Gesinnungsgraben quer durch Europa

Vierte Erkenntnis:

  • Griechenland mag die Wiege der Demokratie und der Staats-Philosophie sein, ja. Das aber vermag nicht zu verhindern, dass quer durch Europa eine Art St. Andreas-Graben zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik verläuft, dessen tektonische Spannungen alle Europäer seit über fünf Jahren schmerzhaft aushalten müssen.

Am Ende, kurz vor meinem persönlichen Grexit von der Insel Naxos zurück nach Hamburg, noch eine gute Kunde: Es gibt wieder mehr Fische in der Ägäis. Die Netze sind passabel gefüllt, und der traurige Stamatis hat endlich das Lachen wiedergefunden. Darauf einen Ouzo, auch mal am Nachmittag.


Deutschlandradio Kultur vom 06.07.2015

Christian Schüle, 44, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT, lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg und lehrt an der Berliner Universität der Künste Kulturwissenschaft. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman „Das Ende unserer Tage“ (Klett-Cotta) und den Essay „Wie wir sterben lernen“ (Pattloch Verlag). Gerade erschienen: „Was ist Gerechtigkeit heute?“ (Droemer-Knaur).

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