Okt 232015
 

Ökumenischer Jugenddienst seit 1955/1956 – Seniorenkreis
Konvent in Neudietendorf  26. – 30. September 2015
„Anpassen – Beharren – Widerstehen“

Die volkseigene Erfahrung

Von Pfarrer Dr. Willibald Jacob
* 26. Januar 1932   † 3. Juli 2019

Einführung und Fragen von Christoph Gäbler sowie Willibalds Antworten

  • Mein erstes Aufbaulager war 1957 in Berlin.
  • Neu für mich war, dass das Aufbaulager ein weltliches Projekt in Weißensee zusammen mit der NVA dem Nationale Aufbauwerk war.
  • Neu für mich war das christliche Motto von Dietrich „Suchet der Stadt Bestes in der DDR“.
  • Neu für mich war, dass in Mainz-Kastel 1950 ein Zentrum für kirchlichen Dienst in der Industrie-Gesellschaft entstand, dass von der Gossner Mission initiiert worden war.

Schon damals hörte ich den Namen Horst Symanowski der ab 1948 als Hilfsarbeiter in den Zementwerken Dykkerhof in Mainz sein Geld verdiente, also kein hauptamtlicher sondern ein nebenamtlicher Pfarrer.

Bei dem Ostertreffen 1963 hatten wir das Thema: Unser Glaube heute. Gretchen zitiert in dem Bericht u.a. Horst Symanowski:

„Es geht nicht darum die Versöhnung zu predigen, sondern Versöhner zu sein.“

Im ersten Band ist für Willibald der „rote Faden“der Titel des ersten Bandes seiner Lebenserinnerungen: „Vom Rand die Mitte suchen“. Diese Mitte scheint für ihn nicht Gott, schon gar nicht die Kirche, sondern die Gesellschaft zu sein.

Im zweiten Band wird vermutlich der Titel „Die volkseigene Erfahrung“für ihn wichtig sein. Diese volkseigene Erfahrung weist ihn dabei immer wieder auf die Frage nach der Rolle des Eigentums hin, ohne sie vorschnell zu beantworten.

Ich möchte Euch nun zeigen, wie die Eigentumsfrage Willibalds Leben begleitet. Hannelore wird Zitate aus dem Buch vorlesen.

Willibald war Ende der Sechziger Jahre wie Horst Symanowski als Arbeiterpfarrer in dem VEB Straßenwesen Cottbus tätig. In jener Zeit wurde er oft von Mitchristen gefragt, ob sich denn nun Arbeitskollegen zum Glauben bekehrt hätten. Das war für ihn nicht wichtig. Er beschäftigte sich z.B. mit der Frage, ob das Eigentum in Kirche und den Gemeinden Privateigentum ist. Für ihn ist es schon eher Volkseigentum, gemeinsames Eigentum. Er fragt sich, zu wessen Nutzen soll das Eigentum der Kirche verwaltet werden?

„Der Begriff Volkseigentum ist mir wichtig und wertvoll. Auch er regt an. Ich habe in einem volkseigenen Betrieb ab 1968 gearbeitet. Und die Eigentumsfrage ist bis heute zentral und unbeantwortet.“

1983 – 1988: Indien  Seite 23

Von 1983 bis 1988 arbeitet er in Indien bei der Gossner Evangelical-Lutheran Church. Mehr als 90 Prozent ihrer rund 500.000 Mitglieder sind Adivasi. Die Adivasi sind die Nachfahren jener ersten Bewohner Indiens, die sich der herrschenden Ordnung der Eroberer in den verschiedenen Epochen nicht gefügt haben. Um ihre Herrschaft abzusichern, schufen diese Eliten das Kastensystem, das die vorhandene Bevölkerung, die Ureinwohner, als „wild“und „unzivilisiert“ausgrenzte.

Viele Gemeinschaften zogen sich in unwegsame Berg- und Waldregionen zurück, wo sie ihre traditionelle Lebensweise und kulturelle Identität zum Teil bis in die jüngste Vergangenheit bewahren konnten und wo sie bis heute im Einklang mit der Natur leben. In der Wirtschaftsordnung Indiens haben die Adivasi nie einen Platz gehabt – außer als billige Arbeitskraft. Ansonsten beschränken sich ihre Tätigkeiten auf Ackerbau, Viehhaltung und Handwerk.

Willibald beschreibt die Abhängigkeit der Gossner-Adivasi-Christen und ihrer Leitungen von ihren deutschen Mentoren. Er setzt sich dafür ein, dass die Dorfpastoren, die die traditionelle Landwirtschaft kennen, so qualifiziert werden, dass sie Entwicklungshelfer der Dörfer werden.

Der Kirchenpräsident Bage der Gossnerkirche in Indien stellte damals fest:

„Wir brauchen eine Partnerschaft ohne Geld. Wir brauchen keine deutschen Missionare und Entwicklungshelfer. Das deutsche Geld darf nicht mehr konstitutiv sein. Wir brauchen eine Partnerschaft ohne Geld.“

Für Willibald blieben viele Fragen:

  • Welche Rolle das Geld?
  • Privateigentum oder Volkseigentum?
  • Immer weiter so: Geber und Nehmer in der Entwicklungshilfe
  • Ist das Privateigentum ein Herrschaftsinstrument?

1989 -1992: Pfarrer in Hohenbruch  Seite 24

Nach der Rückkehr nach Deutschland war Willibald von 1989 bis 1992 Pfarrer in Hohenbruch im heutigen Landkreis Oberhavel. Er erlebt nach der Wende die Veränderung des Dorfes, die Verflochtenheit der Werktätigen mit der Weltwirtschaft.

Er stellt fest:

„Als alles aus war, wurde schnell deutlich, was verlorenging, was wertvoll war. die Genossenschaft. Eine bestimmte Form des gemeinsamen gesellschaftlichen Eigentums. Volkseigentum? Wer wieder in die eigene Tasche wirtschaften wollte, ging schnell Pleite. Schulden? Schulden alt – Schulden neu. Aus Schulden bei der Staatsbank der DDR wurden ‚Geschäftsschulden‘; d. h., die Zinsen bekamen einen anderen Charakter, wurden eine drückende Last und zwangen z. T. in die Insolvenz. War etwa doch etwas dran an der staatlich-gesellschaftlichen Verwaltung des gemeinsamen Vermögens?“

In Indien konnte Willibald studieren, wie Ausbeutung und Schuldsklaverei funktionierten. Indien wurde für ihn zum Paradigma für diese sog. Weltwirtschaft.

Die Adivasi kennen noch die kollektiven Formen des Eigentums in ihren Familien und Clans. Einige haben von der kollektiven Aneignung des Landes gelesen, von den Strukturen der Urgesellschaft. Märchen, Sagen, Mythen.

Willibald fragt sich:

 „Ist das alles Ideologie? Ich erinnere mich an den Versuch, volkseigene Erfahrung zu etablieren. Und plötzlich erscheint die Industrialisierung Indiens unter dem Gesichtspunkt der Profitmaximierung, täglich handgreiflich erfahrbar, als die eigentliche Deformation unserer Menschenwelt global, die wir zu verantworten haben.“

Angesichts dessen wird alles zur Ideologie für Willibald: Armutsbekämpfung, Technologietransfer, Entwicklungszusammenarbeit, Demokratieaufbau, Friedenseinsätze

Volkseigene Erfahrung führte zur betrieblichen Qualifikation  Seite 28

Hilfsarbeiter sein und bleiben war in der DDR eine Unmöglichkeit. Jeder Betrieb hatte seine Pläne zur Förderung von Männern und Frauen, die weiterkommen wollten.

Es ist kein Wunder, dass nach 1989 von einer Überqualifikation der DDR-Bevölkerung die Rede ist. Die Planer der „neuen Republik“konnten nichts anfangen mit der Fülle an „gebildeten Arbeitern“, denen man kaum die Schuld für die eigene Arbeitslosigkeit zuschieben konnte. Das Reserveheer an Arbeitslosen sollte besser zu den „bildungsfernen“Schichten gehören…

Für Willibald ging es um die Beantwortung der Frage: Wie entsteht der Mehrwert? Im Sozialismus durch die menschliche Arbeit, im Kapitalismus durch die Geldvermehrung. De Beschäftigung von Willibald mit der Ökonomie führte zu der Erkenntnis:

 „‚Das Kapital heckt Junge‘. Die Mehrwertlehre von Karl Marx erscheint mir bis heute als ein Schlüssel zum Verständnis von Ökonomie, ja des Lebens selbst; selbstbestimmt oder fremdgesteuert?“

Im Kapitalismus hilft Geld zur Produktion von Waren, die wiederum durch Verkauf zu Geld werden.

„Die vollständige Zirkulationsformel lautet: Geld – Ware – Mehrgeld (der Mehrwert ist hinzugekommen). Hier wird Geld in Kapital verwandelt. Marx wörtlich: ‚Das Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes gesellschaftliches … Produktionsverhältnis‘… Auch Gerechtigkeit ist ein Verhältnisbegriff, … im alten Israel wurde ein Verhalten, ein Handeln, nicht an einer ideellen Norm gemessen, sondern an dem jeweiligen Gemeinschaftsverhältnis selbst. … Die Veränderung des Weltwährungssystems von der Golddeckung zur ‚Dollardeckung‘ bedeutet eine Radikalisierung des Kapitalverhältnisses zu einem Herrschaftsverhältnis.“

Ingenieurschule für Bauwesen  Seite 30

Im Jahre 1970 zog Willibald mit Familie nach Berlin-Weißensee um. Er erhielt eine Stelle als Arbeitsvorbereiter in der VEB Bezirksdirektion des Straßenwesens.

Gleichzeitig erhielt er einen Studienförderungsvertrag für vier Jahre. Er fuhr einmal in der Woche per Bahn nach Cottbus zu den Vorlesungen und Übungen der dortigen Ingenieurschule für Bauwesen.

Er schrieb eine Arbeit über den Wechsel der Weltwährungen von der Golddeckung zum Dollarfloating, das bedeutet für ihn eine Radikalisierung des Kapitalverhältnisses zu einem Herrschaftsverhältnis.

Das Vermächtnis von Thomas Müntzer  Seite 32-36

Für Willibald war die Beschäftigung mit Thoma Müntzer wichtig:

 „Bis heute ist es so: Wenn die Gemeinde in einem allgemeinen Bekenntnis ihre Sünden, ihre Schuld und Irrwege bekannt hat, dann spricht ihr der Pfarrer die Vergebung zu – im Namen Gottes durch Jesus Christus.“

Was liest Willibald bei Thomas Müntzer? Der Priester bekennt sein Unrecht, die Gemeinde vergibt ihm. Eine Umkehrung des Verhältnisses im Zentrum des Gottesdienstes. Das ist für ihn die eigentliche Reformation.

Willibald schlussfolgert:

„Stellt Euch vor: Bischöfe und Konsistorialräte, Kardinäle und der Papst bekennen ihr Unrecht, Irrtümer und Fehlentscheidungen vor den Gemeinden. Der (Christenheit wäre vieles erspart geblieben. Auf alle Fälle hätte ein permanentes Nachdenken eingesetzt. Das Verhältnis von oben und unten hätte nicht diese verhängnisvolle Ausprägung erfahren können. Der mündige Mensch wäre schon vor Dietrich Bonhoeffer zum Thema geworden. Die gesellschaftlichen Forderungen Müntzers und der Bauern bezogen sich auf die Wiederherstellung eines Rechtszustandes, der vor Gott verantwortet werden konnte.“

Ohne die Ungleichheit hätte es keine Aufstände, Revolten, Befreiungsbewegungen gegeben. Die weltweite soziale Frage ist bis heute ungelöst. Sie war erst durch die Herrschaft des weißen Mannes entstanden oder verschärft worden.

 Willibald weiter:

 „So konnte es nicht ausblieben, dass Schritt für Schritt der reale Sozialismus zu der Alternative wurde. Im Kontrast zu dem, was der Westen zu bieten hatte, war das unausbleiblich. Die Soziale Marktwirtschaft wurde sehr schnell im Lichte unserer, meiner ökumenischen Kontakte als Fassade entlarvt. … Mir aber wurde in solchen Momenten klar: Die Geschichte der DDR ist nicht aufgearbeitet, so lange der Gegner nicht gewürdigt wird, so lange wir nicht von ihm lernen, so lange Thomas Müntzer nicht als normal und aktuell angenommen wird.“

 Ethik des Eigentums  Seite 43-46

 Die Arbeit in den Betrieben in Cottbus und Berlin war für ihn der Anlass zu versuchen, eine Ethik im Volkseigentum zu entwerfen.

 „In den siebziger Jahren begann ich das Thema Eigentum und Arbeit zu durchforsten, so dass im Jahre 1977 der kleine Band „Eigentum und Arbeit. Evangelische Sozialethik zwischen Industriegesellschaft und Sozialismus“erschien. … Im Jahre 1980 stellte ich die Schrift „Leistung – wofür? Überlegungen zum Dienst des Menschen in der Gesellschaft“fertig. … Danach stand ich vor der Frage, ob ich 1977 nicht zu kurz gegriffen hatte – oder anders: Die ökumenische Dimension hatte gewaltige Ausmaße angenommen, Schritt für Schritt hatten wir gelernt, keine eigenen Probleme im Norden ohne die Menschen und ihre Nöte und Bedrängnisse im Süden zu bedenken… Im Jahre 1982 nahm ich Urlaub und ging nach Genf, um in der Bibliothek des Ökumenischen Rates der Kirchen die eben erwähnte Schrift neu zu schreiben und zu erweitern. Die Schrift bekam den neuen Titel „Gerechtigkeit im Alltag. Zum Verständnis von Eigentum und Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft“…

Mit der Einreise nach Indien war es für ihn nicht so einfach. Der Antrag für ein Visum nach Indien wurde 1982 abgelehnt: Indien habe genug Pfarrer, und Missionare würden nicht benötigt. Das Visum würde nur erteilt für ausländische Mitarbeiter, die eine höhere Qualifikation als der übliche Pfarrer haben.

Willibald stand also vor der Aufgabe, aus einem seiner Bücher eine Dissertation zu machen, die es ihm ermöglichte nach Indien einzureisen. Die zweite Fassung von „Eigentum und Arbeit„bot sich an.

 „Hier hatte ich versucht, die Besonderheit des nicht mehr privaten Eigentums und die Realisierung des Rechtes auf Arbeit in die evangelische Ethik zu integrieren, gleichzeitig zu beschreiben, dass die Überwindung der Privatisierung von Eigentum und Arbeit eine enorme Ökumenische, d. h., internationale Dimension angenommen hat. Keine Region ist mehr isoliert von diesem Vorgang.“

Schwächen in der Konstruktion „VolkseigentumSeite 55

Nach der Wende zeigte sich die Schwäche der Konstruktion von Volkseigentum. Auf den Dörfern existierte immer noch das rechtliche Gerüst von Eigentum im Grundbuch. Die alten Eigentümer waren immer vorhanden, auch wenn sie Genossenschaftsbauern wurden und ihren Anteil einbrachten.

„In der städtischen Industrie war der sozialistische Staat leichtsinnig gewesen. Da er nur enteignet hatte, fehlten die Eigentümer im Grundbuch. Auch neue Grundbucheigentümer wurden nicht geschaffen. Alles gehörte jedem/jeder. Es fehlten einfach die neuen Rechtsträger, an denen niemand hätte Vorbeigehen können. Also konnte jeder zufassen. Und die Stärksten siegten, manipulativ gefördert durch die Treuhand. Wenn eine Belegschaft mit ihren hochqualifizierten Ingenieuren und Ökonomen den Betrieb übernehmen wollte, wurde gesagt: Das ist nicht vorgesehen! Aber wer entschied im Hintergrund?“

Anderer Umgang mit Eigentum in der Mongolei  Seite 70

Willibald war von 1994 bis 1998 Bundestagsabgeordneter der PDS. Einer der Reisen von Willibald als Bundestagsabgeordneter führte in die Mongolei, Dort erlebt er einen anderen Umgang mit Eigentum. Er schreibt:

„Schon in Ulan Bator bei den Behörden war uns deutlich geworden, dass auch in der Mongolei die Bauern schlau sind und rechnen können. Sie sagen nach außen Ja und nach innen Nein. So war dann ich dran, das Chaos aufzuklären, das in den Ohren meiner westdeutschen Kollegen entstanden war. … ‚Ja, wir haben unsere Ländereien wieder übernommen. Aber sehen Sie, dennoch gehört Allen Alles.‘ – ‚Wie das?‘ – ‚Ja, sehen Sie, wir haben die Herden wieder privat übernommen. Aber wenn es darauf ankommt, dann sorgt jeder für Alles. Wir bestellen gemeinsam den Tierarzt. Der Verkauf an das Kombinat wird gemeinsam geregelt.‘ – ‚Und wie soll das zugehen?‘ – ‚Ja, sehen Sie, das ist einem Außenstehenden schwer zu erklären. Sie müssen drinstecken. Eigentum ist eben eine schwierige Sache‘.“

Gemeineigentum in Indien  Seite 78/79

Auch in der Zeit in Indien erlebte Willibald einen anderen Umgang mit Eigentum. Im Laufe der 30jährigen indisch-deutschen Partnerschaft wurden die Kontakte zwischen Indien und Deutschland durch gegenseitige Besuche und Praktika enger. Beiden wurde bewusst, dass sie nicht mehr in grundsätzlich verschiedenen Gesellschaften leben.

„Eine Parallelität kam uns zu Bewusstsein, hier und dort Massenarbeitslosigkeit, Landraub, Vertiefung der Gegensätze zwischen Arm und Reich. Die Ungleichheit wurde zum Kennzeichen unserer Gesellschaften – hier und dort. Gleichzeitig wurde klar, dass uns gemeinsame Interessen verbinden, eben nicht unterschiedliche Interessen der Motor der sog. Entwicklung sind. Gemeinsame Interessen, Solidarität von unten – und das in Würde. Das heißt: wir können uns jetzt wirklich auf Augenhöhe begegnen. Das elende Verhältnis von Gebern und Nehmern wird Schritt für Schritt überwunden, die beiderseitige Würde wiederhergestellt.“

In Indien gibt es von Politik und Wirtshaft Pläne zur Industrialisierung und Modernisierung des Landes. Autobahnen von Meer zu Meer. Neue Fabriken, neue Bergwerke, neue Städte, neue Slums, alles auf Kosten der Dörfer und meistens auch auf Kosten der Adivasis, eine der benachteiligten Bevölkerung.

„Wir erwähnen das Aufbegehren der Bauern, die militärischen Kämpfe, die heute schon stattfinden. Die Bauern erinnern sich noch, was seit alters her Gemeineigentum hieß, Volkseigentum. Die Regierungsaktion Green Hunt (Menschenjagd) ist weithin bekannt, um den Widerstand der Bauern zu brechen. Gibt es keinen Ausweg aus dieser Gewaltspirale? Doch, es gibt den Weg ins Freie, und die christliche Kirche mit ihren Gemeinden und Mitarbeitern kann helfen. Was in Europa in Frage gestellt wurde, gilt in Indien. Der Pfarrer kann sich ändern, hin zu den Menschen in neuen Situationen, hin zur Gesellschaft in ihren Nöten und Chancen.“

Kolonialismus heute und?  Seite 86/87

Das Fazit von Willibald lautet:

„1973 taten die neoliberalen Ökonomen der USA den ersten Schritt auf dem Weg zu einer unipolaren Wirtschaftsordnung, in der die privaten Direktinvestitionen den Vorrang haben samt Deregulierung der Märkte und einer allgemeinen Reprivatisierung. Eine Welle der Strukturanpassungsreformen ging über die Länder der sog. Dritten Welt. Für die Bevölkerungen wichtige soziale Strukturen und Programme und die sie tragenden staatlichen Haushalte wurden beseitigt oder gezwungen, den Schuldendienst an die erste Stelle zu setzen. Die letzte Maßnahme ist der Abschluss von Investitionsabkommen in unseren Tagen für sämtliche Kontinente. Das Kapital soll zollfrei agieren können. Die Staaten werden seine Sklaven und der eigenen Gerichtsbarkeit der Investoren unterworfen. Für Asien wurde dieses Abkommen in Bali erarbeitet unter Anleitung der USA. Zuerst verweigerte sich Indien zu unterschreiben, weil es seine 800 Millionen Bauern schützen wollte, denen lt. Abkommen keine Subventionen mehr gewährt werden dürfen. Auf Druck der USA unterschrieb Premierminister Modi einige Monate später.

Zu den wirtschaftlichen Maßnahmen kamen die Kriege. Soldatsein hieß jetzt, den freien Markt zu verteidigen, nicht mehr das eigene Land. Ich erinnere nochmals an die Verteidigungspolitischen Richtlinien für die Bundeswehr aus dem Jahre 1992. Die Landesverteidigung wurde überrundet durch den Angriff auf andere Länder. Das Grundgesetz und bald auch das Völkerrecht wurden unwichtig, d. h., gebrochen: Jugoslawien, Afghanistan, Irak …“

Das Fazit diese zweiten Bandes ist: Willibald betrachtet sein Leben in seiner Biografie in allen seinen Phasen als gesellschaftsbezogenes Leben. Diese Sicht ist für ihn sinnstiftend.

 Wir kommen nun zu meinen Fragen an Willibald.

  1. Ein Ansatzpunkt für die Lösung der Eigentumsfrage bringt Josef Göbel in dem Nachwort zur Sprache. Göbel schreibt, die Eigentumsfrage ist wichtig und ungelöst, weil zu alternativ gedacht wird. Der zwiespältigen Anlage des Menschen (egoistisch und selbstlos zugleich) entspricht, dass auch die Übermacht des Eigentums gespalten werden müsste in spezifisch gesellschaftliches und spezifisch privates Eigentum.Das entspricht seiner Meinung nach auch unserer menschlichen Natur: wir sind nicht nur Egoisten, wie es uns der Kapitalismus einreden möchte, wir sind auch nicht nur uneigennützig, zu dem der Staatssozialismus erziehen wollte. Wir sind beides. Um beides im Ausgleich zu halten, muss Eigentum gespalten sein. Er kommt zu dem Ergebnis: Das aufgespaltene Eigentum ist das verträgliche Eigentum. Die Eigentumsfrage muss global angegangen werden.Meine erste Frage an Willibald: Teilst Du Göbels Einschätzung zur Eigentumsfrage und welche gesellschaftlichen Schritte können bei uns in Deutschland schrittweise angegangen werden?
  2. Papst Franziskus hat im Herbst 2014 auf eine Änderung des Wirtschafssystems gedrungen. Auch die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Busan 2013 setzt sich für die Überwindung des Kapitalismus ein. Friedhelm Hengsbach ist der Meinung, dass in dem Sozialwort der deutschen Kirchen von 2014 die kirchlichen Eliten den Schulterschluss mit den wirtschaftlichen und politischen Eliten Deutschlands suchen.Meine zweite Frage lautet: Was können wir in den Kirchen tun, um den Prozess der notwendigen Veränderungen des Wirtschaftssystems voranzutreiben?
  3. Willibald war während des Prager Frühlings in der Nähe von Prag und hat in das Gästebuch seiner Gastgeber geschrieben: „Es lebe der Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. – Er hatte sich mit Dietrich verständigt: „Alles können die Tschechen machen, nur nicht aus dem Warschauer Vertrag austreten und das Volkseigentum wieder privatisieren.“Meine dritte Frage an Willibald: Deine Haltung zum Prager Frühling lässt nicht erkennen, welche gesellschaftlichen und politischen Änderungsnotwendigkeiten für den real existierenden Sozialismus 1968 bestanden. Wie sahst Du das damals und wie beurteilst Du das heute?

volkseigene-erfahrung

Antworten und Reflexionen nach der Einführung in mein Buch
„Die volkseigene Erfahrung“, Lebenserinnerungen Teil II.

Von Willibald Jacob

Christoph Gäbler und Josef Göbel haben sich die Mühe gemacht, in mein o.g. Buch einzuführen. Sie haben dabei fast übereinstimmend die Eigentumsfrage als roten Faden meiner diversen Situationsschilderungen ausgemacht. Ich bin erstaunt und dankbar, da auf diese Weise das Gespräch zu einer aktuellen Problematik angeregt werden kann: Die Eigentumsfrage ist ungelöst, gerade deutlich in einer Phase der Radikalprivatisierungen und der damit verbundenen Verteilungskämpe (einschließlich Kriegen und Flüchtlingsströmen).

Ich will aber nicht verschweigen, dass mir zwei andere Themen ähnlich wichtig sind wie die Eigentumsfrage, nämlich die Teilnahme des Pfarrers an der Arbeitswelt des Menschen und unsere Kooperation mit den Kirchen des Südens.

Mir sind für die diesjährige Diskussion in Neudietendorf drei Fragen vorgelegt, die ich gerne aufnehme:

Zur ersten Frage: Teilst Du Göbels Einschätzung zur Eigentumsfrage und welche gesellschaftlichen Schritte können bei uns in Deutschland schrittweise angegangen werden?

Es ist seit langem die Situation jedes/jeder Einzelnen und von Gruppen und Institutionen mit den Worten „Lokal handeln und Global denken“zu umreißen. Es stimmt: Der Hinweis auf das Globale kann sehr oft und schnell zur Resignation führen.

Ich möchte eine andere Begrifflichkeit benutzen: Wir leben gleichzeitig in kleinteiligen und großteiligen Verhältnissen und Zusammenhängen.

Beispiel 1: Ich fahre einen VW Polo und bei Schäden bringe ich ihn zu einer guten Werkstatt. Wenn wir über den Kraftstoffverbrauch diskutieren, hat der Schlossermeister folgende Antworten: Fahrweise – Strecke – und (lächelnd) jeder will verdienen. Ich merke: Das Kleinteilige ist mit dem Großteiligen verflochten. Und ich warte auf meine Gelegenheit. Sie ist gekommen. VW hat gezeigt, dass das Verdienen Betrug und Lüge ist. Die weltweit wirkende Ingenieurkunst hat nicht nur Vertrauen zerstört, sondern die Ursachen von (Wirtschaft-) Kriegen und globalen Krisen offengelegt. – Ich stehe unter dem Eindruck: Es kommt von allein. Es gilt die biblische Weisung: Seid wachsam!

Beispiel 2: Nebenan in der Turnhalle meiner alten Schule sind die ersten Flüchtlinge aus dem Nahen Osten angekommen. Sie kommen von allein. – Es kommt von allein. Keine Resignation. Was heißt ES? Das Fragen nach den Ursachen und: Die Ursachen legen sich selbst frei. Ich erinnere mich an den Slogan: „Wie kommt unser Öl unter Euren Sand?“Und ich frage: Warum stehen bestimmte US-Amerikanische Präsidenten und ihre Berater noch nicht vor einem Kriegsverbrechertribunal?

Beispiel 3: Eine jüdische Familie aus Nordgaliläa bringt einen Sohn hervor, bei dem Hoffnung und Resignation unglaublich zusammenfallen. Galiläa ist das Armenhaus Israels: Kriegsflüchtlinge, Entwurzelte, Kranke. Er beginnt seine Tätigkeit mit der Aufforderung: „Kehrt um! Die Herrschaft Gottes in nahe.“Massen von Kranken folgen ihm und wünschen Heilung. Auf seinem Weg von Galiläa nach Jerusalem geht er den Weg, den später die 10. römische Legion unter dem späteren Kaiser Titus zieht, um Jerusalem zu zerstören. Jesus stirbt auf dem Kreuzigungshügel vor der Stadt durch das Urteil des Imperiums: Anführer der Kranken und Armen. Auch die Frauen aus Galiläa sind dabei. Die Botschaft von der Auferstehung entsteht. Wir sehen: Resignation und Hoffnung gleichzeitig; Menschen in kleinteiligen und großteiligen Verhältnissen gleichzeitig. Deshalb: Seid wachsam! Die Veränderung kommt nicht nur durch eine Beteiligung, sondern sie kommt.

Zur zweiten Frage: Was können wir in den Kirchen tun, um den Prozess der notwendigen Veränderungen des Wirtschaftssystems voranzutreiben?

Jeweils in und mit ihren Strukturen legen Papst Franziskus und die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen von Busan/Südkorea 2013 den Finger in die Wunde. Das kapitalistische Weltwirtschaftssystem versagt. Unsere vornehmste Aufgabe besteht heute darin, als Glieder der Evangelischen Kirche in Deutschland zu fragen: Warum vermittelt diese Kiche diese Erkenntnisse nicht auf protestantische Weise an die Gemeinden? Es entsteht der Eindruck, dass nicht nur Information privatisiert wird – jeder und jede möge sich selbst kümmern (Internet), sondern dass die Informationen über unbequeme Erkenntnisse verhindert wird. Fragt den Vertreter der Konferenz Europäischen Kirchen und die Bischöfin der Mitteldeutschen Kirche. In unseren Kirchen fallen kleinteilige und großteilige Strukturen zusammen, ein ideales Übungsfeld für lokale und globale Verantwortung.

Zur dritten Frage: Deine Haltung zum Prager Frühling lässt nicht erkennen, welche gesellschaftlichen und politischen Änderungsnotwendigkeiten für den real existierenden Sozialismus 1968 bestanden. Wie sahst Du das damals und wie beurteilst Du das heute?

Im Jahre 1968 besuchte ich während der Unruhen in Prag einen Freund in Kolin östlich von Prag. In das Gästebuch trug ich den Satz ein: „Es lebe der Sozialismus mit menschlichem Antlitz.“Vor der Reise hatte ich mich mit Dietrich Gutsch ausgetauscht. In den Diskussionen mit unserem tschechischen Freund vertrat ich die Auffassung: Ihr könnt auf vielen Gebieten vieles verändern, aber zwei Dinge solltet ihr nicht tun; ihr solltet nicht aus dem Warschauer Vertrag aussteigen, und ihr solltet nicht das Volkseigentum in allen seinen Formen abschaffen.

Schon damals war die Verflechtung von groß- und kleinteiligen Strukturen klar. Ich versuchte zu lernen zu unterscheiden. Wenn wir heute nach Lösungen im Sinne des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung fragen, dann unterscheiden wir zwischen den Lösungen im Sinne von Genossenschaften und Kommunen und dem Interesse der Oligarchen.

Mir scheint, dass auch in Zukunft im Verlaufe eines Transformationsprozesses der Gesellschaft die Machfrage gestellt wird: Wer sind die Träger von Strukturen, die das Leben von Mensch und Erde ermöglichen und sichern? Dabei werden wir kleinteilige und großteilige Strukturen beachten.


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