Dez 262015
 

Alles eilt

Von Byung-Chul Han

„Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken.“
(Friedrich Nietzsche
, Menschliches, Allzumenschliches )

Die neoliberale Politik hat sämtliche Zeitformen zerstört, die der Logik der Effizienz und des Kapitals im Wege stehen. Dies macht krank und zerstört die Seele. Deshalb brauchen wir eine andere Zeit: Die Zeit als Gabe.

Nicht jede Zeitform lässt sich beschleunigen. Es wäre ein Sakrileg, eine rituelle Handlung beschleunigen zu wollen. Rituale und Zeremonien haben ihre Eigenzeit, ihren eigenen Rhythmus und Takt. Alle Handlungen, die an die Jahreszeiten gebunden sind, entziehen sich ebenfalls der Beschleunigung. Liebkosungen, Gebete oder Prozessionen lassen sich nicht beschleunigen. Alle narrativen Vorgänge, zu denen auch Rituale und Zeremonien gehören, haben ihre eigene Zeit. Im Gegensatz zum Zählen lässt das Erzählen keine Beschleunigung zu. Die Beschleunigung zerstört die narrative Zeitstruktur, den Rhythmus und den Takt einer Erzählung. 

Die Geschwindigkeit des Prozessors lässt sich beliebig erhöhen, weil er nicht narrativ, sondern bloß additiv arbeitet. So unterscheidet sich der Prozessor von der Prozession, die ein narratives Ereignis ist. Heute werden alle Rituale und Zeremonien abgeschafft, weil sie hinderlich sind für die Beschleunigung der Kreisläufe der Information, der Kommunikation und des Kapitals. So werden alle Zeitformen beseitigt, die nicht der Logik der Effizienz gehorchen.

Wirkungslose Entschleunigungspraktiken

Die Beschleunigung benennt die heutige Zeitkrise. Alles wird schneller. Überall werden Entschleunigungspraktiken angeboten und angepriesen. Die wirkliche Zeitkrise ist aber, dass uns jene Zeitformen abhandengekommen sind, die keine Beschleunigung zulassen, Zeitformen, die eine Erfahrung der Dauer möglich machen. Heute hat sich die Arbeitszeit zu der Zeit schlechthin totalisiert. Sie ist die Zeit, die sich beschleunigen und ausbeuten lässt. Die Entschleunigungspraktiken bringen hier keine andere Zeit hervor. Sie verlangsamen nur die Arbeitszeit, statt diese in eine ganz andere Zeit zu verwandeln.

Die Erfahrung von Dauer ist heute kaum möglich. Die Arbeitszeit lässt sie nicht zu. Sie ist keine narrative, sondern eine additive, ja kumulative Zeit. Die fehlende Dauer vermittelt uns ein Gefühl, alles beschleunige sich heute. Die Ursache der schwindenden Dauer ist aber nicht, wie man irrtümlicherweise annimmt, die Beschleunigung. Wie eine Lawine stürzt die Zeit vielmehr gerade deshalb fort, weil sie in sich keinen Halt mehr hat, weil nichts der Zeit Dauer verleiht. Jene Gegenwartspunkte, zwischen denen keine temporale Anziehungskraft und Spannung mehr besteht, weil sie bloß additiv sind, lösen den Fortriss der Zeit aus, der zur richtungs-, das heißt sinnlosen Beschleunigung führt. 

Zeit in Geiselhaft

Der Sinn stiftet eine Dauer. Die Sinnleere führt auch dazu, dass wir heute pausen- und richtungslos kommunizieren. Die Leere zwischen Kommunikationen erscheint als Tod, den es schleunigst auszublenden gilt durch mehr Kommunikation. Das ist aber ein aussichtsloses Unterfangen. Die Beschleunigung der Kommunikation allein vermag den Tod nicht zu beseitigen.

Die heutige Leistungsgesellschaft nimmt die Zeit selbst in Geiselhaft. Sie fesselt sie an die Arbeit. Der Leistungsdruck erzeugt dann einen Beschleunigungsdruck. Die Arbeit als solche ist nicht notwendig destruktiv. Sie kann, wie Heidegger sagen würde, zu einer „harten, aber gesunden Müdigkeit“ führen. Der Leistungsdruck erzeugt aber, selbst wenn man in Wirklichkeit nicht viel arbeitet, einen psychischen Druck, der die Seele ausbrennen kann. Das Burn-out ist keine Arbeits-, sondern eine Leistungskrankheit. Es ist nicht die Arbeit als solche, sondern die Leistung, dieses neue neoliberale Prinzip, was die Seele krank macht.

Die Arbeitspause ist nur eine Phase der Arbeitszeit

Die Pause als Arbeitspause markiert keine andere Zeit. Sie ist nur eine Phase der Arbeitszeit. Heute haben wir keine andere Zeit als die Arbeitszeit. Wir haben längst die Zeit des Festes verloren. Der Feierabend als Vorabend des Festtages ist uns heute ganz fremd. Die Zeit des Festes ist keine Zeit der Entspannung oder Erholung von der Arbeit. Das Fest lässt eine ganz andere Zeit beginnen. Das Fest gehört wie die Feier ursprünglich in den religiösen Kontext. Das lateinische Wort feriae hat einen sakralen Ursprung und bedeutet die für religiöse Handlungen bestimmte Zeit. Fatum ist heiliger, der Gottheit geweihter Ort, das heißt die für die religiöse Handlung bestimmte Kultstätte.

Das Fest beginnt, wo die Arbeit als „pro-fane“ (wörtlich: vor dem heiligen Bezirk liegende) Handlung endet. Die Zeit des Festes ist der Arbeitszeit diametral entgegengesetzt. Der Feierabend als Vorabend des Festes kündigt eine heilige Zeit an. Wird jene Grenze oder Schwelle aufgehoben, die das Heilige vom Profanen trennt, bleibt nur das Banale und Alltägliche übrig, nämlich die bloße Arbeitszeit. Die Arbeitszeit ist eine profanisierte Zeit ohne Spiel und Fest. Und der Imperativ der Leistung und Effizienz beutet sie aus.

Die Zeit des Anderen

Heute nehmen wir die Arbeitszeit nicht nur in den Urlaub, sondern auch in den Schlaf mit. Daher schlafen wir heute so unruhig. Auch die Erholung ist insofern nur ein Modus der Arbeit, als sie zur Regeneration der Arbeitskraft dient. So gesehen, ist sie nicht das Andere der Arbeit, sondern deren Erscheinung. Auch die Entschleunigung oder Langsamkeit allein kann keine andere Zeit hervorbringen. Sie ist ebenfalls eine Folge der beschleunigten Arbeitszeit. Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Meinung beseitigt die Entschleunigung nicht die Zeitkrise von heute. Die Entschleunigung bewirkt keine Heilung. Vielmehr ist sie nur ein Symptom. Mit dem Symptom lässt sich die Krankheit nicht beseitigen. Die Entschleunigung allein macht aus der Arbeit kein Fest.

Notwendig ist heute nicht die Entschleunigung, sondern eine Zeitrevolution, die eine ganz andere Zeit beginnen lässt. Die Zeit, die sich beschleunigen lässt, ist eine Ich-Zeit. Sie ist die Zeit, die ich mir nehme. Es gibt aber eine andere Zeit, nämlich die Zeit des Mitmenschen, eine Zeit, die ich ihm gebe. Die Zeit des Anderen als Gabe lässt sich nicht beschleunigen. Sie entzieht sich auch der Leistung und Effizienz. Die Zeitpolitik des Neoliberalismus hat heute die Zeit des Anderen, die Gabe, ganz abgeschafft. Notwendig ist nun eine andere Zeitpolitik. Im Gegensatz zur Ich-Zeit, die uns isoliert und vereinzelt, stiftet die Zeit des Anderen die Gemeinschaft, ja die gemeinsame Zeit. Sie ist die gute Zeit.


Die Zeit Nr. 25/2013
Byung-Chul Han geboren in Seoul, ist Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin.