Feb 132016
 

Flüchtlingspolitik

Peter Sloterdijk, Philosoph aus Karlsruhe, behauptet, dass der Islam mit einem modernen Staat und einer modernen Gesellschaft nicht vereinbar sei. Die Scharia verhindere den Aufbau einer bürgerlichen Verfassung im islamischen Kulturkreis. Sloterdijk sieht auch einen engen Zusammenhang zwischen der Macht des islamistischen Terrorismus und der westlichen Mediengesellschaft: Terror sei »ein Genre der medialen Entertainmentindustrie«, die dem »Primat der Sensation verpflichtet ist«. Terror verspreche die höchste Aufmerksamkeitsprämie. Daher plädiert Sloterdijk für eine Nachrichtensperre nach Anschlägen.

Quelle: Publik-Forum Nr. 3 2016


Angela Merkel, die Flüchtlinge und das Regiment der Furcht

Interview der Zeitschrift Cicero
Fragen: Alexander Kissler und Christoph Schwennicke

Herr Sloterdijk, in Ihrem Buch über „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ steht der Satz, Macht sei „das Vermögen, die  Tatsachen in die Flucht zu schlagen“. Ist  es falsch, bei dieser Definition an die Kanzlerin zu denken und ihre Flüchtlingspolitik?
Peter Sloterdijk: Derzeit melden sich die Tatsachen energisch zurück. Die Macht scheint auf der Flucht vor ihnen. Die Tatsachen sind die Jäger und die Mächti­gen die Gejagten.

Auf der Flucht waren in der Silvesternacht in Köln Frauen. Sie wurden, wie es die Polizei formuliert, von „nordafrikanischen Straftätern“ belästigt, die ihrerseits Flüchtlinge und Asylbewerber waren.
Ich hielt die Vorkommnisse zunächst für einen interkulturellen Silvesterscherz. Es ist nicht unüblich, an Silvester wildfremde Menschen zu umarmen und zu küssen. Einige Ausländer wollten davon profitieren – dachte ich zuerst. Silvester ist ein Tag, an dem man bei uns mit Freundlichkeiten gegen Unbekannte unsortiert umgeht. Wer nicht hier zuhause ist, könnte glau­ben, Europäerinnen seien niedrigschwellig zugänglich.

Es kam zu Vergewaltigungen.
Die Dynamik der Kölner Szene kam mir, wie den meisten, erst nachträglich vor Augen. Sie ist objektiv noch immer nicht ganz geklärt. Zuerst lag die Zahl der Anzeigen in der Größenordnung von einigen Dutzend, aufgrund von abscheulichen Szenen, ohne Zweifel. Die ersten Opfer haben die Vorfälle kurzfristig zur Anzeige gebracht. Der Schock reichte so tief, weil emanzipierte Frauen in die Situation von Freiwild zurückversetzt wurden, wie nach einem verlorenen Krieg. Freunde aus Osteuropa, die mit Bandenüberfällen Erfahrungen gemacht haben, schilderten mir, wie grauenvoll es ist, wenn man von Kriminellen eingekreist wird. Verabredete Bedränger aus Nordafrika haben unzweifelhaft die gleiche schockierende Wirkung. Einige Dutzend Frauen auf dem Vorfeld des Kölner Doms gaben Zeugnis vom Terror solcher Umkreisungen. Wenn inzwischen circa 700 Anzeigen eingegangen sind, gibt es Grund, über die Dynamik der Verzögerung nachzudenken.

In der Folge gab es eine heftige Debatte über die Ursachen solcher Gewaltausbrüche, die nicht auf Köln beschränkt blieben: Liegt es am Islam, dem die Täter angehören, an patriarchalischen Strukturen in den Herkunftsländern, an einem verzerrten Blick auf die vermeintlichen Freiheiten des Westens? Merkels Flüchtlingspolitik, hieß es, mache das Land unsicher.
Man muss sich vor Augen halten, auch moderne Gesellschaften werden latent durch Furcht regiert, obschon es zu ihren Prämissen gehört, dass sie die Furcht außer Kraft setzen sollen. Die Kölner Phänomene sind wahrscheinlich auch darum so kränkend, weil sie mit einem offenen Rückfall in die Wehrlosigkeit einhergehen. Alle Welt redet vom Terrorismus, doch dass der Terror nur die moderne Erscheinungsform einer sehr alten, tiefeingewurzelten Realität namens Phobokratie ist, wird in der Regel nicht begriffen. Die Phobokratie ist so alt wie die Staaten der Antike und die Reichsreligionen. Die Furcht des Herrn bildete das soziale Band in Kollektiven jenseits der Stämme. Immerhin hat die Moderne einen Strukturwandel der Phobokratie bewirkt. Im Zarenreich des späten 19. Jahrhunderts waren Attentate aus dem anarchistischen Untergrund epidemisch. Sie hatten zur Voraussetzung, dass Empörer, Träumer, Weltverbesserer Zugang zu Sprengstoffen gefunden hatten. Ein deutscher Anarchist namens Most schrieb eine „Philosophie der Bombe“ und feierte die heilsamen Effekte der Explosionen.

Heute sind es keine Anarchisten, sondern Islamisten, die die Welt in Angst und Schrecken versetzen. Wie sollten wir uns da verhalten?
Zunächst muss man sich über den Sinn des Worts „Terror“ verständigen. Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts wurde Terror fast ausschließlich als Staatsterrorismus praktiziert. Es waren in der Regel die totalitären Staaten, an erster Stelle die Sowjet­union und ihre Satelliten sowie die diversen Konst­rukte des nationalen Sozialismus, namentlich in Italien und Deutschland, die ihre Bevölkerungen mit Furcht und Schrecken in Schach hielten. Diese Systeme waren atheistisch, aber sie wollten, dass die Höllenfurcht lebt, weswegen sie die Hölle auf Erden mit eigenen Mitteln herstellten. Gulag und KZ waren Terror hinter Zäunen. Die Kriegführung stellte im 20. Jahrhundert auf die Benutzung von Terrorwaffen um, zuerst in dem von den Deutschen bei Ypern eingeführten Gaskrieg, auf systematischer Ebene beim Übergang zum luftwaffenbasierten Bombenkrieg, der per se auf Terror basiert, indem er Tod und Schrecken aus der Luft verbreitet. Churchill nannte sich selbst ohne Hemmung einen Terroristen, weil er wusste, was er mit dem Bombenkrieg gegen die deutschen Städte bezweckte.

Was wir seit dem 11. September 2001 erleben, ist etwas von Grund auf anderes. Wir haben es mit einem entstaatlichten Terrorismus zu tun, den man im Wesentlichen als eine Publikationstechnik verstehen muss. Er stellt eine pervers erfolgreiche Form der Publizistik dar, wie sie nur in unserer durchmediatisierten Gesellschaft möglich ist. Ein Attentat am geeigneten Ort reicht aus, ein Nadelstich bewusster Gewalt genügt, das Übrige besorgen die Medien der angegriffenen „Gesellschaft“ selbst, indem sie, von der Gewalt geblendet, den punktuellen Exoterror zum flächendeckenden Endoterror vergrößern.

Also sollte über Terror nicht berichtet werden?
Ich rate, die Bedrohungen auf einer pragmatischen, also kriminologischen Ebene zu verhandeln. Geisterkämpfe in der Luft zwischen „Zivilisationen“ fruchten nicht. Unsere Gesellschaft bietet durch ihre vollendete Mediatisierung die idealen Reizleitungen für den terroristischen Stress an. Daraus entsteht der asymmetrische Krieg als Medieneffekt. Vor Jahren, als ich in Wien lebte, erfuhr ich von einem Stillhalteabkommen zwischen Presse und Polizei. Über Selbstmörder in der U-Bahn wurde nicht mehr berichtet. In der Folge sollen die U-Bahn-Suizide um 80 Prozent zurückgegangen sein. Manchmal wünschte ich mir eine Quarantäne, wie sie früher pestgefährdeten Schiffen auferlegt wurde, ehe die Mannschaften an Land gehen durften: Man zwang die Seeleute, 40 Tage vor der Küste an Bord zu bleiben, um sicherzustellen, dass keine Seuche eingeschleppt wird. Bei uns dürfen die Terror-Erreger praktisch in Realzeit einreisen. Warum eigentlich? Worin liegt der Aufklärungswert, wenn alle Medien die Meldung vom Terroranschlag vor der Blauen Moschee in Istanbul wenige Minuten nach dem Ereignis unisono als Hauptnachricht publizieren? In Wahrheit vollzieht sich genau dadurch die systemische Koppelung zwischen dem Anschlag und dem Medienapparat.

Eine solche Quarantäne lässt sich kaum realisieren.
Das ist leider wahr, das Recht auf Berichterstattung bleibt wohl für immer stärker als die Einsicht in die Notwendigkeit der Diskretion. Hypothetisch könnte man den Terror mit der Schweigewaffe auslöschen, doch diese steht uns nicht zur Verfügung, weil wir das Recht auf den Aufschrei höher stellen als die Notwendigkeit, den Schrecken durch Nichtwahrnehmung zu ächten. Daher bleibt es bei der faktischen Zusammenarbeit zwischen den Attentätern und dem Nachrichtensystem. Unsere Medienwelt ist per se terror-affin, weil sie dem Primat der Sensation verpflichtet ist. Sie verspricht für die gemeinsten Aktionen die höchste Aufmerksamkeitsprämie. Dem Terror gelingt es daher, ganze Gesellschaften in eine monothematische Fusion zu treiben, wie sie für Völker im Krieg, vor allem bei Kriegsausbruch, typisch ist. Terror ist ein Genre der medialen Entertainmentindustrie. Sebastian Haffner beschreibt das in seiner kaltblütigen „Geschichte eines Deutschen“ ganz nüchtern in Bezug auf die Ereignisse des Ersten Weltkriegs. Die Nachrichten von den Fronten wurden damals von den Schülern auf dem Gymnasium wie Ergebnisse einer Champions League mit Panzern und Kanonen verfolgt.

Für die kriminologische Antwort auf den Terror bedürfte es eines machtvollen Staates. Mit Macht fremdeln in Deutschland auch Mächtige, sie ist prima facie verpönt.
Jacob Burckhardt schreibt in den „Weltgeschichtlchen Betrachtungen“, die Macht an sich sei böse. Dies darf man nicht mehr gelten lassen. Hannah Arendt hat da tiefer gesehen. Mit Blick auf die amerikanische Gesellschaft hat sie notiert, es komme in der Demokratie darauf an, die Macht zu konstituieren: als das Vermögen, das Nötige und Richtige zu tun. In Europa ist die kritische Intelligenz reflexhaft fixiert auf den Zwang zur Auflehnung gegen Macht und Mächtige.

Noch einmal: Wie sollte man sich klug verhalten?
Man muss sich in das Unbewusste der phobokratischen Mechanismen vertiefen, das ergibt theoretische und therapeutische Arbeit. Andererseits sollen die Menschen sich mit Gelassenheit wappnen, das ist die große moralische Aufgabe. Wir haben, außer einer mehr oder weniger wirkungslosen Geheimpolizei, keine anderen Waffen als Aufklärung und Ruhe. Dazu gehört die Einübung in eine Kunst, die wir nicht von Natur aus beherrschen. Kein Mensch erfasst ohne längere Einübung den Unterschied zwischen einer Gefahr und einem Risiko. Auf Umgang mit Gefahren sind wir biologisch durch die große Stressreaktion vorprogrammiert, sie erlaubt uns die Wahl zwischen Flucht und Gegenangriff. Zu Risiken hingegen haben wir kein primäres Verhältnis. Unter Risiko versteht man eine mathematisch beschreibbare Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Im Risiko-Denken wird der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ein Zahlenwert zugeordnet. Es gehört zur Antiquiertheit des Menschen, dass wir so gut wie immer dazu neigen, abstrakte Aussagen über Risiken in die dramatische Sprache der Gefahr zu übersetzen. So konnte es dazu kommen, dass 82 Millionen Menschen sich durch die bewaffneten Fuchteleien von drei kriminellen Dumpfbacken „existenziell bedroht“ fühlen können.

Sie schrieben 2007 in „Gottes Eifer“, der Islam sei „geradezu eine Religion des Feldlagers. Die permanente Bewegung ist ihr inhärent – und jeder Stillstand muss als Beginn des Glaubensverfalls beargwöhnt werden. “ Ein Jahr zuvor, in „Zorn und Zeit“, nennen Sie „riesenhafte Vernichtungsschlachten zwischen schiitischen und sunnitischen Kriegsparteien nicht undenkbar“. Werden die islamistischen Anschläge je an ihr Ende kommen?
Bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts kann man den islamistischen Terror nicht los werden. So lange wird es dauern, bis sich der demografische Überdruck in den meisten arabischen Ländern abgebaut hat. Doch während die christliche Religion ihre phobokratische Dynamik verbraucht hat, revitalisiert sich der Islam heute dadurch, dass er seine phobokratischen Reserven auffüllt. Unter salafistischen Vorzeichen findet eine Rückkehr zur kriegerischen Interpretation des Dschihad statt, der zuvor als spirituelle Wachsamkeit gegen die Reste der Ungläubigkeit im Gläubigen selbst gedeutet worden war. Meines Erachtens gründet dieses Zurück zur Furcht darin, dass der Islam heute spürt, dass er von seiner inneren Gestalt her nicht wirklich staatsfähig ist, nicht einmal gesellschaftsfähig. Mit dem Islam lässt sich keine authentische Zivilgesellschaft füllen.

Warum ist das so?
Die Scharia steht dem zivilgesellschaftlichen modus vivendi im Weg. Im Grunde ist ja der Islam ein juristisches Konstrukt, er kommt fast ohne Theologie aus. Er will die soziale Synthesis mit Gesetzeszwang erreichen, wie es auch die christlichen Europäer bis ins 18. Jahrhundert taten. Dann aber erschien die große Alternative: dass man das Leben unter einem „religiösen“ Gesetz durch das Dasein unter einer Verfassung ersetzen kann. Die mangelnde Staatsfähigkeit ihrer Welt wird von den jungen Militanten als tiefer Makel empfunden. Sie ahnen, dass sie aus der Zweitklassigkeit nicht herauskommen, solange sie die Zwangsform der Religion nicht gegen die Garantien einer Verfassung austauschen. Sie wollen Teil einer starken Gemeinschaft sein, die es aber bei ihnen nicht geben kann, weil ihre Kultur als solche nicht weiß, was eine Verfassung ist. Darum nennt sich Bagdadis sunnitische Miliz „Islamischer Staat“: Der Name ist hybrid. Der Antistaat will den Staat parodieren. Die neurotische Überspannung spricht sich selbst laut aus. Die ganze Bewegung lebt vom Überschätzt-werden-Wollen. Als Lieferant von Überschätzung war der Westen bisher ergiebig.

Manche halten offene Grenzen für eine Überschätzung. Sie haben in der Berliner B.Z. gesagt, „man kann nur dann eine sinnvolle Willkommenskultur bilden, wenn man entscheidet, wer hereindarf und wer nicht. Sich bloß überrollen zu lassen, ist unwürdig“.
Denken wir an den imaginären Wortwechsel zwischen Carl Schmitt und Walter Benjamin. Auf Schmitts Diktum, wonach souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, erwiderte Benjamin: Der Ausnahmezustand sei für die armen Teufel, die man damals das Proletariat nannte, eine tägliche Erfahrung. Auf heutige Verhältnisse übertragen heißt das: Jetzt entscheidet der Flüchtling über den Ausnahmezustand. Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben. Diese Abdankung geht Tag und Nacht weiter. Bis zum Ende unseres kurzen Gesprächs werden tausend Flüchtlinge mehr die Grenze überschritten haben.

Was heißt das? Was müsste getan werden?
Die Differenz zwischen Asylrecht und Einwanderungsrecht muss endlich sehr viel schärfer als bisher definiert werden. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Papier, hat zu Recht scharf gerügt, dass die Regierung es in diesem Punkt an Präzision hat fehlen lassen. Zahllose Flüchtlinge nehmen die Schwachstelle des postmodernen und schein-post- nationalen Staates genau wahr. Die postmodernisierte Gesellschaft träumt sich in einen Zustand „jenseits von Grenzschutz“. Sie existiert in einem surrealen Modus von Grenzenvergessenheit. Sie genießt ihr Dasein in einer Kultur der dünnwandigen Container. Wo früher starkwandige Grenzen waren, sind schmale Membrane entstanden. Die werden jetzt massiv überlaufen.

In den umliegenden Ländern dominieren Container mit den starken Wänden.
Die Deutschen scheren aus. Wir haben das Lob der Grenze nicht gelernt. Und das seit längerem. Schon unter Außenminister Fischer hatte eine unbemerkte Invasion begonnen, man gab damals Millionen Visa für Leute aus Osteuropa, von denen man vermutete, sie wollten nicht zu uns, sondern in die Anglo-Welt. Damals war Deutschland ein Durchgangsland für weiterzielende Auswanderungsträume. Die Deutschen haben den Schlaf der Gerechten geträumt. Für sie waren Grenzen nur Tourismushindernisse. Sie haben nicht begreifen wollen, dass nach 1945 rund 150 neue Staaten entstanden sind, mit 30.000 Kilometern zusätzlicher Grenzen. Man glaubt hierzulande immer noch, eine Grenze sei nur dazu da, um sie zu überschreiten.

Woran liegt das?
Wahrscheinlich gibt es bei uns eine angeborene Schwäche, die linke und die rechte Seite einer Linie zu unterscheiden.

Die Kanzlerin hat in der Flüchtlingsfrage die Bevölkerungsmehrheit gegen sich. Viele wenden sich ab.
Die Politik der offenen Grenzen kann final nicht gut gehen. Merkel wird zurückrudern. Doch darf man die Kanzlerin nicht in eine Situation drängen, in der sie ihr Gesicht verliert. Ihre Reserven an Opportunismus sind nicht zu unterschätzen. Die große Stunde der Semantik schlägt bald. So hässliche Wörter wie „Obergrenze“ oder „Grenzschutz“ muss man aus dem aktiven Wortschatz eliminieren. Man wird andere Ausdrücke finden. Wenn alles andere nicht hilft, muss man kreativ werden.

Dann kehrt das Vertrauen in die Politik zurück?
Wer von Vertrauen redet, will dem habituellen Betrug Spielräume sichern. Der Lügenäther ist so dicht wie seit den Tagen des Kalten Krieges nicht mehr.

ist es nicht ein Alarmsignal, wenn selbst Sie als aufgeklärter, hochgebildeter Mensch sagen, man könne keinem Politiker trauen, die lügen alle? Dann kann es um unsere Demokratie nicht gut bestellt sein.
Herr Juncker von der Europäischen Kommission hat es definitiv erklärt. Zitat: „Wenn es ernst wird, musst du lügen.“ Juncker ist kein Zyniker. Er ist ein redlicher Arbeiter in der wahrheitslosen Sphäre, die man Politik nennt. Insofern fast ein Journalist.

Der Journalismus biegt sich die Realität zurecht?
Das Wort „Lügenpresse“ setzt mehr Harmlosigkeit voraus, als es in diesem Metier gibt.

Hängt dies mit dem skizzierten linksliberalen Meinungs-Zeitgeist zusammen?
Journalisten sollten sich klarmachen, dass sie immer die dritte Partei sind, nicht Ankläger, nicht Verteidiger, nicht Darsteller, nicht Gegendarsteller. Ohne den Dritten sind die streitenden Zwei a priori verloren. Heute treten die Verwahrlosung im Journalismus, die zügellose Parteinahme allzu deutlich hervor. Wo gibt es noch eine Bemühung um Neutralisierung, um Objektivierung, hoch ausgedrückt: um Vergeistigung? Die angestellten Meinungsäußerer werden für Sich-Gehen- Lassen bezahlt, und sie nehmen den Job an.

Wenn die Lage so verworren ist, wie Sie sie beschreiben, muss man dann Angela Merkel nicht zugutehalten, dass sie sich energisch in das Getümmel stürzt?
Sie regiert offenbar gerne. Gerhard Schröder hatte das mit ihr gemeinsam. Leute mit diesem phallischen oder naiven Grundton findet man nicht jeden Tag.

Ein Schlüsselwort der Merkel’schen Politik ist Integration, über das Sie sich aber in Ihrem Buch von 2014 mokieren: Integration sei eine „Spielmarke in hohlen politischen Diskursen“. Was gefällt Ihnen nicht?
Integration ist ein Ausdruck, der einem unerreichbaren Ziel vorauseilt. Wir wären ja schon mehr als zufrieden, wenn man es zur beruhigten Koexistenz brächte, zu einer freundlichen Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, dass es zu viele Leute gibt, mit denen man fast nichts gemeinsam hat. Wer kennt nicht die Momente, in denen man mit Stefan George sagen möchte: „Schon eure Zahl ist Frevel“?

Ihre Bücher enden oft hoffnungsfroh. „Der zivilisatorische Weg ist allein noch offen“, hieß es vor neun Jahren am Ende von „Gottes Eifer“. Ist dieser Weg auch heute in Sicht, auch heute noch offen?
Es ist anstrengender geworden, ihn offen zu halten. Die verrücktmacherischen Energien haben zugenommen. Viele Leute betreiben Politik ohne Mandat. An jeder Ecke steht ein semantischer Drogenhändler. Ja, der zivilisatorische Weg ist allein noch offen. Und ob man es glaubt oder nicht, viele Dinge entwickeln sich trotz allem in die gute Richtung.

Zählt, um Ihr Lieblingswort aufzugreifen, die europäische Integration zu den „Ermutigungen“?
Hier hört man den falschen Klang des Wortes „Integration“ fast noch schriller heraus als bei der vorgeblichen Integration von Flüchtlingen und anderen Leuten, die noch keinen deutschen Pass haben. Europa ist falsch formatiert. Man hat zusammengebracht, was nicht zusammen gehört. Europa geriet mit dem Euro in eine Zwangsgemeinschaft, die den meisten Menschen nicht so viel bedeutet, wie ihnen die Berufseuropäer in Brüssel und Straßburg einreden möchten. Natürlich ist Europa als Raum der Freizügigkeit und des Austauschs kultureller Reichtümer eine wunderbare Sache. Europa ist das Juwel der Welt. Aber die Zwangsvergemeinschaftung durch den Euro hat sich als Überforderung erwiesen. Damit hat man Europa eine Form gegeben, in der die Mitglieder sich entfremden müssen. Offenkundig handelt es sich weniger um neuen Nationalismus als um lokale Notwehr. Man wurde in zwangsgemeinschaftlichen Handlungsketten zu fest zusammengeschnürt, folglich kommt ein Verlangen nach größeren Manövrierspielräumen auf. Die Tendenz zur Ausbildung immer größerer und dichter Einheiten ist nicht immer der richtige Weg.

Wird die EU daran zugrunde gehen?
Als lockerer Bund hat die EU mehr Zukunft, als wenn sie auf Verdichtung setzt. Dem Nationalstaat darf man ein langes Leben prophezeien, weil er das einzige politische Großgebilde ist, das bis zur Stunde halbwegs funktioniert. Die überwölbenden Strukturen können nur in dem Maß bestehen, wie die Nationalstaaten ihnen den Rücken freihalten.

Obwohl im Weltmaßstab nur ein vereintes Europa bestehen kann?
Europa hat fast doppelt so viele Einwohner wie die USA. Stünden die 28 europäischen Kleinarmeen unter einem gemeinsamen Kommando, hätte Europa die größte Streitmacht der Welt. Natürlich ist es den Wettbewerbern lieb, es mit einem uneinigen Europa zu tun zu haben. Je mehr Flüchtlinge zu uns kommen, desto labiler wird Europa zur Freude seiner Rivalen. Darum lobt Obama Frau Merkel. Übrigens hat Gaddafi vor Jahren den Europäern riesige Flüchtlingsströme angedroht. Kein einziger europäischer Politiker hat darauf reagiert. Gaddafis Fluch ist jetzt aktiv geworden.

Wodurch sich die heutige Migration nicht erklärt.
Was macht Sie da so sicher? Eines Tages wird man nachlesen können, wer die Flüchtlingsströme gelenkt hat. Neulich erklärte mir ein Spezialist für Demografie, allein in dem islamischen Gürtel zwischen Marokko und Indonesien lebten zur Stunde fast 1, 5 Milliarden Menschen, von denen nach jüngsten Erhebungen ein Drittel nach Europa oder in die USA auswandern möchte, und zwar lieber heute als morgen.

Also ist die Zuwanderung, die wir momentan erleben, nur ein Vorgeschmack auf künftige Migrationswellen?
Das 21. Jahrhundert hat ein Megathema: Migration. Zwei Milliarden Menschen werden von ländlichen Gebieten in die urbanen Ballungsräume ziehen, eine Milliarde Menschen werden versuchen, aus den Armutszonen in den Wohlstandsraum zu gelangen. Nichtsdestoweniger werden die Dinge sich normalisieren, sobald die Zeit der Illusionen auf allen Seiten vorüber ist. Die Europäer werden früher oder später eine effiziente gemeinsame Grenzpolitik entwickeln. Auf die Dauer setzt der territoriale Imperativ sich durch. Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörun
g.

Cicero – 2.2016 


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