Jun 272016
 

Grenzen und Kolonialismus

Von Pfarrer Dr. Willibald Jacob
* 26. Januar 1932    † 3. Juli 2019

Ein uraltes Thema. Und wir haben einen der größten Dichter als Zeugen: Homer. Sein Anti-Kriegs-Drama „Ilias“ handelt von Grenzen, der Entstehung von Reichen, von Kriegen zwischen der Hüterin der Meerenge Troja und in seiner „Odyssee“ von den Kolonien der Griechen. Der Krieg gehört zu Grenzen und Kolonien. Als Troja unterging, floh der legendäre Gründer Roms, Äneas.

Und so war das nächste Imperium mit seinen Kriegen gesichert. Die alten Sieger wurden die neuen Verlierer. Rom erobert Griechenland, d.h. Süditalien, Sizilien, Alt-Griechenland und die Asia. Ein Imperium folgte dem anderen, bis heute. Und Kriege gehören dazu. Ein Grieche konnte sagen der Krieg sei ein Vater … Jahrhunderte später sagte ein deutscher aus dem römischen Trier: Der Klassenkampf sei ein Vater der menschlichen Geschichte.

Text von Willibald Jacob

Wer hat Recht? Die Frage ist müßig, wenn man sieht, dass ein Klassenkampf hinter dem Krieg verborgen ist. Kriege werden begonnen, weil längst vorher der Kampf von Klassen um die Schätze dieser Erde geführt wurde.

In der Antike ging es um Ackerland, Bergwerke und Sklaven. Und heute? Um nichts anderes. Schaut nach Mecklenburg-Vorpommern (Ackerland), nach dem Nahen Osten (Öl), nach Afrika (Uran, Gold, Diamanten, Seltene Erden etc.) und die Menschen, die dort arbeiten? Sind sie nicht moderne Sklaven? Wenn ich Jean-Paul Sartre und Jean Ziegler lese, dann sind heutige Konzerne nicht nur Kolonialherren neuer Art sondern moderne Sklavenhalter und Mörder. Sie beuten aus und vertreiben Menschen auf vielfältige Weise.

Der flüchtende und der arbeitende Mensch in Antike und Gegenwart ist ein Ausgebeuteter. So kommt es zu dem unsäglichen Unterschied zwischen Arm und Reich. Und der Krieg möchte dieses Verhältnis zementieren.

Dietrich Gutsch und ich haben im Jahre 1950 an der Synode der Ev. Kirche in Deutschland in Berlin in Weißensee teilgenommen. Wir waren Studenten. Die Hauptbotschaft der Synode lautete: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Im Jahre 1966 lasen wir das Buch von Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde. Wir hatten gelernt zu sagen: Ausbetung soll nach Gottes Willen nicht sein. Dietrich Gutsch hatte 1961 in Neu Delhi als Jugenddelegierter an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Er war mit der Botschaft nach Berlin zurückgekehrt: Und sie werden Alle zu uns kommen.

Der Flüchtling ist Ergebnis von Ausbeutung zuerst und von Krieg. Jede andere Erklärung ist Desinformation. Wenn Flüchtlinge die Grenzen überschreiten, dann ist das ein Zeichen für die Zerstörung des Imperiums, eventuell für seine Implosion. Davor hatten Römer Angst. Studiert die Karte des Imperiums Romanum und die Karte des heutigen Europa (und die USA als Anhängsel).

Und: „Es gibt diese Träume. Ohne sie wäre ich tot. Zum Frieden gehört Gerechtigkeit.“ (Gerd Schumann)

Römisches Reich – Wikimedia – Autor: FJ-de

Ich erlaube mir im Folgenden den Begriff Kolonialherren zu benutzen. Nach der Lektüre der Schrift von Gerd Schumann, Kolonialismus, war mir klar: Dieser Begriff ist unentbehrlich, um heutige Geschichte(n) zu verstehen. Es folgt aus der Abfolge von Kolonialismus, Neokolonialismus, Rekolonisierung.
Ich gliedere meine Überlegungen in drei Abschnitten.

1. Die Zeit seit Dien Bien Phu
2. Der Kontinent des Verschweigens
3. Die Lösung in Zukunft: Multipolarität


1.  Die Zeit nach Dien Ben Phu

Die letzte verlorene Schlacht der Kolonialmacht Frankreich in Vietnam (1954) war das Ende eines Kolonialreiches. Der folgende Vietnamkrieg der Nordamerikaner und der Algerienkrieg der Franzosen waren Nachspiele, bestimmt von der Angst des Verlierers. Die Kubanische Revolution (1959) und die Unabhängigkeit Afrikas seit 1960 waren deutliche Signale. Die alten Kolonialherren und die neue Kolonialmacht USA stießen an ihre Grenzen.

Der Witz bei der Sache: Im Spiel der Kräfte konnte Unabhängigkeit nur politisch verstanden werden. Die alten Kolonialmächte wandelten sich zu ökonomischen „Partnern“. Sie verhinderten die wirtschaftliche Selbständigkeit afrikanischer und lateinamerikanischer Staaten. Es ging und geht um die Schätze dieser Länder. Ein eindeutiges Zeugnis für die Ziele der alten und neuen Kolonialherren sind die verteidigungspolitischen Richtlinien für die US-Armee und der deutschen Bundeswehr (1992). Das wiedervereinte Deutschland wurde zum Befreier der internationalen Handelswege und zum Absicherer der natürlichen Ressourcen dieser Erde für die westlichen Industrienationen. „Die Sprache bringt es an den Tag“ (Franz Rosenzweig).

Wie oft sind Afrika und der nahe Osten kolonisiert worden. Das Ergebnis: Der gefürchtete Flüchtling.


2.  Der Kontinent des Verschweigens

Der gefürchtete Flüchtling aus Syrien und aus Mali will die Grenzen nach Niedersachsen überwinden, nicht nach Obersachsen. Er will nach Westeuropa, nicht nach Osteuropa. Warum? Der Flüchtling ahnt, dass der Obersachse nicht zu ihm passt. Der hatte doch selbst die Hoffnung, dass mit Demokratisierung auch Arbeit und Wohlstand einziehen würden. Das Ergebnis: Ausverkauf des Ackerlandes, Arbeitsplätze in Westeuropa und Altersarmut.

Der Flüchtling weiß, dass der Niedersachse besser zu ihm passt. Dort in Niedersachsen und ähnlichen Orten, stehen die Fabriken, die in Afrika Profit machen (Hähnchentransfer). Vielleicht lässt sich dort ein Arbeitsplatz erringen, ein besseres Leben. Jeder Flüchtling weiß, dass jeder politisch Verfolgter nur ein Nebenprodukt der Ausbeutung Afrikas oder des Nahen Ostens durch „die Niedersachsen“ ist. Die letzte Waffe des Nato-Verbündeten ist die Flucht zum Kolonialherren. Das wussten schon die Völker, die das Imperium Romanum zerstört haben.

Die Ostsachsen (Osteuropäer) haben Recht. Sie leben in einer verkehrten Welt. Und so wählen sie am Ende die verkehrten Freunde: Den Flüchtling und den Russen. Sie merken nicht, dass der Flüchtling sie zur ökonomischen Umkehr ruft und der Russe der eigentliche Partner für einen angemessenen Frieden ist. Die neue Kolonialmacht USA möchte Waffen verkaufen, besonders in Osteuropa, hat aber seit dem Vietnamkrieg keinen Krieg mehr mit einem angemessenen Frieden abschließen können.

Was wird in Europa verschwiegen? Die eigentlichen Ursachen für die Flüchtlingswanderungen. Die Fluchtursachen werden verschwiegen. Welche Fluchtursachen werden vorgeschoben? Ich fange von hinten an, beim Obersachsen.

  1. Der Flüchtling kommt, weil er nur Arbeit und Wohlstand haben will.
  2. Der Flüchtling ist deshalb Wirtschaftsflüchtling, nicht politisch verfolgt (womit er sehr früh den Fluchtursachen sehr nahe kommt).
  3. Es fehlen die Grenzen, Hunde, Stacheldraht, Wasserwerfer, Tränengas, Kontrollen generell.
  4. Die Griechen versagen (wieder mal).
  5. Die Türken sind Erpresser, die spielen mit Allem.
  6. Die Flüchtlingslager sind schlecht ausgestattet, unterfinanziert, in der Türkei, im Libanon, in Jordanien; wo noch?
  7. Libyen nach Gaddafi versagt.
  8. Nordafrika muss sicher gemacht werden (sichere Drittstaaten).
  9. Die Franzosen werden allein gelassen; die Kolonialherren? Die Bundeswehr sollte helfen? Sie steht doch sowieso schon in 14 Staaten (wie immer: nachholende Entwicklung).
  10. Bürgerkriege in Afghanistan, in der Sahara, in Mali, im Kongo, in Ostafrika, im Sudan, im Irak, in Syrien (hier gegen den letzten säkularen Präsidenten – Diktator, der im Westen ausgebildet worden ist und eigentlich zum Westen passt; nach Milosevic, Saddam Hussein, Gaddafi, die alle hitlerverdächtig waren und deshalb umgebracht werde mussten).
  11. Und dann die richtigen Kriege. Damit nähern wir uns, wir Ost-Obersachsen, gefährlich nahe den eigentlichen Ursachen der Flüchtlingsströme. Dies sollte eigentlich verschwiegen werden. Jeder ernst zu nehmende Moderator einer Talkshow (oder Moderatorin) wird an dieser Stelle das Gespräch lächelnd abwürgen, was sie auch erfolgreich tun.

Warum ist der Krieg gegen den Irak angezettelt worden? Mit Lüge, Verstellung und Desinformation. Warum wurden auf komplizierten Wegen die Kriege in Ost-Afrika, in der Sahara … angezettelt? Der moderne Kolonialherr führt keine Kriege, um andere Länder zu erobern. Die Zeiten sind vorbei. Wenn er wieder Kriege führen muss, dann, um hitlerähnliche Despoten zu beseitigen, mit denen der moderne Kolonialherr eigentlich und vielmehr und gerne zusammen arbeiten würde. Aber dieser Hitler in Jugoslawien, im Irak und in Libyen will nicht. So sind wir, ist der Kolonialherr gezwungen, ein ökonomisches Protektorat einzurichten.

Damit sind wir am Ziel. Das Protektorat, gesteuert durch erfahrene westliche Konzerne, ist die Ursache für die Flüchtlingsströme. Ein Protektorat kann der moderne Kolonialherr nur mit List und Gewalt errichten. Leider. Die Kollateralschäden sind die Flüchtlinge. Sie gehören eigentlich nach Frankreich, nach Großbritannien und in die USA; und in die Bundesrepublik Deutschland (Obersachen und Niedersachsen), weil wir Helfershelfer sind. Mitgefangen – Mitgehangen. Die Aversion gegen Russland lenkt nur von der Sache ab. (Wobei wir es gerne mit Russland so machen würden wie mit Afrika und dem Nahen Osten: Russland, ein ökonomisches Protektorat; wie die Ukraine? Leider haben die Russen die Modernität der westlichen Kolonialherren noch rechtzeitig bemerkt. Deshalb die Sache mit der Krim. Schade!)

Eigentlich kann man sich nur noch amüsieren, über dieses Verschweigen unseres Kontinents. Was soll daraus werden?


3.  Die Lösung in Zukunft: Multipolarität ohne Protektorate

Leopold von Ranke beschwor im 19. Jahrhundert die Balance der europäischen Mächte, um das Trauma des 30-jährigen Krieges zu überwinden. Der Friede von Münster und Osnabrück sollte halten. Das eben geschilderte Ende des Kolonialismus sollte eigentlich dazu führen, Ranke erst zu nehmen. Heute wäre eine Machtbalance zwischen den Erdteilen bitter nötig. Das Jahr 1990 aber hat dazu verführt, eine Unipolarität der Macht mit dem Zentrum Washington zu versuchen. Der Respekt vor den Grenzen der Macht wurde systematisch zerstört. Das Ergebnis war eine neue Art Krieg und der Krieg ohne Ergebnis. Von Frieden keine Spur.

Noch nicht einmal ordentliche ökonomische Protektorate bekommen die neuen Kolonialherren zustande. Eine Voraussetzung für eine friedenfördende Art der Multipolariät wäre die Wiedereinführung des Begriffes „Interesse“. Der Begriff Wertegemeinschaft verführt zur Idealisierung Europas. Auch andere Länder und Kontinente haben Werte oder leben von Werten. Europa ist eine Interessengemeinschaft und sollte lernen die Interessen anderer, z.B. Russlands und Eurasiens zu respektieren. Interessen ernüchtern. Interessen umfassen auch Betrug und Lüge und Aggression. Interessen umfassen die Ausbeutung der Bergwerke in Afrika, der Ölfelder im Nahen Osten, der Hortung von Geld in Panama (Sarah Wagenknecht, Reichtum ohne Gier), des Steuerhintenzuges in Luxemburg, die Durchsetzung des betrügerischen Freihandels (TTIP), die Ablösung der Todesschwadronen in Lateinamerika durch eine manipulierte Justiz. Das Ergebnis ist die unsägliche Kluft zwischen Arm und Reich, die nur mit der Sklavenhalterordnung des spätrömischen Reiches zu vergleichen ist. Eine Bildungsreise nach Pompeji würde sich lohnen.

Die sogenannten BRICS-Staaten haben den Anfang gemacht, unerträglich für das „Zentrum der Welt“. Washington schläft nicht. Siehe Brasilien ud Venuzela. Die Linien für unsere Arbeit sind vorgegeben.

Jesus Christus wird der Herr der Welt und das Haupt seiner Gemeinde genannt (Kol. 1, 15-20). Somit ist jeder Ort und jede Person das „Zentrum der Welt“. Was heißt das? Darüber sollten wir unter freunden und in der gesellschaft nachdenken und diskutieren.


Kol. 1, 15-20

15 Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor allen Kreaturen.
16 Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Reiche oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.
17 Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm.
18 Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde; er, der der Anfang ist, der Erstgeborene von den Toten, auf dass er in allen Dingen der Erste sei.
19 Denn es ist Gottes Wohlgefallen gewesen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte
20 und alles durch ihn versöhnt würde mit Gott, es sei auf Erden oder im Himmel, dadurch dass er Frieden machte durch das Blut an seinem Kreuz.
(nach der Übersetzung Martin Luthers)


Literatur


Links