Jul 052016
 
Jesus Christus – Grenzgänger

Von John Arnold, Canterbury Juli 2016

Zum Gedenken an Dietrich und Charlotte Gutsch – „geliebt und einander zugetan, im Leben und im Tod nicht geschieden“.

Im ersten Jahrhundert AD war das Land Palästina voller Grenzen, administrativen, juristischen, sprachlichen, ethnischen und religiösen Grenzen, sowie geographischen, denn es war begrenzt vom Mittelmeer im Westen, vom Jordantal und vom Toten Meer im Osten, von Libanons Bergen im Norden und von der Negeb Wüste im Süden. Zu den Landesgrenzen gehörten die Grenzen von Judäa und Galiläa, getrennt voneinander durch Samaria, das so feindlich gesinnt war, dass die Juden lieber den langen Umweg nahmen von Jerusalem hinunter nach Jericho, über den Jordan nach Perea und dann durch Dekapolis, die meist von griechisch-sprechenden Kolonisten besiedelt war, und weiter nach Galiläa, das selbst begrenzt war von heidnischem Syro-Phönizien und Ituräa (geteilt in Ituräa, Trachonitis und Gaulanitis) in der Nähe von Abilene und Syrien. Ich rezitiere diese lange Liste, nicht um Euch zu verwirren, sondern einfach zu zeigen wie kompliziert die Lage war, wie die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens am Ende des 20 Jh. Am Anfang seines Evangeliums musste Lukas sogar erklären: „Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, (war) Pontius Pilatus Statthalter in Judäa und Herodes Landesfürst von Galiläa und sein Bruder Philippus Landesfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis und Lysanias Landesfürst von Abilene, als Hannas und Kaiphas Hohepriester waren.“ Welch ein Gelaber, zudem voller höchst verständlicher Fehler! Dieses Durcheinander hatte zur Folge, dass Jesus und Paulus während ihren Prozessen ständig von einer Jurisdiktion zur anderen überliefert wurden.

Dekapolis
Quelle: Wikipedia

Trennung war charakteristisch für die jüdische Religion. Am Anfang Gott, der im Gegensatz zu den Göttern der Heiden getrennt ist von der Welt, schafft durch Trennung, Licht von Dunkelheit, Tag von Nacht, See von Land. Er ruft ins Sein ein Volk, die Juden, die getrennt von den Heiden sein sollen. Ihre Gesetze bestehen auf die Trennung zwischen reinen und unreinen Tieren, zwischen Fleisch und Milch, zwischen Wolle und Leinwand. Sie trennen den Sabbat von den anderen Tagen; sie betonen den Unterschied zwischen Männern und Frauen in Kleidung, Aufgaben und Benehmen. König Herodes hatte den Tempel wieder aufgebaut, als architektonische Verkörperung des Prinzips der Trennung, mit einem Zaun zwischen dem Hof der Heiden und dem Tempel selbst, getrennten Höfen für Männer und Frauen, einem Altarraum für Priester und dem Allerheiligsten, wozu der Hohepriester allein Zulaß hatte an einem besonderen Tag im Jahr, Yom Kippur. Und es gab eine neue, höchst peinliche Art der Trennung, nämlich zwischen Juden und Samaritern, wie es geschrieben war: „Die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern.“

Dekapolis Quelle: Wikipedia https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Thedecapolis.png

Jesus, entweder in seinem Leben auf Erden oder durch die Wirkung des Heiligen Geistes in der Frühkirche, überschreitet alle diese Grenzen, geographische, gerichtliche, juristische, politische, persönliche, ethnische, übliche oder tabu. Man könnte sogar sagen, dass das Überschreiten von Grenzen typisch für ihn war.

Es beginnt mit seiner Geburt von der Jungfrau Maria, einer Geburt die gegen alle Grenzen der Natur, des Anstands und der Rechtmäßigkeit verstößt. Die ersten Ereignisse in seinem Leben sind die Flucht nach Ägypten und die Wiederkehr nach Palästina, wobei er sich für immer mit Flüchtlingen, den unwilligen Grenzgängern unserer Zeit, identifiziert.

Das aber ist nur die Ouvertüre. Die Handlung der Oper selbst beginnt mit der Reinigung eines Aussätzigen. Der Evangelist betont „Er streckte die Hand aus (und) rührte ihn an“ – ein Verstoß gegen ein striktes Tabu und eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme.

In der dramatischsten aller seiner Heilungsgeschichten deckten Freunde ein Dach auf, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem ein Gelähmter lag. Jesus heilte ihn, dazu, aber, skandalisierte er die Schriftgelehrten, in dem er behauptete „dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden.“ Das war eine starke Herausforderung, denn für die Schriftgelehrten gehörte die Vergebung der Sünden Gott allein im Himmel und zwar beim Jüngsten Gericht am Ende der Welt. Jesus bringt die Vergebung aus dem Himmel und aus dem Jenseits in das Hier und Heute; und er vergibt nicht nur selbst, sondern er bevollmächtigt auch seine Jünger zu vergeben.

Auch das reicht ihm nicht. Unmittelbar darauf ruft er Levi, einen Zöllner, ihm zu folgen; und er saß in seinem Hause zu Tisch mit vielen Zöllnern und Sündern. Zöllner sind überhaupt nicht romantisch anzusehen, denn sie warenbrutale und skrupellose Mafiosi, Verräter und Kollaborateure, die niedrigsten von den niedrigen. Ihresgleichen waren hier im Lande und in den anderen Satellitenstaaten gut bekannt. Jesus aber sagt „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“

Danach (ich folge dem Markus Evangelium) verletzt er die Fastenregeln und unterstützt seine Jünger, als sie Ähren ausraufen und die Sabbatruhe brechen. Das möchte uns unwichtig, sogar trivial, erscheinen; aber eine gleiche triviale Aktion im 20. Jahrhundert, nämlich die Prise Salz, die Mahatma Ghandi vom Meer nahm, führte eventuell zu der Niederlage des Britischen Reiches in Indien. Jesus sagt „So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat. “Eine weitere Grenze wird dabei überquert.

Dann bricht er das größte aller Tabus, in dem er den Anspruch einer nah-östlichen Familie auf unbedingte Treue überwirft, denn „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“


Die Juden machten sich Sorgen nicht nur um Hautkrankheiten sondern auch um Blut, vor allem Monatsblutung. Sie hatten bestimmte Regeln um es zu vermeiden und Perioden der rituellen Unreinheit und des Ausschlusses aus der Gesellschaft. Jesus, auf dem Weg die Tochter des Jairus zu heilen, heilt auch eine Frau, die seit zwölf Jahre einen Blutfluss hatte. Sie berührte seine Kleider, was ihn nach dem Gesetz unrein machte, aber er sagte „Meine Tochter, dein Glaube hat dich rein gemacht.“

Ich sage wenig über seine Lehre, nur über Reinheit und Unreinheit, was zu unserem Thema gehört. Für ihn ist die Unreinheit keine externe, sondern eine interne Sache. „Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; denn es geht nicht in sein Herz, sondern in den Bauch, und kommt heraus in die Grube… Damit erklärte er alle Speisen für rein“- und überschritt eine weitere Grenze.

Es geht weiter: „Er stand auf und ging von dort in das Gebiet von Tyrus“, das heißt ins heidnische Ausland, wo eine Frau ihn fand und fiel nieder zu seinen Füssen. Für einen jungen Rabbiner war sieviermal skandalös – weiblich, heidnisch, syro-phönizisch, griechisch in Sprache und Kultur. Das aber verhindert Ihn nicht ins Gespräch mit ihr zu treten und ihre Tochter zu heilen.

In einer ähnlichen Geschichte, im vierten Evangelium, spricht er am Jakobs Brunnen mit einer lebhaften und schnippischen Frau, einer Samariterin von schlechtem Ruf. Diese Geschichte fängt an mit den Worten ‚ Er musste aber durch Samaria reisen, das heißt, er wurde von einem starken inneren Impuls getrieben, auf den langen aber sicheren Umweg jenseits des Jordans zu verzichten und absichtlich Grenzen zu überqueren um gehassten, verachteten Fremden zu begegnen. Samariter galten als die Schlimmsten, die ein anständiger Mensch vermeiden sollte. Lukas jedoch erzählt mit Freude die Geschichte vom dankbaren Samariter; und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist das bekannteste und beliebteste aller Gleichnisse. Der Einfluss dieses Gleichnisses auf unsere Sprache ist so groß, dass das Wort ‚Samariter‘ heute nicht für einen bösen sondern für einen guten Menschen benutzt wird.

Ein letztes Beispiel. Wenn Jesus beim letzten Abendmahl einen Schurz nimmt, sich umgürtet und beginnt, den Jüngern die Füße zu waschen, erfüllt er mit Absicht eine Aufgabe, die für Frauen, Sklaven und Nichtjuden reserviert war. Mit dieser Tat identifiziert er sich mit ihnen in ihrer Apartheid. Es ist kein Wunder, dass Paulus das Evangelium in diesen Worten zusammenfasst: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“


Alle diese Beispiele sind aus dem Leben Jesu auf Erden genommen. Wenn wir aber den Blick auf die christliche Lehre werfen, finden wir, dass dieselbe Metapher vom Grenzgang auch in diesem Bereich oft trifft. Bei der Schöpfung, wobei er, das fleischgewordene Wort Gottes, tätig ist (‚alle Dinge sind durch dasselbe gemacht‘), überquert er die aller größte Kluft zwischen Sein und Nicht-Sein. Für ihn, eher als für Hamlet, war „Sein oder nicht Sein“ die Frage. Die Inkarnation bedeutet dass er die Kluft zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen überquert. Es war kein Problem für die griechisch-römische Mythologie, dagegen eine unüberwindliche Barriere für den jüdischen Glauben an einen Gott. Und dann, durch sein Kreuz und seine Auferstehung, überwindet er den fundamentalen Unterschied zwischen Leben und Tod; er überquert den Jordanfluss in beiden Richtungen und kehrt wieder aus dem „unbekannten Land, wovon kein Reisender zurückkommt“(Shakespeare).

In einem eindrucksvollen Satz beschreibt der Epheserbrief den erstaunlichen Zustrom der Nichtjuden in die ursprünglich jüdische Frühkirche, „Denn er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft.“ Natürlich wird damit der Zaun im Tempel erwähnt; aber niemand von uns kann diese Worte jetzt hören ohne an die großen Ereignisse im Jahre 1989-90 zu denken, wovon der Abbruch der Berliner Mauer das lebhafteste und stärkste Symbol war.

Zum Schluss ermuntert uns derselbe Epheserbrief uns auf das Ende des Zeitalters zu freuen, wenn es keine Barrieren, Schranken, Trennungen und Grenzen mehr geben wird, wenn der Sohn dem Vater alles zurück gibt und „alles zusammengefasst wird, was im Himmel und auf Erden ist. “Das ist die letzte Grenze. Wir hoffen, dass Jesus Christus auch diese Grenze überqueren wird und dass er uns mitnehmen wird über die Grenzen des Raumes und der Zeit, um mit Ihm und miteinander endlich in Frieden zu ruhen.


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