Ausgewählte Gedichte
Beitrag von Hedi Röhl zum Thema „Ernstes und Heiteres“ der ÖJD-Senioren-Tagung
Oktober 2016 in Neudietendorf
Die Selbstkritik
Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich,
So hab ich erstens den Gewinn,
Dass ich so hübsch bescheiden bin;
Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp ich drittens diesen Bissen
vorweg den andren Kritiküssen;
Zum vierten hoff ich außerdem
Auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es dann zuletzt heraus,
Dass ich ein ganz famoses Haus.
Wilhelm Busch 1832-1908
Humor
Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil das so ist
und weil mich doch der Kater frisst,
so will ich keine Zeit verlieren,
will noch ein wenig quinquillieren
und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.
Wilhelm Busch 1832-1908
Buch des Lebens
Hass, als Minus und vergebens
Wird vom Leben abgeschrieben.
Positiv im Buch des Lebens
steht verzeichnet nur das Lieben.
Ob ein Minus oder Plus
uns verblieben, zeigt der Schluss.
Wilhelm Busch 1832-1908
Fink und Frosch
Im Apfelbaume pfeift der Fink
Sein: pinkepink!
Ein Laubfrosch klettert mühsam nach
Bis auf des Baumes Blätterdach
Und bläht sich auf und quackt: »Ja ja!
Herr Nachbar, ick bin och noch da!«
Und wie der Vogel frisch und süß
Sein Frühlingslied erklingen ließ,
Gleich muß der Frosch in rauhen Tönen
Den Schusterbaß dazwischen dröhnen.
»Juchheija heija!« spricht der Fink.
»Fort flieg ich flink!«
Und schwingt sich in die Lüfte hoch.
»Wat!« ruft der Frosch, »Dat kann ick och!«
Macht einen ungeschickten Satz,
Fällt auf den harten Gartenplatz,
Ist platt, wie man die Kuchen backt,
Und hat für ewig ausgequackt.
Wenn einer, der mit Mühe kaum
Geklettert ist auf einen Baum,
Schon meint, daß er ein Vogel wär,
So irrt sich der.
Wilhelm Busch 1832-1908
Es ist halt schön
Es ist halt schön,
Wenn wir die Freunde kommen sehn.
Schön ist es ferner, wenn sie bleiben
Und sich mit uns die Zeit vertreiben.
Doch wenn sie schließlich wieder gehn,
Ist’s auch recht schön.
Wilhelm Busch 1832-1908
Wünsche
Wenn jeder eine Blume pflanzte,
jeder Mensch auf dieser Welt,
und anstatt zu schießen, tanzte
und mit Lächeln zahlte, statt mit Geld;
wenn ein jeder einen andern wärmte,
keiner mehr von seiner Stärke schwärmte,
keiner mehr den andern schlüge,
keiner sich verstrickte in der Lüge;
wenn die Alten wie die Kinder würden,
sie sich teilten in den Bürden,
wenn dies „wenn“ sich leben ließ,
wär’s noch lang kein Paradies.
Bloß die Menschenzeit hätt‘ angefangen,
die in Streit und Krieg uns beinah‘ ist vergangen.
Peter Härtling geb.1933
Geben, nehmen
Nehmen. Geben. Wer zu rechnen liebt,
der wird nie auf seine Rechnung kommen.
Leben lehrt: wer einen Finger gibt,
dem wird gleich die ganze Hand genommen.
Gabst du? Wohl, du gabst. Nun warte nicht,
daß die Jahre dir die Schuld begleichen.
Wags, ob auch die Klugheit widerspricht,
Soll und Haben kühnlich auszustreichen.
Dieses nur. Dann leg den Stift beiseit,
Armut wird dich unversehns versöhnen,
ja, sie selbst, die karge Endlichkeit,
will dich ans Unendliche gewöhnen.
Albrecht Goes 1908-2000
Änderung
Änderung bringen
zum Guten –
doch wie mit diesen
zum Schlechten
veränderten Menschen?
Also erst die Menschen
Verändern
zum Guten –
doch wie
in dieser
zum Schlechten
verändernden Welt?
Also nichts mehr tun?
Oder tun
aber nicht mehr bedenken, dass es sinnlos ist?
Vielleicht
bleibt es dann
doch nicht sinnlos
in dieser
veränderlichen Welt?
Erich Fried 1921-1988
Der Überlebende
nach Auschwitz
Wünscht mir Glück
zu diesem Glück
dass ich lebe
Was ist Leben
nach soviel Tod?
Warum trägt es
die Schuld der Unschuld?
die Gegenschuld
die wiegt
so schwer
wie die Schuld der Täter
wie ihre Blutschuld
die entschuldigte
die abgewälzte
Wie oft muss ich sterben
dafür
dass ich dort nicht gestorben bin?
Erich Fried 1921-1988
Trost
Du weißt, dass hinter den Wäldern blau
die großen Berge sind.
Und heute nur ist der Himmel grau
und die Erde blind.
Du weißt, dass über den Wolken schwer
die schönen Sterne steh’n.
Und heute nur ist aus dem goldenen Heer
kein einziger zu seh’n.
Und warum glaubst du dann nicht auch,
dass uns die Wolke Welt
nur heute als ein flüchtiger Hauch
die Ewigkeit verstellt?
Eugen Roth 1895-1976
Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an; es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer Maria Rilke 1875-1926
Memento
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr
und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben!
Mascha Kaleko 1907-1975
Geduld bringt Rosen
Es ist Geduld ein rauer Strauch
Voll Domen aller Enden,
und wer ihm naht, der merkt es auch
An Füßen und an Händen.
Und dennoch sag ich: Lass die Müh
Dich nimmermehr verdrießen,
sei’s auch in Tränen, spät und früh,
ihn treulich zu begießen.
Urplötzlich wird er über Nacht
dein Mühen dir belohnen,
wenn über all den Dornen lacht
ein Strauß von Rosenkronen.
Karl Heinrich Wilhelm Wackernagel 1806-1869
Wasser
Wenn du klug bist,
mach dich selbst zu einem Wasserbecken
Und nicht zu einer Wasserleitung.
Diese empfängt und vergießt
das Wasser nämlich gleichzeitig.
Ein Wasserbecken hingegen wartet,
bis es ganz voll ist;
und so gibt es weiter, wovon es überfließt,
ohne sich selbst einzubüßen.
Bernhard von Clairvau um 1090-1153
Ein kosbares Geschenk
Je schöner und voller die Erinnerung,
desto schwerer ist die Trennung.
Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung
in eine stille Freude.
Man trägt das vergangene Schöne
nicht wie einen Stachel,
sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.
Dietrich Bonhoeffer 1906-1945
Altern
So ist das Altern: Was einst Freude war,
wird Mühsal, und der Quell rinnt trüber,
sogar der Schmerz ist seiner Würze bar –
man tröstet sich: Bald ist’s vorüber.
Wogegen wir uns einst so stark gewehrt:
Bindung und Last und auferlegte Pflichten,
hat sich in Zuflucht und in Trost verkehrt:
Man möchte doch ein Tagwerk noch verrichten.
Doch reicht auch dieser Bürgertrost nicht weit,
die Seele dürstet nach beschwingten Flügen.
Sie ahnt den Tod, weit hinter Ich und Zeit,
und atmet tief ihn ein in gierigen Zügen.
Hermann Hesse 1877-1962
Engel
Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
oft sind sie alt und hässlich und klein.
Die Engel.
Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand
oder er wohnt neben dir, Wand an Wand,
der Engel.
Dem Hungernden hat er das Brot gebracht,
der Engel.
Dem Kranken hat er das Bett gemacht,
und er hört, wenn du ihn rufst in der Nacht,
der Engel.
Er steht im Weg, und er sagt: Nein,
der Engel,
groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein
es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Rudolf Otto Wiemer 1905-1998
Welkes Blatt
Jede Blüte will zur Frucht,
jeder Morgen Abend werden,
Ewiges ist nicht auf Erden
Als der Wandel, als die Flucht.
Auch der schönste Sommer will
einmal Herbst und Welke spüren.
Halte, Blatt, geduldig still,
Wenn der Wind dich will entführen.
Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,
lass es still geschehen,
lass vom Winde, der dich bricht,
dich nach Hause wehen.
Hermann Hesse 1877-1962
Versöhnung
Wieder ein Morgen
ohne Gespenster
im Tau funkelt der Regenbogen
als Zeichen der Versöhnung
Du darfst dich freuen
über den vollkommenen Bau der Rose
darfst dich im grünen Labyrinth
verlieren und wiederfinden
in klarerer Gestalt.
Du darfst ein Mensch sein arglos
Der Morgentraum erzählt dir
Märchen du darfst
die Dinge neu ordnen
Farben verteilen
und wieder
schön sagen
an diesem Morgen
du Schöpfer und Geschöpf
Rose Ausländer 1901-1988
Meer
Wenn man ans Meer kommt soll
man zu schweigen beginnen
bei den letzten Grashalmen
soll man den Faden verlieren
und den Salzschaum
und das scharfe Zischen des Windes einatmen
und ausatmen
und wieder einatmen
Wenn man den Sand sägen hört
und das Schlurfen der kleinen Steine
in langen Wellen
soll man aufhören zu sollen
und nichts mehr wollen nur Meer
Nur Meer
Erich Fried 1921-1988
Ich lebe mein Leben
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Rainer Maria Rilke 1875-1926
Die Zeit steht still
Die Zeit steht still. Wir sind es, die vergehen.
Und doch, wenn wir im Zug vorüberwehen,
Scheint Haus und Feld und Herden, die da grasen,
Wie ein Phantom an uns vorbeizurasen.
Da winkt uns wer und schwindet wie im Traum,
Mit Haus und Feld, Laternenpfahl und Baum.
So weht wohl auch die Landschaft unsres Lebens
An uns vorbei zu einem andern Stern
Und ist im Nahekommen uns schon fern.
Sie anzuhalten suchen wir vergebens
Und wissen wohl, dies alles ist nur Trug.
Die Landschaft bleibt, indessen unser Zug
Zurücklegt die ihm zugemeßnen Meilen.
Die Zeit steht still. Wir sind es, die enteilen.
Mascha Kaleko 1907-1975
Was ist das Christentum?
Was Jesus vorschwebt, ist, dass wir den Weg des anderen nicht zu kennen brauchen und auch objektiv nicht kennen. Das einzige, was wir tun sollten, ist, den anderen zu begleiten, dahin, wohin er selbst gehen möchte, um nach Hause zu kommen. In den Stunden, wo es dunkel wird und wo er Angst hat, keinen Weg mehr sieht und sich allein fühlt, braucht er uns an seiner Seite. Nicht weil wir es besser wüssten für ihn, aber weil wir gemeinsam und vier Augen besser sehen als er allein mit angstverwirrten Augen. Das ist für mich das ganze Christentum. Keine Lehre, aber eine Form, aus Vertrauen zu leben und miteinander zu sein. Wir müssten sie uns aneignen, fühlsamer, poetischer – getragen von mehr Mitleid, von der Weite des Herzens, und wir müssten weg von dem Intellektualismus der patriarchalischen Enge und Angst, die wir vor uns selbst haben und deshalb andere vor uns haben.
Eugen Drewermann
geboren 1940
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