Jan 172017
 
GLOBALISIERUNG ODER NATIONALISMUS

Von Colin Crouch

Die traditionellen Identitäten der Wähler in den westlichen Industrieländern haben ihren Daseinszweck verloren. Darunter leiden vor allem die Sozialdemokraten.

Als 2008 die Finanzkrise die Welt erschütterte, richtete sich die Wut der Menschen vor allem gegen die Eliten in der Finanzwelt und in der Politik. Inzwischen leben Ausländerhass und Einwandererfeindlichkeit wieder auf. Diese Entwicklung lässt sich nicht verstehen, ohne die Veränderungen zu betrachten, die sich zurzeit auf den beiden wichtigsten Achsen der politischen Konflikte in modernen Gesellschaften vollziehen, zwischen Umverteilung und Ungleichheit auf der einen Achse sowie liberalen und autoritären beziehungsweise nationalistischen Werten auf der anderen. In Westeuropa haben wir uns – anders als in den USA, wo die Religion wichtig bleibt – seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts an eine Entwicklung zu mehr Gerechtigkeit und Liberalität gewöhnt. Doch inzwischen erleben wir, dass selbst wirtschaftliche Fragen durch die nationalistische Brille betrachtet werden. Autoritäre Antworten auf politische Herausforderungen werden immer populärer.

Durch die ökonomische Globalisierung, durch Einwanderung und Flüchtlinge sowie durch die Renaissance islamischer Identitäten, deren extreme Auswüchse den Terrorismus als Mittel der politischen Auseinandersetzung einschließen, wähnen viele Menschen alles bedroht, was ihnen vertraut war. Sicherheit suchen sie, indem sie alle politischen Kräfte und Menschen ausgrenzen, die sie dafür verantwortlich machen. Wobei vor allem diejenigen reagieren, die in ihrem Arbeitsleben ohnehin wenig Gestaltungsmöglichkeiten haben und es gewöhnt sind, dass klare Regeln ihnen Sicherheit geben.

Diese Reaktion nimmt verschiedene Formen an. Viele Russen stärken den Nationalismus und betonen ihre Homophobie. In der islamischen Welt wenden sich Menschen der Religion zu, sie ist dort als Symbol der Epoche vor der Globalisierung viel wichtiger als die Nation. Dazu unterwerfen sie die Frauen einer strengen Kleiderordnung. Viele Amerikaner fürchten sich nicht nur vor mexikanischen Einwanderern und islamischen Terroristen, sondern sie machen auch die Abtreibung zum Thema. Ein Sozialkonservatismus, der sich insbesondere in einer tief verwurzelten sexuellen Prüderie äußert, bildet verbunden mit Fremdenfeindlichkeit ein neues gesellschaftliches Fundament für den Autoritarismus.

Westeuropa bildet dazu teilweise eine Ausnahme. In den katholischen Ländern wurden die letzten großen Schlachten um Verhütung, Scheidung und schließlich Abtreibung in den siebziger Jahren geschlagen. Die Kirchen als wichtigste Vertreter des europäischen Sozialkonservatismus verloren an Einfluss und vertreten mittlerweile selbst überwiegend eine liberale soziale Haltung. So hat ein genereller autoritärer Konservatismus in Westeuropa kaum noch Stützen und verengt sich zu einer Verteidigung der nationalen Identität gegen vermeintlich feindliche Kräfte. Dem gegenüber steht die liberale Überzeugung, der zufolge Globalisierung und Multikulturalismus Chancen für ein vielfältigeres Leben eröffnen, für reichere kulturelle Erfahrungen und auch für die Aussichten des Einzelnen.

Um diese neuen Konfrontationen einordnen zu können, muss man sich zunächst anschauen, warum einfache Leute, deren Alltag weit entfernt war von den großen politischen Themen, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts überhaupt eine politische Identität entwickelten. Die Menschen stellten damals fest, dass ihre soziale Identität mit dem Kampf um politische Rechte verknüpft war, vor allem mit dem Kampf um die Inklusion oder Exklusion im Wahlrecht. Je nach sozialer Stellung verband sich die Identität eines Menschen entweder mit der Forderung, wählen zu dürfen, oder andere vom Wahlrecht auszuschließen.
Schichtzugehörigkeit und Grundeigentum, Religion und manchmal auch ethnische Zugehörigkeit waren in diesem Kampf die wichtigsten Identitäten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das universelle Bürgerrecht für alle Erwachsenen in so gut wie allen fortschrittlichen Volkswirtschaften des Westens allgemein akzeptiert. Die Politik wurde friedlich und mehr oder weniger demokratisch.

Als die Bürgerrechte für alle erreicht waren, verloren die Identitäten, die in den Kämpfen darum geschmiedet worden waren, nach und nach ihren Daseinszweck. Sie waren aber so tief verwurzelt, dass sie paradoxerweise die Basis der Parteienpolitik bildeten. Mit der Zeit wirkten sie nicht mehr als unmittelbare Erinnerung, sondern in Form von Erinnerungen der Eltern und der Großeltern. Solche Erinnerungen mussten natürlich verblassen. Der Schwung der Demokratie hing fortan von gesellschaftlichen Kräften ab, die die Demokratie selbst mit ihrem Entstehen geschwächt hatten.

Diese Entwicklung wurde von drei großen Umwälzungen verstärkt. Die erste war der Aufstieg der postindustriellen Ökonomie und die Entstehung von Berufsgruppen, die mit den Kämpfen der Vergangenheit nichts mehr gemein haben. Die Schichtzugehörigkeit büßte ihre Bedeutung als verlässliche Quelle politischer Identität ein.

Zweitens schmolz in Europa, aber nicht in den USA, der Einfluss der Religion. So verloren nicht nur die damit verbundenen Identitätskämpfe, sondern verloren auch generell die Auseinandersetzungen um Autoritarismus einerseits und Liberalismus andererseits an Kraft.

Drittens gingen die meisten Politiker in Parteiauseinandersetzungen den Fragen nach der ethnischen Zugehörigkeit und der Nationalität aus dem Weg. Beide Fragen waren aufgrund der destruktiven Macht, die der Nationalismus in den beiden Weltkriegen entfaltet hatte, und aufgrund des Holocaust tabu.

Die immer schwächer werdende Identifikation der Wähler mit politischen Parteien und die sinkende Wahlbeteiligung geben deshalb keine größeren Rätsel auf. Es bedarf starker Meinungsführer, um bei der einfachen Bevölkerung, die politisch wenig Einfluss hat, das Interesse an der Politik zu wecken. Doch die Meinungsführer, die wir aus den Kämpfen der Vergangenheit kennen, haben an Bedeutung verloren. So ist die Bindung zwischen den Parteien und den Wählern mittlerweile so lose, dass man das Wahlverhalten kaum noch von einer Identität herleiten kann. Selbst die wiederholte Wahl einer Partei führt so wenig zur Identifizierung mit dieser Partei wie der wiederholte Kauf einer bestimmten Seife zur Identifizierung mit dem Seifenhersteller führt.

Und da Wahlkämpfe immer stärker den Werbekampagnen für Produkte ähneln, gehen die Parteien wohl tatsächlich davon aus, dass sie zu ihren Wählerinnen und Wählern keine andere Beziehung aufbauen als die Hersteller von Waren zu ihren Kunden.

Doch dies könnte sich nun ändern. Die Globalisierung und ihre Folgen reproduzieren soziale Identitäten mit großem politischen Potenzial. Zwar hielten die allermeisten Politiker die nationale Identität in den vergangenen Jahrzehnten aus der Auseinandersetzung zwischen den Parteien heraus, aber sie sahen keinen Grund, diese jenseits dieser als Losung einzusetzen. Immerhin war es ja ihre Aufgabe, sich um die Nation zu kümmern. So blieb das Nationalgefühl im öffentlichen Bewusstsein und steht im Bedarfsfall für andere Anlässe zur Verfügung. Globalisierung, Migration, Flüchtlinge und Terrorismus sind solche Anlässe. Gleichzeitig verblassen die Erinnerungen an die schrecklichen Folgen nationalistischer Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Idee der Nation wird als politische Kraft stärker, während Schichtzugehörigkeit und Religion als identitätsstiftende Kräfte weiter im Niedergang begriffen sind.

Das hat gravierende Folgen. Die neuen nationalistischen Bewegungen nehmen fast alle auch die globale Finanzelite ins Visier. Die alte Konfliktachse zwischen Umverteilung und Ungleichheit interpretieren sie über den Nationalismus statt über gesellschaftliche Schichten. Einfache unpolitische Menschen treten zudem nur dann gegen mächtige politische Kräfte in Aktion – und dazu zählt auch die Teilnahme an Wahlen wenn sie die Zuversicht haben können, Teil eines größeren Ganzen zu sein, Teil einer politischen Bewegung, die in einer starken Identität verwurzelt ist. Nach dem Bedeutungsverlust der Schichten bleibt nur noch die nationale Identität, die ihnen diese Zuversicht geben kann.

Alle zeitgenössischen fremdenfeindlichen Bewegungen verbinden ihre Attacken gegen Immigranten und Flüchtlinge mit Angriffen auf die nationalen Eliten, die in die Finanzkrise verwickelt waren – Donald Trump in den USA und Marine Le Pen in Frankreich genauso wie Geert Wilders in den Niederlanden und Norbert Hofer in Österreich. Gruppierungen wie die Ukip in Großbritannien oder die Alternative für Deutschland, die als EU-Kritiker begannen, hatten erst dann durchschlagenden Erfolg, als sie die Angst vor Migranten und Muslimen aufgriffen. Es erleichtert ihnen den Angriff auf mächtige Eliten, wenn dieser als Attacke gegen die schwächeren Symbole der Globalisierung daherkommt.

Somit stellt sich die Frage, wie stark ist der Nationalismus? Wird er über alle anderen politischen Kräfte siegen, weil tief verwurzelte nationalistische Gefühle auf ein Wahlverhalten stoßen, das gerade mal der Entscheidung über den Kauf einer Seife entspricht? Sind Menschen mit liberalen Ansichten so dünn gesät?

Jüngere Forschungen des Schweizer Soziologen Daniel Oesch sowie der deutschen Politologen Herbert Kitschelt und Philipp Rehm weisen in eine andere Richtung. Sie belegen, dass liberale Einstellungen mit bestimmten sozialen Lagen verknüpft sind. Offenbar vertreten Menschen, die in mittleren und gehobenen Positionen arbeiten und mehr zwischenmenschliche Kontakte pflegen müssen, eher tolerante, liberale Ansichten als ihre Kollegen auf weniger kommunikativen Positionen. Außerdem sind Menschen, die in ihrer Arbeit einen gewissen Ermessensspielraum haben, liberaler als solche, die Regeln und Routinen befolgen müssen.

Wie man zur Frage nach Autorität und Freiheit steht, scheint also nicht nur einer persönlichen Vorliebe zu entspringen, sondern sozial verwurzelt zu sein. Auch im Brexit-Referendum in Großbritannien offenbarte sich eine vergleichbare soziale Gesetzmäßigkeit. Junge, gut ausgebildete Menschen, vor allem Frauen in großen Städten, stimmten eher für den Verbleib in der Europäischen Union; ältere, überwiegend männliche Wähler in verarmten ehemaligen Industriestädten sowie in wohlhabenden ländlichen Gegenden, in denen sich die New Economy kaum auswirkt, stimmten eher für den Austritt.

Die Offenheit für Multikulturalismus und Internationalismus hat sich in Teilen der Bevölkerung zu einer tief empfundenen und sozial verankerten Überzeugung entwickelt. Diese lehnen aufgrund ihrer Arbeit und ihrer sozialen Stellung Exklusion ab und wertschätzen Inklusion. Ob diese Weltoffenheit darauf gründet, dass man den Kontakt mit anderen Kulturen als Bereicherung empfindet oder dass man selbst keinen Beschränkungen seiner individuellen Freiheit unterworfen sein möchte, ist eine wichtige, aber sekundäre Frage. Für den Moment bleibt festzuhalten: Das Wiederaufleben des Nationalismus in der Politik von heute ist nicht die einzige breite gesellschaftliche Bewegung. Zwischen beiden Gesinnungen öffnet sich derzeit eine breite Kluft.

Diese Veränderungen haben für alle wichtigen politischen Kräfte in fortschrittlichen Gesellschaften langfristige Folgen. Keine politische Familie sieht einer bequemen Zukunft entgegen. Doch die Probleme erschöpfen sich nicht in der Herausforderung der orthodoxen Politik durch fremdenfeindlichen Populismus, die derzeit die Debatte beherrscht. Sie sind viel komplexer.

Die größten Herausforderungen ergeben sich für die Allianz zwischen Neoliberalen und Konservativen. Sie stellt in der Welt derzeit die dominante politische Formation dar und vertritt auf der Achse zwischen Ungleichheit und Umverteilung den Pol der Ungleichheit. Der Neoliberalismus als herrschende Wirtschaftsideologie einer internationalen Elite ist dennoch in keiner der demokratischen Parteien eine dominierende Kraft. Wenn er die Identität einer Partei faktisch prägt, ist diese Partei meist sehr klein, wie etwa die FDP in Deutschland. Häufiger findet er sich innerhalb konservativer Parteien wieder, etwa bei den Konservativen in Großbritannien oder den Republikanern in den USA. Doch der klassische demokratische Konservatismus in Europa verliert mit dem Schrumpfen der religiösen Bindungen an Stärke. Die konservativen Parteien sind daher versucht, den Nationalismus wiederzuentdecken, der ja Teil ihres Erbes ist, und sich gegenüber fremdenfeindlichen Bewegungen zu öffnen. Die können sie entweder in Bündnissen mit ultrarechten Parteien erreichen oder durch Machtverschiebungen innerhalb der Partei, wie bei den britischen Konservativen. Doch damit gefährden konservative Parteien zugleich das Herz des neoliberalen Projekts: Globalisierung und Weltoffenheit. Neoliberalismus und Konservatismus sind Verbündete, wenn die Hauptkonfliktachse von Ungleichheit zu Umverteilung verläuft; wird diese ersetzt durch die Achse zwischen Liberalismus und Nationalismus, stehen sie an entgegengesetzten Polen.

Bislang war diese Spannung in den USA am stärksten zu spüren. Die Republikanische Partei ist hin- und hergerissen zwischen den Neoliberalen, die die Partei – von Milliardären gestützt – seit Jahren beherrschen, und dem protektionistischen Nationalismus eines Donald Trump.

Deutschland stellte bisher eine Ausnahme dar. Der Christdemokratie gelang es dort bislang, die beiden widerstreitenden Formen des Liberalismus, den Wirtschaftsliberalismus und den sozialdemokratischen Liberalismus, miteinander in Einklang zu bringen. Doch dieser Balanceakt könnte durch die Reaktionen der Wähler auf die Flüchtlingskrise und den islamistischen Terror sowie die Wahlerfolge der AfD gefährdet werden.

Und während sich Konservative nach rechts wenden, haben Neoliberale die Möglichkeit, nach links zu rücken, indem sie auf der Achse Umverteilung-Ungleichheit Kompromisse eingehen. Blairs New Labour, Schröders SPD der Neuen Mitte und Clintons New Democrats waren Beispiele dafür. Auch die größte gesellschaftliche Umwälzung der vergangenen Jahrzehnte, die Entwicklung hin zu einer Gleichstellung der Geschlechter, ist ein gemeinsames neoliberal-sozialdemokratisch und zugleich antikonservatives Projekt.

Doch die Sozialdemokraten haben ihre eigenen Krisen zu bestehen. Die Arbeiterschicht schrumpft und wird nie wieder die größte gesellschaftliche Gruppe stellen. Stattdessen kämpft sie um ihren Platz in der Mitte einer postindustriellen Gesellschaft. Dank Oeschs Analyse wissen wir, dass diese Mitte nicht mehr das konservative Bürgertum der Vergangenheit repräsentiert. Viele Menschen dort, vor allem solche mit kommunikativen Tätigkeiten, zählen vielmehr zur Wählerschaft der Linken. Allerdings bevorzugen sie häufig Umweltparteien und andere nichtsozialdemokratische linke Gruppierungen. Diese Wähler sind in erster Linie liberal, befürworten aber auch eine Umverteilung. Aber je mehr die Achse Liberalismus- Autoritarismus an Bedeutung gewinnt, wächst die Spannung zwischen ihnen und der alten Arbeiterschicht. Kann es der Sozialdemokratie trotzdem gelingen, die Dominanz der Achse Umverteilung-Ungleichheit wiederherzustellen, um ihre Koalition zusammenzuhalten?

Der Journalist David Goodhart und der Soziologe Wolfgang Streeck haben darauf hingewiesen, dass der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat im Wesentlichen eine nationale Einrichtung war. Er beruhte darauf, dass sich alle Bürger als Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft fühlten. Diese Vorstellung drückt sich am deutlichsten im schwedischen Konzept des Wohlfahrtsstaats als Folkhemmet („Volksheim“) aus, in dem sich Menschen zu Hause fühlen können. Und dieses Konzept ließe sich auch auf eine kleine Zahl von Einwanderern ausdehnen.

Aber auf wie viele? Spiegelt also die Aversion gegen einen starken Sozialstaat in den USA die kulturelle und ethnische Heterogenität des Landes wider? Lässt sich das Konzept des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats auch in Einwanderergesellschaften aufrechterhalten? Solche Fragen führen dazu, dass mancherorts eine nationale Sozialdemokratie angestrebt wird, verbunden mit einer starken Begrenzung der Einwanderung, einer Ablehnung des Liberalismus und im Falle europäischer Staaten auch einem Rückzug aus der EU.

Politische Uhren lassen sich nicht zurückstellen. Die großen europäischen Sozialstaaten entwickelten sich unter der Ägide einer milden Form nationaler Identität, die sich nicht gegen Außenseiter richtete. Die fortschrittlichsten Sozialstaaten entstanden in offenen Handelsnationen – den skandinavischen Ländern, Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien. Diese Welt lässt sich nicht wiederherstellen. Wer die soziale Staatsbürgerschaft auf „echte“ Inländer beschränkt, erhält kein Folkhemmet von Menschen, die zufällig ethnisch homogen sind, sondern macht sich gemein mit der Forderung des Front National, die Rechte auf Franjais de souche (also „Urfranzosen“) zu beschränken, was eine aktive Exklusion einschließt.
Der Freihandel ist zudem heute in ein System aus globalen Regeln eingebunden und entspringt nicht etwa einer Reihe nationaler Entscheidungen, die festlegen, wie viel Freihandel man haben will.

Nur die EU böte die Chance, neben einem Freihandel, in dem sich die vereinte Souveränität ihrer Mitgliedstaaten ausdrückt, auch die transnationale Sozialpolitik auszubauen. Doch die europäische Tragödie verhindert dies. Sie hat zwei Facetten. Erstens muss die EU eine große Zahl vertriebener Menschen von der anderen Seite des Mittelmeers aufnehmen. Zweitens muss sie den Zuzug von Arbeitskräften vor allem aus Osteuropa verkraften. Doch die Entscheidungsträger in der EU und der Europäische Gerichtshof vertreten eine extrem neoliberale Haltung und weigern sich, die transnationale Sozialpolitik zu machen, die angesichts dieser großen Wanderbewegungen erforderlich wäre. An dem ersten Punkt war Europa nicht schuld; den zweiten zu ändern, liegt vollständig in der Gewalt ihrer Politiker. Doch dies setzt ein Umdenken der europäischen Neoliberalen voraus. Durch den Rückzug Großbritanniens aus der EU wird dies womöglich erleichtert.


Quelle: Cicero 10.2016, Seite 41-47
Aus dem Englischen von Anne Emmert
Colin Crouch ist ein britischer Politikwissenschaftler, sein Buch „Postdemokratie“ war ein internationaler Bestseller