Feb 152017
 
Lamaismus

Von Paul Gäbler

Evangelisches Kirchenlexikon, Band H-O, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1962, Spalte 1025 und 1026

Das Herrschaftsgebiet des Lamaismus sind die weiten innerasiatischen und sibirischen Gebiete (Tibet, Mongolei, Mandschurei u. a. Teile Nordchinas, Ladakh in Kaschmir, Bhutan, Nepal, Sikkim u. a. ), in denen ursprünglich eine animistisch- schamanistische Religiosität beheimatet war. Diese fand in Tibet ihren Ausdruck in der Bon-Religion, jener Naturreligion mit Dämonenkult, Zauberei und Ahnendienst.

Der Lamaismus selber ist ein entarteter Buddhismus, vermischt mit indischem Tantrismus und tibetischem Dämonenkult, das Ganze durchsetzt mit Magie und Zauberei. Organisatorisch stellt sich der Lamaismus nach Verdrängung des alten Königtums dar als Priesterstaat mit einer festen Lama-Hierarchie (Lama = Oberer, Lehrer).
König Srong-btsan-sgam-po (628 – 650) soll den Buddhismus in Tibet eingeführt haben. Das geschah in der Gestalt des Großen Fahrzeuges (Măhdyăna) und des Diamantfahrzeuges (Vajrayăna). Wegen des heftigen Widerstandes der Vertreter der Bon-Religion breitete sich der Buddhismus nur langsam aus. Das wurde anders nach dem Eintreffen des indischen Zauberers Padmasamhhava (747). Bald entstanden zahlreiche Klöster. Seine Schüler und Nachfolger übersetzten eine Fülle buddh. Schriften ins Tibetische. Dieser buddh. Kanon Tibets besteht aus dem Kandschur (= übersetztes Wort Buddhas), einer Sammlung der Texte in 108 Bänden, und dem Tandschur (= übersetzte Lehre), einer Sammlung der Kommentare in 225 Bänden. Allmählich entstand eine ganze Hierarchie von Lamas, die nicht im Zölibat lebten und rote Gewänder und Mützen trugen. Ihre Organisation war die sog. rote Kirche. Sie hatte ihren Mittelpunkt im west-tibetischen Sa-shya- Kloster. Von Kublai-Khan begünstigt, verhalfen sie dem Lamaismus zu einem Siegeszug durch die ganze Mongolei. Mit dem Zusammenbruch der Mongolenherrschaft trat dann ein innerer und äußerer Verfall der roten Kirche ein.

Schließlich erstand dem Lamaismus in Tsung-kha-pa (Mann aus dem Zwiebeltal) ein Reformator (1356 – 1419), der eine 1038 von Atisha begründete neue Sekte reorganisierte und sie Ge-lugs-pa (= Tugendsekte) benannte. Er führte die Ehelosigkeit der Mönche ein, trat der Zauberei entgegen und rang um eine Erneuerung von buddhistischer Lehre und Leben. Er ließ die Lamas gelbe Gewänder und Mützen tragen. So entstand neben der roten Kirche die gelbe Kirche. Ihre Gliederung gipfelt in einer doppelten Hierachenreihe, die des Dalai-Lama (= ozeangleicher Lamaismus) mit dem Sitz im Kloster Potala in Lhasa als Verkörperung des Bodhisattva Avalokiteshvara, und die des Pantschen-rin-po-tsche (= Juwel des großen Gelehrten), auch Tashi-Lama genannt, mit dem Sitz im Kloster Tashilunpo bei Schigatse als Inkarnation des Buddha Amitäbha. Der erstere ist mehr weltlicher Herrscher, der letztere mehr religiöses Oberhaupt. Die Sukzession erfolgt bei ihnen durch direkte Inkarnation des Bodhisattva, die beim Tode in einem zu gleicher Stunde geborenen Knaben geschieht.

Die Bedeutung der heiligen Formel om manipadme hum ist umstritten. Diese Silben, in endloser Wiederholung auf Papierstreifen geschrieben und durch Gebetsmühlen in dauernde Umdrehung versetzt, sollen das Böse abwenden und die Gnade des Avalokiteshvara gewinnen.


Quellen

  • Das Tibetanische Totenbuch, hrsg. von W. Y. Evans-Wentz, 5.Auflage Zürich 1955
  • G. Mensching: Buddh. Geisteswelt. Vom historischen  Buddha zum Lamaismus, 1955
  • H. v. Glasenapp: Der Pfad zur Erleuchtung, 1956.

Literatur

  • Ch. Bell: The Religion of Tibet, Oxford 1931
  • W.Bleichsteiner: Die Gelbe Kirche, Wien 1937
  • A. David-Neel: Heilige u. Hexer, 1931
    Ders.: Meister u. Schüler, 1934
  • W. Filchner: Kumbum Dschamba Ling, 1933
    Ders.: Kumbum, 1954
  • A. H. Francke: Geistesleben in Tibet, 1925
    Ders., in RGG III, 1459-61
  • O. Franke: Der Lamaismus, in: Chant I, S. 247ff.
  • H. v. Glasenapp: Buddh. Mysterien, 1940
  • M. Hermanns: Mythen und Mysterien der Tibeter, 1956
  • H. Hoffmann: Die Religion Tibets, 1956
  • St. Konow, in: Chant II, S. 136ff.
  • G. Schulemann: Die Geschichte des Dalai-Lamas, 1911
  • W. Wüst: Der Lamaismus als Religionsform der hochasiatischen Landschaft, in: Zeitschrift für Geopolitik, I, 1924, S. 295-302.

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