Feb 062017
 
Unsere Verpflichtung zur Erinnerung und Aufklärung

Von Walter Hiller, 26. Januar 2017

Am 3. Januar 1996 erklärte der Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum nationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus mit den Worten: „Die Erinnerung darf nicht enden, sie muss auch künftige Generationen zu Wachsamkeit mahnen“. Die Vereinten Nationen erklärten anlässlich des 60. Jahrestages im Januar 2005 den 27. Januar zum internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, weil genau an diesem Tag, dem 27. Januar 1945, die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreite.

Auschwitz ist Symbol für den Holocaust und die aus antisemitischem Rassenwahn geborene, von den Nationalsozialisten industriell betriebene Massenvernichtung, insbesondere von Juden. Auschwitz wurde das größte Massengrab der Menschheitsgeschichte. Etwa 1,5 Millionen Menschen wurden dort durch den deutschen Staatsapparat ermordet. In der übergroßen Mehrheit waren es Juden, die aus allen deutsch besetzten Ländern Europas nach Auschwitz deportiert wurden. Darüber hinaus wurden mehr als 70 000 Polen, 21000 Sinti und Roma und 15 000 sowjetische Kreigsgefangene zu Tode gepeinigt. In weiteren rund 2000 Konzentrationslagern waren KZ-Häftlinge in Betrieben für die Kriegs- und Rüstungsproduktion eingesetzt und damit den Bedingungen der „Vernichtung durch Arbeit“ unterworfen. Diese Lager waren Orte des Terrors. In barbarischer, kaum vorstellbarer Weise wurden die Häftlinge schikaniert und brutal ausgebeutet.

Auf der Wannsee-Konferenz, am 20. Januar 1942, wurde durch Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und seinen 14 Helfershelfern aus verschiedenen Ministerien, festgelegt, wie die NS-Bürokratie den Holocaust zu organisieren hat. Darüber dürfen wir nicht vergessen, dass zu dieser Zeit das Morden durch Massenerschießungen in den durch die Wehrmacht eroberten Gebieten bereits in vollem Gange war. Diese wurden nicht nur durch die SS, sondern auch von Soldaten der Wehrmacht verübt. Von 2,75 Millionen Juden, die in den besetzten Gebieten der Sowjetunion unter deutsche Herrschaft geraten waren, hatten nur sehr wenige überlebt. Auch setzte man Hunger, unmenschliche Arbeit, Krankheit und fehlende Hygiene in den Konzentrationslagern und Gettos kalkuliert ein, diejenigen sterben zu lassen, die man als Untermenschen ansah. Mit dem Ergebnis der Wannsee-Konferenz wandelte sich der Mord zum systematischen Genozid. Zudem hatte die Konferenz den Zweck, Widerstände der Behörden, soweit Zweifel an der technokratischen Sinnhaftigkeit, dem Aufwand und den Kosten eines Massenmords bestanden, zu überwinden. Moralische Hemmungen oder Bedenken hatte keiner der Teilnehmer.

Opfer des Holocaust in unserer Stadt, der ehemaligen „Stadt des KdF-Wagens“

Die Geschichte unserer Stadt und von Volkswagen sind untrennbar verbunden mit dem Schicksal tausender ZwangsarbeiterInnen, die zu einem großen Teil gewaltsam aus ihren Heimatländern hierher verschleppt wurden. Sie wurden unter unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgebeutet, gequält, geschunden und viele auch tödlich zugrunde gerichtet. Es handelt sich um eine Dimension der Unmenschlichkeit, der Menschenverachtung und der Verbrechen gegen die Menschheit, die nicht nur moralische Empörung auslösen, sondern wir den Willen haben müssen, uns mit den Hintergründen auseinanderzusetzen und daraus Konsequenzen und Lehren zu ziehen.

Als besondere Gruppe zählten dazu die Juden, die als minderwertige Rasse klassefiziert und deshalb kein Recht auf Leben hatten. Sofern aber jüdische Frauen und Männer arbeitsfähig waren, führte ihr Arbeitseinsatz, der unter schweren und gesundheitsgefährenden Bedingungen erfolgte, zu einem gnadenlosen physischen Ruin. Werfen wir in diesem Zusammenhang einen Blick auf die Geschichte Wolfsburgs, ist festzustellen: „Auschwitz“ existierte auch in der „Stadt des KdF- Wagens“, auch hier waren KZ-Häftlinge eingesetzt, mit dem Ziel: „Vernichtung durch Arbeit“. Die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Außenkommandos unterlagen den gleichen menschenverachtenden Regeln wie im Stammlager Neuengamme. Es waren Orte des Terrors. Die Häftlinge der Außenkommandos wurden vor Ort in ein mit einem Elektrozaun umgebenen Lager eingesperrt und in barbarischer, kaum vorstellbarer Art gequält, schikaniert und in jeder Hinsicht brutal ausgebeutet. Dem System „Vernichtung durch Arbeit“ waren KZ-Häftlinge, insbesondere Juden unterworfen. Zwangsarbeiter aus Osteuropa und anderen Ländern wurden im Volkswagenwerk entsprechend der Rassenideologie unterschiedlich behandelt.

Untertageverlagerung der Raketenproduktion Fi 103 nach Lothringen

Die Eisenerzgrube Tiercelet umfasste eine Fertigungsfläche von 230 000 qm. Das Volkswagenwerk war neben anderen Unternehmen frühzeitig ein Befürworter der Untertageverlagerung. Von ihr erhoffte sich die Leitung den Schutz von Spezialmaschinen, aber gleichzeitig auch eine Ausweitung der Fertigungskapazität. Bis zum Jahresende sollten 100 000 qm ausgebaut und mit der Endmontage der Fi 103 begonnen werden. Tiercelet sollte gleichzeitig als Konzentrationslager ausgebaut werden. Damit stünden für die Häftlinge unmittelbar neben den Fertigungshallen in dieser Höhle auch entsprechende Wohn- und Schlafmöglichkeiten zur Verfügung. Dieses Projekt, sowohl der Aufbau als auch die Produktion, sollte ausschließlich durch KZ-Häftlinge, zu denen auch Juden zählten, realisiert werden, weil zu diesem Zeitpunkt kein anderes Personal zur Verfügung stand.

Gleichzeitig gab es in dieser Zeit Judentransporte aus Ungarn nach Auschwitz. Diese Möglichkeit nutzte das Volkswagenwerk Fachkräfte zu rekrutieren. Ein Bertriebsingenieur hatte nach der Selektion 800 jüdische Metallfacharbeiter, wozu auch Ingenieure gehörten, ausgesucht. Davon sollten 300 im Stammwerk ausgebildet werden für den späteren Anlauf der Produktion in Lothringen und 500 kamen unmittelbat nach Tiercelet für die notwendigen Aufbauarbeiten. Nach einer kurzen Zeit der Ausbildung kamen die im Stammwerk ausgebildeten 300 Metallfacharbeiter ebenfalls nach Tiercelet, obwohl mit der Produktion noch nicht begonnen worden ist. Die Häftlinge wurden weitgehend im Stollenbau, einer körperlich schweren Arbeit, eingesetzt. Für die Bewachung der Häftlinge, verbunden mit den üblichen Schikanen, war die SS zuständig. Bedingt durch die Mangelernährung verschechterte sich schnell der Gesundheitszustand vieler Häftlinge.

Bereits Anfang Septemer 1944 wurde Tierclet geräumt. Nach einer Zwischenstation in Dernau kam bereits Ende September die erste Häftlingsgruppe von Dernau in Güterwaggons in das Konzentrationslager Mittelbau-Dora nach Nordhausen. Dort war ebenfalls ein Konzentratsionslager untertage, verbunden mit der Produktion von Raketen.

Ebenfalls aus Auschwitz kamen seit Sommer 1944 jüdische Frauen, die aus Ungarn stammten. Sie wurden im Stammwerk eingesetzt zur Produktion von Tellerminen und Panzerfäusten. Weitere Frauen kamen hinzu, sodass Ende Februar 1945 646 Frauen eingesetzt waren, wobei jüdische Frauen einen beachtlichen Anteil stellten. Die Jüdinnen wurden von ihrer Unterkunft im Untergeschoss in die benachbarte Werkshalle geführt, und nur für diese wenigen Augenblicke erblickten sie das Tageslicht und atmeten frische Luft. Ein Bericht über das Frauenlager führt aus: Die gesundheitliche Verfassung der Frauen war so schlecht, dass sie physisch unfähig waren zu arbeiten. Trotzdem wurden sie vom Werksarzt Dr. Ohl an den Arbeitsplatz geschickt. Auch die Nahrungsmittelrationen waren kaum genug, um die von ihnen geforderte Arbeit zu leisten. Alle Todesfälle im Lager waren die direkte Folge der Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung

Erinnern – nicht vergessen

Die Massenmorde in ihrer ganzen Brutalität durch die SS und die Wehrmacht an Millionen Juden, an Männern, Frauen und Kindern, die man nie wird begreifen können, dürfen wir nicht vergessen. Erinnerung ist deshalb wichtig, weil Erinnerung vergessen verhindert. Vergessen wäre der Verlust von Erfahrung, Erkenntnis und Herleitung der Gegenwart. Denn ohne bewusstes Verstehen der Vergangenheit und der Gegenwart ist keine Gestaltung der Zukunft auf eine menschenwürdige Gesellschaft denkbar. Dabei stellt sich dann die entscheidende Frage der Verantwortung der Nachkriegsgeborenen. Diese besteht zunächst darin, sich und anderen die Verbrechen und das Verschweigen der Tätergeneration zu vergegenwärtigen und sich der Frage zu stellen: Ist sie, die politisch und moralisch schuldlose Generation, nun endgültig entlassen aus der Auseinandersetzung mit dem Hitler-Regim und seinem Erbe? Beginnt nicht die Verantwortung dieser Generation bei der Frage, wie sie zur Schuld ihrer Großeltern und Eltern steht? Ob sie sich erinnern will? Ich denke, die Notwendigkeit der Erinnerung ist ungebrochen.

Es stellt sich dabei die Frage, wie diese geschieht und aussehen sollte, damit sie die heutige Jugend erreicht und anspricht. Wichtig und vorrangig dabei sind die Grundsätze und Prinzipien des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Die Beziehungen zwischen Mehr- und Minderheiten, auch unterschiedlicher Kulturen, Menschenrechte, Demokratie, Recht auf freie Meinungsäußerung,
Recht auf freie Religionsausübung sowie Recht auf gleichgeschlechtliche Liebe.

Diese Beispiele zeitgenössischer Themen sind alle eng verknüpft mit Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur zu ihrer Zeit.

An einem Gedenktag kann und darf es nicht nur ein Gedenken an die Opfer geben. Genau so wichtig ist es, Täter und Verursacher dieses mörderischen Systems in den Blick zu nehmen.

Volkswagen und die Stadt haben in der Frage „Juden“ eine besondere Verantwortung, weil deren Gründung zu einer Zeit erolgte, als Juden in Deutschland bereits verfolgt wurden und deshalb bei der Stadtgründung und danach kein Bürger dieser Stadt und auch nicht Mitarbeiter im Volkswagenwerk werden konnte. Stadt und Werk waren von Anfang an judenfrei, wie man damals ohne jedwede Scham sagte. „Willkommen“ waren sie als KZ-Häftlinge aus Auschwitz und anderen Konzentrationslagern. Stolpersteine, wie wir sie aus anderen Städten im Gedenken an ermordete Juden kennen, gibt es nicht.

Aufklärung und Bildung

Nach den Verbrechen und der Vernichtung von 6 Millionen Juden durch die Nazis, hätte man in Deutschland davon ausgehen müssen, dass Antisemitismus bei uns kein Problem mehr ist, was aber leider nicht zutrifft. Bald nach Kriegsende machte sich antisemitisches Denken erneut bemerkbar und ist bis heute nicht überwunden, im Gegenteil. Nach Berichten wurden im Jahr 2014 mehr antisemitische Straftaten registriert als in den Jahren zuvor. Ausgehend davon wird man heute von noch deutlich mehr ausgehen müssen. Hier stellt sich zurecht die Frage: Haben wir wirklich aus der Geschichte gelernt? Scheinbar nicht! Wenn z.B. jüdische Persönlichkeiten unflätige Beschimpfungen und Morddrohungen erhalten, dann hat die Gesellschaft in der Frage Erziehung und dazu gehört politische Bildung, versagt. Der Kampf gegen Antisemitismus kann nur gewonnen werden, wenn ein schärferes Bewusstsein entsteht über die historischen und die heutigen Erscheinungsformen des Antisemitismus. Dazu sind die Schulen, Vereine, Verbände, Kirchen, Gewerkschaften, aber auch die Stadt und Volkswagen gefordert.

Darüber hinaus haben wir ohnehin in der Stadt und auch bei Volkswagen Defizite der Aufklärung über die Geschichte von Werk und Stadt. Dringend wissenschaftlich zu erforschen und aufzuarbeiten ist die Stadtgeschichte 1938 – 1945, sowie die Nachkriegsgeschichte des Werkes.

Und was unbedingt für die weitere Aufklärung und Bildung erforderlich ist, ist ein Erinnerungsort mit einer entsprechenden Dokumentation der Stadt- und Werksgeschichte im Zentrum der Stadt.


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