Mai 032017
 
Nicht Offenheit, Abgrenzung bestimmt unser Leben

Von Gerhard Rein, 1. August 2006

Auf unserer Seite hat die Straße, in der wir leben, nur elf Hausnummern. Alte, großbürgerliche, vierstöckige Gebäude, errichtet zwischen 1896 und 1903. Mit stuck- und gemäldeverzierten Eingängen, Seitenflügel und Hinterhaus, das man hier in der Gegend euphemistisch Gartenhaus nennt. Sechs der elf Häuser haben den letzten Krieg einigermaßen überstanden. Auf den Trümmern der anderen fünf können die dort hochgezogenen Neubauten aber mit den alten Gemäuern nicht konkurrieren, die die Blicke der Touristen auf sich ziehen.

Im Haus Nummer 5 residiert seit einigen Monaten ein russisches Reisebüro, das merkwürdigerweise oft mit großen schwarzen Autoreifen beliefert wird, die sich auf dem Gehweg stapeln.

Im Haus Nummer 6 hat jüngst ein thailändischer Massage-Salon eröffnet. Lotusblüten hinter dem geschmückten Schaufenster. An der Eingangstür eine Klingel, von der überwiegend blasse Herren in Anzug und Krawatte Gebrauch machen. Im Innenhof dreht ein kleiner thailändischer Junge mit Schutzhelm auf einem Stützrad seine Runden. Wenn ich ihn frage, wie er heißt, antwortet er nicht.

Schräg gegenüber betreibt ein Ägypter einen Zeitungskiosk und neben ihm verkaufen Vietnamesen Eis, Unterhosen, Koffer, und allerlei anderen Schnulli, machen ihre Vitrinen auf und schnell wieder zu. Das Einzige, was sich hält, ist die vietnamesische Blumenecke.

Das ist meine kleine Straße. Von Kneipen und Restaurants und Pensionen und Lidl und Frisören nicht zu sprechen. Meine bewohnte Welt, in der ich mich ganz zuhause und oft fremd fühle. Mein Babylon.

 

Lichtjahre entfernt, Luftlinie aber nur ungefähr fünfundzwanzig Kilometer, in Heinersdorf, mit einem verschwindend geringen Ausländeranteil, sorgt der geplante Bau der ersten Moschee im Osten der Stadt für anhaltende Unruhe. Eine Anti-Moschee-Bewegung von besorgten Honoratioren, Apotheker, Rektor, Rechtsanwalt, Pfarrer, unterstützt von der lokalen CDU, instrumentalisiert von rechtsradikalen Skinheads und NPD-Sympathisanten, kämpft gegen den Bau der Moschee. Eine erste erregt verlaufende Bürgerversammlung musste von der Polizei aufgelöst werden. Sie konnte die befürwortenden Politiker des Projektes und einen Imam nicht ausreichend schützen. Jeder Hinweis auf die demokratische und friedfertige Struktur der Ahmadiyya-Gemeinschaft, die die Moschee bauen will, ging in wütenden Protesten unter. „Wir sind das Volk“, skandierten die Moschee-Gegner. Zwei Wochen später zogen sie durch die Straßen und demonstrierten lautstark gegen die ,Überfremdung‘ ihres Stadtteils. Sie riefen: „Wir lassen die Kirche im Dorf und die Moschee in Istanbul. “ Der Vorsitzende der Bürgerinitiative gegen die Moschee, ein Arzt, erklärte: „Wir wollen nicht so werden wie einige Bezirke im Westen der Stadt. “

Die erneute Bestätigung für eine Vermutung, die schon oft angestellt wurde. Die äußeren Mauern zwischen Ost und West in Deutschland sind geschleift, die inneren, unsichtbaren Mauern werden eher höher. Die Angst vor Überfremdung führt zu einem Rückzug, einem Rückfall in ein neues, altes nationalistisches deutsches Selbstverständnis, in das ein immer wieder aufflackernder Rechtsradikalismus sich scheinbar wie von allein einpasst. Die Angst vor Fremden, vor Ausländern geht einher mit der Beobachtung, dass im vereinigten Deutschland es nach wie vor auch eine Fremdheit unter Deutschen gibt. Wenn man sich aufeinander einließe, könnte es sich ja heraussteilen, dass das Fremde gar nicht so feindlich ist, wie man befürchtet hatte, und dass eigene Überzeugungen durch die Begegnung mit dem Fremden ins Schwanken geraten könnten, aber sich dem auszusetzen ist im Augenblick nicht besonders populär. Abgrenzung, nicht Offenheit bestimmt unser Denken. Wir sehnen uns lieber zurück in eine vertraute Vergangenheit als in eine offene Zukunft. Von einem Aufbruch in andere Kulturen und Religionen kann keine Rede mehr sein. Wir schließen unsere Fenster wieder.

Diese Haltung schien nach dem Zweiten Weltkrieg doch für immer überwunden. Was ist passiert? Aus dem internationalen Bann nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus, in den die große Mehrheit der Deutschen verstrickt war, haben uns schon im Herbst 1945 vor allem die Kirchen der Länder befreit, gegen die wir Krieg geführt hatten. Sie haben uns im Wortsinn aufgepäppelt, uns ernährt und die Rückkehr der evangelischen Kirchen Deutschlands in die Ökumenische Bewegung erst ermöglicht.

Von der Enge der Nazi-Ideologie befreit, eroberten sich mit wacher Neugier viele Menschen in Westdeutschland den Horizont der neuen Welt. In den Gremien des Weltrates der Kirchen, in der Ökumenischen Bewegung, übernahmen Martin Niemöller, Gustav Heinemann, Klaus von Bismarck, Helmut Simon, Richard von Weizsäcker wichtige Aufgaben. Die Wahrnehmung der Welt, ihre Tagesordnung erfolgte weitgehend durch die Ökumenische Bewegung. Keine Zeitung von Rang, keine Rundfunkanstalt konnte sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren leisten, nicht von den Entwicklungen im Weltrat der Kirchen zu berichten. Die Hinwendung zur Dritten Welt, zu den Befreiungsbewegungen, der Kampf gegen Rassismus, gegen Militarismus, der Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit sind in der Ökumenischen Bewegung angestoßen und vorgedacht worden.

Für die eingeschlossenen Kirchen in der DDR war die Ökumenische Bewegung die Brücke zu der Welt, die hinter der Mauer lag. Der Prozess, der in den Kirchen der DDR, unterstützt vor allem vom Erfurter Theologen Heino Falcke, zu einer Friedensbewegung, zu einem konziliaren Nachdenken über Gerechtigkeit und die Bewahrung der anvertrauten Schöpfung führte, war ohne die Ökumenische Bewegung nicht denkbar.

In der Bundesrepublik beförderten der Staatsrechtler Ludwig Raiser, die Bildungsforscher Georg Picht und Helmuth Becker, der Physiker und Philosoph Carl-Friedrich von Weizsäcker und andere, und nicht nur Männer, die Anstöße aus der Ökumenischen Bewegung. Sie bestimmten weitgehend den Horizont der öffentlichen Debatten in der Bundesrepublik. Für sie war die Ökumenische Bewegung kein Spiel, sondern, so hat es der Berliner Theologe Ernst Lange ausgedrückt, „der Ernstfall des Glaubens“. Aber diese protestantische Elite gibt es nicht mehr. Sie hatte das Angebot der Freiheit nach den Verbrechen und dem Chaos, das ihr Land unter Hitler in Europa hinterlassen hatte, begierig aufgenommen. Die ökumenische Entlassung aus der Gefangenschaft der Vergangenheit hatte sie geradezu dazu angestachelt, sich nun für die Einheit der Menschheit und die Einheit der Kirchen einzusetzen. Große Schlagworte, hehre Ziele. Was aber sollte, nach Hitler, denn sonst auf der Tagesordnung der Welt stehen?

Man mag bedauern, dass es diese protestantische Elite nicht mehr gibt. Was freilich viel Besorgniserregender ist, lässt sich nach meiner Wahrnehmung in einem Satz zusammenfassen: Die Ökumenische Bewegung ist in den Kirchen Deutschlands gestorben. Wir brauchen sie offensichtlich nicht mehr. Wir wollen uns nicht mehr herausfordern lassen. Wir sind uns selbst genug. Wir ziehen uns auf vertrautes Terrain zurück. Ernstfall des Glaubens? Niemand kommt heute noch auf den Gedanken, so über die Ökumenische Bewegung zu sprechen. Eine schöne Idee, ohne Zweifel, die als Idee aber jede Verwirklichung ersetzt. Unser eigener kleiner Horizont genügt uns.

Vor einigen Monaten, im März 2006, tagte in Porto Alegre in Brasilien die Vollversammlung des Weltrates der Kirchen. In seinen Gremien ist für die kommenden sieben Jahre kein deutscher Theologe von Rang mehr vertreten und einen kompetenten Laien aus Deutschland zu nominieren, darauf hatte man von vornherein verzichtet. In unseren Medien spielen die im Weltrat der Kirchen vertretenen evangelischen, anglikanischen und orthodoxen Glaubensgemeinschaften keine Rolle mehr. Journalisten nehmen den Weltrat nicht mehr wahr. Warum sollten sie ihn ernst nehmen, wenn die Kirchen im eigenen Land ihn nur noch als notwendiges Übel ansehen und sich längst nicht mehr von der Ökumenischen Bewegung bewegen lassen?

Derweil mutieren wichtige deutsche Tageszeitungen zu halben Bistumsblättern, und die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten übertragen stundenlang, oft parallel, und ganz und gar unkritisch, bedeutende und ganz nebensächliche Ereignisse rund um den Papst. Wunderbare Inszenierungen, Triumphe der Verpackungs- und Eventindustrie. Wer als Katholikin oder Katholik sich dadurch im eigenen Glauben gestärkt sieht, dem wird vermutlich schwer zu vermitteln sein, dass dem geistigen Rückzug der evangelischen Kirche aus der Ökumenischen Bewegung der Rückzug der katholischen Kirche aus der ökumenischen Verantwortung entspricht.

Als Ende Mai 2006 Papst Benedikt die Gedenkstätte Auschwitz aufsuchte und in seiner Rede die Angst vor dem Fremden, den grassierenden Rassismus und den Antisemitismus aussparte, der ja vor allem in den beiden großen Kirchen seit Jahrhunderten zu Hass auf Juden geführt hatte, also zu einer Mitverantwortung der Christen für die Vernichtung der Juden; als zudem der deutsche Papst in Auschwitz von einer Schar von Verbrechern sprach, die das deutsche Volk missbraucht hätten, und damit nahe legte, dass das deutsche Volk verführt wurde, also nicht schuld sei, hat er, sicherlich eher unbewusst, den Boden verlassen, auf dem sich die Ökumenische Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierte.

 

Es gibt heute auf lokaler Ebene in Deutschland schöne, ermutigende, wichtige Gemeinsamkeiten zwischen Christen aus verschiedenen Konfessionen. Sie führen aber zu keinerlei Verbindlichkeit. Ökumenische Gottesdienste kann es an allen Tagen der Woche geben, nur nicht am Tag des Herrn. Nicht am Sonntag. Ein gemeinsames Abendmahl ist weiter entfernt denn je. Ökumenische Entwicklungen gibt es nur zu den Bedingungen, die die katholische Hierarchie formuliert. In den Augen des Vatikan sind die evangelischen Kirchen nicht einmal richtige Kirchen. Diese mit großer Freundlichkeit vorgetragene Verachtung macht ökumenische Gottesdienste zur Eröffnung einer Fußball-Weltmeisterschaft, eines großen Bahnhofes in Berlin oder des nächsten Einkaufzentrums zu reinsten Folklore. Meistens freitags. Hauptsache dabei sein. Medienpräsenz ersetzt gemeinsame Glaubensüberzeugung. Ernst nehmen kann man das schon lange nicht mehr.

Dass unsere aufgeklärte Zivilgesellschaft dabei ist, sich ein wenig katholisch einzufärben, kann man, je nach eigener Einstellung, begrüßen oder mit leichtem Stirnrunzeln zu Kenntnis nehmen. Dieser Weg führt freilich zurück in die Vergangenheit.

Dabei liegt der Ernstfall des Glaubens längst vor. Er erweist sich daran, dass die Kirchen zum Frieden in der Welt kaum mehr etwas beitragen. Der jüdische Gelehrte Schalom Ben-Chorin hat von der „Ökumene der Abrahamskinder“ gesprochen, einer Ökumene von Juden, Moslems und Christen. An der Friedfertigkeit der Religionen werden sich ihre Zukunftsperspektiven entscheiden.

Heute verschanzen sich die drei Religionen, sie grenzen sich voneinander ab. Sie verschärfen damit die politischen Probleme und tragen zu ihrer Lösung nichts bei. Wenn der Vatikan bei seinem Herrschaftsanspruch über die Christen bleibt, wird er ihre Einheit verhindern. Wenn er zudem Nichtchristen erhebliche Glaubensdefizite anlastet, wird das Gespräch zwischen den Religionen immer schwerer. Der Verantwortung für den Weltfrieden kommt man damit nicht nach.

Es besteht ja vielleicht ein Zusammenhang zwischen den Ängsten der Heinersdorfer Anti-Moschee-Bewegung vor religiösen Fanatikern, vor Überfremdung und der lang tradierten und einstudierten Abwehr anderer Überzeugungen. Muss der Spruch der Demonstranten „Wir lassen die Kirche im Dorf und die Moschee in Istanbul“ durch Aufklärung und Information nicht so verändert werden, dass wir für die Kirche in Istanbul aus vielen, guten Gründen ebenso eintreten wie für die Moschee in unserem Dorf?

 

Am Haus Nummer 10 in meiner kleinen Straße hängt seit Jahren eine Gedenkplakette, auf der daran erinnert wird, dass in diesem Haus bis 1941 das ‚Palästinaamt‘ seinen Sitz hatte, mit dessen Hilfe Menschen, die Juden waren, ihr bedrohtes Leben in Deutschland durch Ausreise retten konnten. Später richtete im Keller des Hauses Nummer 10 die SS eine Folterkammer ein. Am Haus Nummer 6 wurde vor wenigen Wochen eine Gedenkplakette für die Schriftstellerin Irmgard Keun enthüllt, die 1905 in diesem Haus geboren wurde, und die 1923 mit der Familie nach Köln zog. Ihre populären Romane wurden von den Nazis verboten. Ein Hausbewohner von Nummer 6 fragte mich, ob Irmgard Keun Jüdin gewesen sei. Ich verneinte. Er war beruhigt. Zwei Plaketten der gleichen Art in unserer kurzen Straße wären für ihn eine Provokation gewesen, die er abgelehnt hätte.

Gegenüber wohnt seit Jahren ein ungarischer Schriftsteller. Wegen des virulenten Antisemitismus in seinem Land möchte der Nobelpreisträger auf Dauer nicht mehr in seiner Heimatstadt Budapest, sondern viel lieber hier, in Berlin, leben. Antisemitismus, Angst vor dem Fremden, und die Befreiung davon sind Nachbarn. Das ist meine kleine Straße, mein Teil der bewohnten Erde, meine Ökumene.

Quelle: Gerhard Rein, Auf der Grenze von West und Ost, Hardcover ca. 320 Seiten, ISBN 978-3-945256-92-3, Preis 22 €,
Quintus Verlag für Berlin-Brandenburg, Binzstraße 19 , D-13189 Berlin, Telefon 030-70 22 34 06, Fax 030-70 22 34 26
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