Sep 142017
 
Belarus
Eindrücke von einer Studienreise im Sommer 2017

Von Giselher Hickel

„Natürlich weiß ich seit langem, dass Erinnerung von Politik nicht zu trennen ist.“
Shlomo Sand Tel Aviv 2017

Polazk ist die älteste Stadt von Belarus. Wenn man auf der Hauptstraße, dem alleeartigen Francyska-Skaryny-Prospekt, spaziert, stößt man auf ein Denkmal, das den geografischen Mittelpunkt Europas markiert. Man mag darüber lächeln, denn es ist dies nicht der einzige Ort, der diese Würde für sich beansprucht. Die Berechnung ist bei der unregelmäßigen Gestalt unseres Kontinents höchst uneindeutig. Dennoch, von Minsk bis Orenburg an der Grenze zu Asien sind es 2500 km, etwa genau so weit wie bis in die Bretagne an Frankreichs Atlantikküste.

Unsere Auffassung von Zentrum und Peripherie folgen nicht der geografischen Logik. Die Vorstellung, dass Belarus am Rande Europas liegt, folgt aus einer gedankliche Westorientierung. Und die Rede, dass Belarus nach Europa kommen müsse, ist die ideologische Entsprechung dazu.

I. Erinnerungen

Kein Weg nach Belarus führt vorbei an den Gedenkstätten des Großen Vaterländischen Krieges. Belarus hat wie kein anderes Land unter der deutschen faschistischen Aggression gelitten. Und es hat mit seinen Partisaneneinheiten wie kein anderes zivilen Widerstand gegen die Besatzung geleistet.

Die nationale Gedenkstätte ist Chatyn*. Das ist der Name des Dorfes, an dem im März 1943 eine SS-Einheit als Kollektivstrafe für einen Partisanenüberfall ein Massaker verübte. Alle 152 Dorfbewohner, darunter 75 Kinder, wurden bei lebendigem Leibe in einer Scheune verbrannt, dann Haus für Haus geplündert und alles in Schutt und Asche gelegt. Auf dem weiten Areal der Gedenkstätte sind die einstigen 26 Gehöfte in ihren Umrissen kenntlich gemacht, jedes mit einer in Beton gegossenen offenen Gartenpforte und einem steil aufragenden Obelisk, den Schornstein symbolisierend. Ofen und Schornstein waren die gemauerten Zentren der Holzhäuser und nur sie widerstanden dem Feuer. Auf Tafeln stehen die Namen der Bewohner des Hauses. Gekrönt ist jeder der 26 Schornsteine von einer Glocke, die – das ist besonders eindrücklich – alle 30 Sekunden gemeinsam anschlagen. Der Ton schwingt über das Todesgelände wie ein unauslöschliches Signal des gemordeten und durch die Erinnerung dennoch nicht vernichteten Lebens. Es klingt wie das ‚Presente‘, mit dem Lateinamerikaner ihrer Märtyrer gedenken.

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Anmerkung

* Nicht zu verwechseln mit Katyn bei Smolensk, Ort der Ermordung polnischer Gefangener April/Mai 1940


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