Nov 242017
 
Eine Streitschrift gegen der Krieg

Von Pfarrer Dr. Willibald Jacob
* 26. Januar 1932   † 3. Juli 2019
und Thomas-Dietrich Lehmann

Hinführung

Thomas Müntzer und Martin Niemöller – genannt in einer Schrift und in einem Atemzug, geht das? Der eine ein radikaler Pazifist, Niemöller – der andere, Müntzer, ein militanter Aufrührer. Niemöller, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau nach 1945 und einer der Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf; Müntzer – ein ruheloser Pfarrer in Jüterbog, Zwickau, Allstedt und Mühlhausen, der mit den Autoritäten seiner Zeit in permanentem Konflikt lebte.

Können wir die Botschaften dieser beiden Männer zusammendenken und von ihnen lernen – für heute?

Indem ich diese Frage stelle, zögere ich. Wir schreiben das Jahr 2017, und allenthalben herrschen Krieg oder Bürgerkrieg, ja über uns hängt die Gefahr eines neuen großen Krieges. Wir fragen nach den Ursachen. Warum ist das Verhältnis der Europäischen Union zu Russland so schlecht wie noch nie? Die stereotype Antwort – Putin ist schuld – verfangt nicht mehr. Viele Menschen möchten mehr wissen oder sie wissen es längst. Um das zu bezeugen, setzen wir Texte aus Lateinamerika zwischen unsere europäischen Ausführungen.

Abstand kann helfen, kann gut tun. Das Reformationsjubiläum will Abstand herstellen, stellt ihn de facto her. Wir leben nicht im 16. Jahrhundert. Martin Luther in Anspruch nehmen, weil er Recht hatte und wir Recht haben wollen, kann eine gefährliche Sache sein. Thomas Müntzer und Martin Niemöller kennen wir kaum, weil sie im Konfirmandenunterricht nicht Vorkommen. Meistens wurden und werden sie planmäßig unterdrückt oder als Extremist (Müntzer) oder Nestbeschmutzer (Niemöller) denunziert.

Abstand, warum? Weil wir neue Antworten brauchen. Weil wir neue Erzählungen brauchen von den Geschehnissen vor 500 und vor 100 Jahren und damit ein neues Selbstverständnis wächst.

Vor knapp 500 Jahren wurde am 27. Mai 1525 Thomas Müntzer und sein Pfarrerkollege Heinrich Pfeiffer vor den Toren von Mühlhausen in Thüringen mit dem Schwert hingerichtet, wenige Tage nach der für die Bauern verlorenen Schlacht bei Frankenhausen. Die deutschen Bauernkriege hatten ihren Höhepunkt erreicht. Wir stellen heute neu die Frage: Warum und wozu wurden diese sogenannten Kriege im 15. und 16. Jahrhundert geführt? Neue Erfahrungen und neue Quellenforschungen geben neue Antworten und führen – hoffentlich – zu neuem Handeln.

Vor 100 Jahren war der kaiserlich-deutsche Seeoffizier Martin Niemöller im Ersten Weltkrieg Kommandant eines deutschen U-Bootes und kreuzte im Atlantik, bedrohte und versenkte Kriegs- und Handelsschiffe des Gegners. Vor der Küste Westafrikas hinderte er das Schiff am Auslaufen, das Albert Schweitzer nach Frankreich zurückbringen sollte – so stellen es Niemöller und Schweitzer Jahrzehnte später mit Erstaunen fest. Wie wurde der deutschnationale Offizier zum Gesinnungsgenossen Albert Schweitzers – zum radikalen Pazifisten?

In Kürze soll versucht werden, beide Fragen vorläufig zu beantworten: Warum Bauernkriege? Warum Pazifismus?
Wir beginnen somit die neuen Erzählungen von alten Begebenheiten. Vielleicht erwerben wir uns damit einen neuen Blick auf die deutsche Geschichte. Perspektivwechsel! Dabei sollte klar sein: Wer erzählt, interpretiert.

1. Ursache und Folge der deutschen Bauernkriege: Gerechtigkeit

Es sollte uns nicht schwerfallen, 1000 Jahre zurückzudenken. Wenn schon 500 Jahre, warum nicht nochmals 500 Jahre, um recht zu verstehen, um Zusammenhänge zu sehen, nicht nur neue Lehren der Reformationszeit? Es ging wahrlich nicht nur um die neue Verkündigung von der Rechtfertigung des Sünders durch Gnade im Glauben. Es ging um Gerechtigkeit im Verhältnis von Hoch und Niedrig, von Arbeitenden und Herrschenden, im Verhältnis von Bauern, Handwerkern und Bergleuten zu Grafen, Äbten und Magistraten. Burgen, Klöster und Ackerbürgerstädte rangen um eine neue Ausgewogenheit der Machtverhältnisse. Warum exakt im 15. und 16. Jahrhundert?

Nach dem Jahre 1000 waren zwischen Tirol und Thüringen neue Arbeitsinstrumente in Gebrauch gekommen: der eiserne Wendepflug, das Kumpt, der schwere Ackerwagen und die Uhr. Damit änderte sich das Gesicht der Ortschaften und der Äcker. Pferde konnten mit ihren Schultern schwere Lasten ziehen. Es wurde tiefgepflügt. Das Steinesammeln begann und der Bau von Stadtmauern, Türmen und Toren, Kirchen und Rathäusern aus Feldsteinen, behauen und versetzt mit roten Ziegeln. Die Äcker wurden sauber und fruchtbarer. Kumpt und Wagen machten den Transport großer Steine möglich. Auch die Dörfer bekamen wundervolle kleine Kirchen, in meiner Heimat z. B. in Lindenberg und Schwanebeck zwischen Bernau und Berlin. Und: Die Dorfkirchen bekamen Türme mit Uhren. So konnte Arbeitsbeginn, Mittagspause und Feierabend angezeigt werden. In gewisser Weise hielt damit nach dem Jahre 1000 die industrielle Zeitrechnung Einzug in den Produktionsprozess zwischen Alpen und Ostsee.

Die Folge war eine enorme Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion und ein Schub bei den Verteilungskämpfen. Burgen und Klöster, d. h. besonders Grafen und Äbte als die in den Dörfern wirkenden Autoritäten, wollten den von ihnen selbst festzusetzenden Anteil. Die Spirale von Forderungen und Gegenforderungen begann.

Kurz gesagt: Die Obrigkeiten stellten Forderungen; die Bauern verweigerten das Maß der Abgaben; die Autoritäten schickten Soldaten; die Bauern setzten sich zur Wehr. Im besten Falle wurde der Versuch unternommen zu verhandeln. Es wurden „Kommissionen“ eingesetzt. Von Böhmen über Tirol bis in das Elsass, im Klettgau und im Hegau und in Thüringen wurden ganze Artikelserien zu Papier gebracht. Die Bauern schufen damit eine Grundlage für Verhandlungen. Sie hatten in ihren Pfarrern und durch Juristen gute Berater. Die bisher bekanntesten Artikel sind die Zwölf der schwäbischen Bauern. Die Treffpunkte der Bauern waren u. a. befestigte Orte wie Tabor in Böhmen, Memmingen und Solothurn im Süden und Erfurt und Mühlhausen im Norden. Die Artikel der Bauern tendierten dahin, dem damaligen Deutschen Reich eine neue Verfassung zu geben, eine Verfassung von unten. Philipp von Hessen, der kriegsentscheidende Landgraf, konnte nicht umhin, den Bauern und auch Thomas Müntzer seinen Respekt zu bezeugen; den einen für ihre weitgespannte, landesverändemde Wirksamkeit, dem anderen für sein kluges und konsequentes Verhalten unter der Folter.

Fazit: Die Bauern wollten keinen Krieg. Sie wollten aber auch keine Leibeigenschaft, die Rechtsform, mit der die Arbeitskraft gefügig gemacht werden konnte; deshalb die Bauernkriege in deutschen Landen.

Aus der Schlacht bei Frankenhausen am 15. Mai 1525 entkamen drei Freunde und Weggefährten Thomas Müntzers: Hans Hut, Hans Römer und Melchior Rinck. Sie wurden die Begründer und Mitbegründer eines „linken Flügels der Reformation“. Die Hutterer sind bekanntgeworden. Auf ihrer Fahne erkennen wir nicht die Forderung „Freiheit“, sondern die Losung „Frieden“. Sie gründeten in Süddeutschland und Westeuropa Täufergemeinden, in denen die Kindertaufe als Zwangsmaßnahme des corpus christianum, der „christlichen Gesellschaft“ des Mittelalters abgelehnt wurde. Philipp von Hessen verhaftete Melchior Rinck. Er ließ ihn aber nicht hinrichten, wie es tausendfach mit „Wiedertäufern“ geschah. Er gewährte ihm vielmehr eine „Disputation“ an der Universität Marburg aus Respekt vor seiner Standhaftigkeit und Überzeugung. Vielleicht war es auch der Respekt des Aussteigers vor dem Aussteiger. Philipp führte mit Genehmigung Martin Luthers eine Doppelehe, die eine aus Tradition, die andere aus Liebe. Es war wohl die Erkenntnis des Nikodemus: Was Gottes Geist vorantreibt, kannst du nicht aufhalten, weder durch Verfolgung noch Tod.

Philipp von Hessen hatte das Richtige geahnt. Aus der Täuferbewegung entstanden die Gemeinden und Kirchen der Baptisten. In den Niederlanden verweigerten die Schüler Menno Simons, die Mennoniten, den Wehrdienst und wurden zu radikalen Pazifisten. Nach Verfolgungen fanden sie in Nordamerika, in Russland und in Preußen jeweils eine neue Heimat.

Generell versank nach den Niederlagen der Bauern Europa im Absolutismus und im Untertanenstaat. Christen wurden zu guten Soldaten und damit auch zu guten Offizieren für Könige und Kaiser.

2. Der deutsche Untertan entdeckt die Friedensfrage: das Friedensstiften

Martin Niemöller war und blieb trotz und wegen seiner Position als Offizier ein Untertan. Sein Dienstherr war der preußische König und deutsche Kaiser. Von Revolution verstand er nichts. Aufruhr war ihm zuwider. Im U-Boot hatte zwar sein Gewissen geschlagen. Er hatte gelernt die Frage zu stellen: Was würde Jesus dazu sagen? Er blieb aber Offizier und führte ein Freicorps gegen den Aufruhr in der Weimarer Republik. Verworrene Zeiten – wirre Gesinnungen! Noch 1933 konnte er auf Hitler hoffen, während Dietrich Bonhoeffer „Nein“ sagte. Nach „Kirchenkampf“ und Verhaftung stellte er im KZ Sachsenhausen den Antrag, an die Front versetzt zu werden. Hitler lehnte ab. Im Konzentrationslager lernte er auch Kommunisten kennen. Damit begann die Bekehrung Niemöllers, die sich praktisch-politisch auswirken sollte. Folgende Sätze sind von Martin Niemöller bekannt:

Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.

Weniger bekannt ist sein Dank zu Gott, der ihn so lange hat leben lassen, bis er seine Lektion gelernt hätte:

  • aus dem von ihm im Jahre 1934 gegründeten Pfarrernotbund wurde die Bekennende Kirche im Kontakt mit dem großen Lehrer Karl Barth, aber sie schrie nicht für die Juden und kümmerte sich nicht um Ökonomie und Arbeitswelt,
  • aus dem Kontakt mit Kommunisten wurde der Respekt und die Zusammenarbeit mit Linken; er forderte das Werk von Horst Symanowski in Mainz mit Industrie- und Arbeiterpfarrern, besuchte demonstrativ und regelmäßig Moskau und Kirchengemeinden in der DDR; aber der Schritt zum radikalen Pazifismus war noch nicht getan,
  • erst die Zündung der Wasserstoffbombe 1954 trieb ihn in das Gespräch mit Atomphysikern. Die sieben Göttinger Professoren öffneten ihm die Augen für die objektive Grenze: Die „Waffe“ des Menschen führte zur Selbst- und Weltzerstörung; auch erkannte er noch, daß die Kluft zwischen Arm und Reich zur Selbstzerstörung führt, – nicht mehr erlebte er die absolute, objektive Grenze, die Mutter Erde setzt: Stoppt die Ausbeutung, die „Leibeigenschaft“ von Menschen und natürlicher Umwelt bei Strafe des Untergangs.

Am Ende eines langen Weges im 20. Jahrhundert stehen wir dort, wo die deutschen Bauernkriege vor über 500 Jahren begannen. Wo der Mensch und seine Fähigkeiten zum Eigentum anderer Menschen werden, ist Gefahr im Verzuge. Thomas Müntzer hat mit seinen Zeitgenossen das Signal gezogen: Entlasst uns aus der Leibeigenschaft. Daß besonders die Frauen ihm folgten, ist kein Wunder. Martin Niemöller lernte den Ruf zur Umkehr auszusprechen. Deshalb wurde er Nestbeschmutzer genannt. Die objektiven Grenzen, an die wir heute stoßen, bestätigen ihn. Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Das heißt im Jahre 2017: keine profitable Waffenproduktion als Bedrohung menschlicher Existenz, keine Bereicherung und Verarmung durch ungerechte Aneignung, keine Zerstörung der Erde durch zwanghaftes ökonomisches Wachstum. Mit anderen Worten: Leibeigenschaft ist Sklaverei. Es gibt eine moderne Leibeigenschaft, eine moderne Sklaverei, die zum Krieg führt, den niemand will:

  • den Gebrauch von Waffen gegen Alle,
  • die Aneignung des Reichtums Aller durch Wenige
  • die Zerstörung der Erde, die Aller Lebenswelt ist.

Thomas Müntzer und Martin Niemöller zeigen zwei Linien unserer Geschichte. Sie rufen heute zur Umkehr. Der eine kam von unten, der andere von oben. Sie treffen sich in der Niederlage, die zu neuen und entscheidenden Erkenntnissen führt.

Auszug aus Thomas Müntzer und Martin Niemöller, von Willibald Jacob und Thomas-Dietrich Lehmann, Ludwigsfelder Verlagshaus 2017, ISBN 978-3-933022-94-3, Seite 17-21

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