Beitrag der christlichen Friedensgruppen in der DDR für die friedliche Revolution
Anfang Oktober 1989, erreichten die Friedensgebete in der DDR mit anschließenden Prostestmärschen ihren Höhepunkt. Das Ende der DDR war besiegelt.
Von Joachim Garstecki
So unbestritten der Beitrag der Kirchen in der DDR zur friedlichen Revolution 1989 unter Zeitgeschichtlern wie Zeitzeugen zwanzig Jahre danach ist – es lohnt sich genauer hinzuschauen, wer und was damit gemeint ist. Die einen nennen sie kurz und knapp „die protestantische Revolution“, wie der Journalist Gerhard Rein. Sie bringen damit zum Ausdruck, dass den evangelischen Kirchen das historische Verdienst zukommt, im richtigen Moment am richtigen Ort die richtige Sprache gefunden zu haben. Das mache sie weder zur „Mutter der Revolution“ noch umgekehrt zur „Stütze des Systems“, denn das eine sei „zu viel der Ehre, das andere zu viel der Schande“, meint Richard Schröder, evangelischer Theologe und Publizist.
Andere halten die Distanz der katholischen Kirche gegenüber dem DDR-Regime für entscheidend. Sie sehen in ihr den Grund dafür, dass viele Katholiken „wie Zieten aus dem Busch“ kamen. Das Sprichwort bezieht sich auf den preußischen Reitergeneral Hans Joachim von Zieten (1699-1786), der für seine Überraschungsangriffe bekannt wurde: Katholiken übernahmen nach 1989 politische Verantwortung an Runden Tischen und später in den Kommunen und demokratischen Institutionen der neuen Bundesländer, als hätten sie nur darauf gewartet. Zwanzig Jahre später besteht allgemeiner Konsens, dass die Kirchen in der DDR ein „Übungsraum für Demokratie“ und „Orte des freien Wortes“ waren. Mit ihrer Mahnung zur Gewaltfreiheit haben sie den friedlichen Verlauf der Revolution maßgeblich beeinflusst.
Unter dem Dach der Kirchen
Dieser positive Effekt hat eine Vorgeschichte, die zwischen evangelischer und katholischer Kirche unterschiedlicher nicht sein könnte. Seit 1971 baute der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR eine eigene kirchliche Friedensarbeit auf. Gegen manche Widerstände und staatliches Misstrauen ermutigten die evangelischen Kirchen junge Christen zum Engagement, das dem biblischen Zeugnis der Gewaltfreiheit verpflichtet und von einem offenen, kommunikativen Friedensverständnis geprägt war.
Unter dem Dach der Kirchen und von ihnen geschützt, entstand Anfang der achtziger Jahre ein Netzwerk kritischer Friedensgruppen, das nicht nach Kirchenzugehörigkeit fragte. Diese Gruppen wurden im Herbst 1989 zu wichtigen Trägern und Gestaltern des gesellschaftlichen Aufbruchs. Zunächst zögernd verbanden sich die evangelischen Kirchen mit den Kräften der DDR-Opposition und gaben ihnen eine öffentliche Stimme. Die Kirchen wurden selbst zu politischen Akteuren, indem sie die Anliegen der kritischen Gruppen aufnahmen und anwaltschaftlich vertraten. Das kam einer Revolution im Protestantismus gleich. Neigen doch die evangelischen Kirchen traditionell eher dazu, sich anzupassen und staatliche Macht recht und schlecht zu legitimieren. „Wir brauchen ein allgemeines Problembewusstsein, dass Reformen in unserem Land nötig sind“, forderte im September 1989 die Synode des DDR-Kirchenbunds. Als die „Revolution der Kerzen und Gebete“ einen Monat später mit dem Ruf „Keine Gewalt!“ aus den Kirchen auf die Straßen drängte, wirkte das auf die Menschen wie eine große, suggestive Kraft, der sich niemand entziehen konnte. „Die Leute sangen ,Dona nobis pacenf, ohne es zu verstehen“, erinnert sich Erhärt Neubert, Zeitzeuge der damaligen Ereignisse.
Die SED-Führung konnte damit nicht umgehen. „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Sie haben uns wehrlos gemacht“, wird Horst Sindermann, damals Vorsitzender des DDR-Ministerrates, zitiert.
Die katholische Kirche war einen anderen Weg gegangen. Sie hatte eine eigenständige Friedensarbeit an der Gemeindebasis weder entwickelt noch gefördert. Der Mühsal der Zusammenarbeit mit oppositionellen Gruppen im Herbst 1989 hat sie sich verweigert. Sie verstand sich als „katholische Weltkirche in einem Land“, nicht als „Landeskirche“ – und als kleine Minderheitskirche wollte sie sich nicht daran messen lassen, was die evangelischen Kirchen nebenan für wichtig hielten. Dennoch gab es zahlreiche katholische Gemeinden, die ihre Kirchen im Herbst 1989 für ökumenische Friedensgebete öffneten.
Die erklärte „politische Abstinenz“ der katholischen Kirche zeigte sich exemplarisch an der Friedensfrage. Zentral war die Sorge der Bischöfe, die Kirche könnte sich mit der Friedensrhetorik der SED verwechselbar machen, wenn sie die „kleine Herde“ der Diaspora-Katholiken zur Friedensarbeit ermunterte – und damit irritierte. Wilhelm Weskamm, designierter Berliner Bischof, wurde 1951 beim Abschied aus seinem Dienst als Weihbischof in Magdeburg von seinem Nachfolger Friedrich M. Rintelen gefragt, worauf er in seinem neuen Amt unbedingt achten müsse. Weskamms Antwort: „Benutze nie das Wort Frieden. Es ist in unserer Situation immer missverständlich.“
Diese Position der politischen Enthaltsamkeit war auf die Dauer nicht haltbar. Sie ignorierte, dass der Friedensdienst der Kirche auch in der DDR-Gesellschaft gebraucht wurde. Zwar hatte die Pastoralsynode (1973-1975) den Beschlusstext „Dienst der Kirche für Versöhnung und Frieden“ durchgesetzt, aber der blieb ohne praktische Folgen. Als sich in den evangelischen Kirchen ab 1980 mit der jährlichen „Friedensdekade“, dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ und der Initiative „Sozialer Friedensdienst“ eine eigene kirchliche Friedensbewegung formierte, schlossen sich immer mehr junge Katholiken den vor Ort aktiven evangelischen Friedensgruppen an. Das erhöhte den Druck auf die eigene Kirche.
Beim Besuch der DDR-Bischöfe in Rom im Oktober 1982 wurden die Hirten von Papst Johannes Paul II. indirekt auf ihr Schweigen in der Friedensfrage angesprochen: „Besonders aktuell ist auch die Antwort der Kirche auf die Fragen vor allem der jungen Menschen nach der Natur des Friedens, wie Christus ihn verkündet, gelebt und geschenkt hat, sowie nach den konkreten Wegen, wie wir uns in der heutigen Situation diesem Frieden nähern können. Hierüber sollte auch ein Gedankenaustausch mit den evangelischen Gemeinschaften versucht werden.“ In der Folgezeit wurden Hirtenworte und Predigt-Entwürfe einzelner katholischer Bischöfe sowie verschiedene seelsorgliche Handreichungen zum Thema Frieden in Umlauf gebracht – „für den innerkirchlichen Gebrauch“. Arbeitshilfen zur Wehrdienstfrage und zum Bausoldatendienst machten deutlich, dass die Beratung katholischer Wehrpflichtiger zu der Frage, ob sie in der „Nationalen Volksarmee“ Soldat sein können oder nicht, neben pastoralen auch friedensethische Aspekte einbeziehen müsse, um eine bewusste und verantwortete Entscheidung zu ermöglichen.
Im ökumenischen Lernprozess
Der erste und einzige gemeinsame Hirtenbrief der katholischen DDR-Bischöfe zum Thema Frieden, nach knapp zweijähriger Vorarbeit zum Weltfriedenstag im Januar 1983 in allen katholischen Kirchen der DDR verlesen, brachte endlich den erhofften Durchbruch. Darin wollten die Bischöfe die „bedrängenden Fragen der Erhaltung und Sicherung des Friedens in der heutigen Zeit“ aufgreifen. Der Brief verknüpfte sicherheitspolitische Erwägungen mit friedensethischen Konsequenzen und ließ erstmals eine vorsichtige Präferenz für den waffenlosen Friedensdienst erkennen.
All diesen Impulsen fehlte allerdings die Verwurzelung in einer auf die DDR-Verhältnisse bezogenen kirchlichen Friedenspraxis. So gab es in der katholischen Kirche dort keine gewachsene Kultur der Gewaltfreiheit. Die kam von den Evangelischen. Als die „Ökumenische Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR“ im Februar 1988 in Dresden ihre Arbeit aufnahm, begann „ein ökumenischer Lernprozess, um das oft selbst gemachte Ghetto zu verlassen“, sagte später der katholische Theologe Lothar Ullrich, offizieller Berater der Versammlung. Die 26 katholischen Delegierten hatten ein Mandat der „Justitia et Pax“-Kommission der Berliner Bischofskonferenz. Viele von ihnen brachten Erfahrungen und Einsichten in die Versammlung mit, die sie zuvor als katholische Partner in evangelischen Friedensgruppen gewonnen hatten. Die katholische Seite hatte durchgesetzt, dass das Wort „konziliarer Prozess“ in den Verlautbarungen der ökumenischen Versammlung nicht benutzt werden durfte. Dennoch war das ökumenische Klima in den Arbeitssitzungen der Versammlung in Dresden und Magdeburg ungleich besser und „konziliarer“ als in den offiziellen ökumenischen Beziehungen in Berlin.
Die friedliche Revolution in der DDR hatte viele Mütter und Väter. Ihr gewaltfreier Verlauf war das glückliche Ergebnis von zusammenwirkenden Kräften und Ereignissen, die aus vielen Faktoren gespeist wurden. Zu spät hat die katholische Kirche erkannt, dass sie die Dynamik des gesellschaftlichen Aufbruchs 1989 unterschätzt und verpasst hat.
Kardinal Georg Sterzinsky, der im September 1989 Bischof von Berlin wurde, räumte ein Jahr danach ein, die evangelische Kirche habe und das muss man ihr sehr danken – den Menschen in den oppositionellen Gruppen Dach und Schutz geboten… Unsere Zurückhaltung war ein Fehler.“
Immerhin hat eine kleine Ironie der Geschichte bewirkt, dass die Katholiken durch ihre aktive Mitarbeit in der Ökumenischen Versammlung der Kirchen in der DDR 1988 indirekt doch noch Einfluss auf die oppositionelle Entwicklung nehmen konnten. „Die Texte der Ökumenischen Versammlung … gehören zu den Gründungstexten der Opposition in der DDR“, ist Gerhard Rein, langjähriger Kenner der DDR-Szene, überzeugt.
Bestritten aber wird inzwischen nicht nur der Anteil der Kirchen am demokratischen Aufbruch der DDR, sondern überhaupt die Tatsache, dass eine „friedliche Revolution“ stattgefunden habe. Die DDR sei 1989 lediglich implodiert, „eine Revolution ist das nicht gewesen, sanfte Revolutionen sind ein romantischer Schmuh“, stand vor etwa einem Jahr in der „Süddeutschen Zeitung“. Doch dergleichen Schmuh fiel nicht vom Himmel, sondern hatte eine Vorgeschichte, die im richtigen Augenblick erstaunliche Wirkungen entfaltete. Zu ihr gehören einige wichtige Erbstücke aus dem Fundus der Friedensarbeit der evangelischen Kirchen.
Zunächst gilt es festzuhalten: Die „vorrangige Option für die Gewaltfreiheit“, wie sie in der theologischen Grundlegung der Ökumenischen Versammlung formuliert wurde, hat den Friedensweg der evangelischen Kirchen in der DDR von Beginn an geprägt.
1965 veröffentlichten die evangelischen Kirchenleitungen die Handreichung zur Seelsorge an Wehrpflichtigen „Zum Friedensdienst der Kirche“. Dort wurden Waffendienstverweigerung und Bausoldatendienst „als ein deutlicheres Zeugnis“ des christlichen Friedensgebotes gedeutet. Anders als die EKD in der alten Bundesrepublik haben die evangelischen Kirchen in der DDR mit dieser Position das „Komplementaritätsmodell“ der „Heidelberger Thesen“ von 1959 hinter sich gelassen, wonach Waffendienst und Waffendienstverweigerung sich mit Blick auf das angestrebte Ziel der Kriegsverhütung ergänzend zueinander verhalten. Obwohl jene Position immer umstritten und angefochten blieb, wurde sie zum heimlichen Bekenntnis der christlichen Friedensbewegung in der DDR.
Darüber hinaus wurde Erziehung zum Frieden als Befähigung zur gewaltfreien Konfliktaustragung verstanden. Ab 1971 hat der DDR-Kirchenbund systematisch an einem Konzept der Friedenserziehung gearbeitet, dem eine kommunikative und konstruktive Konfliktkultur zugrunde lag. Das stand im offenen Widerspruch zur einseitigen „sozialistischen Wehrerziehung“ und war hochgradig ein Politikum. Seine Bewährungsprobe bestand das Konzept im Herbst 1989 auf den Straßen und Plätzen der DDR. Die Handreichung „Erziehung zum Frieden“ erreichte ab 1975 eine Auflage von knapp 2000 Exemplaren.
Schließlich wurde das biblische Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ aus dem alttestamentlichen Prophetenbuch Micha (4,3) ab 1981 zum Markenzeichen christlichen Friedensarbeit in der DDR. Es war auf wunderbare Weise geistlich und politisch zugleich. Die staatliche Unterdrückung dieses Symbols beschleunigte seine Einwanderung in die DDR-Gesellschaft und erzeugte eine „kritische Masse“ neuen Denkens unter jungen Leuten und eine Solidarisierung mit seinen Trägern.
Wer 2009 an zwanzig Jahre Mauerfall erinnert, sollte nicht vergessen, dass diesem Datum eine friedliche Revolution vorausging. Die Kirchen in der ehemaligen DDR brauchen ihren Beitrag zu ihrem Gelingen – in nüchterner Betrachtung der eigenen Ausgangslage – nachträglich nicht größer zu machen, als er tatsächlich war. Sie müssen ihn aber auch von niemandem kleinreden lassen.
Quelle: Aus der Wochenzeitschrift CHRIST IN DER GEGENWART (Nr. 41/2009, Freiburg i. Br.,
www.christ-in-der-gegenwart.de)
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