Feb 162019
 
Wie Kinder lernen

Von Hannelore Schwedes

Englische Webseite

Inhalt

1. Was verstehen wir unter Lernen
2. Bedeutung konstruieren statt Information aufnehmen
3. Verständigung – Entwicklung konsensueller Bereiche 
4. Wissen entsteht beim Handeln und ist kontextspezifisch
5. Der Kreislauf von Erwartung, Handlung, Wahrnehmung
6. Subjektive Erfahrungsbereiche
7. Lernmotivation
8. Lernprozess
9. Wie kann man Kinder beim Lernen unterstützen?


1. Was verstehen wir unter „Lernen“?

Man hat etwas gelernt, wenn man etwas kann, das man vorher nicht gekonnt hat, nicht gewusst hat.

Damit man etwas lernen kann, braucht man demnach eine Situation, in der man etwas Neues tun kann. Eine Anregung, die den Lernenden zu neuem Verhalten veranlasst.

Lernen hat also immer dann stattgefunden, wenn sich das Verhalten eines Menschen geändert hat.

Hat nun ein Mensch, welcher etwa der Ausführung eines ihm neuen Vorgangs zuschaut, anschließend aber gar nichts tut, denn nichts gelernt? Sein Verhalten hat sich ja nicht geändert. Was sich geändert hat, sind seine Verhaltensmöglichkeiten, denn er kann nun, sofern er will, etwas ausführen, das er zuvor nicht konnte. Er hat dabei aber auch seine Verhaltensmöglichkeiten nicht bloß verändert, sondern erweitert.

Allerdings, ob jemand etwas gelernt hat, kann man erst sehen, wenn die neue Fähigkeit gezeigt wird.

Wenn es ums lernen geht, so muss man außerdem zwischen Wissen und Können unterscheiden. Denn wenn man weiß, wie etwas geht, heißt das noch nicht, dass man es auch tun kann, wenn man etwas weiß, heißt das noch nicht, dass man dieses Wissen anwenden kann. Zum effektiven Wissen gehört auch die Handlungsfähigkeit, in Situationen angemessen zu reagieren oder Probleme lösen zu können

Diese Kombination von Wissen und Können bezeichnen wir als Kompetenz.

2. Bedeutung konstruieren statt Information aufnehmen

Hier müssen wir uns von einigen verbreiteten Vorstellungen verabschieden, die zu irrigen Vorstellungen über das Lernen führen.

Falsche Vorstellung

Die zentrale unzutreffende Vorstellung ist das Sender – Empfänger Modell für sprachliche Verständigungsprozesse. Das heißt, der Sprechende sendet Informationen in Form von Sprache und der Zuhörende empfängt diese Information, speichert sie in seinem Gedächtnis und reagiert auf sie, antwortet dann indem er eine sprachliche Information zurücksendet bzw. mit einer passenden Handlung reagiert.

Dieses Trichtermodell ist grundlegend falsch. Wissen kommt nicht von außen. Wissen wird nicht von außen in unsere Köpfe transportiert durch Vorträge, Bücher oder Fernsehen.

Richtige Vorstellung

Wir können keine Information von außen aufnehmen, sondern wir konstruieren Bedeutung selbst. Wir konstruieren die Information selbst aus den Sinnesreizungen die die Worte des Sprechenden in unserem Ohr verursachen.

Dies ist die konstruktivistische Auffassung vom Lernen, die durch die moderne Gehirnforschung eindrucksvoll bestätigt wurde.

Wir müssen aufpassen und das angebotene Wissen richtig verarbeiten. Dieses Wissen ist für alle gleich.

Lernen ist die Verarbeitung und Speicherung von hereinkommendem Wissen, sodass dieses Wissen später wieder verwendet werden kann. Insbesondere neues Wissen kommt von außen in die Köpfe.

Wissen entsteht in unserem Kopf. Wissen wird von jedem Menschen individuell entwickelt.

Wir müssen selbst ausprobieren, ob sich unser Wissen im Kontext bewährt. Dazu müssen wir uns mit anderen und mit der Welt um uns herum aktiv auseinandersetzen.

Lernen ist die Entwicklung oder Veränderung von kognitiven Strukturen zur Erzeugung von Wissen. Insbesondere neues Wissen entsteht im Kopf, indem sich bisher entstandene kognitive Strukturen weiter entwickeln.

Das heißt Wissen oder Information kann nicht wie eine Ware vom Wissenden, z. B. einem Lehrer, zum Unwissenden, etwa dem Schüler, transferiert werden

Jeder Satz, den wir hören, jeden Text, den wir lesen, jedes Bild und jede Skizze, die wir sehen, enthält keine Information, keine Bedeutung, sie stellen lediglich Sinnesreize dar, aus denen unser Gehirn Bedeutungen (re)konstruiert. Gegenstände und Objekte tragen keine Bedeutung an sich, wir konstruieren kontextabhängig Bedeutungen und schreiben sie den Objekten zu.

Wie wir Bedeutung konstruieren, kann man an Beispielen von visuellen Reizen veranschaulichen:

Visuelle Wahrnehmung (Sinnestäuschung, Ergänzungen werden von uns vorgenommen, konstruiert.

Das Kanisza-Dreieck  demonstriert die Wahrnehmung illusorischer Konturen. Auf der Abbildung erscheint ein weißes Dreieck, das in der Abbildung (der Reizvorlage) nicht enthalten ist. Wenn die schwarzen Kreise abgedeckt werden, verschwindet das Dreieck.

Auch in den beiden folgenden Abbildungen sehen wir Scheinkonturen. Aufgrund der eingezeichneten Schatten ergänzen wir die Buchstaben, wir konstruieren zusätzliche weiße Konturen unter anderem, weil wir die Buchstaben kennen. Auf dem Papier, bzw. der Projektion gibt es nur bizarre schwarze Gebilde. Aber wir konstruieren daraus das Wort „Schatten“.

Das gleiche machen wir in dem unteren Bild (oben), dort gibt es nur gerade Striche, aber wir sehen dazwischen noch eine Wellenlinie.

Wir ordnen die Elemente die wir sehen zu einem sinnvollen Ganzen, dabei wählen wir aus, was wir wahrnehmen, und zwar das, dem wir einen Sinn zuordnen können. Wir machen eine Unterscheidung nach Vordergrund und Hintergrund. Im Vordergrund ist das, aus dem wir Bedeutung Konstruieren können.

3. Verständigung – Entwicklung konsensueller Bereiche

Wie ist Verständigung möglich?

Wenn nun also bei einem Gespräch keine Information vom Sprecher zum Hörer übermittelt wird, wie können wir dann unsere Alltagserfahrung erklären, dass wir sehr wohl den Eindruck haben, dass wir uns mit Worten verständigen können.?

Unsere Fähigkeit, uns über menschliche Sprache zu verständigen, beruht auf der Herstellung konsensueller Bereiche, die über gemeinsames Handeln im Rahmen sozialer Beziehungen hergestellt werden.

Konsensuelle Bereiche werden hergestellt über das Prinzip der strukturellen Kopplung im Rahmen sozialer Beziehungen.

Das Kleinkind, das das strahlende Lächeln seiner Mutter erlebt, wenn es die ersten Male eher zufällig „Mama“ sagt, wird dieses Wort wiederholen, um genau dieses angenehme Gefühl der Zuwendung zu erfahren. Etwas später wird es dann die Erfahrung machen, dass man die Mutter mit „Mama“ rufen herbei zitieren kann.

Wenn wir gemeinsam etwas tun, entwickeln wir konsensuelle Bereiche, wenn die Mutter fegt und das Kind auffordert, „Hier halt mal den Besen!“, weil sie den zusammen gekehrten Schmutzhaufen mit dem Handfeger auf die Schaufel kehren will, so lernt das Kind die Benennung der Gegenstände und die Worte für die Tätigkeiten, in diesem Falle z.B. fegen oder kehren. Wenn die Mutter sagt: „Bring mir mal den Besen!“ und das Kind bringt statt dessen den Schrubber, so wird das Kind bei dieser Gelegenheit vermutlich lernen, zwischen Schrubber und Besen zu differenzieren.

Die Verständigung wird dabei so weit getrieben, dass gemeinsames Handeln möglich wird, es ist dabei i. a. unerheblich, ob für die gemeinsam agierenden Personen Begriffsinhalt und Begriffsumfang wirklich voll übereinstimmen.

Kinder erfinden auch Sprache, sie erfinden ihre Geheimsprache und entwickeln damit eigene konsensuelle Bereiche, zu denen die Erwachsenen keinen Zugang haben sollen. Zum andern erfinden sie neue Ausdrücke im Rahmen der täglichen Umgangssprache und gehen häufig in der Phase des Spracherwerbs kreativ mit den entdeckten Sprachregeln um: Ich hab die Lampe angeknöpft, Mutter best gerade die Küche oder gestern bin ich zu meiner Oma gegingt. Wesentlich ist, dass eine Verständigung funktioniert, es geht darum zu verstehen, was das Kind sagen will, dies gelingt in der Regel ziemlich gut, denn die Situation, in der Dinge gesagt werden trägt viel zum Verständnis bei, und das Kind lernt durch den richtigen Sprachgebrauch der Eltern, später der Erzieher und Peers, sich korrekt und situationsangemessen auszudrücken. Worte und Ausdrucksweisen werden beibehalten, wenn sie sich als viabel erweisen, d.h. wenn man sich mit ihnen verständigen kann und dabei erreicht, was man möchte, z.B. auch Anerkennung, d.h. wenn die Eltern die Sätze, die man spricht, korrigieren so wird man sich um deren Anerkennung bemühen und versuchen wie sie zu reden.

Was bedeutet dies nun alles für unsere Vorstellung vom Lernen?

Wir müssen unsere Grundüberzeugung von der Vermittelbarkeit jeden Wissens aufgeben. Klare Darstellung, gute Gliederung und anschauliche Erklärung seitens einer Lehrerin oder eines Lehrers, sowie Aufpassen und Zuhören seitens der Lernenden können hilfreiche Randbedingungen für Lernprozesse der Schülerinnen sein, treffen aber nicht den Kern des Lernens.

Die zentrale These lautet:

  • Alles Wissen, von dem wir meinen es zu besitzen, wird von uns selbst konstruiert. Kinder bzw. SchülerInnen können nur selbst lernen, wir können nichts in ihre Köpfe hinein transportieren.

Wissen kann nicht in Büchern aufbewahrt werden, noch ist unser Kopf oder unser Gedächtnis ein Archiv, eine Bibliothek oder ein Lexikon, in denen Wissen nach bestimmten Ordnungsregeln abgelegt ist und das wir von seinem Speicherplatz nur hervorholen müssen, wenn es für eine konkrete Aufgabe gebraucht wird.

4. Wissen entsteht beim Handeln und ist kontextspezifisch

Wissen entsteht beim Handeln und zwar beim Handeln in spezifischen räumlichen, physischen und sozialen Kontexten.

Wissen ist daher immer kontextspezifisch, Handlungskompetenz ist somit immer auch an spezifische Kontexte, an eine Klasse von Situationen gebunden.

Wissen und Handeln sind nicht voneinander zu trennen. Etwas Können umfasst nach Ryle einerseits Handlungskompetenz, andererseits Wissen über die Welt; es beinhaltet sowohl die Kompetenz, Dinge und Ereignisse zu identifizieren als auch „Erwartungsdispositionen“, die sich darin zeigen, dass wir in vertrauten Situationen von unzähligen (kleinen) Ereignissen nicht überrascht sind.

Ein Beispiel: Esther „Wie ich Uhu-Geräusche nachmachen lernte (aus Friedrich Jahresheft 1997, S. 37). Ich war mal im Sommerurlaub in Italien mit den Naturfreunden. Lukas, ein Junge, der mit war, konnte ganz toll Uhu-Geräusche machen. Ich wollte das auch machen können, und als ich zurück war, habe ich mich einen ganzen Nachmittag in mein Zimmer gesetzt und geübt. Erst kam die Luft nur ohne Geräusche durch meine Hände, bis ich begriffen hatte, wie man die Daumen und die Hände halten muss und wie man am besten die Luft pustet. Irgendwann habe ich ein paar Töne geschafft, und irgendwann konnte ich schon Melodien spielen.“

Diese Selbstbeschreibung von Lernen beginnt typischerweise mit einer Situationsbeschreibung, sie erläutert Ausgangspunkt und Ziel der ganzen Lernanstrengung. In ihr wird eine Fähigkeit vorgeführt, die selbst zu beherrschen erstrebenswert scheint, zugleich beinhaltet die Situation die Zuversicht „Das kannst du auch lernen.“ Esther hat durch Beobachtung auch einige Anhaltspunkte gewonnen, wie man es denn machen muss deklaratives Wissen, aber das half noch nicht viel, denn es gab keine Uhu-geräusche. Einen ganzen Nachmittag hat Esther geübt, bis ihr prozedurales Wissen soweit entwickelt war, dass eine gewisse Ähnlichkeit mit dem gewünschten Handlungsziel erkennbar war, ihre Erklärungen reflektieren ihre eigenen Lern-chwierigkeiten, das explzierte Wissen ist unvollständig, würde Wahrscheinlich durch Gesten unterstützt werden und enthält deklarative (die strömende Luft macht den Ton) und prozedurale Anteile (man muss die Luft in besonderer Weise pusten).

  • Wissen wird also immer nur beim Handeln aktiviert und Neues Wissen entsteht immer nur beim Handeln.

5. Der Kreislauf von Erwartung, Handlung, Wahrnehmung

Man kann den bisher beschriebenen Sachverhalt in etwas erweiterter Form mit folgendem Schema verdeutlichen:

Entspricht die auf die Handlung folgende Wahrnehmung der Erwartung des Handelnden, ist der Kreisprozess abgeschlossen, stimmen Wahrnehmung und Erwartung nicht überein, wird ein neuer Handlungszyklus in Gang gesetzt, entweder mit einer veränderten Handlung oder mit einer veränderten Erwartung, in jedem Falle, auch wenn die veränderte Handlung erfolgreich war, hat sich die Erwartung des Handelnden in dieser Situation verändert.

Im Rahmen dieser Kreisprozesse werden (emergierend) Bedeutungen konstruiert, Handlungen der Situation angemessener optimiert und damit der situationsbezogene Erwartungshorizont verändert.

Vergleichbare Annahmen bezüglich der Priorität des Handelns wurden auch von Piaget für die (ontogenetische) kognitive Entwicklung von Kindern angestellt. Piaget versuchte stets, die höchsten Erkenntnisleistungen des Menschen mit den Anfängen in Zusammenhang zu bringen und suchte entsprechend die Wurzel des Denkens in der sensumotorischen Entwicklung. So spricht Piaget auch vom „sensumotorischen Intelligenzakt“ der während der ersten beiden Lebensjahre (und auch später) allmählich übergeht in Denkprozesse, die als verinnerlichte Handlungen konzeptualisiert werden. Diese Gedanken hat Äbli, ein Schüler Piagets, wieder aufgegriffen in seinem Buch „Denken, das Ordnen des Tuns“.

6. Subjektive Erfahrungsbereiche

Handeln läuft immer in Situationen ab und ist damit situationsspezifisch, das zugehörige Wissen also immer an einen spezifischen Kontext gebunden ist. Im Laufe seiner Entwicklung muss jedes Individuum nun allerdings in sehr verschiedenen Kontexten handeln und will es sich nicht unterkriegen lassen und überleben muss es auch erfolgreich handeln. Dabei werden Wahrnehmungen, Erwartungen und Handlungen in sehr unterschiedlicher Weise erzeugt und Kompetenzen situationsspezifisch entwickelt.

1. Beispiel

Ein Kind soll die Rechenaufgabe 5:2 = ? lösen. Es sitzt vor seinem Heft und ist blockiert, gezwungen eine Antwort zu formulieren rät es und sagt drei statt zwei Rest eins etwa. Das gleiche Kind hat aber überhaupt kein Problem € 5,00 zwischen sich und seinem Bruder gerecht aufzuteilen, d.h. durch zwei zu dividieren. Ihm ist sonnenklar, dass jeder € 2,50 bekommt und auf die Frage, wieviel sind 50 Cent antwortet es auch prompt, dass dies ein halber Euro sei.

Diese schubladenartige Ordnung unseres Wissens oder die Kompartmentalisierung des Wissens und die Unfähigkeit Wissen von einem Handlungsfeld umstandslos auf ein anderes Feld zu übertragen ist ein Charakteristikum unseres kognitiven Systems. Wir müssen uns dieses vorstellen als ein Patchwork von Teilsystemen, die zwar teilweise vernetzt und überlappend doch jedes für sich einen eigenen Kompetenzbereich darstellen. Wir nennen solche Teilsysteme Subjektive Erfahrungsbereiche, um zum Ausdruck zu bringen, dass sich in dem in Rede stehenden kognitiven Teilsystem mit dem durch dieses aktivierbaren Wissen die Lern- und Entwicklungsgeschichte des Individuums widerspiegelt, mit allen seinen zugehörigen Erlebnissen, Emotionen, Bewertungen, Reflexionen, d.h. schlicht: Erfahrungen.

Das Vorhandensein gegeneinander abgegrenzter subjektiver Erfahrungsbereiche, die je unterschiedlich entsprechend der vorliegenden Situation aktiviert werden, haben andererseits einen guten Sinn, sie sichert uns unsere Handlungsfähigkeit. Für viele Erwachsene, aber sicher für alle Kinder ist die sie umgebende Welt in hohem Maße widersprüchlich. Wir müssen aber in unserem konkreten Tun viele Widersprüche „loswerden“ können, weil im Rahmen der beschriebenen zirkulären Prozesse nur widerspruchsarme Konstruktionen in konkreten Situationen zielgerichtetes Handeln ermöglichen. Dies wird eben dadurch erleichtert, dass auch ähnliche situative Kontexte unterschiedliche, subjektive Erfahrungsbereiche aktivieren können. So kann erreicht werden, dass die Handlungsorganisation behindernde Widersprüche zwischen Konstruktionen aus unterschiedlichen Teilbereichen vermieden werden. Probleme werden dann in dem subjektiven Erfahrungsbereich gelöst, in dem die Situation genügend widerspruchsfrei konstruiert werden kann.

Wir bewegen uns häufig in Umgebungen, die uns vertraut sind, begegnen Problemen, die wir schon mehrfach gelöst haben, treffen mit Menschen zusammen, die wir schon lange kennen. Dabei hilft uns sehr, dass uns viele unterschiedliche Subjektive Erfahrungsbereiche zur Verfügung stehen, wir also die uns umgebende Welt auf sehr verschiedene Weise widerspruchsarm konstruieren können. Wir können uns dadurch zu Hause anders verhalten als in der Schule, beim Frühstück anders als beim Abendessen, im Urlaub anders als im normalen Alltag, auch wenn sich die situativen Kontexte für einen außen stehenden Beobachter kaum unterscheiden, wie für den Lehrer die Aufgabe 5 : 2 oder 5 € : 2.

2. Beispiel

Zweisprachig aufwachsende Kinder z.B. können sich mühelos bezüglich der verwendeten Sprache umorientieren, und mit der Großmutter Türkisch und mit dem Vater Deutsch reden, wenn die sprachlichen Kontexte eindeutig getrennt sind, wenn die Großmutter mit dem heranwachsenden Kleinkind ausschließlich in der einen und der Vater ausschließlich in der anderen Sprache kommuniziert. Im übrigen gilt dies auch für alle Regeln des Zusammenlebens, Kinder wissen sehr genau, was man in der einen Umgebung darf und was nicht und was im Unterschied dazu in der anderen Umgebung erlaubt ist.

Was aber passier mit uns, wenn wir zum ersten mal in eine völlig neue Situation geraten ? Wir werden versuchen, die neue Situation auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen zu deuten.

3. Beispiel

Suse, fünf Jahre sagt beim Anblick der untergehenden Sonne: „Jetzt verschwindet sie im Loch.“ Das Argument des Vaters, dass die Sonne am andern Morgen aber wieder an einer ganz anderen Stelle erscheine, beeindruckt Suse nicht. Ja, da kullert sie hin, wie beim Billard.

Wenn unsere ersten Deutungsversuche sich als zu widersprüchlicher erweisen, wird unser kognitives System mit der Entwicklung eines neuen subjektiven Erfahrungsbereiches beginnen. Diese Entwicklung startet bei sehr einfachen Merkmalen der neuen Situation mit der Suche nach neuen Zusammenhängen dieser Merkmale. Kreisprozesse von Erwartung, Handlung Wahrnehmung werden gestartet, auftretende Diskrepanzen zwischen Wahrnehmung und Erwartung werden durch neue Handlungszyklen und dabei generierten Bedeutungskonstruktionen bewältigt Neben vielen erfolglosen Bewältigungsversuchen werden einige zirkuläre Prozesse im erfolgreiches Handeln Sinne des Individuums bewirken. Diese werden als brauchbare oder viable Strukturen für künftige Konstruktionen im Rahmen des sich entwickelnden neuen subjektiven Erfahrungsbereiches erhalten, während die vielen erfolglosen Deutungsversuche verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen.

4. Beispiel

Karin hat gehört, dass die Erde rund sei und vertritt diese Ansicht auch. Auf die Frage, wie sie sich das vorstellt, entwirft sie Bild ganz oben in der Abbildung: „Ja, wir sind in der Erde drinnen.“ Nach einigen Stunden Unterricht in der Schule, lernt Karin den Globus kennen und lernt, dass die Menschen auf der Oberfläche der runden Kugel leben und dass diese Kugel im Weltraum schwebt. Sie entwirft daraufhin die beiden Bilder in der mittleren Abbildung. Gefragt danach: „Und wo lebst du?“ vervollständigt Karin das Bild so wie in der Abbildung ganz unten.

Mit Widersprüchen befassen wir uns in aller Regel nur, wenn wir nicht unter akutem Handlungsdruck stehen, z.B. beim Spielen. U.a. ist deshalb der Lerngewinn in Spielsituationen so besonders hoch, für Kinder eine höchst vertraute Angelegenheit. Aber natürlich auch in der Schule zu beherzigen, indem die Lehrerin oder der Lehrer ein möglichst experimentelles Klima im Klassenraum schafft.

7. Lernmotivation

Kinder muss man in der Regel nicht motivieren, um zu lernen.

Kinder haben in der Regel Ziele, die sie erreichen wollen, wie das Uhu-geräusche machen, oder, z.B. eine Brücke zu bauen.

Kinder wollen von sich aus lernen, und das tun sie permanent.

Kinder, wie im übrigen alle Menschen, sind von sich aus neugierig und wollen selbst alles mögliche wissen und auch können. Sofern man es ihnen im Laufe der Zeit nicht brutal ausgetrieben hat.

Dazu brauchen sie häufig Hilfe und Anleitung. Die zahlt sich aus, denn Aufgaben die erfolgreich bewältigt wurden vermitteln Erfolgserlebnisse und damit neue Lernmotivationen.

Misserfolge, d.h. Aufgaben die nicht bewältigt wurden, erzeugen Frustration und können bewirken, dass Kinder sich von ganzen Aufgabenbereichen abwenden.

Andererseits, wenn nach mehreren Versuchen, die Aufgabe doch gelingt, ist ein Kind meist besonders stolz wegen der überwundenen Schwierigkeiten , die Frustrationstoleranz erhöht sich, auch in Zukunft gibt ein Kind nicht so schnell auf.

8. Lernprozess

Das konstruktivistische Lernmodell lässt sich wie folgt beschreiben:

  1. Lernen ist ein aktiver Prozess

  2. Wissen wird konstruiert anlässlich sozialer Interaktionen oder durch Interaktionen mit der physikalischen Umgebung.
    a) Der Lerner wählt Sinnesreize aus.
    b) Die Sinnesreize selbst haben für ihn selbst keine ihnen innewohnende Bedeutung.
    c) Der Lernende stellt Verbindungen her zwischen den eingegangenen Sinnesreizen und Teilen seines Gedächtnisses, die er für relevant hält.
    d) Der Lernende konstruiert eine Bedeutung aus den neuen über die Sinne eingehenden Reize (Informationen).

  3. Der Lernende testet die konstruierte Bedeutung auf Konsistenz und Kohärenz mit der bisherigen Erfahrung, der kognitiven Struktur, der Situation, aus der die Erfahrung kam, mit dem eigenen Wertesystem bezüglich seiner Viabilität.

  4. Die Wissens- und Meinungsstrukturen, die ein Individuum schon hat, beeinflussen die Bedeutung, die konstruiert wird.

  5. Der Lernende nimmt seine Konstruktion in sein Gedächtnis auf, durch
    – Angliederung oder
    – Passung oder
    – Rekonstruktion.

  6. Die neuen Konstruktionen erhalten einen gewissen Status.

  7. Verstehen ist nicht dasselbe wie glauben.

  8. Wissenschaftliche Konzepte lernen heißt Konzeptveränderungen vornehmen. Dies geschieht eher durch Reorganisation als durch Angliederung.

Aufgabe Brückenbau

Verschiedener Kinder sollen mit quaderförmigen Holzbauklötzen (ca. 5 x 10 x 2 cm) eine Brücke über einen Fluss bauen, so dass die Brücke später von verschiedenen Tieren, u.a. einem Elefanten, überquert werden kann. Die Brücke muss also das Gewicht eines Elefanten tragen.

Die zentrale Lernerfahrung ist die Entdeckung des Prinzips des Gegengewichtes, um überkragende Bauteile stabil zu lagern.

Drei Jungen (Peter, Kurt und Armin) bauen nach einem jeweils unterschiedlichen (Roh)-Entwurf eine Brücke, und sie zeigen dabei auch je unterschiedliche handwerkliche Fähigkeiten und Erfahrungen beim Umgang mit den Bauklötzen. Ein Junge lernt das intendierte Prinzip des Gegengewichtes, der zweite beherrscht die verschiedensten Möglichkeiten, Gleichgewicht herzustellen und damit auch das Prinzip des Gegengewichtes, der dritte Schüler bleibt trotz mehrfachen Scheiterns seiner Konstruktion bei seinem Ausgangsbild des Brückenbogens, findet aber das Prinzip des Gegengewichtes nicht.

Peter baut eine Bogenbrücke. Er legt die Bauklötze der Länge nach parallel zum Fluss und legt Stein auf Stein, jeden folgenden immer ein wenig mehr zur Mitte hin verschoben. Er baut symmetrisch, von beiden Seiten des Ufers her, so dass sich die beiden schrägen Türme in der Mitte treffen sollen. Obwohl seine schrägen Brückenseiten mehrfach einstürzen, ändert er seine Konstruktion nicht ab. Peter scheint jedoch ein unverbrüchliches Vertrauen darein zu haben, dass seine Konstruktion funktionieren müsse, der Erfolg scheint für ihn vor allem eine Frage des vorsichtigen Aufeinanderschichtens der Steine zu sein – ähnlich wie beim Kartenhaus, das auch in sich zusammenstürzt, wenn man die Karten ungeschickt aufeinander stellt: Die Aufgabe wird durch den Lehrer schließlich dadurch vereinfacht, dass die Breite des Flusses reduziert wird, so dass Peter schließlich doch noch zu einem erfolgreichen Abschluss seines Plans gelangt. Dies war eine (vermutlich) wichtige pädagogische Maßnahme, die dazu dienen sollte Peters Vertrauen in seine Fähigkeiten zu bauen erhalten sollte.

Armin ist ein sehr gewandter Bauer. Seine Konstruktion der Brücke ähnelt eher einem Tor oder Torbogen. Dies wird noch betont durch den Klotz, den er oben senkrecht in die Mitte der Brücke bzw. des Tores stellt. Erst als er erinnert wird, dass die Tiere über die Brücke gehen sollen, entfernt er diesen Klotz wieder. Auch Armin baut seine Brücke symmetrisch, von beiden Seiten des Flussufers her. Zur Überquerung des Flusses werden die Steine senkrecht zur Flussrichtung angeordnet.

Die Prinzipien der Waage, des Gleich- und Gegengewichtes sind ihm vertraut. Ein Bauklotz wird nur ein Stück weit über den Auflagepunkt vorgeschoben, damit das Gewicht des Bausteins auf der anderen Seite noch groß genug ist, um den nächsten senkrecht aufgesetzten Baustein noch zu tragen. Ein Kippen des Bausteins beim nächsten Schritt, gerade eben mit den Augen wahrgenommen, wird sofort mit Auflegen eines Bauklotzes als Gegengewicht beantwortet.

Auch beim Legen der obersten Reihe Bauklötze werden die Steine zuerst mittig aufgelegt, um dann später, wenn zwei weitere Klötze für die Funktion des Gegengewichtes zur Hand sind, nach vorne zu in Richtung auf die Flussmitte hin verschoben zu werden.

Kurt baut zunächst ein massives Brückenlager, legt dann die Bausteine zum Überbrücken quer zur Flussrichtung auf, hat hinter die Überbrückungsklötze einen weiteren Stein gelegt (quasi als Widerlager) und hofft, durch Zusammendrücken der beiden Überbrückungsklötze mit Hilfe des gesamten Brückenlagers seiner Brücke genügend Stabilität zu verleihen. Seine Konstruktion jedoch hält nicht, die Überbrückungsklötze kippen zur Mitte des Flusses hin nach unten weg.

Kurt beginnt von Neuem, unterstützt jetzt die Überbrückungsklötze von der Mitte des Flusses her mit der Hand, überlegt, spürt, vervollständigt probeweise seine Brückenkonstruktion und legt wägend einen Klotz, den er gerade in der Hand hält, als Gegengewicht auf den einen Überbrückungsklotz und legt gleich danach einen zweiten Baustein als Gegengewicht auf den gegenüberliegenden Überbrückungsklotz. Jetzt werden zwei weitere Bausteine parallel zu den ersten zur Verbreiterung der Brücke eingefügt und schließlich noch weitere Klötze als Gegengewicht zur Erhöhung der Stabilität der Brücke aufgelegt.

Drei Kinder, drei Aufgabenlösungen – aber auch drei Lernprozesse?

Benutzen wir vorläufig die in der Erziehungswissenschaft gängige Definition von Lernen als erfahrungsbedingte Verhaltensänderung!

Im ersten Anlauf werden wir wahrscheinlich nur bei Kurt sagen, er habe etwas gelernt, denn als Pädagogen verfolgen wir mit dem Stellen einer Aufgabe in der Regel (mehr oder minder) konkrete Lehrziele, hier die Entwicklung des Begriffs vom Gegengewicht.

In diesem Kontext hat Armin – obwohl er die Aufgabe exzellent bewältigt – nichts gelernt, eben nichts dazugelernt, er konnte schon alles, er war zu „klug“. Auch Peter hat nichts gelernt, er hat die Aufgabe nicht bewältigt, die Idee vom Gegengewicht nicht entwickelt, er ist „dumm“ geblieben. Nur aufgrund einer „Lehrer“invention, die vereinfachte Ausgangsbedingungen herstellte, konnte er die Aufgabe für sich befriedigend beenden. Diese Bestimmung von Lernen als intendierte Verhaltensänderung ist insofern problematisch, als sie sich vorrangig auf Lehrziele (des Lehrers) bezieht, nicht auf die Ziele des Lernenden (bzw. nur in soweit, als es dem Lernenden gelang, von außen vorgegebene Ziele zu seinen eigenen zu machen). Lehrziele verstellen dem Beobachter leicht den Blick dafür, Verhaltensänderungen wahrzunehmen, die zwar nicht intendiert waren, aber dennoch stattfanden und wichtige Schlüssel für das Verständnis von Lernprozessen liefern.

Fragte man die Schüler danach, ob sie etwas gelernt hätten, so würden sie die Frage vermutlich mit ja beantworten, wir haben gelernt, eine Brücke zu bauen, und eher eine Klassifizierung in der Richtung viel – wenig gelernt vornehmen entsprechend ihrer Einschätzung von der Schwierigkeit der Aufgabe. Ihre (subjektive) Vorstellung von Lernen ließe sich dabei etwa folgendermaßen formulieren: „Wenn ich etwas gelernt habe, kann/weiß ich etwas, was ich vorher nicht konnte/wusste.“

Allerdings wird die Feststellung gelernt – nicht gelernt immer im Hinblick auf die Bewährung bezüglich eines konkreten erreichten oder noch zu erreichenden Handlungszieles vorgenommen werden.

Diese Bestimmung von Lernen durch die Lernenden, die sich vorrangig an der Erreichung von Handlungszielen orientiert, deckt sich insofern mit der Beschreibung von Lernen als erfahrungsbedingter Verhaltensänderung, als sie sich auch auf zwei Zeitpunkte (vorher – nachher) bezieht, nämlich eine Situation, in der eine bestimmte Fähigkeit (noch) nicht zur Verfügung stand, ein (erwartetes) erfolgreiches Verhalten (noch) nicht gezeigt wurde und eine zweite Situation, in der eine neue Verhaltensweise benutzt wird, die dann in aller Regel zur Bewältigung der Situation führt. In der Zwischenzeit wurden Erfahrungen gemacht (Beobachtungen, Übungen, Probehandlungen, Versuche, Denken), die die neue Verhaltensweise stimulierten.

Die erziehungswissenschaftliche Definition von Lernen als Verhaltensänderung reflektiert die Situation, dass Lernen nicht direkt beobachtet werden kann, weder vom Lernenden selbst noch von einem Außenstehenden. Lernen kann nur indirekt erschlossen werden. Wir beobachten unter bestimmten Bedingungen (Übungen, Aufgaben usw.) bestimmte Verhaltensänderungen und folgern daraus, dass aufgrund äußerer Einwirkungen und der Reaktionen des Lernenden darauf, d.h. aufgrund von Interaktionen mit der Umgebung, Lernen stattgefunden hat.

Wenn Schüler sagen, sie haben gelernt, eine Brücke zu bauen, kann damit im Detail natürlich sehr Unterschiedliches gemeint sein, z.B.: einen Plan für eine Brücke entwerfen, einen Plan umsetzen, einen Plan mit vorgegebenen Materialien realisieren können, Eigenschaften der Klötze kennen (Gewicht, Reibung, Haftung, Schwerpunkt), Klötze in verschiedener Funktion einsetzen können als Fundament, als Stütze, als Verbindung, als Gegengewicht), Erfahrungen besitzen mit Schwerkraft und Gleichgewicht, Belastbarkeit einer Konstruktion einschätzen können, oder es mag auch einfach heißen, ich habe bei der Aufgabe, eine Brücke zu bauen, auftretende Schwierigkeiten oder Probleme erfolgreich bewältigt. Vorher hatte ich noch keine (oder keine solche) Brücke gebaut, wusste ich nicht, ob es gelingen würde, jetzt steht die Brücke da.

Wenn wir als Beobachter noch einmal dem Entstehungsprozess der Brücken folgen, werden wir solche Lernergebnisse für plausibel halten, allerdings direkt zu beobachten sind sie nicht. Verweilen wir nochmals einen Augenblick bei Peter. Unermüdlich schichtet er die Bauklötze vorsichtig immer wieder, schräg versetzt aufeinander. Er lässt große Sorgfalt walten, richtet die Steine mehrfach wieder parallel zueinander aus, wenn sie etwas verrutscht waren – bemüht, nicht durch manuelle Ungeschicklichkeit das ganze Werk, wie beim Bau eines Kartenhauses, zum Einsturz zu bringen. Peters Frustrationstoleranz scheint riesig zu sein, er zeigt weder Ärger noch Ungeduld, wenn seine Konstruktion immer wieder zusammenkracht. Was hat er gelernt? Hat er seine Geschicklichkeit beim Aufeinanderschichten von Bauklötzen verbessert, hat er gelernt, dass man Brückenbogen nicht zu breit bauen darf, damit es geht? Hat er Grenzen für schräges Aufeinanderschichten der Steine entdeckt, weiß er, wo die Schräge am effektivsten gestützt werden kann, oder hat sich sein Selbstbild – ich bin (k)ein (besonders) erfolgreicher Brückenbauer – verändert? Mit Ausnahme der Steigerung der Fertigkeit beim Bauen, können wir all dies zwar vermuten, aber nicht mit Sicherheit sagen, weil uns die Beobachtungssituation mit der Bewährung für die neuen gelernten Verhaltensweisen fehlt.

Wenn wir von Lernen sprechen, verbinden wir damit zugleich eine dauernde Veränderung im Gehirn, die aufgrund der Verhaltenssteuerung durch das Gehirn zur Expression der neuen Verhaltensweise führt. Varela beschreibt Lernen als eine solche Modifikation der Gehirnstruktur, die aufgrund der Interaktion des Organismus mit seiner Umgebung zu einer Veränderung der Art der Koppelung des Organismus mit seiner Umwelt führt. (Der Brückenbogen wird nächstes Mal schmäler gebaut.)

Lernen dient der Erweiterung des Verhaltens-Repertoires zur viablen Anpassung an die Umwelt, damit der Mensch (Organismus) adäquat (im Sinne seines Wohlbefindens/seiner Erhaltung) auf Ereignisse der Umwelt reagieren kann (auf die Notwendigkeit, eine Brücke zu bauen, um den Lehrer zufrieden zu stellen oder real einen Fluss/Bach zu überqueren).

Wir können an diesem Beispiel die Geburt der Idee vom Gegengewicht ziemlich detailliert verfolgen, die Konstruktion eines mentalen Begriffs, die Entstehung von Bedeutung. Wir werden dabei auf die Untersuchung der Benutzung von Körperanalogien verwiesen als ein vielleicht sehr wirksames Instrument für Lernen und die Entwicklung von Bedeutung.

Rekapitulieren wir noch einmal Kurts Prozess.

Nach dem Scheitern des ersten Konstruktionsentwurfes, verhindert Kurt ein erneutes Einstürzen der Brücke durch Unterstützung mit der Hand. Er behält die geplante Anordnung der Bauklötze, die optische Idee der Brücke bei und sucht nach einer neuen Konstruktionsidee, nachdem er die alte Konstruktion, die nötige Stabilität durch Zusammenpressen der Klötze zu erzielen, wegen Untauglichkeit verwerfen musste. Kurt vollendet seinen Brückenbauplan probehalber, während er weiterhin die der Brücke noch fehlende Unterstützung mit der Hand ersetzt. Er fühlt das Gewicht der überstehenden Klötze, ihr Abkippen nach innen und sieht ihr leichtes Anheben auf dem Brückenlager. Für längere Zeit verharrt Kurt so, ganz leicht die stützende Hand auf und ab bewegend – als ob er überlegt und nachdenkt. Die Initiierung der Idee vom Gegengewicht könnte gerade in der zuvor beschriebenen Koordination von mentaler Aktivität mit der aktivierten neuronalen Spur der Körpererfahrung vom Gegendrücken, zum Zwecke der Balance, des (Gegen)Haltens entstehen.

Die These, dass Körpererfahrungen mentale Prozesse organisieren, wird durch vielfältige Beobachtungen und Erfahrungen aus anderen Bereichen gestützt. Aebli beschreibt Denken als das Ordnen des Tuns, Vygotski beschreibt als wichtigen Teil von Lernprozessen den Übergang vom äußeren zum inneren Sprechen. Die Gestalttherapie aktiviert vergangene (emotionale) Ereignisse durch das Einnehmen bestimmter Körperhaltungen und -verspannungen, durch die Verstärkung bestimmter Gesten und Bewegungen. Von Wilhelm Reich stammt die Idee der Körper- oder Muskelpanzerung durch dessen Aufweichung oder Auflösung auch erstarrte psychische, hemmende Konstellationen in Fluss gebracht und damit verändert werden können. Varela benutzt den Begriff der Verkörperung mentaler Ereignisse und stützt sich dabei auf Untersuchungen von Mark Johnson, und dieser schließlich zeigt auf, wie unsere Sprache durchsetzt ist von Bildern und Metaphern, die auf Körpererfahrungen beruhen und wie daraus folgend unsere Beschreibung von Wirklichkeit durch die Wahrnehmung unseres Körpers, d.h. unsere Körpererfahrung geprägt ist.

Die von Mark Johnson aufgezeigte weit reichende Funktion von Körperschemata für die Strukturierung unserer Erfahrung und (damit) für die Konstruktion von Bedeutung scheint darauf hinzuweisen dass wir es hier mit einem grundlegenden Mechanismus von Lernen zu tun haben.

9. Wie kann man Kinder beim Lernen unterstützen ?

Und was nützt uns das nun alles, wenn wir unsere Kinder beim Lernen unterstützen wollen?

Um die folgenden Vorschläge verstehen zu können, ist es meiner Meinung nach nötig gewesen, eine Vorstellung davon zu haben, wie Kinder lernen.

Wie kann man Kinder beim Lernen unterstützen ?

  1. Kinder brauchen eine für sie sichere Umgebung, in der sie sich erproben können.
    Ängstliche Kinder lernen nicht gut.

    Was gehört zu der sicheren Umgebung dazu ?

    a. Sicherheit bezüglich ihrer körperlichen Unversehrtheit, man kann sich weh tun, aber nicht ernsthaft verletzen.
    Dies sollte man im Auge haben, wenn Kinder turnen, klettern, skaten, Fahrrad fahren, experimentieren,

    b. Aber genau so wichtig, vielleicht noch wichtiger ist es, das Selbstwertgefühl ihrer Kinder nicht zu verletzen, und nach Möglichkeit darauf zu achten, dass andere das auch nicht tun, z. B. Geschwister, Verwandte, Freunde etc.(kein Auslachen, keine Verletzung der Schamgrenzen, z. B. es anderen erzählen, dass das Kind Bettnässer ist, oder Prügel etwa auf den nackten Po, sachliche Kritik ja, aber keine Kritik an der Person.

    Sachliche Kritik sollte möglichst konstruktiv sein.

    Im Gegenteil, tun sie alles um das Selbstwertgefühl ihrer Kinder zu stärken.

    Vermitteln sie ihrem Kind immer, dass Sie davon überzeugt sind, dass es etwas kann, dass es den Anforderungen, die an es gestellt werden, gerecht werden kann. Aber natürlich überfordern sie es nicht, manche Dinge muss man halt lange und mühsam lernen, aber wertschätzen sie die Anstrengungen und Bemühungen ihres Kindes.

  2. Kinder brauchen Begleitung, Aufmerksamkeit und Ansprache.

    Interessieren sie sich für das, was ihre Kinder den ganzen Tag lang tun, nehmen sie Anteil an dem, was ihre Kinder erlebt haben, welche Freuden, welchen Ärger, welche Missgeschicke, welche Erfolge, mit wem und was sie spielen, wen sie mögen, was ihnen unheimlich ist oder war, berichten Sie von eigenen ähnlichen Erfahrungen, jetzt oder in ihrer eigenen Kindheit.

    Erfahren Sie, was ihre Kinder heute, in dieser Woche gelernt haben, worüber in der Schule geredet wurde, lassen sie sich erzählen, was ihre Kinder nicht verstanden haben, was ihre Ansichten zu Vorkommnissen in der Schule war, wenn Kinder sich geprügelt haben, warum, wie sie das fanden, ob sie Angst haben und wovor, ob sie sich gewehrt haben, ob sie ihre Ansicht vertreten haben. Reflektieren sie mit ihren Kindern die Ereignisse des Tages. Das ist ein gutes Ritual für das ins Bett bringen. Versuchen sie, sich in die Erlebnisse ihres Kindes emotional einzufühlen.

  3. Vertrauen sie ihren Kindern.

    Geben Sie ihnen das Gefühl, dass sie Ihnen alles erzählen können. Machen sie den Kindern dabei klar, dass sie vermutlich nicht alles gut finden werden, was ihre Kinder so tun oder denken, dass sie auch einen Standpunkt, eine Meinung haben und dass sie ihnen klarmachen werden, was sie von den Taten und Worten ihrer Kinder halten. Streiten Sie mit ihren Kindern – konstruktiv- aber machen sie dabei immer klar: Wir sind unterschiedlicher Meinung, das müssen wir irgendwie regeln oder lösen, aber darin dass ich dich liebe, ich Dir vertraue, ich dich einzigartig finde, du mir ganz furchtbar wichtig bist, daran ändert sich nichts, selbst wenn ich dich hin- und wieder bestrafen muss und dich auch bestrafen werde.

  4. Vermitteln sie ihren Kindern die Einsicht: Handlungen haben Konsequenzen.

    Die meisten Konsequenzen kann man voraussehen, deshalb wird man solche Handlungen unterlassen, die negative Konsequenzen nach sich ziehen. Wenn man solche Handlungen dennoch unternimmt, muss man die Konsequenzen tragen. Wenn man sein Fahrrad nicht angeschlossen hat und es deshalb geklaut wurde, wenn man beim abtrocknen nicht aufpasst, und das Geschirrstück herunterfällt, wenn man mit dem Fußball nicht dort spielt, wo er nicht gegen eine Fensterscheibe fliegen kann und diese womöglich zerstört, wenn man am Essen herum nörgelt, nicht genug isst, und nachher Hunger hat.

  5. Kinder brauchen eine lernanregende Umgebung

    Dinge, die ihr Interesse hervorrufen, die sie zu Fragen anregen, die man untersuchen kann.

    Und Dinge, mit denen sie konstruktiv umgehen können, mit denen man etwas bauen oder basteln kann, etwas gestalten kann, etwas herstellen kann (backen, kochen, stricken, häkeln, nähen, Makramee, flechten, Knetgummi, Laubsägearbeiten, aus Papier oder Pappe etwas herstellen, falten, kleben, Modellbau. Bauklötze, Lego, Fischertechnik, Stabilbaukästen.

    Beziehen sie ihre Kinder in ihre Tätigkeiten mit ein. Beim Kochen, Gemüse putzen, beim backen, es gibt für die Kinder viel dabei zu lernen, bei der Gartenarbeit, Unkraut von Nutzpflanzen unterscheiden, das wachsen der Pflanzen beobachten, ernten, mit zum Angeln gehen, Kinder bei handwerklichen Arbeiten mit einbeziehen, schrauben, hämmern, kleben, spachteln, feilen, sägen, anreichen. Erklären sie den Kindern, was sie tun, und wie sie es machen, warum und worauf es ankommt. Lassen sie die Kinder wo es irgend möglich ist, mit tun.

    Dazu gehören auch Bücher, Kinderlexika, Sachbücher.

    Aber natürlich auch Geschichten, Märchen, Romane, Welten, in die sich Kinder hineinversetzen können, die ihre Phantasie anregen, Texte die die Kinder interessieren, die sie spannend finden, die auf ihr Interesse stoßen.

  6. Spiele

    Kinder erschließen sich die Welt durch Spielen

    Rollenspiele

    Vater, Mutter Kind spiele, Kaufmannsladen, mit Puppen spielen, Kasperletheater, Schule spielen, Eisenbahn fahren,

    Konstruktiver Spiele, wie in Sandkasten Kuchen Backen, Burgen bauen, eine Murmelbahn machen, mit Holzklötzen bauen, mit Lego, Fischertechnik, Modellbau, basteln mit Pappe, Papier und sonstigem Zubehör,

    Lernspiele im weitesten Sinne, Würfelspiele in denen man sich durch fremde Gegenden oder Länder bewegt, Spiele bei denen Wissen abgefragt wird,

    Geschicklichkeitsspiele wie Mikado, Eierlaufen, Flipp-flopp,

    klassische Strategie-Spiele wie Mühle, Dame, Schach, Go, Kartenspiele (Skat, Doppelkopf, Quartett, aber auch Detektivspiele, Monopoly, die Siedler von Catan, etc. die Strategische Überlegungen erfordern.

    Bei allen Spielen werden soziale Fähigkeiten entwickelt, man muss Regeln lernen, beachten und einhalten, mit anderen kooperieren oder in Wettbewerb treten, man muss verlieren können, anderen den Sieg gönnen, Fairness üben, auf Fehler der anderen achten, darauf aufmerksam machen oder sie für den eigenen Sieg nutzen

  7. Schularbeiten

    Ruhigen, gesicherten Arbeitsplatz schaffen.

    Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder setzen.

    Regel einhalten, Schularbeiten müssen gemacht werden.

    Interesse zeigen, an dem was die Kinder in der Schule gelernt haben, die Arbeiten, insbesondere die Hausaufgaben, die die Kinder gemacht haben, begutachten.

    Kinder Fehler selber finden lassen, Kinder dazu anregen, die Güte ihrer Hausaufgaben selbst zu bewerten.

    Die Verantwortung für die Hausaufgaben nach Möglichkeit bei den Kindern belassen, auf jeden Fall versuchen, ihnen das klar zu machen.

    Gründe erforschen, wenn Kinder Hausaufgaben nicht machen wollen.

    Keinesfalls die Hausaufgaben für die Kinder machen.

    Auch hier gilt, Hilf mir, es selbst zu tun. Erst helfen, wenn die Kinder darum bitten.

    Versuchen, herauszufinden, an welcher Stelle oder warum genau die Kinder die gestellte Aufgabe nicht bewältigen können.

    Mit den Kindern Sanktionen überlegen, wenn Hausaufgaben nicht gemacht wurden.

    Trauen sie ihnen auch etwas zu.

    Fordern sie ihre Kinder heraus, auch bei den Hausaufgaben.

  8. Fehlerfreundlichkeit

    Fehler machen ist normal. Aber auf den Umgang mit Fehlern kommt es an.

    Wenn ein Kind das Wort „Fohgel“ schreibt, sind wir zunächst überrascht und wissen nicht sogleich, was das Kind mit diesem Wort meint, erst wenn wir das Wort laut lesen, oder im Geiste laut lesen, kommen wir darauf, dass das Kind wahrscheinlich Vogel schreiben wollte. Das Kind hat ganz lautgetreu das Wort Vogel geschrieben, es hat sogar die Regel mit dem Dehnungs-H beachtet. Das Kind hat also ganz folgerichtig gedacht, es hat eine bemerkenswerte kognitive Leistung, eine bemerkenswerte Denkleistung vollbracht.

    Dazu noch ein Zitat von Hans Brügelmann: „Wir sollten den Kindern allen Respekt zollen für die hohe intellektuelle Leistung, die es bedeutet, ein so komplexes System, wie die Schrift, für sich neu zu erfinden. Kinder kopieren die Orthographie nicht, sie stapeln nicht einzelne Wörter in ihrem Kopf, sondern sie konstruieren aus den erlebten Beispielen Regeln, die sie allmählich verfeinern.“

    Allerdings ist die Sprache und die Rechtschreibung etwas, das über viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte gewachsen ist, und dabei hat sich die Schreibweise Vogel etabliert.

    Wenn man nun etwas schreibt, das ein anderer lesen soll, so muss man auch die gewohnte Schreibweise benutzen, da dem Leser nicht klar sein wird, was der Schreiber gemeint hat. Natürlich kann man dies häufig aus dem Zusammenhang und durch lautes Lesen erschließen, aber mit der richtigen Schreibweise ist eben eindeutig, was gemeint ist, und deshalb muss man die normierte Rechtschreibung lernen.

    Diese Unterscheidung zwischen regelgerechter Orthographie und traditionsbedingten Schreibweisen und Ausnahmen ist wichtig, denn die meisten Worte schreibt man in der Tat so, wie man sie spricht.

    Das heißt also, in diesem Fall die Denkleistung würdigen, aber leider ist die Übereinstimmung in Deutschland, dass man Vogel schreibt.

    Wenn das Kind allerdings das Wort Rate schreibt, aber Ratte meint, dann kann man das Kind an die zugehörige Rechtschreibregel erinnern, sich erstmal das Wort vorlesen lassen, wenn es Ratte sagt, es selbst vorlesen oder ein passendes Wort vorlesen lassen, z.B. Vater, was ist der Unterschied? Also bei kurzem Vokal werden die folgenden Konsonanten verdoppelt.

    Wenn man ein übriges tun will, dann kann man mit dem Kind nach weiteren Beispielen suchen, z. B. Toto oder Lotto.

  9. Spaß

    Lernen muss Spaß machen, mindestens angenehm sein.

    Lernen kann anstrengend sein, so wie beim Sport, der Spaß macht obwohl oder gerade weil man sich dabei anstrengen muss.


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