Jul 182019
 

Mammon oder Gerechtigkeit, tödliche Konkurrenz oder Solidarität

Von Pfarrer Dr. Willibald Jacob  * 26. Januar 1932   † 3. Juli 2019

Wie wäre es, wenn wir die Schlussalternative von Jakob Moneta für einen Moment – wenigstens hypothetisch – umkehren würden und fragen: Wollen wir vorwärts zur Bibel oder zurück zur Moderne der Kapitallogik?

Wie dem auch sei, mitten in den Gesetzestexten des alten Israel, die Jakob Moneta in wichtigen Passagen zitiert hat, steht eine Er­zählung, fast unvermittelt. Diese Erzählung von dem sogenannten Tanz um das Goldene Kalb zeigt den Fortgang der Geschichte an. Ist aber dieser Fortgang auch ein Fortschritt? Wir werden sehen, wohin die Unterbrechung der Gesetzgebung führt, zu welchen möglichen neuen Erkenntnissen.

Die Stämme Israels waren am Sinai angekommen. Der Auszug aus Ägypten, der Befreiungsakt, lag hinter ihnen. Mitten in der Wüste rüsteten sie sich zur Begegnung mit ihrem Gott. Wer würde es sein? In bewegtem Wechsel schildert das Buch Exodus die Be­gegnung mit Gott und die Weisungen Gottes.

… in der Wüste gegenüber dem Berge. (19, 2)
Und Mose stieg hinauf zu Gott. (19, 3)

In dramatischen Wendungen wird erzählt, wie Mose das Volk her­anführt an die Wirklichkeit Gottes, d. h. an lebensbestimmende und lebenserhaltende Gebote und Weisungen. Auch wird der äußere Rahmen geschildert, in dem sich zukünftig Gottesdienst abspielen soll: in einem Zelt, beweglich, immer zum Aufbruch bereit, nicht seßhaft.

Den Hörern und vor allem den späteren Lesern der Texte war klar: Dieser Gott, mit dem Mose redet, ist nur zu haben mit dem Schutz des Sklaven und der Sklavin, mit dem Respekt vor Leib und Leben des Nächsten, mit dem Recht der Schwachen und Fremden. (Ex 21, 22)

Dieser Gott, der da aus Ägypten, aus der Sklaverei, befreit hatte, würde menschliche Züge tragen. An der Ruhe vor Ihm sollten alle beteiligt werden wie an der Arbeit, Menschen und Tiere.

Sechs Tage soll man arbeiten, aber am siebten Tag ist Sabbat, völlige Ruhe, heilig dem Herrn. (31, 15)
… ein ewiges Zeichen (31, 17).

Als das klar war, geschieht es; und dieses Geschehen ist kein Fort­schritt.

Als aber das Volk sah, daß Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berge zurückkam, sammelte es sich gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mach uns einen Gott, der vor uns hergehe! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose widerfahren ist, der uns aus Ägyptenland geführt hat. Aaron sprach zu ihnen: Reißet ab die goldenen Ohrringe an den Ohren eurer Frau­en, eurer Söhne und eurer Töchter und bringt sie zu mir. Da riß alles Volk sich die goldenen Ohrringe von den Ohren und brachte sie zu Aaron. Und er nahm sie von ihren Händen und bildete das Gold in einer Form und machte ein gegossenes Kalb. Und sie sprachen; Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat! Als das Aaron sah, baute er einen Altar vor ihm und ließ ausrufen und sprach: Morgen ist des HERRN Fest. Und sie standen früh am Morgen auf und opferten Brandopfer und brachten dazu Dankopfer dar. Danach setzte sich das Volk, um zu essen und zu trin­ken, und sie standen auf, um ihre Lust zu treiben.

Der Herr sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Weg gewichen, den ich geboten habe. Sie haben sich ein gegosse­nes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat. (Ex 32, 2-8)

Warum diese Geschichte mitten unter den Gesetzen? – Weil klar sein soll, daß mit den Gesetzen ein Grundverhältnis unter uns Men­schen entsteht. Es ist wichtig, zu erkennen, welcher Gott, welches Grundverhältnis in den Verhältnissen, die wir gesetzlich anvisieren, herrscht; der Gott der Solidarität oder der Gott der Konkurrenz? Ist es Gott, der wirklich alle, alle Kinder Israels, fuhrt, oder Gott als Gold, herabgerissen von unseren Leibern, denn von unseren Lei­bern ist der Mehrwert gekommen, umgeformt zu dem Bild, dem Leitbild, das uns führt – Baal, Astarte, Mammon, Lakshmi; Gott­heiten des Wohlstands und der Fruchtbarkeit?

Als vor über hundert Jahren die Briten in Indien das moderne (!) Steuersystem einführten, umfassend, weil aufgrund einer Volks- und Landzählung, nahmen die indischen Bauern den Schmuck, Gold­schmuck, von ihren Frauen, um zu zahlen. Die Frauen, die Reserve­bank des kleinen Mannes?

Die Israeliten gründen zwar keine Bank, aber sie schaffen sich das Leitbild für den Moment, weil sie nicht warten können. Sie, auch Aaron, haben ihren Bruder Mose missverstanden. Der wollte keinen Personenkult. Der will jetzt keinen Mammonsdienst. Der bringt die Weisungen, die Gesichtspunkte, die Gebote und Geset­ze, nach denen der Mensch Mensch bleiben kann, gegen die Ge­walt des Goldes, des Eigentums, des geronnenen gesellschaftlichen Verhältnisses, das später, sehr viel später, Kapital genannt wurde.

Die Strenge des Mammonsdienstes, alle gaben ihr Gold – von ihren Hälsen – Frauen, Söhne und Töchter, löst am Ende Rand und Band; die Orgie des Fruchtbarkeitskults, die Chaostage der Antike folgen der Anbetung des Mehrwertes, an dem sogar in alten Zeiten die Sklaven Anteil haben konnten. Ein Ausbeutungsverhältnis ge­rann zu einem Bild, und am Ende löste sich das Verhältnis von Mensch zu Mensch auf im Fest der Konkurrenz der Geschlechter.

Der Gott aus Gold (32, 31) bringt die Menschen an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Mose macht diesem Tanz ein Ende. Er muß zwar einen Schritt zurückgehen, er zerbricht die Tafeln der Wei­sungen, eines neuen Gesellschaftsverhältnisses, aber nur, um sie dann doch als die Gesetze des Lebens aufzurichten.

Menschen gehen oder kommen an die Grenze der Belastbarkeit und damit auch an die Grenze des Systems, das sie selbst geschaf­fen haben. Sie erfahren, daß Befreiung von Sklaverei und die Men­schenwürde – Gottes Wort und Gebot – in den Grenzen nicht zu haben sind, die sie selbst gestaltet haben. Und sie überschreiten die­se Grenzen. Mose bringt die Tafeln aufs neue, die Tafeln der Be­freiung und der Landnahme, der Arbeit und der Ruhe (34, iff).

Du sollst keinen anderen Gott anbeten. (34, 14)
… kein gegossenes Götterbild… (34, 17)
Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tage sollst du ruhen… (34, 21)

Jedes Fest soll in Israel daran erinnern, daß ER aus der Sklaverei befreit, hinein in den Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Alle, Mensch und Tier und der Fremdling, sollen an diesem Rhythmus beteiligt sein. Wo dieser Rhythmus zerbricht, soll «das System» überwunden werden. Exodus und Sinai sind so der ständige Anstoß zum Über­schreiten von Systemgrenzen, wo dies um Gottes und der Men­schen willen geboten ist.

Auch heute gilt dies, entgegen den apologetischen Bemühungen von Politikern und Ökonomen, die meinen (wie Christoph Bergner am 16.12.1995), das Recht auf Arbeit und das Recht auf Asyl ließen sich heute nicht mehr verbinden mit einem System, zu dessen Vor­aussetzungen Menschenwürde und Freiheit gehören. Wenn gesell­schaftliche Verhältnisse die Verbindung des Rhythmus von Arbeit und Ruhe für jeden und der Würde des Menschen, des Rechts auf Asyl und der Freiheit zum Menschsein nicht mehr zulassen, dann sind sie nicht nur kritikwürdig, sondern wert, überwunden zu wer­den.

Im Rückschritt der Kapitel Ex 32-34 wird der Götze Gold als die Macht erkannt, die die Verbindung von individuellen und sozialen Menschenrechten verhindert. Aber: «Der Götze wackelt»; er wackelt schon in dem Moment, in dem er errichtet wird; kenntlich an der Unsicherheit der Sprache:

Er (Aaron) nahm die goldenen Ohrringe von ihren Händen und bildete das Gold in einer Form und machte ein goldenes Kalb. (4)

Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet… und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat… (8)

Sie sprachen zu mir [Aaron]: Mache uns einen Gott, der vor uns her­geht; denn wir wissen nicht, was mit diesem Mann Mose geschehen ist, der uns aus Ägypten geführt hat. Ich sprach zu ihnen: Wer Gold hat, der reiße es ab und gebe es mir. Und ich warf es ins Feuer, daraus ist das Kalb (Es) geworden. (24)

Er – Sie – Es; am Ende will es keiner gewesen sein. Am Ende ge­winnt alles diesen Selbstlauf, die Eigengesetzlichkeit, der Politiker, Ökonomen und Militärs hilflos ausgeliefert erscheinen.

Nach dem Ende sammeln sich alle Söhne Levis, die schnelle Ein­greiftruppe Israels, um Mose, und der befiehlt: Ein jeder gürte sein Schwert um die Lenden, um die Unschuldigen von den Schuldigen zu trennen. – Gab es da noch etwas zu trennen? Lapidar wird be­richtet (28):

… und es fielen an dem Tag vom Volk dreitausend Mann.

Die Härte des Berichteten ist die Warnung des Textes. Die unge­heure Macht, welche Eigentum heißt (wie Leonhard Ragaz es for­mulierte), und die Eigengesetzlichkeit einer Wirtschaft, die in ihrer Eigenheit die Gesetze ihres Handelns selbst bestimmt, beschwört Gefahren herauf, die nicht überschaubar waren, als die Leute sag­ten: Wir brauchen doch ein Leitbild; laßt es uns von uns selbst neh­men und das zum Gott machen, was doch ohnehin die Wirtschaft bestimmt: Kapital – Konkurrenz – Erfolg gegen den anderen, wer auch immer das sein mag.

Jesus von Nazaret hat diese alten Geschichten gekannt. Sein Fazit:

Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Suchet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zu­fallen. (Mt 6, 24. 33)

Klärt das grundlegende Gesellschaftsverhältnis, dann werdet ihr le­ben! Mammon oder Gerechtigkeit, tödliche Konkurrenz oder Soli­darität?


Quelle: Die Religion des Kapitalismus, Edition Exodus, Luzern 1996, Seite 125 – 129

Der Markt ist zu einem großen Zauberwort geworden. Daß dennoch etwas faul sein könnte am siegreichen System der freien oder sogar der Sozialen Marktwirtschaft, will nun wirklich niemand mehr hören – so lautet die veröffentlichte Meinung. Doch die wirtschaftliche und soziale Realität sieht anders aus.

Eine Wirtschaftsform gibt sich als alternativlos aus und fordert vom Menschen Kniefälle und Unterwerfung. Wer sich dem Markt gläubig unterwirft und der Tugend der eigenen Bereicherung folgt, der wird vom Markt belohnt.

Die notorische Kapitalismuskritik der Kirchen findet angesichts der weltweit sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich einen günstigeren Resonanzboden als zuvor. Wo der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt unbedingter Vorrang vor sozialen oder ökologischen Rücksichten eingeräumt wird, dort wird auch nach Einschätzung der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Sozialen Marktwirtschaft die Wirtschaft vergötzt. Der wichtigste Begriff der Kapitalismuskritik bei Marx ist eine theologische Metapher: Götzendienst. Hier decken sich die Begriffe der Kapitalismuskritik von Karl Marx und der Kirchen. In der lateinamerikanischen Befreiungstheologie entstand eine theologische Kapitalismuskritik, die auf diese Terminologie von Marx zurückgreift.

Wie durchhalten? Was hält durch? Von welchen Traditionen leben wir? Was gibt die Kraft zum Widerstand? In den christlichen und marxistischen Traditionen gibt es Hoffnungen, an denen festhalten werden muß. aber auch Motivationen, die durchhalten lassen und zum Widerstand anleiten. Die Beiträge in diesem Band wollen dazu ermutigen.


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