Tagebuch 1 von Carl Paul

Erinnerungen

Von Carl Paul

Tagebuch 1 von Juli 1881 bis April 1882

1,5 MB

Inhalt

Bremen 01.07.1881
Bremen 03.07.1881
   Marineprediger?
Bremen 06.07.1881
Heidelberg 10.07.1881
Chur 15.07.1881
   Konstanz
Tiefenkasten 16.07.1881
   Thusis
Sils 17.07.1881
   Mühlen
   Sils
Sils 22.07.1881
Sils 26.07.1881
   Fex-Gletscher
   Maloja
Sils 29.07.1881
Sils 04.08.1881
   Fornogletscher
   Isola
Sils 14.08.1881
   Corwatsch
Sils 19.08.1881
   Bergell
   Septimerpass
   Vicosoprano
Sils 21.08.1881
Sils 27.08.1881
Schruns 01.09.1881
Bremen 09.09.1881
   Kongress für Innere Mission
Bremen 16.09.1881
Bremen 26.09.1881
   St. Magnus
Bremen 28.09.1881
   Lehmkuhlenbusch
Bremen 07.10.1881
Bremen 16.10.1881
Bremen 25.10.1881
   Freimarkt
   Norddeutschen Mission
Bremen 29.10.1881
   Reichstagswahl
Bremen 06.11.1881
   Geselligkeit
Montag 07.11.1881
   Pastorenkonferenz
Bremen 10.11.1881
   Traum
Bremen 14.11.1881
   Verden
Bremen 20.11.1881
   Geographischen Gesellschaft
Bremen 05.12.1881
   Blumenthal
Bremen 07.12.1881
   Kunst
Bremen 01.01.1882
   Leipzig
   Weihnachten in Lorenzkirch
Bremen 10.01.1882
Bremen 19.01.1882
Bremen 31.01.1882
   Blockland
Bremen 06.02.1882
  Geburtstagsfeier
Bremen 18.02.1882
   Ball
Bremen 13.03.1882
Bremen 18.03.1882
Bremen 24.03.1882
Bremen 04.04.1882
Bremen am Tage vor Ostern 1882
   Missa Solemnis
Bremen 09.04.1882
   Osterfeuer
Bremen 12.04.1882
   Hamburg
   Rauhes Haus
Bremen 18.04.1882
   Blockland und Wümme
Bremen 30.04.1882
   Funckes Gottesdienst
   Katholischer Gottedienst
   Baptistengottesdienst

 Anmerkungen

Inhaltsverzeichnis

Carl Paul war Hauslehrer von Georg Wilhelm Albers, der 1881 14 Jahre alt geworden war,  geboren am 07.07.1867 in Bremen. Der Vater war der Konsul Johann Abraham Albers. Die Mutter war Johanne Henriette Albers, ihr Bruder war der Konsul Johann Anton Adami.

Bremen 01.07.1881

Wir beginnen heute die zweite Hälfte des Jahres, das mich zum ersten Male in die Welt gestellt hat. Ich weiß mich offenbar noch nicht ganz darin zurecht zu finden. Hoffentlich wird dies mit den Jahren besser. Oder wäre es ein Glück zu nennen, dass mir ein ganz bestimmtes Lebensziel noch nicht vorschwebt? Ich freute mich nicht, dass ich das kennen gelernt, was ich unter "ahnender Jugend" verstehen zu müssen glaubte. Wenn ich jetzt von Ahnungen reden soll, so sind sie sehr zerfahren. Ich weiß nicht, ob ich Soldat werde; ob ich, auch davon abgesehen, noch länger, als dieses Jahr in meiner jetzigen Stellung bleibe, die mir täglich schwerer wird; oder ob ich das Anerbieten annehmen soll als Marineprediger ein unstetes Leben zu führen. Vaters Rat wird in Hinsicht auf das Letzte entscheidend sein. Wie ich jetzt denke, würde es mir keine Überwindung kosten deutsche Verhältnisse zu verlassen. Meine Freundschaftsbeziehungen sind nicht so intim, dass sie nicht in Briefen weiter geführt werden können. Im Übrigen wüsste ich keinen deutschen Ort, der mich bisher ganz befriedigt hätte, dass ich außer Deutschland einen solchen finde, ist mir allerdings sehr zweifelhaft. Aber neue Verhältnisse, und zwar möglichst fremde werden mich so in Anspruch nehmen, dass ich darüber älter werde, und das Leben und die Menschen anders ansehen lerne als jetzt.

Inhaltsverzeichnis


Bremen 03.07.1881

Marineprediger?

Soeben habe ich einen Brief geschrieben, dessen Inhalt bedeutungsvoll für meine Zukunft hätte werden können. Es war mir die Stelle eines Marinepredigers angetragen. Ich habe sie ausgeschlagen, hauptsächlich durch einen Brief des Vaters bestimmt. Es wäre Unrecht meine jetzige Stellung aufzugeben. Und doch würde ich dies ohne große Schmerzen tun können. Ich bin mit mir selbst unzufrieden, dass einige trübe Erfahrungen, die zum Teil sogar nur in Empfindungen, vielleicht Empfindlichkeiten einerseits, bestehen, mir die Freude an meiner jetzigen Arbeit verleitet haben. Aber es ist Tatsache, dass ich noch vor kürzerer Zeit hoffte, ich würde bei der nächsten Sonnabend stattfindenden Militärstellung frei ausgehen. Heute wünsche ich das Gegenteil. Ob ich in diesem Falle noch fünf Jahre, und zwar nicht die schlechtesten, auf Meeren in Soldatengesellschaft zubringen werde, ist eine Frage der Zeit. Vater schreibt mir ab; es klingt zwischen den Worten "In der Heimat ist´s so schön", ich kann aber nicht einstimmen. Es wäre mir nur Leid Bremen bald zu verlassen, um Funckes willen. Es drängt mich innerlich zu dem Manne, den ich höre, sobald ich kann. Gewiss würde ich durch seinen ferneren und vielleicht noch intimen Umgang Vieles lernen, vor Allem das, was mir besonders fehlt, den festen Blick auf mein bestimmtes Ziel, das geistliche Amt. Es bringt mir Unruhe, dass die Religionsgeschichte mich noch öfter auf den Gedanken bringt auf dieses Fach einmal meine Haupttätigkeit zu konzentrieren. Wüsste ich erst, ob ich ein tüchtiger Prediger werde, so müssten solche Gelüste fallen. Vielleicht sinken sie von selbst. Aber dann sind sie mir wieder ein betrübliches Bespiel von dem schnellen Werden und Vergehen; und doch hoffe ich, dass die Neigungen allmählich nachhaltiger und ernster werden sollen. Das eine will mir noch gar nicht in den Sinn mich auf eine Geisteswirksamkeit zu konzentrieren. Wie wenig kann ich noch das Wort bewähren: Lass dir an meiner Gnade genügen!

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Bremen 06.07.1881

Ich habe einen genussreichen Abend erlebt. Ich war zum Abendbrot in Vietors Familie. Welch eine Liebe! Diesem Manne muss Jeder gut sein, der ein hässliches Herz hat. Er spricht einfach und zum Herzen. Er hat mir Menken "Elias" für die Reise mitgegeben. Dazu habe ich mir Funckes Andachten angeschafft. Ich hoffe viel Segen von dieser Erholungszeit. O dass sie mich über meine geistliche Zukunft klar stellte. Freilich werde ich wohl nie so stehen lernen, wie Vietor steht; das lässt sich nicht lernen. Aber ich möchte es. Morgen ist Wilhelms Geburtstag. Ich freue mich, dass in den letzten Tagen ich wieder etwas habe Mut fassen können, dass meine innere Stellung zur Familie wieder herzlich wird. Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht. Wir nehmen Schulbücher mit auf die Reise. Ob wir diesen scheinbaren Versuch nicht besser unterließen? Ich fürchte, dass die Ferientrennung von Johann, dem lieben Jungen, eine beständige wird. Dann brauche ich doppelt die Hilfe Gottes zur ferneren Arbeit.

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Heidelberg 10.07.1881

Ein genussreicher Tag liegt hinter mir. Ich bin seit gestern mit Frau Albers und Wilhelm auf der Reise. Dieselbe wurde damit eingeleitet, dass ich militärfrei wurde. Seither ist Alles günstig gewesen. Das Wetter über alles Erwarten. Von Bremen bis Köln zeigten sich uns drei große Bilder: Die liebliche Idylle der Heidegegenden, wo jedes Haus eine Welt für sich bildet. Sodann Westfalen: ein Leben geschäftlicher Unruhe; reich zwar und mannigfach gesegnet, aber ohne die köstliche Sinnigkeit jener einsamen Heideoasen. Und schließlich von Düsseldorf bis Köln die reiche Rheinebene.

Der heutige Tag aber hat mir so reiche Bilder gebracht, dass ich sie werde noch öfter auffrischen und vertiefen müssen, ehe ich sie nur annähernd werde auskosten können. Der Kölner Dom in seiner ergreifenden Größe kann in einer Stunde kaum begriffen, geschweige genossen werden. Und dann der herrliche Rhein von Koblenz bis Mainz respektive Bingen. Da begreift man die Vaterlandsliebe der Rheinländer. Wie rein ist dieser Genuss besonders dadurch, dass nirgends das Geschäftstreiben mit Gelderwerb und Geldschneiderei seine ersten Begleiter sind. Ich habe wenigstens Nichts davon gespürt.

Heidelberg sehe ich zum zweiten Male; ich wünsche es noch zehn mal so oft mit Entzücken genießen zu können. Das Schloss haben wir bei herrlicher Abendbeleuchtung besucht. Man kann sich nicht satt daran sehen. Es ist eine deutsche Arbeit, die ihres Gleichen nicht findet. Wie glücklich bin ich dies alles so vollkommen und unter denkbar besten Umständen zu genießen. Gott erhalte mir die Freude an der Reise bis zu Ende.

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Chur 15.07.1881

Da sind wir nun unter dem ewigen Schnee. Unsere schnell lebende Zeit reist auch schnell. Wir durchflogen die schönsten Teile unseres Vaterlandes. Man kommt dabei vor lauter Genüssen nicht zu einem wahren Genuss. Ich möchte die Ahnen beneiden, die in der gelben Kutsche zwar mancherlei andere Unbequemlichkeiten zu tragen hatten, aber ein dauerndes Bild von dem, was sie gesehen, davon trugen.

Nachdem ich Heidelberg mit "meiner Familie", wie das Fremdenbuch meldete, verlassen, eilten wir über Offenburg durch den Schwarzwald. Vor vier Jahren war ich denselben Weg zu Fuße gewandert. Ich glaube damals mit mehr Genuss, als jetzt. Und doch damals als Studio mit wenig Mitteln, jetzt so bequem als möglich. Die Tunnel wurden übrigens durch Zärtlichkeiten zwischen Mutter und Sohn amüsant ausgefüllt.

Konstanz

Reizend war der Aufenthalt im Inselhotel zu Konstanz. Wilhelm und ich haben eifrig gefischt. Es blieb Zeit genug den Dom zu sehen. Er gibt ein helles freundliches Bild. Aber welche dunkele Geschichte hat er gesehen. Die Konstanzer schienen nicht gerade gute Katholiken mehr zu sein. Vielleicht sind sie es auch einst nicht gewesen. Es war das nächste Bollwerk Roms in Deutschland, zu dem es durch das von uns durchreiste Rheintal gelangten. Außer dem wundervollen halben Kreuzgange am Dom hat mir die Wessenbergsche Kunstsammlung in einzelnen Bildern vortrefflich gefallen. Einen reizenden Ausflug machten wir von Konstanz nach Meersburg. Die Fahrt über den See, den wir am Abend schon mit dem Boote befuhren, zeigte die Umgebung in prachtvoller Beleuchtung. Und M. selbst hat eine so schöne Sammlung von meist deutschen Altertümern, dass sicher eine zweite von dieser Art nicht gefunden wird. Sie gehört einem Baron Meier von Marienfels, der nach Besichtigung der Sammlung uns in liebenswürdiger Weise über sein Leben erzählte, und seine altertümlich eingerichtete Wohnung zeigte, etc. Wir wurden vom schönsten Wetter begünstigt.

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Tiefenkasten 16.07.1881

Thusis

Wir haben einen sehr genussreichen Tag hinter uns. Wir fuhren mit einem gemieteten Wagen von Chur hierher. Leider gingen die Morgenstunden des heutigen Tags verloren. Erst um zehn Uhr fuhren wir in ziemlicher Hitze ab, durch ein sehr schönes, heute aber staubiges Tal längst des Rheines nach Thusis, wo wir, wie gewöhnlich unter Engländern zu Mittag aßen. Von dort besuchten wir die Via Mala bis zur zweiten Brücke, eine romantische Tour. Im Anschauen dieser Bergmassen sinken alle menschlichen Bauwerke zu unbedeutenden Machwerken herab. Vor der Erhabenheit der Naturumgebung merkt man nicht, dass doch ein Menschenwerk es ist, welches uns diesen Weg ermöglicht.

Und dann sind wir den Schynpass herauf gefahren. Ich habe noch nie Etwas so Schönes gesehen. Da sind hunderte von herrlichen Bildern. Auch hier warfen, wie bei der Via Mala die freundlichen Eingeborenen Felsstücke von der Brücke in die schwindelnde Tiefe. Ganze Familien schienen sich hier vom Steinewerfen zu nähren.

Was mögen die Römer empfunden haben, wenn sie hier zum ersten Male durchzogen. Dass sie den Weg nicht nur militärisch hielten, sondern sich hier wirklich wohl fühlten geht daraus hervor, dass das ganze obere Rheintal mit alten Burgen aus der Römerzeit besetzt ist. Was ihnen in Rom vielleicht strafende Verbannung schien, muss ihnen auch in der gewaltigen schönen Natur schließlich zum Genuss geworden sein. In ihren Bahnen ist dann das Christentum dieses Tal hinab gezogen und hat am Bodensee die ersten deutschen Früchte getragen. Wird es geläutert noch einmal den Weg zurückfinden?

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Sils 17.07.1881

Nachdem wir gestern in langer Tagestour den Julier überschritten hatte, kamen wir bei etwas Regen an unserm Bestimmungsorte an. Der Weg war mir in mancher Beziehung interessant. Wir fuhren am Hinteralbsteiner Rhein, und verfolgten die alte Römerstraße, wofür manche Burgüberreste sprachen. Der Kutscher sah in ihnen freilich mit nicht geringem Stolz auf seine Vorfahren die Trümmer der Burgen von Zweigherren.

Mühlen

Mittags waren wir in Mühlen. Daselbst ließ mich einen interessanten Einblick tun in das Wesen der Katholische Kirche. Wir sahen dort in einer Kapelle an der alten Kirche eine große Menge von Schädeln und Knochen. Ich erfuhr, dass die Toten, deren Name genau registriert wird, nach einer gewissen Zeit ausgegraben werden, und mit Aufschrift des Namens versehen in die Kapelle wandern. Bei einem solchen Unfug muss man der Leichenverbrennung gut werden. Besagtes Register wurde von dem Kapuziner geführt, der als Pfarrer in dieses hohe Alpental geschickt war. Er sprach nicht deutsch, ich konnte mich ihm aber mit Latein verständlich machen, welches er mit einem Gemisch von Italienisch und Latein beantwortete. Die armen Menschen leben mit einer obskuren Maid viele Jahre lang in dieser Einsamkeit. Jene von Mühlen war schon 15 Jahre dort. Auf mein Befragen, ob er nicht einmal nach seiner etrurischen Heimat zurückkehren werde, antwortete er: ich habe einen Oberen. Wie glücklich sind wir ihnen gegenüber. Nach diesem Besuch bei dem Amtsbruder stieg ich mit Wilhelm in das Tal, das sich gegenüber dem Wirtshaus öffnet. Es ist reizend durch seine Kaskaden und durch den schönen Blick auf die gegenüber liegenden Berge.

Sils

Der Weg von Mühlen hierher führt durch ziemlich einförmige Felspartien, die jedoch in ihren Dimensionen großartig sind. Hier verspricht das Leben recht genussreich zu werden. Der erste Tag, den ich hier verlebt, war ein Sonntag. Ich sah mir in den Morgenstunden den See mit seiner Umgebung an und ging dann zur Kirche. Welch ein bescheidenes Gotteshaus. Es will mir scheinen, als wäre es besser, die kleinen Dörfer Sils-Marie und Baselgia wo heute Gottesdienst war, zu einer Kirche zu vereinen und ein schöneres Gotteshaus zu bauen. Aber es hat doch auch einen rührenden Reiz zu sehen, wie jedes noch so kleine oder nahe gelegene Dorf auf ein eigenes Gotteshaus hält. Es ist erfreulich, dass dies auch in dem protestantischen Sils der Fall ist. Die Ordnung des Gottesdienstes, welcher reformiert ist, gleicht der in Bremen. Nur ist der Gesang ein anderer. In dem Chor sitzen getrennt von den andern Gemeindegliedern die singenden Frauen, weniger Männer. Sie singen die mir ganz unbekannten Melodien mehrstimmig. dass die Harmonien nicht immer ganz rein sind, liegt wohl an dem Alter des leitenden Pastors. Derselbe predigte über die Berufung Pauli, und zwar romanisch, wie auch der Gesang in dieser Volkssprache stattfand. Ich verstand von der Predigt doch so viel, dass ich die Hauptgedanken verfolgen konnte. Nach der Predigt lernte ich den Pastor, der auch deutsch spricht, und einen Prediger aus dem russischen Ostprovinzen kennen. Derselbe war ebenfalls zur Kirche gewesen. Er wohnt in unserm Hotel.

Nach einem ziemlich langweiligen Mittagessen ging ich mit Frau C. und Wilhelm spazieren. Ich stieg mit letzterem vergeblich auf die Suche nach Edelweiß. Leider ermüdet derselbe sehr leicht. Große Touren werde ich nicht sehr bald mit ihm unternehmen können. Die Art, in welcher er verwöhnt wird, hemmt alle muntere Regung meinerseits. Zudem verstimmt sie mich fast täglich, so dass ein näherer Verkehr zwischen der Mutter und mir schon dadurch sehr erschwert wird.

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Sils 22.07.1881

Heute ist zum ersten Male regnerisches Wetter. Da es aber ein Gewitter zu sein scheint, wird es nicht von langer Dauer sein. Für diesen Nachmittag kann ich das Rasten wohl ertragen ohne zu rosten. Ich habe, wie gewöhnlich schon ½6 Uhr eine Bergpartie gemacht, von der ich zum Frühstück zurück war. Ich bin leider immer sehr auf diese wenigen Stunden angewiesen, wenn ich weiter streifen will. Die Familie nimmt mich fast die übrige Zeit in Anspruch. Auch an Fremde mich anzuschließen, ist nicht wohl möglich. Mein Vorgänger ist dadurch in Ungnade gefallen. Nun fürchte ich zwar diese nicht, sie würde mich vielleicht aus Verbindlichkeiten lösen, die mir täglich nicht leichter und nicht lieber werden. Aber wenn es sein kann, sollen sie nicht in unfreundlicher Form gebrochen werden.

Der Verkehr unter den anwesenden Familien wird etwas intimer. Ein Herr Vorländer aus Dresden mit Frau, Tochter und Sohn tritt uns näher. Vater und Sohn sind sehr nach meinem Geschmack. Weniger die Weiber. Dafür ist mit ihnen eine Frau Prof. Hofmann gekommen, die ein sehr Distinguiertes einnehmendes Wesen hat. Mit Herrn Oberländer und einem italienischer Kaufmann aus Arona Herrn Isenburg treffe ich zur Abendstunde im Cafe zusammen, wo wir Veltliner trinken und uns gut unterhalten. Zu theologischer Arbeit bin ich noch nicht gekommen. Ich bin leider in mir selbst wieder etwas verwildert. Daher mangelt der innere Trieb zur Arbeit; dass ich den Tag über verhindert bin zu arbeiten wird mir aus diesem Grunde weniger schmerzlich fühlbar. – Auch spüre ich sehr wenig von gehobener Stimmung unter dem Einfluss der herrlichen Natur. O hätte ich zu Zeiten größerer Empfänglichkeit diese Blicke in Gottes schöne Natur.

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Sils 26.07.1881

Fex-Gletscher

Ich habe einige interessante Touren gemacht. Zunächst einen Spaziergang nach dem Fex-Gletscher am Nachmittag, nachdem wir am Vormittag im Fextale sehr schönes und vieles Edelweiß gefunden. Der Weg nach dem Gletscher ist weit, schlecht und kaum lohnend, wenn ich die vielen schönen Spaziergänge damit vergleiche. Ich habe ganz mit meinen bisherigen Vorstellungen brechen müssen. Der Gletscher zieht sich nicht im Thale hin, wie ich glaubte, sondern hängt einem kolossalen Eiszapfen gleich an dem Abhang. Es ist möglich, dass bei ganz naher Betrachtung der Eindruck ein mächtigerer wird. Mir erschien das Eis schmutzig und unscheinbar. Es scheint mit dieser Naturerscheinung zu sein, wie mit dem Edelweiß; man schwärmt dafür, weil man sich diesen vermeintlichen Genuss nur schwer verschaffen kann. Imposant war übrigens die Großartigkeit der Szenerie von Fex. Die von Eis und Schnee gekrönten hohen Felsmassen, die jeder Vegetation bar sind, und das Brausen der Gletscherbäche haben etwas Überwältigendes.

Maloja

Ganz anders war der zweite Ausflug. Am Sonntag Nachmittag fuhren wir mit Vorländers nach Maloja. Ich ging mit den Knaben noch bis zum Wasserfall. Der Pass, der in kurzer Entfernung bis zu ungeheuerer Höhe steigt, ist von großer Schönheit. Hierzu trägt wesentlich die Fülle der Vegetation bei, welche sofort beginnt, wenn man in einigen der vielen Windungen, welche die Straße bildet, ins Tal steigt. Wir, die hier nur verkommene Arten sahen, freuten uns dort kräftige Kiefern und Fichten zu finden. Ich gedenke nochmals dorthin zu gehen.

Im Hause hat sich Weniges verändert. Das Mittags- und Abendessen ist etwas interessanter geworden seit ich Frau von der Poll mit Tochter gegenüber sitze. Es sind, wie mir scheint, sehr gebildete Damen. Wenigstens gilt dies von der Mutter. Sie spricht vier Sprachen und kennt wenigstens die deutsche Literatur recht gut. Auch hat sie Interesse an den griechischen Tragödien. Die Tochter ist munter und natürlich, doch wie es scheint, geistig weniger regsam, als die Mutter. Noch mannigfaltiger wird der Verkehr des Abends durch das Kollegium des Herrn Vorländer, Herrn Isenberg und mir im Cafe, wo wir beim Schoppen Veltliner immer interessante Unterhaltung haben.

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Sils 29.07.1881

Heute Morgen habe ich viel Vergnügen bei einer lustigen Kahnfahrt gefunden. Eine mit Dan. Vorländer geplante Bergpartie wurde zu Wasser, da Frau Konsul Albers noch nicht ganz von ihrem gewöhnlichen Unwohlsein sich erholt hatte, wie ich erwartet, ich also mit Wilhelm Etwas unternehmen musste. Unsere Wünsche nach dem Boot des Hotel trafen mit denen des schwedischen Schulinspektors und seinen Nichten zusammen. Wir sind in Folge dessen zusammen gerudert. Wie ist dieses Mädchen so anders, als unsere deutschen! Ein neues, leichtes Leben kam über sie in den Wellen des Sees, und gerudert hat sie, angestrengter, als ich. Der Verkehr mit diesen Leuten wie mit den Holländern und Dresdnern wird täglich näher. Ich fürchte nur, dass es der Familie Albers nicht ganz lieb ist, wenn ich mich den Annehmlichkeiten dieser Gesellschaft nach Herzenslust hingebe. Die Arbeit leidet freilich darunter; aber das würde sie auch auf die andere Weise tun.

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Sils 04.08.1881

Die Tage verrinnen mir jetzt so reich an Abwechslung und Unterhaltung, dass ich seltener zum Schreiben komme, als ich wünsche. Überhaupt würde ich etwas mehr Ruhe nicht ungern sehen. Doch hier gilt es zu genießen, was an der Zeit ist. Vorigen Sonntag unternahm die Jugend aus dem Hotel eine Gletscherpartie, der ich mich anschloss. Auch der junge Engländer war dabei. Von ihm hat ein älterer englischer Herr gesagt, wie der "gottlose Junge" dies hätte tun können. Was würde er erst von mir gesagt haben. Mir war es freilich auch nicht ganz angenehm, dass die Tour am Sonntage war; indes zum Gottesdienst zu gehen, hätte mir auch nicht viel genützt. So nahm ich die Blume, die mir am Wege blühte. Die Partie war reizend. In kleinen Leiterwagen fuhren wir nach Maloja. Das ungefederte Rütteln erhöhte unsere Heiterkeit bis dorthin. Den Pass von Maloja kann man nicht zu oft sehen. Nach diesem Genuss gingen wir zum größeren Teil weiter in das linke Seitental nach einem lieblich grünen See dem Cavloccio, dessen Ufer nur durch einige Saumhütten und Herden menschliches Dasein zeigen. Ein Frühstück mundete nach dem Wege vortrefflich.

Fornogletscher

Bild aus Wikipedia

Bald machte sich die Gesellschaft nach dem Fornogletscher auf. Wir bestellten vorher auf den Nachmittag Forellen bei dem Fischer, der im See angelte. Unterwegs blieben zwar drei Damen wegen des beschwerlichen Wegs zurück; wir kamen jedoch noch zahlreich am Gletscher an, über den wir etwas eine Stunde lang hinweggingen. Fast für Alle von uns war es die erste Gletschertour. Einige Ängstlichkeit begleitete die ersten Schritte. Bald aber nahm jeder Herr eine Dame an die Hand und wir stiegen munter und wohlgemut. Die unzähligen Steine, welche Gletschertische bildeten waren zuweilen angenehme Ruhepunkte. Spalten und Gletschermulden gaben eine erfreuliche Abwechslung. Nach einer Stunde der Wanderung kamen wir wieder am Fuß des Gletschers an und beflügelten von jetzt ab unsere Schritte, da wir guten Appetit erhielten. Wir lasen die Zurückgebliebenen auf und fanden uns gegen drei Uhr an unserer Lagerstätte alle mit heilen Gliedern wieder.

Fornogletscher

Unser Mittagsmahl sollte von Rechts wegen in kalter Küche bestehen. Indes war ein Kessel bald zur Hand, in welcher die kundige Frauenhand bald die schönsten Seeforellen sieden ließ. Dieselben mundeten Allen zu dem Veltliner, der in der nötigen Quantität durch Häuptling Heffter mitgebracht war, vortrefflich. Bei heiterem Gesang und Unterhaltung hielten wir Siesta und kehrten voll befriedigt nach Sils zurück. Eine weitere gemeinsame Partie ist in Aussicht genommen.

Isola

Eine fernere Schönheit der Umgebung lernte ich in den letzten Tagen in dem Wasserfall von Isola kennen. Er gewinnt besonders durch die großartige Umgebung. Mir speziell hat er gestern Nachmittag einige ruhige Stunden gewährt. Ich war gegangen den Weg zum Fall zu bessern. Sodann habe ich dem Spiel der Wasser zugeschaut. Es ist ein herrliches Bild dem ich in Gedanken Leben und Seele verlieh. Das gewaltige Hervorwallen des gestürzten Wassers sagte mir, wie man trotz Erschütterung und scheinbaren Unterliegen wieder nach oben kommt, und Frieden seiner Bestimmung zugeführt wird. In dem Falle selbst liegt das Spiel oder vielmehr die Schule des Lebens. Ruhig fließt das Wasser bis zum Abhang. Es ist die Kindheit, die nicht ahnt, was die Zukunft bringt. Da kommt es zum Gleiten; zunächst in geschossenem Wasser. Nicht lange dauert es, da kommen die ersten Stöße. Wie in der Schule einige Wenige sehen ihren besonderen Weg einschlagen, so auch hier. Kleine Rinnsale führen selbständig einen Faden zum Abgrund. Doch die Menge bleibt freilich nicht unverkürzt. Die leichte Ware geht als Staub schon bei dem ersten Ross in die Luft. Sie ist zum Teil lieblich anzusehen, wenn die Sonne darin scheint. Es gibt einen Regenbogen. Viele fallen zurück, andere auf des Trockene, einige finden auch den Weg zum Grunde. Weiter zeigen sich die Unselbständigen. Sie scheuen den fröhlichen Sturz in die Tiefe; langsam und vorsichtig gleiten sie am Felsen herab. Aber spottend werden sie von den Kameraden zurückgelassen, die vorwärts eilen und gestoßen und gepresst doch heiter des Tageslicht rüde begrüßen, um dem See zuzueilen, in dem sie sich reinigen von dem Unlauteren, was ihre Tugend verhängt.

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Sils 14.08.1881

Noch ist in den Tagen bisher Wenig anders geworden. Nur eins ist gefestigt, meine Absicht nächste Ostern Bremen zu verlassen, um in das Predigerseminar einzutreten. Wozu auch eine Arbeit weiter führen, die täglich in Unlust getan wird. Ich kann nicht den Einwirkungen einer Mutter entgegenarbeiten, und doch müsste ich es, wenn ich Ws Erziehung in dem Sinne fördern wollte, wie sie nach meinem Dafürhalten die richtige ist. Mag Leipzig an mir vollenden, was es angefangen. In rauen und kalten, aber sehr genussreichen Tagen sind jene Gedanken gereift.

Corwatsch

Vor wenig Tagen war ich mit Dr. Engelmann aus Leipzig auf dem Corwatsch. Die wenigen Gefahren auf Eis und Schnee, die übrigens durch prachtvolle Gletscherspalten und -höhlen im schönsten Lichte erschienen, kommen gegen den unvergleichbaren Genuss eines so hohen Berges nicht in Betracht. Wer dort sich nicht erhoben fühlt, der ist hohen Gedanken überhaupt nicht fähig. Das Meer der Berge gibt eine Ahnung der göttlichen Größe. Und wie wunderbar. Der kleine Mensch, der es schaut, und an äußerer Größe so verschwindet, dass das Fernrohr vom Tale ihn nicht zu finden vermag, er sieht für sich das Bild gemacht, und setzt sich unwillkürlich in den Mittelpunkt der erhabenen Natur. Das ist, Gott schuf ihn nach seinem Bilde.

Bild aus Wikipedia
links: Piz Murtel 3433 m
rechts: Corvatsch 3451 m

Heute haben wir ein Bild von Sils, wie es sonst wohl nur der Oktober zeigt. Der gestrige Regentag hat auf den Bergen Schnee gebracht. Fast bis zur Talsohle waren heute Morgen die Abhänge der Berge weiß. Ich stieg am Vormittag mit Wilhelm in Gesellschaft von Frl. von der Pol, Frl. Lindberg, Frl. von Delius und Herrn Heffter auf Mount Ota. Es war ein munterer, frischer Gang, der sich uns durch die herrliche Aussicht reichlich belohnte. Wenn morgen ein heiterer Tag ist, will ich mit Herrn Heffter in das Bergell.

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Sils 19.08.1881

Bergell

Der tägliche Lauf der Dinge wurde in den letzten Tagen einigermaßen geändert, und zwar in angenehmer Weise für mich. Zunächst durch eine Tagespartie in das Bergell. Ich ging mit Herrn Heffter bei frischer Morgenluft hier weg. Der schweigsame Sonderling, Herr Ebmeier, prophezeite Regen. Deshalb gaben wir die geglaubte Fahrt mit Wagen auf. Wir wollten eventuell in Maloje umkehren. Der Weg dahin wäre allein lohnend gewesen. Ein solcher Morgenspaziergang, der durch gutes Wetter, besonders schöne Beleuchtung und frischen Jugendmut gewürzt ist, bleibt ein reiner, schöner und Unvergesslicher Genuss. Man sagt sonst: der Appetit kommt beim Essen; hier kam uns das Verlangen nach weiteren Erlebnissen, je weiter wir gingen.

Die Post von St. Moritz nach Chiavenna schien uns eben ersehnt zu kommen, um sie fernerhin zu benutzen. Wir scheuten einen kurzen Dauerlauf am Ende des Wegs nicht, sie in Maloje einzuholen. Da war aber jeder Platz besetzt, und mit Hohngelächter mussten wir diese Kunde vernehmen. Was sollten wir anders tun, als einen Frühschoppen Veltliner zu trinken? Da von Maloje aus kein Ochsenwagen, geschweige ein schnellfüßiges Ross zu erlangen war, trösteten wir uns, dass nach dem Abstieg nach Cassaccia uns eine gefederte Karosse aufnehmen sollte. Bis hierher genossen wir dann auch in vollen Zügen die Schönheit des Tals, welche am Anfang des Dorfes durch eine prächtige gotische Kirchenruine glanzvoll abgeschlossen wurde. Der erste Versuch ein Vehikel zu mieten, schlug fehl. So verzichteten wir einstweilen auf eine andere Beförderung als die unserer wanderungslustigen Füße.

Wir verließen das Dorf, dessen schöne Fenstergitter besonders der Beachtung wert sind. Es ist auffällig, wie gerade in diesem Gegenstand sich in der ganzen Gegend ein sehr feiner Geschmack ausprägt. Auf unserer fernern Wanderung suchten wir besonders nach den schon früher in Maloje ahnungsweise entdeckten Schönheiten, die wir in der Nähe Italiens für unvermeidlich hielten. In dem nächsten Weiler hofften wir daher etwas Ansehbares zu finden. Eine kleine Osteria am Wege konnte eine solche Perle bergen. Aber o weh! Es passte auf unsere männliche Hebe das Lied: Setze mir nicht, Du Grobian, den Krug so derb vor die Nase! Wir ließen uns Wein und Brot übrigens gut schmecken, und hofften auf die Zukunft.

Septimerpass

Reichlich entschädigt für die getäuschte Hoffnung wurden wir durch das immer schöner werdende Tal, das wir durchschritten. Bald kamen wir auch auf elassischen Boden. Der Septimerpass, eine alte gepflasterte Römerstraße durchschnitt die Windungen der modernen Chausseen. Natürlich schlugen wir diesen historisch bedeutsamen Weg ein. Reichlich Gelegenheit fanden wir dabei uns auszumalen, wie die alten Römer auf ungefederten Wagen dieses Pflaster überwunden haben. Zart dürfen dabei die Römerinnen nicht gewesen sein. Interessant aber ist der ungebrochene Mut dieses Volkes, der sich selbst in der Anlage dieser Straße zeigt. Während unsere Wege in großen Windungen die Steigung überwinden, geht jene Straße gerade hindurch. Hier zeigt sich Reflexion, und dadurch Erleichterung dort ein naives Spotten der Schwierigkeiten.

Vicosoprano

Mächtig angeweht von südlicherem Geiste fühlten wir uns beim Eintritt in Vicosoprano. Dies hatten wir als definitives Reiseziel gewonnen, nachdem das trübe Wetter uns zum Verzicht auf Promontavio und seine viel gerühmte Aussicht gezwungen. Der Ort machte etwa den Eindruck, den ich bei oberitalienische Dörfern erwarte. Enge etwas schmutzige Straßen, durch Balkone und Veranden überragt. Die Bauart weicht wesentlich von der Deutschen ab. Wir suchten ein Vertrauen erweckendes Lokal, das wir bald mitten im Dorfe fanden; es steht zur rechten Seite der Straße vom Maloje aus. Ein sehr schön getäfeltes Zimmer nahm uns zu Mittag auf. Wir ließen uns das Mittagessen recht gut schmecken, obwohl wir zuweilen in Gefahr kamen, die massenhaft vorhandenen Fliegen als Zukost zu speisen. Erheitert wurden wir dabei durch einen Handelsmann, der einen Ratsherrn vom Vicosoprano in den überschwänglichsten Ausdrücken zum Kaufe eines Hutes zu bereden suchte. Nach Tische wollten wir Land und Leute kennen lernen, eine Absicht, die schließlich darin ihre Erfüllung fand, dass wir uns im Schatten schöner Bäume im Grase zur Siesta niederlegten. Wir genossen dabei einen lieblichen Überblick über das Dorf und seine Umgebung. Noch blieben uns nach dieser Ruhe einige Osteria übrig. Die am Anfange des Dorfes lockte durch ihr primitives Aussehen. Der Wein daselbst litt freilich an einer noch primitiveren Pflege. Ich weiß nicht, wer von uns beiden das sauerste Gesicht zog.

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Sils 21.08.1881

Die Beschreibung meiner Erlebnisse im Bergell wurde unterbrochen. Ich setzte sie nicht mehr fort, da die Rückkehr nach Sils das natürliche Ende unseres Ausflugs war. Auch haben wir die beiden letzten Tage so wesentlich auf Stimmung und Erinnerungen gewirkt, dass darunter die früheren Bilder verblichen. Noch gestern Abend hieß es "Den Mann hat´s". Ich kann glücklicher Weise heute schon objektiver darüber in Geschichtsform berichten. Entdeckungen von heute haben ernüchternd gewirkt. Und es war doch schön sich wieder jugendlichen Gefühlen ganz hinzugeben. Ein englisches Wesen, die kaum die Schwelle zwischen Kindheit und Jugend überschritten, hatte es mir angetan. Was ich ihr getan, um ihr dies zu zeigen, war ewig, und doch vielleicht genug, um diesen Zweck zu erreichen. Kein Wort haben wir gewechselt. Ich weiß nicht einmal, ob sie meine Worte verstanden hätte. Jedenfalls war für die Blicke keine Schwierigkeit vorhanden. Auch die Sprache hat sie ohne Zweifel verstanden, die ein reizender Alpenblumenstrauß mit rotem Bande sprach. Der Versuch, aus diesem platonischen Zustande zu einem näheren Verkehr überzugehen, scheiterte leider an der Abreise der Familie Douglas Fox. Ich zweifle, dass ich sie je wieder sehe; sie ist in Pontresina. Wie lange, hat mir der biedere Vater nicht gesagt. Warum konnte dieses Mädchen, das mich auf den ersten Blick anzog, wie noch keins vorher, nicht länger hier bleiben anstatt einer der hier verweilenden Grazien? Stimmung auch heute noch teilweise: freudvoll und leidvoll.

Ernster beschäftigt mich eine Mitteilung von Frau Konsul Albers, die sie mir heute auf eine versteckte Anfrage hin machte. Johann Uelzen wird nicht mehr mein Schüler sein. Ein schwerer Schlag für mich. Ich muss jetzt mit dem verzogenen und in Folge dessen energielosen Wilhelm allein arbeiten. Viel Freude und Frohsinn wird mir der Winter in dieser Aufgabe nicht bringen. Doch ist diese Zeit vielleicht um so lehrreicher für mich. Jedenfalls wird sie mich noch zu mancher solcher Selbstverleugnungen zwingen, wie ich sie heute schon üben musste. Ich wollte mit Wilhelm die Ferienarbeiten beginnen. Frau Albers ließ sich sagen, was zu tun sei. Von einem deutschen Aufsatz sagte sie den können wir ihm ja erlassen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie mich und meine Forderungen so bei Seite schiebt. Noch nie habe ich es so wie heute empfunden. Wenn ich es nicht um jeden Preis vermeiden wollte, meiner Tätigkeit in Bremen ein Ende mit Skandal zu setzen, ich würde bei ähnlichen Eröffnungen nicht mehr stoische Ruhe simulieren. Ich hoffe, dass es wenigstens fremden Augen erscheint, als wäre Alles in Ordnung in unserm Verkehr. Gefühlt wird die innere Entfremdung natürlich auch auf der andern Seite. Dies spricht sich schon darin aus, dass ich heute erfuhr, was Frau Uelzen vor fünf Wochen schon mitgeteilt hatte.

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Sils 27.08.1881

Es beginnt der Abschied. Viele von denen, die ich hier kennen gelernt habe, sind schon gegangen. Heute reisten die Schweden ab. Es ist mit dem Abschiednehmen wunderbar. Menschen, mit denen man sonst zwar ganz gern verkehrt hat, denen man aber doch nicht besonders nahe getreten ist, lassen bei ihrem Weggange zuweilen eine tief empfundene Lücke zurück. So der wunderliche aber herzensgute Junggesell Leidesdorff aus Uddevalla und seine Nichten Elin Landberg, das muntere naive Kind. Der Abschied gab natürlich zu Einladungen gen Norden Veranlassung, und doch wird es wohl das einzige Mal im Leben gewesen sein, dass wir uns hier sahen. Jetzt bin ich so vereinsamt, dass ich mich freue abzureisen. Herr Konsul Johann Abraham Albers ist seit einigen Tagen hier, und hat die Abreise auf Dienstag festgesetzt. Seine Gegenwart hat die trüben Wolken, die für mich am Familienhimmel hängen, vielleicht ein wenig gelüftet, aber doch nicht verscheucht. Ich kann mir wohl zuweilen darüber zürnen, dass ich selbst zu wenig tue, um das Verhältnis freundlicher zu gestalten. Aber es will nicht besser werden. Die Arbeit in Bremen wird vielleicht von guter Wirkung sein.

Wenn ich auf unsere Reise, die an ihrem Ende etwa acht Wochen umfassen wird, zurückblicke, so sind die Gefühle sehr geteilter Art. Ich habe manche Freude gefunden, Genüsse, die mir unter anderen Umständen in diesem Alter sicher versagt geblieben wären. Aber ungetrübt waren sie nicht. Ich habe immer empfunden, dass ich als Höriger hier war. Ich konnte naturgemäß sehr oft nicht nach meinem Wunsche genießen. Aber das war selbstverständlich. Schwerer ist es mir geworden den Verkehr mit den Menschen zu beschränken, die mir sympathisch waren. Ich weiß von dem Beispiele meines Vorgängers, dass dies nötig war, um meine Stellung zu behaupten. Die Folge davon ist, dass ich während sechs Wochen hier mit Niemand intim geworden bin. – Doch, um etwas Selbstlosigkeit und Entsagung zu lernen, ging ich ja überhaupt in die Stellung eines Hauslehrers. Ich muss leider mir selbst gestehen, dass ich die Prüfung davon nicht gerade gut bestanden habe. Ein Lichtblick, den ich noch den letzten Tagen abzugewinnen suchte, ist leider ungeschehen geblieben. Wir fuhren gestern nach Pontresina, wo wir eine ungewöhnlich schöne Aussicht auf Bernina genossen. Ein Straußchen für Miss M. Douglas Fox blieb aber leider unbestellbar. So gehe auch diese Idylle in die Nacht der Vergessenheit.

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Schruns 01.09.1881

Unsere Rückreise wurde bis Chur, wohin wir am ersten Tage fuhren, durch angenehmes Wetter begünstigt. Leider ist es uns nicht treu geblieben. Wir fuhren gestern hier her, um Übergangsstation zu machen. Der Regen, der uns auf dem Wege traf, hat heute noch nicht aufgehört. Ich bedaure, dass er uns an jedem Genuss der Gegend verhindert. Es scheint sehr schön hier zu sein. Die weichen Formen der Berge, die in herrliches Grün gekleidet sind, blickten gestern viel versprechend auf uns herab. Heute ist dies ihnen schon kaum möglich wegen der tiefgehenden Wolken. Ohne Genuss aber ist auch der hiesige Aufenthalt nicht. Schruns hat eine sehr schöne Kirche im romanischen Stile. Obwohl es ein Dorf ohne sonderlichen Reichtum ist, zeigt das Gotteshaus einen Glanz, wie in Deutschland kaum Stadtkirchen. Einen so edeln Luxus kann auch nur die römische Kirche bieten. Wie muss aber ein so prächtiges Bethaus auf die Sinne der gewöhnlichen Besucher wirken. Welche Anziehung mag für sie der Gedanke haben, in einer solchen Umgebung ein berechtigtes Heim zu haben wenn auch nur für Stunden des Tags! Und welche Strafe, davon ausgeschlossen zu sein. Diesen Leuten wird freilich der Mangel nicht auffallen, den ich trotz der äußeren Pracht in dem Kirchenraum fand: der Mangel an andächtiger Stimmung. Es mag derselbe vielleicht zum großen Teile im romanischen Stile begründet sein. Die runde Wölbung, die allerdings den Himmel in klein wiedergibt wirkt nicht erhebend. Sie ist kahl in Vergleich zu der himmelanstrebenden Form unserer gotischen Kirchen. Da fuhren die schlanken Säulen und Bogen zum Himmel. Die malerischen Ornamente im romanischen Bau vermögen ebenfalls nicht die gotischen Verzierungen zu ersetzen.

Schruns ist allem Anschein nach ein angenehmer Vorort für Tirol. Es ist ein angulus terrarum, der von dem Luxus viel besuchter Badeorte noch unberührt ist. Das Gasthaus, in welchem wir wohnen erscheint ärmlich in Vergleich zu den Hotels, durch die man anderweitig verwöhnt wird, und doch fehlt es auch hier eigentlich an Nichts zum täglichen Leben. Wir werden den Ort übrigens schon heute Mittag verlassen, um nach Bregenz zu fahren. Von dort soll uns das Dampfboot morgen über den Bodensee tragen. Das Inselhotel in Konstanz wird uns dann hoffentlich noch einige angenehme Tage bereiten. Vielleicht, aber finde ich dort eine Nachricht vom Vater. Wenn derselbe noch zum Kongress für innere Mission nach Bremen reist, werde auch ich die Rückreise abkürzen. Vielleicht reise ich dann über Leipzig zurück.

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Bremen 09.09.1881

Kongress für Innere Mission

Wir sind wieder in Bremen. Ich freue mich, dass ich von heute an wieder arbeiten kann. Die Arbeit, auch wenn sie selbst nicht freudig ist, gibt Beruhigung und damit eine gewisse Freude. Die letzten Tage meiner sommerlichen Ruhepause waren sehr genussreich. Ich bin von Frankfurt aus der Familie Albers vorangereist, da sich der Vater hier angemeldet hatte. In Bremen tagte vom 6. bis 8. September der Kongress für Innere Mission. Derselbe hat geistlich mancherlei Anregung gegeben; auch mir. Ich hatte die Freude den Vater recht wohl zu sehen. Auch lauten seine Nachrichten aus der Heimat gut bis auf die von Bruder Georg. Wir haben zusammen manche genussreiche Stunden in den Sitzungen und manche vergnügten an den sehenswerten Orten Bremens zugebracht. Gestern ist er nach Bremerhaven gefahren, um eine Partie nach Helgoland zu unternehmen. Wir können Gott danken, dass der liebe Vater im Alter von 67 Jahren noch solche Touren machen kann. Wer dies aushalten kann, der versieht sein Amt noch längere Zeit. Vater hat mir mitgeteilt, dass er eine Unterstützung im Amte meinerseits nicht begehrt. Dies ist mir wegen meiner Zukunft wichtig. Ich kann zunächst ungehindert meinen Plan verfolgen außer Deutschland eine erste Stelle zu suchen.

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Bremen 16.09.1881

Nun geht Alles seinen alten Gang. Johann kommt nicht mehr zum Unterricht. Dass ich mit W. allein bin hat keine direkten Folgen in der Behandlung des Unterrichts. In mancher Beziehung ist mir die Aufgabe sogar erleichtert; ich habe nicht immer mit Besorgnis eine Kluft auszufüllen oder auszugleichen, welche die verschiedene Fähigkeit notwendig hervorrief. Was die Stimmung in den Stunden betrifft, so, scheint mir, bin ich jetzt mit W. sanfter als bisher. Ich weiß nicht, ob er dasselbe empfindet. Doch will ich mich bemühen bei aller Liebe nicht in dieselbe falsche Zärtlichkeit zu fallen, die mir an seiner Mutter so fehlerhaft erscheint. Ich wahre freilich äußerlich das decorum ihr gegenüber vollständig. Der intimere Verkehr aber wird wohl für immer ein gemessener bleiben. Martin hat sich in der Zeit meiner Abwesenheit gut entwickelt. Sein Prinzipal hat sich sowohl dem Vater wie Herrn Albers gegenüber lobend ausgesprochen. Er gibt auch äußerlich schon mehr auf sich und seine Erscheinung. Nun will ich mit aller Kraft darauf hin arbeiten, dass er geistig nicht zurück bleibt. Die Kaufleute hier haben eine äußerlich ganz stattlich scheinende Bildung. Aber auch nur dem Scheine nach. Wer gut französisch und englisch spricht und damit einige belletristische Kenntnisse verbindet, der ist gemachter Mann, oder "er stellt Etwas vor", wie man hier sagt; natürlich muss er Schätze haben; aber die bringt das Geschäft. Das ist ein Urteil, wie ich es nach einem Jahre gewonnen habe. Freilich fehlt mir das Verständnis für die Tüchtigkeit, die Jemand im Geschäftsleben entwickeln muss. Mir erscheint diese freilich nur wie eine Fertigkeit.

Nun gehe ich noch einem, so Gott will, arbeitsvollen Winter entgegen. Ich denke den rebus Theologius wieder näher zu treten. Ich fange an Hebräisch zu treiben. Ich mag den Gedanken an ein Doktorexamen noch nicht ganz aufgeben. Diese Sprache dient mir vielleicht dazu. Aber gleichwohl wird es mir nicht zu große Überwindung kosten, auf diesem Weg, der in der Welt einen guten Schein gibt, zu verzichten, wenn es das Wort fordert: lass Dir an meiner Gnade genügen! Auch die patres sind mir neuerdings etwas näher gerückt, so las ich in diesen Tagen die schöne epistola ad Diognetani. Es ist ein schönes Zeugnis altchristlichen Geistes. Wie treffend ist der Vergleich von der Seele im Körper mit den Christen in der Welt; wie wertvolle praktische Winke liegen darin für uns. Anregend wirkte auf mich der Gedanke von der Liebe Gottes, die Diognet erwidern soll, nachdem er als Mensch und damit Gotteskind von Gott geliebt ist. Es fällt damit freilich die Definition der Liebe als notwendig gegenseitiges Verhältnis. Für Menschen mag dies gelten; der unendliche Gott ist aber darin nicht zu fassen. – Mir ist übrigens unmöglich die Menschen zu verstehen, welche diesen Brief für ein späteres Machwerk erklären. Er spricht für sich selber.

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Bremen 26.09.1881

Es beginnt, wie es heute scheint, für Bremen wieder die Zeit, die eigentlich nur für Amphibien zuträglich ist: feucht, raue Luft mit feinem Regen. Die schönen Herbsttage gehören zu den Seltenheiten. Gestern, Sonntag, hatten wir einen solchen. Ich benutze ihn mit Martin und Vetter Schreyer zu einer Landpartie, nachdem ich vorher in Funckes Gottesdienst gewesen war. Er predigte sehr schön über "Wachset in der Gnade und Erkenntnis Gottes" mit Ausführung des Gedankens: Wie weit sind wir im Glauben selbständig geworden und vorwärts gekommen? Die Rückfälle im religiösen Leben verglich er der Welle, die vordringt, aber beim beständigen Vordringen ein wenig zurückfällt.

St. Magnus

Nach diesem geistigen Genuss fehlte es gestern nicht an äußerem. Wir fuhren Mittag nach St. Magnus, von wo uns ein schöner schattiger Weg nach einer Wirtschaft "im Walde" führte. Wir genossen hier in ländlicher Einfachheit und köstlicher Stille ein bescheidenes Mittagsmahl, das uns von einer stark knotigen Hebe bereitet und gebracht wurde. Wir stärkten uns damit für den mühsamen Teil des Tags, der uns durch die norddeutsche Heide führte. Die ersten Stunden des Wegs ließen uns freilich von der Einsamkeit der Heidelandschaft nichts spüren. Überall ist der Mensch tätig, die Unfruchtbarkeit auf den möglichst kleinen Raum zu beschränken. Wallfischknochen geben dort Torpfosten zu einem Gehöft, das traulich in Baumgruppen verborgen fast unbeachtet zur Seite liegen bleibt. Weidenland ist allerdings der größte Teil des Besitzes. Dass die Häuser unter diesen Verhältnissen nicht gerade von Wohlhabenheit zeugen, ist erklärlich. Aber wie viel idyllischer ist hier ein Bauernhof, als in meiner Heimat! Hier bildet sich eine Eigenart aus auf jedem Hofe, der eine Welt für sich zu sein scheint. Und dabei doch der gemeinsame, fast stilmäßige Bau der Wohnhäuser. Ihren größten Teil nimmt ein tennenartiger Vorraum ein, der eigentlich fast allen Lebenszwecken dient, und ebenso wohl Spielplatz für die Kinder, wie Waschhaus ist. Von der daran sich schließenden Hausflur, in welcher gegessen wird, gehen dann einzelne Zimmer aus, die intimeren Zwecken dienen. Das Ganze macht den Eindruck eines noch immer patriarchalischen Sitzes.

Aber über diese Poesie führte uns bald unser Weg hinaus in eine andere. Wir sahen diese in dem bekannten Bilde des deutschen Volksliedes: die Heide. Ich kann mir denken, dass das Volkslied hier seine Heimat hat. Die weite Ebene, die sich in duftiger Ferne verliert regt zum Sinnen und zu sinnigen Gedanken an. Und doch beschleicht den Wanderer unwillkürlich das Gefühl der Verlassenheit in dieser menschleeren Einsamkeit, wo das Auge fast Nichts sieht als die Erika an zähem Kraute. Uns kam die Einsamkeit nicht zum Bewusstsein, da wir einem nahe liegenden Ziele zusteuerten, dem Heidehause von Baron Knoop (Schloss Mühlenthal).

Ich wollte die Pflanzungen besichtigen, welche seit einem Jahre dort bestehen. Man will neues Leben aus der toten Fläche grünen lassen. Zu dem Zwecke ist der Boden einen Meter tief umgeackert. Eine den Pflanzen undurchdringliche Schicht von Eisenstein ist dadurch dem Verwittern ausgesetzt, und unschädlich gemacht. Die Pflanzen, Kiefern und Fichten, gedeihen in dem gelockerten Heideboden, der freilich aus wenig anderem, als Sand besteht, vortrefflich. Besondere Sorgfalt hat man darauf verwendet die Pflanzen vor Vernichtung durch Feuer zu schützen. Es sind überhaupt nur drei Meter breite Beete bepflanzt, die jedes Mal durch einen ungeackerten Streifen Landes unterbrochen werden. In gewissen Entfernungen sind Schneisen gelassen. Die Ränder derselben sind noch besonders durch Laubholz gegen das Feuer gesichert. Außer Eichen, Rüstern, Birken etc. hat man noch einen besonders schnell wachsenden Baum, acer negundo, gewählt.

Dieses Unternehmen ist wirklich verdienstvoll und wird, wenn es gelingt, zugleich ein gutes Geschäft abgeben. Die Freude am Wachstum und die Aufsicht der Arbeit hat zur Zeit eine hannoverscher Forstadtjurat von Dein, der uns sehr liebenswürdig in Alles Wissenswerte einweihte. Er kann die Heide e Fundamento studieren, scheint sich aber nicht sehr viel damit zu beschäftigen, da er sehr erstaunt war, als wir ihm große blaue Genzianen zeigen, die wir in der Nähe seiner Wohnung gefunden. Befriedigt und ermüdet kehrten wir am Abend über den alten Weg nach Hause zurück.

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Bremen 28.09.1881

Heute war hier Buß- und Bettag. Er unterscheidet sich von dem in Sachsen nur dadurch, dass am vorhergehenden Tage Nachmittag vier bis fünf Uhr alle Glocken geläutet werden, was sich am Bußtag selbst wiederholt. Es trägt nicht wenig dazu bei den Tag feierlicher zu machen. Gefeiert wird er freilich auch hier nicht von Allen. Auch von hier gehen Extrazüge und Vergnügungen werden in Oldenburg und Hannover für die Unbußfertigen bereitgehalten. Ein heiterer, schöner Tag begünstigte sie dabei. Ich ging in den ersten Gottesdienst im Dom zu Schramm, der gut, aber trivial und wenig zu Herzen gehend sprach, wenigstens für mich. Nicht Alle hatten das gleiche Urteil, wie ich nachher hörte. Man findet hier Wohlgefallen daran, wenn ein Prediger ohne die Worte zu wägen "frisch von der Leber weg" spricht. Vor Allem macht die Predigt einen guten Eindruck, wenn sie viel Rücksicht auf die großen Ereignisse im Leben nimmt. Das ist, wie es scheint, Bremer Eigenart.

Lehmkuhlenbusch

Mit Eifer hört und liest man hier jederzeit von auswärtigen Festen, von fürstlichen sowohl wie privaten; ein Eifer, der sich neulich zu der Lächerlichkeit verstieg, dass man von einem Kaiserdiner in Hamburg das Menu, Beschreibung der Tafelaufsätze etc. ausführlich in dem besten hiesigen Blatte lesen konnte. Wie erklärlich ist es bei dieser Vorliebe, dass Vietors innige Predigten so wenig Anklang finden. Und doch scheint es für einen Prediger richtig zu sein, wenn er sich der Eigenart der Menschen anpasst. Aber welche Gefahr liegt darin! Nach dem Gottesdienst fuhren wir heute auf das Land nach Lehmkuhlenbusch. Ich büsste dadurch leider das heute hier stattfindende Missionsfest ein, mochte aber die früher schon wiederholt gemachte Einladung nicht abschlagen. Konsul Albers hat sich einen reizenden Landsitz gebaut. Auf einer kleinen Höhe, am Rande eines schönen Gehölzes, das zu seinem Grundstück gehört, liegt das in altdeutschem Renaissancestile erbaute Wohnhaus. Es ist ihm damit ein lange gehegter und viel durchdachter Wunsch erfüllt. Die wohlhabenden Bremer besitzen alle in der Nähe der Stadt solche ländliche Sitze, die für den Sommer jedenfalls höchst angenehm sind. Sie können sich da besonders gemütlich und ungestört regen auf dem Grund und Boden, den sie sich durch Arbeit erworben. Gewiss ein schönes Gefühl; und schon fühlte ich heute ein Aufdämmern von neidischer Sehnsucht bei dem Gedanken, dass ich wohl nie im Leben eine Scholle werde mein nennen können. Doch das sind nur vorübergehende Schmerzen, die Nichts bedeuten wollen, wenn ich die Entsagung der katholischen Amtsbrüder damit vergleiche.

Wir brachten einige heitere Stunden auf dem Lande zu, und kehrten gegen Abend in die Stadt zurück, deren festliches Geläut uns schon von weitem entgegen tönte. Der Abend bot mir in Gesellschaft von Martin und Herrn Meier ein Konzert des Domchors, welches ganz wie in Leipzig den Bußtag in würdiger Weise beschließt. Ich hörte alte liebe Lieder und Motetten, die noch aus der Knabenzeit mir ihm Gedächtnis waren. Der Vortrag ließ wenig zu wünschen übrig.

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Bremen 07.10.1881

Nun ist ein Jahr vergangen, seit ich in Bremen lebe. Wie viel in diesem Zeitraume vorgegangen ist, und doch wie wenig man dabei merkbar anders wird. Ich glaube heute wenig anders zu sein und zu denken, als damals. Jedenfalls bin ich noch wenig mutiger und fester geworden, als vor einem Jahre. Immer noch bleibt der Tag in die Weite; selten kommt der Wunsch nach äußerer Ruhe, innerlich fester zu werden, ist freilich das beständige Streben. Wenn es doch damit nicht immer beim Streben bliebe! Ohne Zweifel hat auch hier das Äußere bedeutende Rückwirkung auf das innere Leben. Ein Fortschritt ist glücklich zu verzeichnen. Ich nehme meine gegenwärtige Aufgabe ernster, vielleicht, weil ich nicht mehr sehr lange diene. Ich behandle den Unterricht sorgfältiger. Das führt mich auch persönlich der Familie näher, mit der ich jetzt wieder, Gott sei es gedankt, inniger, wenn auch gemessener verkehre. Intim braucht ja unser Verhältnis nicht zu werden. Neulich war eines Abends ein interessanter Gast im Hause: Graf Waldburg-Zeil, der mit dem Schiff "Luise" des Baron Knoops die Reise nach dem Jenissei gemacht hat. Seine Erzählungen waren uns Allen sehr interessant. Er war mit dem Schiff 2½ Monate ohne allen Verkehr mit der Menschheit gewesen. Sein Vergnügen daran schien zwar einigermaßen aus Blasiertheit zu entstehen. Ich könnte aber selber daran Gefallen finden. Von den besuchten Gegenden schien allerdings Nichts besonders verlockend. Heute noch habe ich die Früchte der Reise auf dem Handelsgebiet mit Wilhelm besichtigt: Mammutzähne in kolossaler Größe (zwei Meter lang), Felle von Bären, Wölfen, Luchsen, Zobeln, Hermelin etc. Sie scheinen ein ganz rentables Geschäft damit zu machen. Der neue Weg wird offenbar in der Folge noch besser ausgebeutet; ein erfahrener Kapitän Dallmann ist mit einem Dampfer, "Dallmann" auf dem Jenissei stationiert. Über den religiösen Zustand Sibiriens habe ich leider Näheres nicht erfahren.

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Bremen 16.10.1881

Das Leben verläuft mir jetzt so ruhig und in geregelter Tätigkeit, wie ich es nur wünschen kann. Vor acht Tagen war ich einmal den Abend über bei Johann Uelzens Mutter resp. Großmutter mit Pastor Schluttig zusammen. Es war ein sehr heiterer Abend. Seitdem hatte ich etwas mehr Arbeit. Ich übernahm in der Jacobikirche eine Predigt, die ich heute gehalten habe. 1. Kor. 15, 50. Ich fand in der Vorstadtkirche nur wenig Zuhörer, da das schlechte Wetter noch einen besonderen Hinderungsgrund bildete. Es ging Alles gut von Statten. Doch habe ich bei einer so außergewöhnlichen Tätigkeit immer noch ein gewisses Unbehagen, das besonders dann das Memorieren herbeigeführt wird. Im Übrigen freue ich mich jedes Mal, wenn ich geistlich tätig sein kann. Ganz abgesehen davon, dass ich dabei für meine Zukunft arbeite, erfahre ich jedes Mal persönliche Förderung in meinem religiösen Leben. Dies tut mir augenblicklich ziemlich not. – Heute Nachmittag war Gustav-Adolph-Fest im Dom, wobei Pastor Volkmann predigte, und Konsul Adami den Bericht hielt. Die Sache hat mir viel Interesse abgewonnen.

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Bremen 25.10.1881

Freimarkt

Wir stehen wieder einmal in Tagen, die mir wenig erquicklich sind, für echte Bremer Kinder waren sie freilich schon seit Wochen Gegenstand der Sehnsucht. Bei dem kalten und regnerischen Wetter, wie es hier der Herbst regelmäßig zu bringen scheint, geht der Freimarkt vor sich. Er unterscheidet sich wenig oder in Nichts von dem Lorenzmarkt oder dem Teil der Leipziger Messe, der sich auf dem Rossplatz abspielt. Da sind dieselben Ungeheuerlichkeiten, die von ebenso widerlichen Menschen angepriesen werden, wie dort. Ich bin durch meine Stellung leider genötigt viel dort zu sein, tröste mich indes mit der Erinnerung, dass ich als Kind ebenso gern mich in das Marktgewühl stützte, wie Wilhelm. Von der besten Seite zeigt sich der Freimarkt noch im Ratskeller. Dort ist ein ungewöhnliches Treiben. Der Besuch desselben von Seiten der anständigen gebildeten Bremer ist unvergleichlich zahlreicher, als sonst. Ein Militärkonzert zieht zugleich das Publikum an, und hält andererseits durch das zu zahlende Eintrittsgeld Proleten fern. Die unterirdischen Räume erscheinen endlos, da in der Tat alle Räumlichkeiten eröffnet sind. Unter den alten ehrwürdigen Fässern, die zum Teil recht schön dekoriert sind, ist es eine Lust von echten und unverfälschten Rebensafte, wie man ihn hier anerkannt findet, zu schlürfen. Im Übrigen sehne ich das Ende des Marktes herbei.

Norddeutsche Mission

Die Unruhe des Freimarktes kontrastierte vorigen Sonntag schneidend mit der erhebenden Feier, an welcher ich in der Stephaniekirche teilnahm. Es wurden dort zwei Missionare, die nach Afrika (Sklavenküste) gehen wollen, ordiniert und verabschiedet. Es war ein feierlicher Akt. Eine kurze Predigt eröffnete die Feier. Sodann sprachen die beiden Missionare; einer von ihnen besonders erbaulich und anregend über 2. Kor 5, 15, indem er zeigte, wie er sein Christenleben der Führung des Heilands danke, dem er nur zurückgebe, wenn er dem gefährlichen Stande in Afrika sich weihen lasse. Wie wenig üben wir diese Dankbarkeit in der Heimat! Ich will des Scheidenden Worte nicht vergeblich gehört haben. Nach diesen "Bekenntnissen" der Sendboten vollzog der alte Vietor mit innigen Worten, die jenen ihre Pflichten warm ans Herz legten, die Weihe, er überwies ihnen zur Verkündung das Wort von der Versöhnung, ein Wort, das mir jetzt nachgeht. Durch Handauflegung weihte er und nach ihm alle anwesenden Geistlichen die Missionsbrüder, denen Zahn, der Missionsinspektor noch eine ernste Mahnung zurief: sie sollten in der Ferne, wo sie zu geistlicher und leiblicher Hilfe an den Heiden so viel auf menschliche Mittel angewiesen seien, nicht vergessen unmittelbar aus dem Worte Gottes zu schöpfen. Die ganze Feier hat einen so tiefen Eindruck auf mich, und jedenfalls auf alle Zuhörer gehabt, dass ich darin einen neuen Beweis für den rückwirkenden Segen der Mission auf unser christliches Leben erkennen muss.

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Bremen 29.10.1881

Reichstagswahl

Gestern war in der ganzen Stadt große Aufregung. Der durch mancherlei Wühlereien unwürdig vorbereitete Reichstagswahltag war gekommen. Die Bremer suchten, und zwar mit viel Glück ihren liberalen Mitbürger H. H. Meier gegen einen von Bismarck geschickten H. v. Husserow durchzubringen. In emsigster Weise wurden Stimmen gesammelt. Unser Kutscher, der sich bei der letzten Wahl vorgenommen hatte, in künftigen Fällen vor dem Wahltag sich aus den Wurstblättchen Bremens ein Urteil zu bilden wanderte nach Tische bieder mit Herrn S. nach dem Wahllokal, und gab den befohlenen Stimmzettel ab: ein gutes Bild politischer Selbstständigkeit. Als am Abend Meiers Wahl proklamiert war, geriet die ganze Stadt in wunderbaren Enthusiasmus. Die Gewölbe des Ratskellers ertönten bis Mitternacht von Bremer Patriotismus. Auch im Künstlerverein schlugen die Wogen der Begeisterung höher als je. Mich hat die Sache ziemlich kalt gelassen. Ich habe gar kein politisches Interesse, und werde es so lange jedenfalls nicht bekommen als unsere politischen Zustände nicht besser werden. Mir scheint es bisher nur ein Intrigenspiel ohne Moral und Religion zu sein. Einen interessanten Beleg für das Handelsgewissen, wie er hier und wohl überall zu finden ist, gibt nur eine Mitteilung von Herrn Albers aus Le Havre wird hier in Bremen angefragt, ob hiesige Schiffseigentümer nicht Schiffe unter französischer Flagge fahren lassen wollen. Der franz. Staat hat ein Institut ins Leben gerufen, welches jedem bei ihm angemeldeten, richtiger ihm gehörigen Schiffe, eine jährliche Prämie zahlt. Die Reeder bleiben zwar Besitzer ihrer Schiffe, verkaufen dieselben aber durch einen Scheinverkauf jener franz. Gesellschaft. Wie ich höre, werden deutsche Reeder kein Bedenken tragen, sich an diesem lukrativen Geschäft zu beteiligen; die nationale Frage bleibt bei dem an sich schon unedeln Geschäfte unberücksichtigt. Wer darin Etwas Unstatthaftes oder Unehrbares findet ist "kurzsichtig" und "beschränkt". Dass der der beste Kaufmann ist, der sich am besten auf seinen Vorteil versteht, habe ich hier nun leider schon oft erfahren müssen.

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Bremen 06.11.1881

Morgen feiert Bruder Fritz seinen Geburtstag; den wievielten – ich weiß es nicht. Die ihm gesandten Wünsche sind darum nicht minder herzlich. Wie er den Tag feiern wird, davon habe ich keine rechte Vorstellung; ich kenne ihn zu wenig. Es ist wunderbar, wenn man das von seinen Geschwistern sagt. Aber hier sehe ich einmal, was Geschwisterliebe ist. Ich liebe ihn wirklich, ohne dass ich oft Gelegenheit gefunden hätte ihm das zu zeigen. Es mag eine innere Sympathie sein, die mich zu ihm hinzieht; jedenfalls sind es nicht bloß Bande des Bluts. Dass diese bei im Grunde des Herzens verschiedenen Brüdern nicht bindend sind, weiß ich. Vielleicht ist es die den Eltern wieder erwiesene Liebe, die Geschwister eint.

Geselligkeit

In unserm häuslichen Leben beginnt der Winter seinen Anspruch auf erhöhte Geselligkeit geltend zu machen. Herr Konsul hastet Montags zum Mittagessen, um in der "Geschlossenen Herrengesellschaft" für ein opulentes Diner mit daran sich schließenden Whist Raum zu behalten. Welche Umstände da das Zusammenkommen alter "guter" Freunde veranlasst. Wenn dieser Clubtag in unserm Hause tagt, ist der Hausherr schon von Mittag an tätig in Anordnung des Tisches und in der Auslese der besten Weinmarken, die sich nach Bremer Art natürlich alle auf dem Gebiete franz. Rotweine bewegen.

Als Gegenstück zu diesen Herrengesellschaften kündet uns am Freitag ein besonders leckerer Pudding zuweilen Damen-Kaffee-Gesellschaften an, die natürlich auch eine "geschlossene" ist. Diese Art von Kastenwesen der Freundschaft wird schon bei Kindern ausgebildet, indem auch hier Jeder seine "geschlossene Gesellschaft" hat. Als regelmäßiger Gesellschaftstag kommt zu diesen Zusammenkünften der Familientag, welcher in zwei Exemplaren vorhanden ist; der eine vereinigt die Geschwister des Mannes, der andre die der Frau. Sie sind recht gemütlich, was die äußere Erscheinung betrifft; ob der Verkehr ein inniger ist, bezweifle ich fast, da ich einmal zwei Vettern, die mit mir zusammentrafen, erst untereinander bekannt machen musste.

Jedenfalls sind aber die genannten Gesellschaftstage noch Muster von Gemütlichkeit in Vergleich zu den "großen Gesellschaften", zu denen man alle die einlädt, die man kennt, deren näheren Verkehr man aber nicht sucht. Man scheint bei solchen Gelegenheiten durch alle möglichen Genüsse seine gegenseitige Zuneigung auszusprechen. An Eleganz und Luxus ist dieser Tag jedenfalls der reichste im Jahre.

Blumentische werden vom Kunstgärtner geordnet, Bilder aufgelegt, kurz Alles herbeigeschafft, was über ein etwaiges Stocken der Unterhaltung hinweg helfen kann. Innerhalb dieser Herrlichkeiten setzt sich dann Hausherr und -frau um die feierliche Stunde zurecht; in ihren eigenen Zimmern behandschuht. Die nicht so bekannten Gäste kommen zuerst; an Worten fehlt es dabei natürlich nicht, aber an Wärme. Erst die näheren Bekannten bringen Stimmung in die Gesellschaft. Die bald folgende Tafel erhöht diese natürlich. Werden doch an diesem Tage die besten Weine aus dem Keller gezogen. Dieses lohnt sich auch, denn man kann noch viele Tage nachher von den so gespendeten Schätzen reden hören.

Nach Tische geht man zwar auseinander, aber nicht nach Hause, sondern die Herren in das Rauchzimmer, während die Damen irgend welchen geistsprühenden Sonderzirkel bilden. Eine nochmalige spätere Vereinigung zum Tee beschließt das Fest, bei dem man sich doch gesehen und seine Freude darüber ausgesprochen hat.

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Montag 07.11.1881

Pastorenkonferenz

Wie viel glücklicher bin ich, als die meisten Genossen meines Standes und Alters, dass ich eine solche geistliche Anregung habe, wie sie mir in der Pastorenkonferenz hier geboten ist. Welch ein guter Geist weht in diesen Versammlungen. Man ist hier offen, und darum herzlich. Ich kann und darf immer hören. Wie gut ist es, dass ich dabei nicht aktiv tätig zu sein brauche. Ich ziehe mich bescheiden zurück, und bin glücklich, dass ich es kann. O das mir aus diesen Stunden ein Segen für mein ganzes Leben komme! Noch soeben haben einige wenige Worte des alten lieben Vietor mein ganzes Herz eingenommen. Er sprach mir beim Heimwege darüber, wie der Stern doch Alles tut, was wir mit unserer schwachen Kraft an den Herzen der Menschen zu wirken glauben. Er erzählte mir, was ihm selbst jeden Stolz nimmt, wenn seine Worte ein Gutes gewirkt haben. Wie viel kann dieser liebe väterliche Freund geben, und wie anspruchslos gibt er es. Wenn ich mit ihm zusammen bin, möchte ich immer nur hören und lernen.

Hier liegt der Segen, den ich vor allem von meinem Leben in Bremen hoffe. Vietor und Funcke  sind die beiden Focus, um welche mein geistliches Leben sich schwingt. Ich möchte gern um jeden von beiden besonders Kreisen, und lasse beide möglichst viel auf mich wirken. Dass Gott dabei die Bewegung gibt, dass bin ich sicher.

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Bremen 10.11.1881

Heute ist improvisierter Feiertag. Wilhelm leidet an seinem nervösen Kopfweh, und da ziehe auch ich den Ausfall der Stunden einem mühseligen und unfruchtbaren Hinschleppen des Unterrichts vor. Wir haben einen Morgenspaziergang durch die Wallanlagen unternommen, zu dem das herrliche Herbstwetter besonders lockte. Nun habe ich heute einmal mehr Zeit für mich, als sonst; und ich benutze sie in diesem Buche zu schreiben, wozu ich sonst nur die späten Abendstunden verwende.

Traum

Ich habe in der vergangenen Nacht eigentümlich geträumt, und da ich gewissen Träumen, soweit sie Ansprache des Herzens sind, große Bedeutung beimesse, will ich nicht oberflächlich darüber urteilen. In der Tat glaube ich, dass wir Menschen besonders im Traume so erscheinen, wie wir sind. Beim Wachen denken wir, wie wir wollen; im Traume so, wie wir sind. Nicht als glaubte ich, dass wir in den Träumen nur Gedanken haben, die auf Anregen unserer Natur entstehen; dass sich also der natürliche Mensch darin ausspricht. Das, was ich träumte, widerspricht dem vielmehr. Ich sah mich, wohl in Erinnerung der im Sommer durchstreiften Alpenberge, an einem Abhange, wohin ich weiß nicht welcher Zweck mich geführt hatte. Ich fand den Absturz plötzlich so steil, dass ich in die größte Gefahr kam, in die Tiefe zu rutschen, wo ich unfehlbar zerschellen musste. Da griff ich in Todesfrucht nach den geringsten Stützpunkten der Grasnarbe, auf der ich lag, und rettet mich so mit zitternden Gliedern. Ich pries mich glücklich durch recht zeitige Besonnenheit und Anstrengung mich gerettet zu haben.

Nun aber folgte das, was mir hier der Beachtung wert schien. Als ich denen, die mich in Teilnahme um das Erlebte fragten, davon erzählte, stieg mir plötzlich der Gedanke auf, warum ich in jener Not nicht gebetet hatte; denn ich war überzeugt, dass das Gebet mir leichter die mühsam gewonnene Anstrengung gegeben hätte. Das will mit Funckes Gedanken nicht stimmen, der neulich in seinen Predigten über das Gebet dasselbe den Instinkt des Menschen nannte. Für mich aber ging in diesem Falle seine Notwendigkeit erst aus der Reflexion hervor, wenngleich in einem plötzlichen Durchbruch des Gedankens. – Indes freue ich mich einer solchen Reflexion; sagt sie mir doch, welch ein selbständiges neues Leben sich in mir zu regen beginnt.

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Bremen 14.11.1881

Verden

Ich habe gestern in Gesellschaft von Bruder Martin und Vetter Schreyer noch einen vergnügten Herbstausflug gemacht; es wird wohl der letzte des Jahres sein, Wir waren in der Gegend, wo unserer Ahnen Wiege gestanden haben soll, an der Aller, in dem alten Sachsenlande. Da die Familie Albers auswärts zum Mittagessen eingeladen war, fuhren wir schon am Morgen mit der Eisenbahn nach Verden, einem nicht großen, aber auch nicht bedeutungslosen Städtchen Hannovers. Unser erster Weg führte uns nach geschehener Stärkung durch die altertümlich gebaute Stadt nach dem Allerufer.

Hier soll ja nach der Erzählung Karl der Große die renitenten Sachsen haben taufen lassen. Weite grüne Flächen, offenbar sehr üppige Wiesen ziehen sich auf dem linken Ufer des Flüsschens, welches etwa die Größe der Mulde hat. Das rechte Ufer, auf welchem Verden, und nahe am Flusse die großartige Schule, Gymnasium, gelegen ist, liegt etwas höher, besteht aber meist aus jener Mischung von gutem Boden und Sand, die hier Geest genannt wird.

Hier also wohnte jenes freiheitsliebende Volk, das so hartnäckig gegen die Kultur sich verschloss. Wie gering, und noch dazu wie unsicher war der Ertrag des Landes, über dessen Grenzen sie nicht hinausblicken wollten, innerhalb deren aber die Freiheit wohnte. Martin konnte sich der Bemerkung nicht enthalten, dass er es jenen Urvätern nicht verdenken könne, wenn sie die einförmige Magerkeit, oder die so unsichere Fruchtbarkeit der Flussniederung mit ihren jetzigen Wohnsitzen vertauschten.

Verden ist indes sehr bald ein wichtiger Sitz des Christentums geworden, worüber uns der herrliche Dom belehrte. Er ist alt, ein großartiges gotisches Bauwerk, das im Inneren von einer geradezu wunderbaren Einfachheit ist. Einen ganz besonderen Eindruck macht die eigentümliche Verwendung einer Säulenreihe rings um den Chor. Indem die Seitenschiffe sich verjüngen finden sie dort ihre Fortsetzung und Vereinigung. Einige schöne Holzschnitzereien des Chorstuhls zeugen von höherem Alter, vor Allem aber zwei Grabdenkmäler, von denen eins aus dem Jahr 1558 stammt und zwei Bischöfe von Verden-Lüneburg deckt.

Aus dem Dom gingen wir, dem sonntäglichen Zuge von Jung-Verden folgend nach dem im Walde gelegenen Vergnügungsorte, dem "grünen Jäger". Es war ein Sonntag-Nachmittag ganz wie ihn Goethe im Faust beschreibt. Ein Militärkonzert lockte Alle hinaus, die den halbstündigen Weg ertragen konnten. Wir freuten uns, dort ein Bild volkstümlicher Unterhaltung zu finden, worin wir zwar nicht gerade getäuscht wurden, indes auch nicht viel mehr sahen, als wir in jeder kleinen deutschen Stadt gefunden hätten. Ebenso unterschied sich die Zusammenkunft der Philister am Abend in dem Honoratioren Lokal in Nichts von dem ihrer übrigen deutschen Brüder.

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Bremen 20.11.1881

Gestern Abend hörte ich einen interessanten Vortrag. Nicht unangenehm war es mir, dass ich durch denselben an dem Familientage der Albers verhindert wurde. Ich wohne demselben weniger gern bei als dem der Adami. Warum ist schwer zu sagen. Die Interessen beider Herren, von Senator Pauli und Herrn Fritze liegen mir zu fern. Zudem habe ich würdige Männer ganz gern, kann aber kein Wohlgefallen an gekünstelter Würde finden.

Geographischen Gesellschaft

In der geographischen Gesellschaft, deren Vorträge auch Martin als Mitglied der Union beiwohnen kann, sprach ein Herr Klutschak, über die Schwattkasche Expedition nach dem Eismeer von Nordamerika. Der Zweck des Unternehmens, Reste der Franklinschen Expedition zu finden, war nur in sofern erfüllt worden, als diese nordamerikanische Mission noch einige Skelette u. Überreste von Booten hatten entdecken können. Der Erfolg der Reise war auch ein ganz anderer. Zum ersten Male hatten dort gebildete Menschen als Eskimo gelebt, und zwar mit gutem Erfolg. Fast ein Jahr lang hatten sie sich von Fleisch der Renntiere, Fischen und Vögeln genährt, an denen kein Mangel gewesen war. Wie die Eingeborenen lebten sie in Hütten von Schnee und Eis, da Holz nicht zu beschaffen ist. Selbst die Schlitten der Eingeborenen sind aus Eis. Das Thermometer ist auf – 46° Th. gesunken.

Von besonderem Interesse war für mich dasjenige, was der Reisende über die Religion der Eskimos erzählte. Sie verehren nur einen Gott, den sie irgendwo im Norden wohnend denken. Von ihm existieren keine Bilder. Ihre übrigen religiösen Vorstellungen bezeichnete Kl. als krassen Aberglauben, der sich besonders an die Leichen der Menschen knüpft. Vor ihrer Berührung hätten die Eskimos großes Bedenken. Dieses sprach sich besonders darin aus, dass ein Eingeborener, der sonst den Reisenden in Allem zu Willen gewesen war, durch Nichts hatte dazu gebracht werden können, ihnen einen Eskimoschädel auszuliefern. Nur durch Diebstahl waren sie schließlich in den Besitz eines solchen gekommen: nach meinem Dafürhalten ein großer Fehlgriff. Warum die religiösen Vorurteile der Menschen verletzen! Und nun wundert man sich vielleicht noch darüber, wenn ein so verletzter Volksstamm in Zukunft den Reisenden feindlich begegnet.

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Bremen 05.12.1881

Blumenthal

Gestern hatte ich wieder einmal die Freude zu predigen, und zwar vor einer wohl zahlreicheren Gemeinde, als je. Pastor Müller aus Blumenthal bat mich um Vertretung während seiner Abwesenheit. Mir war es lieb ihm helfen zu können; und auch meinetwegen war mir die Gelegenheit zur Übung für meinen künftigen Beruf erwünscht. Wenn ich jedes Mal bei einer Predigt recht unzufrieden mit dem, was ich geben kann, bin, so wächst mir doch auch mit jedem Mal ein wenig der Mut; immer fester wird mir das Bewusstsein, dass speziell der Predigerberuf mir von Gott bestimmt ist.

In dem Pfarrhause von Blumenthal, wo ich den Sonnabend Abend und Nacht zubrachte, habe ich ein herzliches Familienleben gefunden, das von Glauben durchdrungen jeden liebreich aufnimmt, der ihres Sinnes ist. Hoffentlich habe ich die neuen Bekannten nicht zum letzten Male gesehen. Nach dem Gottesdienst machte ich einen Spaziergang im Garten des Konsul Wätjen. Der Reichtum, den dieses Besitztum repräsentiert, geht über meinen Horizont; er zählt nach vielen Millionen. Um so lieblicher klingt, was man von seinem Besitzer Gutes erzählt. Er hat nicht nur die schöne neue Kirche und Pfarrwohnung auf eigene Kosten erbaut, das ganze Dorf weiß seine Wohltätigkeit zu rühmen. In allem Glück vergisst er das memento mori nicht.

In dem weiten Garten liegt abseits mit freiem Blicke nach der Weser ein Rundteil, mit Lebensbäumen eingefasst. Hier will der Besitzer begraben sein. Einige Steine mit biblischen Inschriften bezeichnen schon jetzt die Bestimmung des Platzes. Heute Abend wohnte ich einer Versammlung von Missionsfreunden resp. -freundinnen bei. Die letzteren waren bei weitem in der Mehrzahl, wie überhaupt meistens in den hier gehaltenen Vorträgen. Die von evangelischen Verein vor Kurzem im Casino veranstaltete Versammlung mit Vortrag eines Pastor Führer aus Pommern machte eine schöne Ausnahme.

Der heutige Abend hatte sein ganz besonderes und ungewöhnliches Gepräge dadurch, dass die Gesellschaft neben religiöser Anregung auch den Zweck der Unterhaltung hatte. An langen Tischen sitzen da die befreundeten Familien, resp. die Pastoren bei einander. Junge Mädchen aus der Gesellschaft reichen Tee und Butterbrote herum, welche das Abendbrot ersetzen. Nach einiger Zeit beginnt mit Gesang eine Reihe von Ansprachen und Aussprachen, welche immer von einem Vers unterbrochen die Versammlung bis zehn Uhr bei einander hielten.

Dass hier mancherlei Anregung für christliche Betätigung auf dem Gebiete der Mission gegeben wird, ist selbstverständlich. Vietor, der die Klagen eines ostfriesischen Pastoren hörte, erzählte, wie er auf dem Lande Missionssinn geweckt habe. Er hielt ein Bohnenfest d.h. er lud die Gemeindeglieder ein, mit Bohnen in sein Haus zu kommen. Hier wurden diese in ein gemeinschaftliches Fass geschnitten und dann zu Gunsten der Mission verkauft. Wie einfach und doch völlig zweckentsprechend! Dass man die Leute anregt zu geben von dem, was sie haben, und dabei sie zugleich tätig sein lässt, ist sicher ein geeigneter Weg die Herzen für die Sache zu erwärmen. Es wurde auch heute darüber gesprochen, dass es nötig sei den Missionssinn bei Kindern anzuregen. Trotz des guten Willens sind meine Versuche in der Religionsstunde in dieser Beziehung sehr schwach, bis jetzt wenigstens scheinbar noch von keinem Erfolg begleitet. Vielleicht hilft Gott ohne mein Wissen!

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Bremen 07.12.1881

Heute Abend zerstreute sich die ganze Familie in die vier Richtungen der Windhose. Frau Albers fuhr zum Theater; Wilhelm ging tanzen. Es ist Bremer Sitte wie in andrer Beziehung die Kinder als Erwachsene zu behandeln, so auch in dieser Leibesübung; ob dabei wirklich der vorgeschützte Zweck erreicht wird, dass die Tanzstunde ein kindliches Vergnügen ist, bleibe dahingestellt.

Kunst

Konsul Albers wollte sich heute seinen Turnabend nicht rauben, darum ging ich allein zum Vortrag in die "Union". auch Martin war da, obschon er den von Albers zur Verfügung gestellten Platz nicht benutzte. Es wurde ein Vortrag über Albrecht Dürer gehalten von einem Herrn Altenhofer aus Gera oder einem andern der Raubstaaten. Er sprach ein gutes Deutsch, was das Monotone seiner Sprache nicht zur Empfindung gelangen ließ. Dürer wurde besonders als Künstler des reformatorischen Geistes behandelt, der seine Zeit beseelte. Dieses gehe nicht nur aus seiner realistischen Darstellungsweise hervor, sondern vor Allem auch aus den behandelten Stoffen. Die Italiener stellten mit Vorliebe des Heiland Geburt und Kindheit dar, indem sie dabei seine Mutter vergöttlichten; dagegen finden wir bei ihnen nie die Leidensgeschichte; Leonardo lässt sie im Abendmahl nur ahnen.

Die deutsche Kunst aber, und sie ist im Anfang fast ausschließlich eine religiöse, legt den Schwerpunkt in die Darstellung der Leidensgeschichte. In Übereinstimmung mit der Reformation, mit welcher Dürer zeitlich zusammenfällt legt sie das Hauptgewicht auf Jesus den Gekreuzigten. Zugleich kommt in der deutschen Kunst, speziell in Dürer das rein Menschliche der religiösen Darstellungen zur Geltung. So besonderen in dem Titelbilde zur "Passion". Denselben realistischen Geist erkennen wir in Dürers lebensvoller Darstellung der Zustände seiner Zeit. Wie anziehend ist die naive Verwendung deutscher oder italienischer Landschaften, Nürnberger Trachten und Gewohnheiten in biblischen Bildern.

Für mich fiel der Vortrag in eine sehr passende Zeit, da ich seit einigen Wochen in der Kunsthalle wöchentlich einen Abend der Besichtigung von Kupferstichen und Holzschnitten widme. Bisher lagen gerade die Blätter von Dürer vor. Ich sitze dort mit einen Richter Carstens und Dr. Segelken, einem arroganten Renomisten, wie mir scheint und von Andern über ihn geurteilt wird. Obgleich ich also in dieser Gesellschaft wenig Fesselndes habe, besichtige ich doch gerne die reiche und wertvolle Sammlung. Sie ist, wie ich höre, im Wesentlichen das Geschenk zweier ehemaliger Bürger, Klugkist und Albers, des Großvaters von Konsul Albers

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Bremen 01.01.1882

Leipzig

Es liegt eine freudenreiche und hoffentlich auch segensreiche Woche hinter mir. Ich habe mit den Eltern und nach einander mit allen Geschwistern in dem Elternhause Weihnachten gefeiert. Am 23. Dezember fuhr ich zum ersten Male wieder den Weg zurück, den ich vor 1¼ Jahren hierher gekommen war. So reich ich auf der Herreise an hoffnungsreicher Erwartung war, eben so mächtig war jetzt die Sehnsucht nach dem Vaterhause und die Gewissheit dort freudige Tage zu erleben. Ich habe mich nicht darin getäuscht. Schon Leipzig bot mir Beides genug. Ich besuchte die Familie Ledig, die mich in alter Freundschaft aufnahm; auch Herrn Methes liebenswürdige Zuvorkommendheit fand ich bei einem Besuche im Geschäfte wieder. Den alten guten Franz Möller hatte ich mir bestellt und verbrachte mit ihm und später Richard Kühn (sie sind beide im Prediger-Kolleg) einige heitere Stunden. Die Unterhaltung über Theologie zeigte mir, dass ich dem Anschein nach nicht hinter ihnen zurückstehe. Nur glaubte ich zu bemerken, dass meine Predigtweise sich zu wenig an Regeln bindet, sodass ich beim Eintritt in das Seminar mir noch werde manches Federnrupfen gefallen lassen müssen. Den Abend beschloss ich auf der Kneipe der alten Nicolaitaner, deren alte Jungendheit trotzt überstandener und noch zu überstehender Examina noch lange nicht erloschen ist. Schon die Länge der Zeit, die wir dort verkneipten, und die für den andern Tag einen recht bitteren Nachgeschmack zurückließ, zeigte diese.

Weihnachten in Lorenzkirch

Wie verabredet traf ich am Morgen des 24. Dezember in Leipzig mit Bruder Fürchtegott zusammen und reiste mit ihm nach Hause. Wir kamen gerade noch zu rechter Zeit, um in Gemeinschaft mit Fritz, Theodor u. Sophichen unsern Christbaum zu schmücken. Bald kam der Abend und wir feierten mit Haus und Hof, also die ganze Familie auch im weitesten Sinne, das liebe freudenbringende Weihnachtsfest. Dass Arndt, Georg und Marie nicht zugegen waren empfanden wir dadurch weniger schwer, dass wir sie im Laufe der nächsten Tage erwarten durften. Martin konnte leider gar nicht kommen, da er hier durch Arbeit gebunden war, und der Weg nach der kurzen Zeit seines Hier seins zu weit und kostspielig. Er hat, wie ich damals schon wusste, im Kreise der Familie Freybe, bei der er wohnt, einen angenehmen Abend verbracht. Die Tage mit Eltern und Geschwistern zusammen waren für uns Alle Freudentage, zumal da einige unter uns sich mehrere Jahr lang nicht gesehen hatten. Was ist Briefeschreiben gegen eine Stunde mündlicher Aussprache. Der Brief ist für die Kenntnis ferner Lebensverhältnisse noch nicht einmal das, was das Bild von Menschen oder Gegenden für den Entfernten ist. Wie Manches scheint man sich im Briefe auszusprechen, weil man sich oft scheut es überhaupt zu Papier zu bringen. So habe auch ich die Verhältnisse im Elternhause teilweise anders gefunden, als ich nach mehr als einjährigen Briefen erwartet hatte. Es war im Grunde seit 1½ Jahren Nichts anders geworden. Die beiden ältesten Brüder sind noch ebenso unglücklich, als damals; freilich jeder in besonderer Weise. Arndt erschien in äußerer Beziehung sehr heruntergekommen, das Haar in langen Strähnen bis zur Schulter tragend, mit vielen wunderlichen Ideen im Kopfe. Ich fürchte, der Vater hat recht, wenn er unsers ältesten Bruders Zukunft in das Armenhaus verlegt; aber ich hoffe zuversichtlich, dass er wenigstens an seinem inneren Menschen nicht zu Grunde geht; zu meiner großen Freude hörte ich, dass er jetzt von seinem kürzlichen Gehalte monatlich 25 Mark zur Deckung alter Schulden verwendet. Georg dagegen lebt noch wüst in den Tag hinein, macht wahrscheinlich immer noch neue Schulden, und geht dadurch auf glänzendem Wege auch einem Abgrunde entgegen. Lenchen steht wie eine schon welkende Rose am Wege. Georg genießt mit Egoismus den letzten Duft, er wird sie aber stehen lassen und welken. Ihr Verhältnis ist unglücklich, und wird es bleiben, wenn an Georg nicht ein Wunder geschieht. Seine oberflächlichen Zärtlichkeiten gegen uns Alle haben uns stundenweise Wirkung guter Art, wir wissen, was dahinter liegt. Ach könnte er für Lenchen und uns geändert und gebessert werden!

Fritz und Fürchtegott, so sehr sie in Lebensweise und Anschauungen verschieden sind, haben gemeinsam einen guten Freund in dem ersten und eifrigen Pflichtgefühl, das beide beseelt. Wie schwer mag es Fritz oft geworden sein, als Offizier sich zu beschränken, und bescheidener zu leben, als seine Kameraden. Die festeste Abneigung gegen allen Leichtsinn wurzelt sicherlich nicht zum geringsten Teile in der geradezu zärtlichen Liebe gegen die Eltern, die Alles vermeidet, was ihnen missfallen kann, und Alles entschuldigt. Da kann ein Jeder von uns Andern von Bruder Fritz Vieles lernen. Fürchtegott ist bieder und treu in seiner Arbeit; um darin geistig nicht zu sehr beschränkt zu werden, müssen wir Brüder durch unseren Verkehr zu wirken suchen. – Theodor hat sich in seinem Wesen sehr verändert seit ich ihn nicht gesehen; er ist arbeitsamer und stiller geworden. Sein geistiges Leben ist lebendig, dabei aber nicht frei von spekulativen Ideen, die ihn vielleicht einmal auf verkehrte Bahnen bringen. Sophichen endlich wächst munter auf, bleibt aber ihrer Erziehung entsprechend zu sehr Naturkind; wie sich ihre Bildung gestalten soll, bleibt der nächsten Zukunft überlassen.

Die lieben Eltern sind geistig und körperlich sich in den letzten Jahren gleich geblieben. Dass neben mancher Freude die unser weiteres Fortkommen ihnen bringt, auch viele Schmerzen sie noch täglich bewegen, ist ihnen auf dem Gesicht zu lesen; und das wird so bald nicht anders werden, ein Sporn für uns ihnen nur Freude zu machen. Ich wollte zum Weihnachtsfest den Vater eine Erleichterung schaffen, und bot ihm deshalb an am 2. Weihnachtstage für ihn zu predigen. Ich habe es getan, aber mit schwerem Herzen. Dass mir das Herz vorher so leicht war, das hat es mir schwer gemacht. Mochte es die Zerstreuung durch die Unterhaltung mit den Brüdern sein, als ich meine Predigt memorierte, war mir das Herz so kalt und leer, dass ich mit bittern Tränen Gott um mehr Weihe für die ernste Arbeit bitten musste. Es war ein trüber Blick auch in die Zukunft meiner Arbeit.

Nachdem Marie einen Tag im Elternhause gewesen war, fuhren ich mit Vater, Fritz und Fürchtegott auf einen Tag nach Skäßchen. Wir fanden Alles beim Alten, nur dass die beiden kleinen Neffen, Albert und Fritz vulgo Friedel, jetzt den Mittelpunkt des Hauses bilden. – Meine Rückreise hierher führte mich über Berlin, dass ich in den zwölf Stunden meines dortigen Aufenthalts so weit möglich kennen zu lernen suchte. Es hat im Ganzen einen großartigen zugleich aber unruhigen Eindruck auf mich gemacht; letzteres glaubte ich auch auf der Hinreise in Leipzig zu bemerken; es liegt aber noch mehr an mir.

Die Neujahrsnacht verbrachte ich unter denkbar schlechten Verhältnissen auf der Eisenbahn. Ich fuhr in der ersten Stunde des Jahres von Berlin ab, und hatte von Stendal bis hierher eine schreckliche Reisegesellschaft in einer Anzahl betrunkener Matrosen, die in der schmutzigsten Weise, spotteten, sangen und sprachen. Durch ihr wüstes Treiben ging auch mir die Weite der Stunden verloren. Nun bin ich wieder im alten Geleise. Gestern Abend (1. Januar) wurde der Christbaum nochmals entzündet, wobei ich nochmals beschenkt wurde; Vater, Mutter und Kind hatten meiner nicht vergessen. Aber leider gewann ich den Eindruck, dass sie schenkten, wie geschenkt zu haben, wenigstens die Eltern. Sie haben durch Prof. Motz unpassender Weise schon eine Andeutung erhalten, dass ich im Laufe des Jahres abgehen will; vielleicht haben sie, und das geschähe nicht ohne Recht es übel genommen, dass ich Anderen eher davon gesprochen, als ihnen selbst.

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Bremen 10.01.1882

Die Tage, die ich jetzt einförmig verlebe, bieten wenig, was der Aufzeichnung wert ist. Aber es sind Tage der Arbeit und darum sind sie wertvoll. Ich habe wieder eine Predigt in Blumenthal übernommen, an der ich neben den Unterrichtsstunden arbeite. Wie bedaure ich es, dass ich diese meine eigentliche Berufsarbeit nebenher verrichten muss, und leider tue ich es nicht bloß der Zeit nach, sondern auch in der Gesinnung. O dass mir dieses Mal die Kälte und innere Leere erspart bliebe, die ich vor der Predigt in der heimatlichen Kirche empfand. Ich halte mich so gern an den Gedanken, dass mein inneres, religiöses Leben inniger, wärmer wird, wenn ich ihm einmal ganz werde leben können. Vielleicht ist es nicht recht, wenn ich für den Mangel daran meine jetzige Stellung geltend mache, so oft ich mit mir selbst darüber zu richten anfange. Aber ich bin noch so ungewiss, ob ich allein im Predigtamte meine Bestimmung erfüllen werde. Immer steht mir als Lockung vor Augen, dass ich vielleicht in einem wissenschaftlichen Zweige eine Lebensaufgabe finden soll. Immer aber hoffe ich, dass Gott mich vor Gleichgültigkeit bewahren wird. Was mich auf jener Seite lockt, ist doch klein gegen das, was ich hier verlieren könnte. Gewiss ist es nicht gut, das ich jetzt ohne sichere Direktion in die Zukunft schaue; es wird besser werden, wenn ich erst mit mir und Konsul Albers über den endgültigen Schluss meiner hiesigen Tätigkeit ins Klare gekommen bin. Bis dahin muss mir die vorliegende Arbeit Lebenszweck sein.

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Bremen 19.01.1882

Ich schreibe jetzt seltener; und doch ist wohl kein Grund dazu vorhanden, als der, dass ich eine Art von Furcht habe beim Schreiben mich selbst zu sehen. Es fehlt mir das Ebenmass der Gedanken. Das musste ich zu meinem Leidwesen vorige Woche erfahren wo ich an einer Predigt arbeitete, die ich in Blumenthal halten wollte. Zweimal wählte ich einen Text, zweimal verwarf ich ihn nach längerer Bearbeitung. Mir war, als könnte ich nicht zu den Herzen der Menschen reden; wohl weil mein Herz zu wenig seine Sprache zur Geltung brachte. Woher das kam, weiß ich nicht. Ich musste schließlich eine alte Predigt mit kleinen Veränderungen und Zusätzen wieder aufwärmen.

Seitdem quälen mich wieder Gedanken von einer akademischen Laufbahn; ob erst in Folge jenes Missgeschickes, oder ob sie es schon verschuldeten, dessen kann ich mich nicht entsinnen. Jedenfalls trübt mir dieser innere Widerstreit all die kleinen Freuden, die ich sonst hatte. Das Pfarrhaus in Blumenthal erschien mir dieses Mal weniger lieblich und heimelig, als das erste Mal; bei Vietor gefiel es mir am Sonntag Abend zum Familientag weniger, an Missions-Inspektor Zahn fand ich viel auszusetzen, während ich sonst für ihn schwärmte; in der Singakademie und ihrer Aufführung des "Odysseus von Bruch" kam es mir nicht so unterhaltend vor, wie bisher.

Kurz überall Missstimmung, die mir schon den Tag langsamer vergehen lässt, als sonst Wochen. Öfter als je denke ich jetzt der Zeit, die mich wieder nach Leipzig führen soll, und doch sind die häuslichen Verhältnisse jetzt hier recht angenehme, von keiner Missstimmung bedrückt, die ich auch um so mehr fern zu halten suche, da ich bald den ersten Schritt zum Abschied zu machen gedenke. Andererseits ist auch das Zukunftsbild in Leipzig nicht ohne dunkle Farben. Es wird mich keine kleine Überwindung kosten mich den unfreieren Verhältnissen der heimatlichen Kirche zu fügen. Dieselben sind mir gestern Abend erst wieder recht zum Bewusstsein gekommen. Pastor Schramm vom Dom hielt einen Vortrag über "das Verhältnis der modernen Orthodoxie zur Römischen Kirche". Er hatte Recht, dass in den geschlossenen Landeskirchen ein starkes Gewicht auf die Zugehörigkeit zur Landeskirche gelegt wird; dass man in gewisser Weise das Bekenntnis und das Halten daran an die Stelle des "neuen Lebens" stellt. Der Unterschied zwischen einer bekenntnismäßigen und einer pietistischen Orthodoxie, zu welcher letzteren die hiesigen Positiven zu rechnen wären, scheint auch mir vorhanden zu sein. Und wenn ich dazu nehme, wie durch die neue sächsische Agende mit ihren teilweise undeutschen Liturgien ein romanisierender Charakter in unsere Kirche gebracht ist, so habe auch ich kleine Bedenken, mich ohne Skrupel wieder in dieses Gefüge einordnen zu lassen. – Aber das muss ich der Zeit aufsparen, wo ich mein Zweites Examen werde bestanden haben. Bis dahin wird mich die Arbeit hoffentlich über fernere innere Fragen und Unruhe wegheben. 

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Bremen 31.01.1882

Blockland

Heute ist ein herrlicher Tag. Ein wenig Nachtfrost und den Tag über Sonnenschein. Das Land umher ist fast noch grün vom Herbste her, und bald wird der Frühling es wieder grünen lassen. Allem Anschein nach sollen wir in diesem Winter gar keinen rechten Frost erleben; nur einmal bin ich mit Wilhelm auf der Pauliner Marsch Schlittschuh gelaufen, da das übergetretene Wasser leicht gefroren war. Da ich für einige Zeit das teure Vergnügen des Reitens aufgegeben habe, fehlt es mir einigermaßen an Bewegung. Heute habe ich sie mir in ausgedehnter Weise durch eine Landpartie geschafft, die ich in Ermangelung aller Gesellschaft allein unternahm. Herr Konsul Albers war am Vormittag nach Hamburg gereist, darum wurde erst um drei Uhr Mittag gegessen und ich hatte drei Stunden Zeit mich zu bewegen. Ich streifte über den Bürgerpark hinaus ins Blockland. Hier fand ich aber zu meiner Überraschung ein großes Überschwemmungsgebiet, welches für gangbare Wege sehr enge Grenzen zog. Im ganzen Umkreise der Niederung streifte der Blick über Wasser, das von den Torfgräben aus die Wiesen überschwemmte, ein etwas trostloses Bild, dessen Einförmigkeit nur selten durch ein höher gelegenes Haus unterbrochen wurde. Für die Bauern mag diese Isolierung ihrer Domizile freilich dadurch einen süßen Beigeschmack bekommen, dass aus dem nassen Elemente der fette Graswuchs hervorgeht, der im Sommer Land und Vieh in gleicher Weise ziert. Unter dem Weidevieh wächst da hin und wieder ein recht kostbares Füllen heran, wie ich schon voriges Jahr bemerkte.

Nun ist der erste Monat dieses Jahres dahin. Mir fällt auf, dass mir jetzt, wohl zum ersten Male in Bremen, die Zeit langsam vergeht. Und doch mühe ich mich, weniger der Zukunft als der Gegenwart zu leben; aber mancher unbeobachtete Augenblick führt mich unbemerkt in Gedanken ein halbes Jahr weiter. Augenblicklich habe ich wenig Grund mit der Gegenwart unzufrieden zu sein. In den letzten Tagen bin ich immer heiter gewesen, gestern sogar den Abend über mehr, als gut war. Ich ging mit Herrn Meier nach der Singakademie noch zu einem Glase Bier, und erhielt dabei unwillkürlich ganz den alten Humor wieder, der mir früher das Dasein oft so leicht machte. Er ist jetzt nicht mehr mein Stammgast; doch weiß ich auch nicht, ob das wünschenswert wäre. Das Leben wird ernster, und mein Stand verlangt mich ernster. Ich soll nächstens den ersten Versuch einer seelsorgerlichen Tätigkeit machen. Ohne besondere Absicht und aus eigenem Antrieb habe ich es wohl schon öfter getan. Aber jetzt, wo es zum ersten Male verlangt wird, bin ich doch selbst gespannt, wie der Versuch ausfallen wird.

Vorigen Sonntag war nämlich hier Familienabend der Geschwister Albers, wobei ich mich recht gut unterhielt. Mit einem Sohne von Herrn Fritze am alten Wall kam ich in ein religiöses Gespräch, wobei ich bemerkte, dass derselbe, wie die Jugend zumeist, zu Ideen des Protestantenvereins neigt. Er selbst ist sich nur der Ungewissheit bewusst, deshalb will er nächsten Sonntag zu mir kommen, um sich religiöse Aufklärung zu holen. Hoffentlich gibt Gott das rechte Wort.

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Bremen 06.02.1882

Geburtstagsfeier

Heute ist hier Familienfest. Frau Konsul Albers feiert ihren Geburtstag; den wievielten weiß ich nicht. Es mag der 43. sein. Ich hatte erst Mittags nach dem Unterricht Gelegenheit ihr meine Glückwünsche auszusprechen. Seitdem gleicht das Haus zwei Stunden lang einem Taubenschlage. Es kommen meist Damen mit Blumenstöcken oder -sträußen; wir werden von denselben einige Tage in Duft leben können. Ich habe mich indessen aus der Gratulanten-Gesellschaft so schnell als möglich in mein Zimmer zurückgezogen, um etwas zu arbeiten. Sicherlich erleide ich dadurch keine Einbusse an geistigem Genuss.

An Arbeit liegt mir augenblicklich eine Predigt für nächsten Sonntag vor; ich werde sie in der Jacobi-Kirche für Pastor Volkmann halten. Auf diese Weise fange ich das neue Jahr passend an, in welches ich vorgestern getreten bin. Es liegen jetzt hinter mir die ersten 25 Jahre. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal so viel erlebe, aber ich weiß, dass die kommenden Jahre ernster Arbeit bestimmt sind. Die Jugendlust muss dem Mannesernste Platz machen. Wenn ich auf die letztvergangene Zeit zurückblicke, gedenke ich mancher traurigen und missmutigen Stunden; aber die Jugendlust und Ausgelassenheit brach doch zuweilen durch. Ich werde diese nun nicht mit Gewalt zurückdrängen, sondern umzuwandeln suchen in die rechte Freude am Leben und an der Arbeit. Mein Ernst soll womöglich Nichts Griesgrämliches an sich haben.

Meinen Geburtstag habe ich in guter Stimmung gefeiert. Hier im Hause wusste Niemand davon. Aber aus der Heimat und von den Geschwistern habe ich liebe Grüsse und Wünsche erhalten. Auch habe ich mit den hiesigen Bekannten einen gemütlichen Abend verlebt. Martin, Vetter Schreyer, Cand. Schöl und Mentzel hatte ich in den Ratskeller geladen, wo wir bis Mitternacht in guter Laune uns durch Trinken und Reden die Zeit verkürzten. Ich spüre die Nachwehen davon noch heute in meinem allzu empfindlichen Magen; und das um so mehr, als ich noch gestern Abend bei dem lieben Vietor zum Familientag war. Ich traf dort außer den gewöhnlichen Verwandten einen Cand. Zeller aus Württemberg, der auf einer theologischen Rundreise durch Europa resp. Deutschland begriffen war.

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Bremen 18.02.1882

Ball

Ich schreibe jetzt seltener in diesem Buche, als sonst; einfach deshalb, weil Nichts im täglichen Leben geschieht, was besonderer Erinnerung wert wäre. Oder sollte ich nicht schreiben, weil ich wünschte, das Erlebte nicht in der Erinnerung wieder zu finden? Jedenfalls ist der äußere Lebenslauf in keiner Weise ungewöhnlich höchstens Mittwoch und Sonnabend etwas dadurch abgekürzt, dass Wilhelm an diesen Tagen des Abends zur Tanzstunde geht. Ich finde nicht, dass sie dem Unterricht irgendwie hinderlich wäre, und notwendig ist sie offenbar, um das aus dem Jungen zu machen, was seine Eltern wünschen, und die hiesigen Verhältnisse fordern. Sie sind freilich der Art, dass ich für meinen Teil auf diesem Boden immer ein exotisches Gewächs bleiben muss. Es ist geradezu lächerlich, wie seicht das glänzende Gesellschaftsleben Bremens ist. Heute habe ich ein probates Beispiel.

Herr und Frau Albers waren gestern Abend zum Ball bei dem Compagnon Herrn Albrecht. Sie fuhren nach acht Uhr, um erst nach Mitternacht zurückzukehren. Schon der Abschied war interessant und lehrreich. Frau Konsul ließ sich in ihrer neuen Toilette von ihrem Jungen, Dienstmädchen und mir bewundern. Freilich musste auch ich mich wundern, aber weniger über die Pracht der ausgezeichneten künstlichen Blumen, als über die Geschmacklosigkeit, mit welcher diese sonst geschmackvolle Frau die Mode mitmachte. Weil alte französische Stoffe Mode sind, trug sie ein Kleid, dessen Muster aus auf- und zugeklappten Fächern bestand. Übrigens hatte sie es gut verstanden, den Schein ihres Alters um 10 – 15 Jahre zurückzuschrauben. Wie ich hörte, hat sie natürlich mit sämtlichen anwesenden Damen getanzt. Ich glaube sogar, dass Großmütter unter den Tanzenden gewesen sind.

Heute Mittag war ich gezwungen Zeuge der Eindrücke zu sein, welche der gestrige Abend bei Beiden zurückgelassen hatte. Dass die Räumlichkeiten in sonderbar reicher Weise mit Blumen geschmückt waren, schien mir noch der wertvollste Eindruck zu sein. Dann aber kamen Lobeserhebungen, wie gewandt dieser oder jener Jüngling getanzt, welche anziehende oder unbedeutende Erscheinung die einzelnen Mädchen abgegeben hatten und allein der Art. Ob Jemand eine geschmackvolle Toilette anhatte oder nicht, war für ihn resp. sie viel bezeichnender, als ob man Etwas Verständiges gesprochen hatte. Dass ich mich in solcher Gesellschaft und bei solchen Tugenden für die Dauer nicht wohl fühlen würde, ist mir klar.

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Bremen 13.03.1882

Der Frühling regt sich schon alle Tage mächtiger. Er zog mich gestern hinaus aufs Land. Ich ging mit Martin und Vetter Schreyer, der in 14 Tagen nach Leipzig zurückkehrt, über die Dörfer, welche zwischen dem Blocklande und der Heide liegen. Sie haben mir noch ebenso wohl gefallen, wie früher. Nicht der Wohlstand allein, der sich in den großen, geräumigen und reinlichen Höfen ausspricht, gibt ihnen den Reiz. Dass sie völlig im Schatten der Bäume liegen, und selbstbewusst auseinander stehen, während die Dörfer Mitteldeutschlands einer furchtsamen, zusammen gescheuchten Herde gleichen – das gefällt mir. Wir sind bei herrlichem Wetter den ganzen Nachmittag durch solche Gartendörfer spaziert. Heute ist immer noch Frühlingswetter, nur etwas Wind. Der Frühling steht vor mir in einem Strauss Veilchen, die durch das Zimmer duften. Wilhelm hat sie mir hergesetzt. Wir gewinnen einander lieber, je länger wir zusammen sind, oder je näher die Zeit der Trennung heranrückt. Ich denke jetzt ernstlich an dieselbe, und habe vor einigen Tagen Herrn Albers zum ersten Male davon Mitteilung gemacht. Es soll im Laufe des Sommers geschehen, einen bestimmten Termin haben wir noch nicht festgesetzt. Ich für meinen Teil habe jetzt keinen Grund ihn zu beeilen, da ich mich augenblicklich hier ganz wohl fühle. Ein allmähliches, inneres Ausreifen wird auch besser für mich sein, als ein schnelles Vorwärtskommen.

Mit Festigkeit aber halte ich Leipzig als nächstes Arbeitsfeld fest, obwohl ich in den letzten Tagen zuweilen daran dachte, dass ich nach des Vaters früheren Gedanken mich in Lorenzkirch für das Zweites Examen vorbereiten könnte. Aber mir entgeht nicht, welche Gefahr mir da droht. Das Landleben mit seinem ruhigen Einfluss soll vielleicht ohne dies an mir noch Gutes wirken, wenn ich Funckes heutigem Rate folge und meine erste Amtszeit auf das Land verlege. Jedenfalls müsste es eine kleine Gemeinde sein. Ob oder wo ich sie finden soll, mag Gott entscheiden.

Ein Brief von der Mutter brachte mir vorgestern die traurige Nachricht, dass der alte Freund Gasch, der im Herbst hier durchreiste, in New-York gestorben ist. Er hat mich in seinem letzten, aus dem Hospital geschriebenen Briefe noch grüssen lassen. Er war zu bedauern, als er lebte; nun ist ihm hoffentlich wohler. Seiner Mutter, welche an den Vater geschrieben hat, will ich nächstens schreiben. Sie wird wohl vergessen haben, dass ich, nach ihrer Meinung wenigstens, ihr gegenüber als Student einmal unpassend gehandelt habe.

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Bremen 18.03.1882

Ein lange gehegter Wunsch ist mir in Erfüllung gegangen; leider hat er eine kleine Enttäuschung gebracht. Vor einigen Tagen war ich zum Abend bei Pastor Funcke eingeladen. Ich hoffte den lieben Mann in seiner Häuslichkeit kennen zu lernen. Die Gesellschaft, die ich bei ihm traf, nahm aber meine Aufmerksamkeit so in Anspruch, dass ich wenig von Funckes Hause und Familie, und noch weniger von ihm selbst hatte. Die Gesellschaft, elegant und liebenswürdig, unterschied sich wenig von denen in unserm Hause. Funckes sonstige Einfachheit war wenig zu spüren; mochte nun das Gebiet, wo wir uns bewegten, das der Frau sein, oder Funcke im engeren Kreise überhaupt ein Anderer als nach außen. Bemerkenswert war mir, dass unter den Anwesenden nur entweder religiös oder geistig hervorragende Leute Bremens sich fanden.

Die letzten Tage habe ich mein Augenmerk auf Matthias Claudius gerichtet. Ich will im Männerverein über ihn vortragen; die Vorbereitung soll auch mir zu gute kommen. So bin ich doch allmählich etwas auf dem Gebiete praktisch-theologischer Arbeit tätig. Ein anderer Weg dazu, den ich vor kurzem versuchte, wird mir wohl verschlossen bleiben. Pastor Leipoldt regte mich an, Etwas für das Bremer Kirchenblatt zu schreiben. Ein Versuch "In Bethanien", worin ich diesen Ort einmal als Stätte der Liebe und Erholung für Jesus, und andrerseits als Leidensschule behandeln wollte, ist nicht zu meiner Befriedigung ausgefallen. Indes ist der Anfang in Leipoldts Händen. Ich beginne, mich sanft von hier zu lösen. In der Tat hält mich wenig hier zurück, da ich merke, dass ich hier wenig innere Förderung mehr finden werde. Besonders ist es der Mangel jeder anregenden jugendlichen Gesellschaft, den ich jetzt besonders empfinde. Offenbar bin ich zum größten Teile selbst daran schuld, dass ich ihn nicht gefunden habe. Denn unter 10.000 Menschen werden doch solche sein, die zum Verkehr geeignet wären. Jetzt aber suche ich auch nicht mehr zu erzwingen, was sich nicht von selbst gegeben hat.

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Bremen 24.03.1882

Soeben habe ich an Frau Gasch nach Leipzig geschrieben in Betreff des Todes meines alten Freundes. Seinem Wunsche gemein habe ich ihr auch einen Besuch noch im Laufe dieses Jahres in Aussicht gestellt. Noch hoffe ich im Sommer nach Leipzig überzusiedeln. Freilich weiß ich über meine Zukunft Nichts Bestimmtes, obgleich ich noch eben erst mit Herrn und Frau Albers über einen Lehrerwechsel gesprochen habe. Dass derselbe im Laufe des Jahres vor sich gehen muss, ist ihnen klar, indes möchte ich nicht zu sehr drängen. Übrigens habe ich augenblicklich auch keine starken Gründe dazu. Dass ich innerlich noch sehr ausreifen muss, fühle ich alle Tage. Dazu braucht es Zeit. Ob freilich die guten Verhältnisse, in denen ich mich hier befinde, nicht eher hindern, als fördern, lasse ich dahingestellt. Augenblicklich suche ich neben der Lehrtätigkeit besonders praktisch zu lernen. Gestern Abend hielt ich im Männerverein einen Vortrag über Matthias Claudius. Die Vorbereitungen waren mir sicher von Nutzen. Montag soll ich Bibelstunde im Jünglingsverein halten. Heutiges Studium sind Lavaters "Physiognomische Fragmente".

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Bremen 04.04.1882

Vor wenig Tagen bekam ich eine unvorhergesehene Arbeit. Ich musste für heute eine Predigt für die Auswanderer vorbereiten. So hatte ich doch glücklich noch eine geistliche Osterarbeit; schon glaubte ich in diesen Ferien einmal nur dem Vergnügen oder Faulsein zu leben. Nun sind noch wenige Tage zu unserm Vierteljahrsschluss. Ich freue mich, dass wir in dem vergangenen Quartal wieder einen guten Schritt vorwärts gekommen sind. Die Prüfung, die wir neulich vor Prof. Motz ablegten, befriedigte mich und schien bei ihm denselben Eindruck zu machen. So kann ich doch vielleicht hoffen, dass meine Arbeit hier gute Früchte getragen hat, obgleich ich je länger ich hier bin, um so mehr einsehe, dass ich zum Lehrer und wohl auch zum Erzieher nicht tauge, zum Lehrer wenigstens nicht in allen Fächern, und zwar zu meinem Leidwesen gerade in Religion nicht, da ich mich hierbei zu wenig in den Standpunkt des unentwickelten religiösen Gemütes versetzen kann. Jetzt tue ich wenigsten Alles, um den Religionsunterricht herzlich zu gestalten. Für diese Stunden brauche ich immer noch die meiste innere Vorbereitung. Als Erzieher, ein Amt, dass ich hier wegen der eigentümlichen Verhältnisse überhaupt nur in geringer Ausdehnung ausüben kann, mache ich vor Allem deswegen noch zu viele Fehler, weil ich an mir selbst noch zu viel zu erziehen habe. Wenn ich einmal darüber werde hinaus sein, dass ich mein äußeres Benehmen ganz von meiner inneren Stimmung unabhängig gestalten kann, dann werde ich vielleicht mit mehr Vorteil erziehen.

Heute habe ich die Bekanntschaft zweier recht lieber Menschen gemacht. Ich hielt den Auswanderer-Gottesdienst (Act. 20,32) in dem Saal der Brüdersozietät und lernte bei dieser Gelegenheit Bruder Elsner und seine Frau kennen, die lange Jahre als Herrnhuter Missionare in Labrador tätig gewesen sind. Es sind bescheidene, nicht weltlich gebildete Leute, welche aber auf den ersten Anblick einen sehr wohltuenden Eindruck machen durch Herzlichkeit und Bescheidenheit. Ich hoffe wieder mit ihnen zusammen zu kommen.

In dieser Woche macht mir die Singakademie viel Arbeit. Es wird für nächsten Freitag (Karfreitag) die Missa Solemnis von Beethoven vorbereitet. Obgleich die Anstrengung der Kehle kein Genuss ist, freue ich mich doch an den Proben und ihrer Übung der Stimme. Dann ist die Musik so interessant, dass sie die Mühe lohnt. Vetter Schreyer ist seit dem 1. April von hier weggegangen, wie es von vorn herein in seinem Plane lag. Wann werde ich ihm folgen? Von den Eltern habe ich bei Gelegenheit von Markus Geburtstag gute Nachricht, habe auch heute schon durch eine Fischsendung von Ebrecht in Geestmünde darauf geantwortet.

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Bremen am Tage vor Ostern 1882

Wir haben gestern einen schönen Karfreitag gehabt. Hier im Hause zwar war von der Bedeutung des Festes wenig zu spüren. Ich bin aber auch nur wenig zu Hause gewesen. Am Morgen war ich nach einem kurzen Aufenthalte auf dem Hamburger Bahnhof, wo ich die Fahrpläne studierte, in der Friedenskirche. Funcke predigte in Anschluss an seine sechs Passionspredigten über die Worte am Kreuze: "Es ist vollbracht." Er nannte diesen letzten Ausspruch des Herrn im Festgeläute und erläuterte es als Feierabendsglocken, da die Arbeit getan sei, und als Siegesglocken. Das Einzige, was mir an der Predigt nicht ganz gefiel, war sein Eingehen auf die Zweifel und falschen Lehren der modernen Aufklärung. Für Schwache kann diese Gelegenheit den Zweifel kennen zu lernen ein Anlass zum Fallen werden. Die welche zu Funcke kommen, sollten, meine ich, einer solchen Apologie nicht bedürfen. Nach der Kirche traf ich Martin und ging mit ihm die übrige Zeit des Vormittags spazieren: über den Werder, an dem reizenden Haus auf der Weide vorüber auf den jenseitigen Weserdeich. Über die Neustadt kehrten wir zurück. Dahin führte uns wieder der Abend.

Wir gingen in die Pauli-Kirche zur Kommunion. Da Schluttig während und bald nach dem Feste im Dom keine Kommunion mehr hatte, wir aber es nicht gern länger hinausschoben, suchte ich in einer andern Kirche Gelegenheit, und fand als Lutheraner Cuntz in Pauli. Wir kamen aber aus Versehen zu Leiboldt, der reformiert ist. Übrigens scheint die ganze Pauli-Gemeinde das Abendmahl in reformierter Weise zu feiern, d. h. sie hat statt der Hostien gewöhnliches Weißbrot, welches in kleine Stückchen vom Pastor zerbrochen und den Kommunikanten in die Hand gegeben wird. Auch den Kelch nehmen die Laien in die Hand und trinken daraus. Die Spendeformeln sind dieselben, wie sie in lutherischen Kirchen in Gebrauch sind. Übrigens wurde die Bedeutung der Feier durchaus nicht abgeschwächt, sondern von Leip. betont, dass Jesus uns seinen Leib und Blut im Abendmahl darböte, so gewiss wir mit eigenen Augen das Brot brechen sähen, und genössen. Auch wurde besonders vor dem unwürdigen Genusse gewarnt. Leiboldt gab das Brot und Cuntz den Kelch.

Missa Solemnis

Am Abend ging ich noch zum Dom, wo die Missa Solemnis von Beethoven aufgeführt wurde. Nach so vielen Vorbereitungen wollte ich nicht die Aufführung vorübergehen lassen, ohne mitzuwirken. Am Abend vorher hatte ich der Hauptprobe mit Cand. Schöl zugehört, ein wahrer Genuss, besonders für den, der das Werk durch längeres Vorüben kennt. Indes entging mir nicht, dass die Musik für ein Kirchenkonzert sehr weltlich ist, und dass Hase Recht hat, welcher sagt: es ist eine zweite Schöpfung, aber es fehlt der siebente Tag. 

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Bremen 09.04.1882

Osterfeuer

Der heutige erste Ostertag war für mich still und trug äußerlich ganz den Charakter eines zeitigen Frühlingstags. Das in diesem Jahre außergewöhnlich weit vorgeschrittene Wachstum wird durch die kalten Nächte zurückgehalten. Es weht seit mehr als acht Tagen der, wie es scheint hier gewöhnliche Ostwind, welcher klaren Himmel aber raue Luft bringt. So habe ich den sonst festgehaltenen Osterspaziergang heute auf eine kurze Abendpromenade mit Martin beschränkt. Derselbe holte mich gegen Abend hier im Hause ab, und führte mich nach seinem Comptoir, wo ich das Warenlager und Anderes besichtigte. Später gingen wir auf der aussichtsreichen Promenade des Osterdeichs spazieren. Der sonst sehr belebte Spaziergang war heute durch den Ostwind ziemlich menschenleer. Wir aber sahen von hier aus ein unerwartetes Schauspiel. Am ganzen Horizonte flammten einige Zeit nach Sonnenuntergang viele Feuersäulen auf. Es war die Osterfeuer, welche von der Landbevölkerung mit großer Freude angezündet werden. Bei ihrem Anblick erinnerte ich mich schon früher in Blumenthal davon gehört zu haben, als ich im vergangenen Januar dort predigte. Schon von Weihnachten an sammelt die Jugend Alles Brennbare. Den Grundstock des Scheiterhaufens bildet der Christbaum, und ihm einen möglichst stattlichen Haufen Reisig und anderes trockene Holz hinzuzufügen, ist der Stolz jeder Dorfjugend. Sie sollen nicht selten einander den gesammelten Vorrat rauben, um am Ostertage das größte Feuer anzünden zu können. Dass gerade der erstorbene Weihnachtsbaum in der Osterflamme emporlodert, ist ein sinniger Zufall bei diesem offenbar aus heidnischer Zeit stammenden Brauche.

Zur Kirche bin ich heute nur mehr aus Lernbegier als aus Erbauung gewesen. Und doch hat mich der Gottesdienst in der katholischen Kirche, die ich besuchte, auch erbaut, wenigstens sicher mehr, als ich bei Schwalb gefunden hätte, zu dem ich auch zuweilen Studien halber gehe. Ich hörte heute Messe und Predigt. Beide waren sehr gut besucht. Dass mit der Messe eine außergewöhnlich reiche Musik verbunden war, wird nicht der Grund gewesen sein. Sonst wäre die Predigt leerer gewesen. Auch heute hat der katholische Gottesdienst einen günstigen Eindruck auf mich gemacht. Nicht dass mir verborgen geblieben wäre, wie viele Besucher nur ganz äußerlich bei der Sache sind, oder wie störend es sein muss, wenn während der Ausführung der Messe der Klingelbeutel durch die Kirche wimmert. Die Zusammensetzung des Publikums vor Allem ließ mich bedenken, dass den Katholiken ein festeres Band mit seiner Kirche verknüpft, als den Protestanten. Ich sah außer Soldaten und Menschen in sehr niedriger Kleidung auch Schauspielerinnen dort, eine Erscheinung, die wir in unsern Kirchen wohl vergeblich suchen dürfen. Auch wie Mütter ihre kleinen Kinder zum Gottesdienst führen, und fromm sein lehren, mag es auch nur äußerliche Zucht sein, gefiel mir. Die Predigt stand, wie ich dieses schon früher her bemerkte, nur in sehr losem Zusammenhange mit dem Text. Sie hätte ebenso gut ohne Text als Osteranrede gehalten werden können.

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Bremen 12.04.1882

Ausflug nach Hamburg

Ich habe zwei sehr genussreiche Tage in Hamburg verlebt. Ich fuhr am 2. Osterfeiertage hinüber und bin gestern Nacht zurückgekehrt. Dass ich in Hamburg Niemand hatte, der mich herumgeführt hätte, habe ich fast gar nicht vermisst. Freund Baedeker hatte sich um die Leitung trefflich verdient gemacht. Ich stand unter seinem fast magisch wirkenden Einflusse. Das spürte ich schon bei der Ankunft in dem nordischen Venedig. Ich hatte mir vorgenommen den Hafen nicht am Festtage, sondern in der Wochenarbeit anzusehen. Aber Baedeker hatte auch bei mir Recht, wenn er sagt, dass des Fremden Schritte sich zuerst nach dem Hafen richten. Was man da sieht, ist freilich anziehend genug. Diese Menge von Schiffen aller Art und Genüsse macht das Bild überaus mannigfaltig. Da liegen friedlich in langen Reihen neben einander Dampf- und Segelschiffe: der Ostindienfahrer neben dem transatlantischen Dampfer, dort Schiffe, die auf ihrer letzten Fahrt in den ewigen Eis- u. Schneeregionen durch Eisschollen ihre Planken gedrückt fühlten, und daneben das Schiff mit den grün angelaufenen Kupferplatten, die es zum Schutz gegen die Bohrmuscheln in den heißen Gewässern der Südsee und Chinas trägt. Friedlich liegen jetzt alle beieinander und erzählen sich von den Abenteuern und Stürmen, die sie bestanden haben.

Übrigens fand ich trotz des 2. Ostertages nicht absolute Ruhe im Hafen. Schon die Tierwelt, die keinen Festtag feiert, belebte das Bild. Da waren große Schwärme von Seemöwen, die zwischen den Schiffen hin und her flogen, um hier ihre Nahrung zu suchen. Mit gierigem Auge spähten sie ins Wasser herab, wo mein Auge übrigens Nichts erschauen konnte; dann flattern sie ganz nahe an die Oberfläche, und berühren es pfeilschnell mit flüchtigem Kusse. Es ist aber freilich ein Judaskuss, der jedes Mal einen der kleinen Wasserbewohner das Leben kostet. Mit den Möwen um die Wette durchfliegen den Hafen die kleinen Schraubendampfer, welche zu allen Zeiten den Verkehr mit dem jenseits liegenden Harburg, sowie von den einzelnen Teilen des Hafens unterhalten. Ich bestieg erst am zweiten Tage, wo am Ufer und in den Schiffen das regeste Leben herrsche, einen dieser kleinen Kobolde, die mit unglaublicher Gewandtheit die schönsten Kurven beschreiben und sich dem Labyrinth von Schiffen Booten u. dergl. zurecht finden. Da sah ich auch die Brüder dieser kleinen Personendampfer, die eine etwas schwerere Arbeit haben. Sie fuhren die großen Seeschiffe, welche auf diesem engen Raume ihre Glieder gar nicht zu Bewegung brauchen können, in den Hafen herein, oder hier von einem Orte zum andern. Es ist ein wunderlicher Anblick, wenn ein so kleines schwarzes Dampfboot einen Koloss von 10- oder 20facher Dimension hinter sich zieht, und dabei nicht eine Spur von Anstrengung laut werden lässt.

In der 3. Klasse eines Hamburger Auswandererhauses, 1882

Auf dem Hamburg gegenüberliegenden Ufer, welches nun jenseits eines Elbarmes, und darum nicht sehr entfernt liegen, erblickt man große Schiffswerften, wo die mächtigsten Seeschiffe erbaut werden. Vor ihnen im Wasser liegen große Holz- und Eisengerüste, die auf ihrem Rücken der Ausbesserung bedürftige Seeschiffe tragen. Sie haben die Vorrichtung, dass sie im Wasser gesenkt werden können; das betreffende Schiff legt sich dann in eine diesem Zwecke dienende Vertiefung, und wird dann allmählich über Wasser gehoben. Welche Kraft daran notwendig sein mag, einen der großen, eisernen Dampfer so zu heben, kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich sah einen solchen Boten nach drüben an der Landungsbrücke der Hamburg-Amerikanischen-Paketgesellschaft liegen: die Suevia. Sie wurde gerade zur Abreise fertig gemacht. Da kann man stundenlang stehen, und zusehen, wie die unglücklichen Auswanderer kommen und mit Staunen, das ihre Furcht mildert das Haus betrachten, dem sie sich auf Wochen anvertrauen sollen; wie durch die mächtigen Dampfwinden Warenballen, Fässer und Kisten in den Rumpf des Schiffes hinab gelassen werden, der unersättlich zu sein scheint.

Ich habe diesem beständig wechselnden Bilde des Hafens manche Stunde gewidmet, besonders von der günstig gelegenen Elbhöhe, wo die Seewarte steht. Man überblickt von hier den größten Teil des Hafens, und sieht vor Allem die von langer Fahrt ermüdeten Schiffe in die Heimat kehren. Bei einem dieser Ankömmlinge, der im Gegensatz zu seiner schwarzen Dampfvorspann (?) ein weißes oder wenigstens weiß gewesenes Gewand trug, sah ich, wie es durch viele Boote die heranfuhren begrüßt und beglückwünscht wurde. Wie mag das Schiffsvolk sich auf die lange entbehrte Ruhe freuen.

Vom Hafen aus zeigen viele Wasserarme, so genannte Fleete, den Weg in die Mitte der Stadt. Ich wandte mich zuerst nach den bedeutendsten Kirchen, besonders der Nicolaikirche, welche nach dem Kölner Dom den höchsten Turm Deutschlands hat. Ich hoffte bei Beendigung des Morgen-Gottesdienstes das Innere sehen zu können. Doch vergeblich. Ich konnte das Ende nicht abwarten und musste mich mit dem äußeren Eindrucke begnügen. Der ganze Bau besteht aus Backsteinen, die von dem zu den Zierraten (?) verwandten Sandstein sich in der Farbe nicht viel unterscheiden. Die Dimensionen des in allen Teilen vollendeten gotischen Bauwerks sind sehr schön und ebenmäßig, wie mir vorkommt sogar reiner als beim Kölner Dom. Auch ist der Eindruck der oberen Teile des Turmes ein sehr edler, wohl in Folge des dort sehr reich verwendeten Sandsteins. Die unteren Partien dagegen erschienen mir etwas kahl; man erblickt zu viele und große Backsteinflächen.

Die Katharinen-Kirche, die äußerlich nicht so, wie die Nicolaikirche imponiert, konnte ich auch beim Ausgang der Gemeinde mit einem Blicke im Inneren sehen. Sie war recht hübsch. Sonst bietet die innere Stadt nicht viel Bemerkenswertes. Längs der Fleete liegen die großen Packhäuser, die sich wenig von denen in Bremen unterscheiden, die ganzen Strassen tragen das Gepräge einer Großstadt.

Am ersten Tage kümmerte ich mich noch nicht viel um das Leben auf den Strassen, weil es einfach nicht da war. Mehr sah ich am Nord-Ostende der Stadt an dem Alsterbassin. Hier setzte ich mich in den teilweise über dass Wasser gebauten Alsterpavillion, und sah die schöne Welt Hamburgs auf dem Jungferstieg streichen. Unter den Physiognomien fiel mir der sehr stark vertretenen jüdische Typus auf. Nach meinen Eindrücken während der zwei Tage zu ureilen, muss ein Viertel der Hamburger Bevölkerung jüdisch sein. Indes gehören ihnen wohl nicht die feinsten Kreise Hamburgs an; von denen habe ich wenig bemerkt, was ich aber sah, besonders von den Mädchen, macht einen unbedeutenden Eindruck: viel Fleisch, wenig Geist.

In unmittelbarer Nähe des Alsterpavillions fuhren die kleinen Schraubendampfer ab, welche den Verkehr auf den beiden Alsterbassins vermitteln. Ich besah mir diesen schönsten Teil Hamburgs am ersten Tage nur von der Brücke aus, die auf der Grenze zwischen der inneren und äußeren Alster liegt. Kaum eine Minute verging hier, wo nicht ein kleines Dampfboot mit Menschen beladen zu meinen Füssen das dunkle Wasser durchschnitten hätte. Ein drohender Aprilschauer trieb mich indes bald von meinem exponierten Standpunkte. Ich umging ihn glücklich mit seinem Sturm und Schnee, indem ich mich durch ein Frühstück in der Nähe für die Tour des Nachmittags stärkte.

Vom Altonaer Hafen aus, der sich stromabwärts unmittelbar an den Hamburger anschließt, fuhr ich auf einem Raddampfer nach Blankenese. Es fand sich da eine bunte Gesellschaft zusammen, die sich allmählich vor meinen Blicken zusammenfand. Mit mir war ein Pärchen eingestiegen, dessen gegenseitige Aufmerksamkeiten und Zärtlichkeiten bewiesen, dass sie Braut- oder junge Eheleute waren. Bei ihr fand ich im ersten Augenblicke eine so auffällige Ähnlichkeit mit Helene Methe, dass ich sie fast als solche begrüßt hätte. Indes belehrte mich die fremde Stimme bald über meinen Irrtum. Sie ergötzte sich, wie ich, an der einsteigenden Gesellschaft. Besonderen Spaß macht uns ein einziehender Familienvater mit Frau und Kindern, die einen zollpflichtigen Kuchen bei sich führten und deshalb angehalten wurden. Der etwas morose Alte wurde grimmig über die dadurch vielleicht hervorgerufene Verspätung und brachte es auch glücklich so weit, dass das Labsal für den Familienkaffee in Blankenese zurückblieb und so von der Familie getrennt wurde. Einen anderen Unfall hatte ein eingeborner Fischhändler, der einen Korb mit Seezungen an Bord brachte und plötzlich den Boden verlor. Die noch lebenden Fische flossen über das Deck, wo sie sich augenscheinlich der scheinenden Sonne wegen noch weniger wohl befanden, als in ihrem engen Kerker.

Unsere Fahrt ging darauf bei recht heiterem Wetter glücklich von Statten. An vielen großen auch ausländischen Dampfern, welche teilweise ihren roten Flaggenschmuck angelegt hatte, glitten wir durch die Ebbe beschleunigt die Elbe hinab. Der Strom wird immer breiter, da hier die vielen Elbarme sich hier wieder einmal vereinigen. Auf dem linken Ufer blickt man weit hin über flaches fruchtbares Land, während zur Rechten sanfte Höhenzüge das Auge wohltuend berühren. Es lag bei unserer Fahrt der erste grüne Hauch des Frühlings über die Gärten und Gehölze verbreitet. Aus ihnen schimmern hier und da kleine Dörfer und freundliche Landhäuser der reichen Hamburger hervor.

Das ganze rechte Elbufer bis Blankenese ist von solchen teilweise recht geschmackvollen Villen besetzt. In Blankenese angekommen stieg ich mit den meisten der Ankömmlinge zum Süllberg hinauf, wo man einen sehr schönen Überblick über die Elbe hat. Wir sahen sie nun leider bei Ebbe, wo mitten im Strome große Sandflächen zu Tage treten; es konnten also gerade keine Schiffe auslaufen. Indes war der Blick auf die im Nachmittag-Sonnenschein vergoldete Elbmündung auch so lohnend genug. Ich schloss mich hier, um nicht ganz allein zu sein der Familie ohne Kaffeekuchen an. Der Alte war nicht so grimmig, als er aussah und ein Mann von guter Unterhaltung Sein Name, wenn ich nicht irre Bode, er selbst Steuerberater. Außer seiner Frau hatte er einen Sohn und Tochter bei sich, die letztere gut erzogen bis auf den leidigen Berliner Jargon, denn dorther waren sie während der Feiertage nach Hamburg gekommen. Um ihre Gesellschaft zu haben gab ich meinen ursprünglichen Plan auf, einen Teil des Rückwegs zu Fuße zu machen. Wir fuhren gegen Abend mit der Eisenbahn zur Stadt zurück, wo ich den Schluss des Tags im Theater und später in dem sehr angenehmen Restaurant von Ehmke am Gänsemarkt verbrachte.

Nachdem ich am andern Morgen einen Rundgang durch die belebte Stadt gemacht, und von der Elbhöhe und im kleinen Dampfer mich am Hafen satt gesehen hatte, versuchte ich Lenchens Bruder, den Kaufmann Zürn zu treffen; ich war aber vergeblich in seinem Geschäfte, als auch an einem andern Orte, wo ich ihn finden sollte. Nachdem ich mich also allein in einem der guten Weinkeller gestärkt hatte, bestieg ich am Alsterbassin einen Dampfer, der mich an dem Ufer der Außenalster lang nach Uhlenhorst brachte. Das große Wasserbecken welches ganz von Grün und fast allenthalben von Villen umgeben ist, macht einen überaus freundlichen Eindruck. Auch heute, an einem Wochentage wurde es von unzähligen Schiffen belebt. In Uhlenhorst trank ich Kaffe auf einer Garten-Terrasse, die den schönen Blick nach der Stadt zurück offen ließ.

Bald machte ich mich auf den Weg nach Wandsbek, dem Orte der durch Matthias Claudius unsterblich geworden ist. Es möchte zwar auch einem dichterischen Gemüte schwer werden, noch solche Idyllen hier zu schreiben, wie sie einst von Claudius und Voss hier gelebt, und dann von letzterem uns beschrieben sind. Wandsbek trägt durchweg den Charakter eines modernen Villendorfs oder -städtchens. Als Denkmal aus alter Zeit fand ich nur auf dem alten Friedhofe zur Seite der Kirche das gemeinsame Grab von Matthias u. Rebecca Claudius, von zwei Linden beschattet. Auch sein Grab spricht von der Vorliebe des Boten für das Ev. Johannis. Er hat auf seinem schwarzen Kreuze den Spruch Joh. 3, 16. In der Nähe sah ich auch im Wandsbeker Gehölz das 1840 errichtete Denkmal, den an einer Seite behauenen, mit Hut, Stock und Tasche gezierten Denkstein. Von hier führte mich der Weg über eine große Grasfläche zum Rauhen Hause.

Rauhes Haus

Es ist bedauerlich, dass das gute Institut diesen unschönen und unpassenden Namen führt. So weit ich es kennen gelernt habe ist es das Gegenteil von rau, dass der Name auch gar nicht diese Bedeutung hat, sondern nur einen andere Lesart für Ruges Haus, nach dem ursprünglichen Besitzer genannt, ist, wird ja doch immer nur Wenigen bekannt sein. Ich habe einige sehr unterhaltende und lehrreiche Stunden darin zugebracht. Ganz erstaunt war ich über die Art der Anlage des ganzen Instituts. Ich erwartete eine geschlossene, womöglich durch hohe Mauern abgegrenzte Häusermasse zu finden. Statt dessen sah ich auf allen Seiten offene und überhaupt unverschließbare Zugänge. Ich fragte mich nach dem Hause des Vorstehers Pastor Wichern, dem ich aber mich nicht selbst vorstellte, weil der Pförtner mir sagte, dass er sehr beschäftigt sei. Ich ließ darum den Kandidaten rufen, der nach einem bestimmten Plane Fremde zu führen hat.

Gruppenfotomit Johannes Wichern 1883

Eine freudige Überraschung war es für mich in diesem Führer einen Bekannten von der Universität begrüßen zu können. Es war der bei uns in Leipzig durch seinen Fleiß und scharfen Kopf bekannte Engel. Mit ihm machte ich einen Rundgang durch das ganze Institut. Es ist eine Welt im Kleinen. Neben den eigentlichen Instituts- Gebäuden liegen Wirtschaftshäuser, für Landwirtschaft, alle nötigen Handwerksarbeiten, eine Buchdruckerei etc. Das ganze zerfällt in zwei Teile, einen größeren, den das so genannte Institut einnimmt und einen kleineren, wo Knaben jüngeren Alters unter anderer Aufsicht als jene aufwachsen. Im Institut sind auch zum Unterschied von jenen meist Söhne aus den besseren Ständen. Neben diesen beiden Hauptabteilungen sind die Zöglinge in Familien zu 16 geteilt. Eine jede hat einen Vorsteher, "Bruder" genannt. Im Institut sind diese Kandidaten der Theologie, in der andern Abteilung Handwerker oder andere christlich-gesinnte junge Leute. Jeder Kandidat hat in seiner Abteilung noch zwei solche als Helfer. Die Familien wohnen getrennt in einzelnen Häusern, und schlafen auch nur familienweise zusammen unter Aufsicht. Überhaupt geschieht möglichst Alles unter Aufsicht, ohne dass man indes den Schülern dies sehr fühlbar werden lässt.

Besonderes Gewicht legt man darauf, dass jeder Eintretende möglichst vor Berührung mit seiner übeln Vergangenheit bewahrt wird. Es wird jeder Einzelne nur bei seinem Vornamen genannt. Keiner darf Geld oder Wertsachen besitzen. Der Verkehr mit der Außenwelt beschränkt sich auf Spaziergänge, die unter Aufsicht der Kandidaten oder Brüder ausgeführt werden. An Ausreißern soll es zwar nicht fehlen, aber keiner soll lange wegbleiben; selten findet einer den Weg weit hinweg. Der ganze Ton, der unter den Knaben herrscht schien bei meiner flüchtigen Beobachtung ein guter, keineswegs gedrückt zu sein. Man fühlte in Nichts, dass man in einer Strafanstalt war. Die Meisten bleiben etwa zwei Jahre, teils mit, teils ohne Erfolg.

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Bremen 18.04.1882

Blockland und Wümme 

Soeben habe ich des Abends zehn Uhr auf meinem Zimmer noch einen unerwarteten musikalischen Genuss gehabt. In der Nachbarschaft muss allem Anschein nach eine Braut wohnen, der man hier kurz nach der Verlobung ein Abendständchen von der Militärkapelle bringen lässt: eine ganz hübsche Sitte, die weitere Verbreitung verdiente. Wie mag das beglückte Mädchen in Wonne schwimmen, und ihrem Bräutigam, der zum Abend zu Besuch kommt, in die Arme fliegen. Wenn ich jetzt Wagner und weiter heitere Musik höre, so ist der Eindruck bei mir schon ein ganz anderer, wie früher. Sonst empfand ich dabei immer ein Verlangen nach Genuss in einem ausgelassenen Kreise, wo man tanzt und lustig ist. Jetzt höre ich es schon ganz gerne nur von Weitem, wenngleich nicht ohne ein gewisses wehmütiges Gefühl. So stirbt, wie es scheint, allmählich die eine Seite des Gefühlslebens ab. Im Blick auf eine augenblickliche körperliche Indisposition, kann ich damit nur zufrieden sein. Mehr als je habe ich in den letzten Tagen Magenschmerzen gefühlt, ohne indes besondere Veranlassung zu dieser Missstimmung des Leibtyrannen gegeben zu haben. Schwerlich kann ich ihn am Sonntag durch eine Partie über Land verletzt haben, die mir einige recht genussreiche Stunden brachte.

Mit Martin ging ich am Nachmittage von hier durch das Blockland nach dem Wümmedeiche, welcher das ganze bremische Gebiet nach Osten hin abschließt. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Sonne stand klar am Himmel und gab den frischen Wiesen, durch die wir schritten die vollste Beleuchtung. Der grüne Rasenteppich, für welchen das nährende Wasser hier und da noch einen silbernen Untergrund abgab, hatte noch wenige gelbe Blumen als Zierde angelegt. An einem der braunen Torfkanäle entlang kamen wir zu dem am Deiche gelegenen Hause Kusil, wo in der ländlichen Diele uns ein Trunk erfrischte.

Nachdem wir noch die ziemlich umfangreiche Schleusenvorrichtung angesehen hatten, traten wir die Deicherwanderung an. Sie war zwar etwas länger, als wir erwarteten, bot uns aber so viel Neues und Interessantes, dass wir für die Mühe reichlich belohnt wurden. Zu beiden Seiten breitet sich das schönste Weideland aus, dessen saftige Gräser noch teilweise mit dem Fuße im Wasser standen. Im Allgemeinen war indes der Wasserstand wegen des zeitigen, trockenen Frühjahrs ein sehr günstiger. Nur auf der rechten Seite, an der Wümme waren noch größere Flächen unter Wasser; die Hoffnungen der Bauern waren für dieses Jahr ziemlich hoch gespannt. Man nennt diese Bewohner der Deiche friesischer Abkunft eigentlich nicht mit dem selben Rechte wie sonst in unserm Lande Bauern. Denn mit der Bebauung des Landes haben sie wenig zu schaffen. Nur kleine Striche des zeitig trocken gelegten Landes nehmen sie für Sommersaaten unter den Pflug. Ihren Reichtum bilden die Herden, mit welchen sie allerdings Staat machen können. Wir sahen sie zwar bei unserm Spaziergange nicht auf der Weide, sie sind mir aber jederzeit von den Mahlzeiten her in angenehmer Erinnerung.

Die bremische Küche verdankt ihre ausgezeichnete Güte offenbar zum großen Teil dem guten, fetten Material, welches jene Weiden ihr liefern. Aber noch so zeitig im Jahre, wie wir es sahen, war das Land nicht ohne Leben. Die Bauern freilich, welche sonst wohl mit Reinigung der Kanäle und anderen vorbereitenden Arbeiten beschäftigt sind, saßen heute faul in den alten strohgedeckten Häusern. Selbst das schöne Wetter hatte nur wenige ins Freie gelockt, mit denen wir uns gern mehr unterhalten hätten, wenn sie unser Hochdeutsch besser verstanden hätten. So lagen auch die Boote, meist flach gebaut, fast alle am Fuße des Deichs. Jedes Haus hatte mehrere solcher Vehikel, die hier völlig die Stelle der Wagen vertreten.

Die Torfkanäle sind in der Tat den größten Teil des Jahres die einzigen Wege, auf denen sie ihre Erzeugnisse zur Stadt, und ihre Bedürfnisse von da nach Hause bringen können. Besonders interessant sind die Vorrichtung der Schleusen, welche nach Art der Rolljalousinen sich niederdrücken lassen, wenn ein Boot sie passieren will. Eine andere praktische Einrichtung zeigen die Übergangstationen für Fahrzeuge über den großen Deich. Derselbe hat an solchen Stellen einen gemauerten Einschnitt, dessen Sohle aber immer noch mehrere Fuß über dem beiderseitigen Wasserspiegel liegt. In einer solchen Öffnung ist ein Rad mit einer Welle und einem sich aufwindenem Seile angebracht. Indem dieses Seil an das Boot befestigt und aufgewunden wird, zieht es die Wasserequipage über die zu diesem Zwecke aus schlüpfrigem Lehm und Schlamm hergestellte schiefe Ebene in die Höhe und gleitet auf der andern Seite von selbst wieder in das Wasser.

Im Laufe unserer Wanderung trafen wir auch die im vorigen Winter zu trauriger Berühmtheit gekommene Stelle, wo der Deich gebrochen war. Die ganze Stadt kam dadurch in nicht geringe Wassernot, die für die Jugend freilich in sofern eine angenehme Seite hatte, als auf der unabsehbar großen überschwemmten Fläche sich die herrlichste Eisbahn bildete. Der Deichbruch hat auch am Orte der Tat selber großen Schrecken und Besorgnis hervorgerufen. Zu beiden Seiten der Durchbruchstelle stehen Bauernhäuser, die in der größten Gefahr waren weggeschwemmt zu werden. Doch ist noch Alles gut gegangen. Wir sehen auf unserem Wege nur den sehr gut erneuerten Deich und einen noch übrigen, in weitem Bogen gezogenen Hilfsdamm, den man in vorigem Jahre gezogen hat, hauptsächlich gegen die Flut, welche durch Weser und Wümme dort noch deutlich zu spüren ist.

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Bremen 30.04.1882

Nun ist wieder ein Monat vergangen, den ich hier gar nicht mehr zu verleben gedachte; und noch weiß ich heute nicht, wie lange ich in Bremen bleiben werde. Fast wird mir die Ungewissheit zu lange. Denn obwohl ich mich im Augenblicke ganz wohl befinde, denke ich doch gar nicht an eine Vorbereitung zu meinem Examen. Freilich verstreicht die Zeit nicht ungenützt. Ich treibe Missionsgeschichte, und zwar dies mehr als je. In den Vorlesungen von Spurgeon habe ich eine vortreffliche Anleitung gefunden praktisch predigen zu lernen. Außerdem lese ich mit großem Interesse Lavaters physiognomische Fragmente. Ich werde zwar offenbar nie ein Physiognom werden, aber ich hoffe doch, dass mich dieses Buch über die Kenntnis und vor allem das Gedächtnis der Gesichter belehren soll. Es wäre ein großer Gewinn für mich, wenn ich dadurch von der lästigen Vergesslichkeit in Bezug auf gesehene Gesichter frei würde. Meine sonstigen Arbeiten sind mehr Eintagsfliegen, die vielleicht im Ganzen etwas Eindruck zurücklassen, aus denen ich aber besonders in Folge des schlechten Gedächtnisses Einzelkenntnisse schwerlich gewinne. Am meisten nützt mir vielleicht noch das viele Predigt hören an Sonntagen, z.B. heute. Wenn es in der Zeit passt gedenke ich heute noch eine Predigt bei den Baptisten und in der apostolischen Mission zu hören.

Funckes Gottesdienst

Heute früh war ich bei Funcke und in der Katholischen Kirche. Welche Gegensätze. Funcke predigte heute besonders schön über die letzten Verse des 19. Psalm, den er vor acht Tagen schon behandelte. Es war heute nichts an ihm zu bemerken von der Schwäche und Niedergeschlagenheit, die ihn neulich in Folge von Magenleiden ergriffen hatten, als ich bei ihm war. Ich ging mit ihm in seinen Garten längs der Kirche auf und ab, und lies mir von ihm gute Ratschläge und Bücher zu einem theologischen Referat geben, das ich nächstens in der Pastoren-Konferenz zu halten habe. Heute sprach er mit besonderer Wärme, wenn auch in sehr loser Form hauptsächlich über die verborgenen Fehler im 13. von dem 19. Psalm, und zeigte, wie die es gerade wären, an denen wir am schlimmsten leiden. Erkannte Fehler wären immer schon in der Abnahme begriffen. Auch in dieser Predigt gab sich Funcke so menschlich und herzlich, wie ich es oft schon an ihm schätzen gelernt habe.

Katholischer Gottesdienst

Auch aus der Katholischen Kirche bin ich nicht ohne Belehrung gegangen. Es predigte der bedeutendere der beiden Priester, meines Wissens Fideldei mit Namen. Wie ich es schon wiederholt in dieser Kirche erlebte, lag der Predigt kein Text zu Grunde. Ein solcher könnte zwar verlesen worden sein. Ich weiß es nicht, da ich eben nach Anfang der Predigt kam. Jedenfalls wurde nirgends auf ihn Bezug genommen. Es war eine Rede auf den heiligen Joseph, dessen Armut an irdischen Gütern dem Reichtum an himmlischer Freude gegenübergestellt wurde. Das erstere war sicherlich evangelisch. In dem zweiten Teile aber kam zu dem Glücke, dessen sich Joseph als allerheiligster Bräutigam der Mutter Gottes zu erfreuen gehabt hätte, ein mythischer Zug, der jedenfalls unbiblisch war. Joseph soll in den Armen Jesu und seiner Mutter gestorben sein. Die Art, in welcher davon gesprochen wurde, konnte unmöglich eine Ausschmückung des stillen Verschwindens von Joseph in den Evangelien sein. Das Beste an der Predigt war jedenfalls der letzte Teil, der eine sehr lebendige und nachdrückliche Mahnung enthielt: das Glück nicht nur in äußeren Lebensgütern, sondern im Anschauen des Göttlichen und in Gemeinschaft Gottes zu suchen.

Baptistengottesdienst

Eine der Predigten, die ich in Aussicht genommen, habe ich noch gehört. Zu der anderen fehlte die Zeit. Ich ging zu den Baptisten. Der Gottesdienst hat einen recht guten Eindruck auf mich gemacht. Er war so meinen religiösen Anforderungen gemäß, dass ich fast unbegreiflich finde, wie sich diese Gemeinde absondern kann. Ich kam in der Osterthorwallstrasse in ein einfaches, enges Wohnhaus. Einige Frauenzimmer, die vor mir gingen, zeigten mir den Weg. Zwei davon, jüngere Mädchen, gingen den Weg offenbar zum ersten Male, da sie von einer älteren Frau, die ihnen folgte, im Hause dirigiert wurden. Neben ihnen fielen mir sodann noch einige Männer auf, die offenbar auch in der Gesellschaft fremd waren.

Ich fand im Esten Stock ein größeres Zimmer, der ganzen Einrichtung nach religiösen Zwecken dienend. Das Ganze aber macht durchaus nicht einen feierlichen Eindruck. Das verhinderte besonders die Uhr, die über dem Lesepult angebracht stark in die Augen fiel und durch ihr lautes Schlagen störte. Einer der Männer (sie saßen getrennt von den Frauen) besorgte mir zuvorkommend ein Gesangbuch. Es schien für Baptisten-Gemeinden besonders angelegt zu sein und überrascht mich durch eine Fülle wirklich schöner Lieder. Bald begann der Gottesdienst.

Einer der Männer im schwarzen Rock und ohne alles Abzeichen trat an das Pult und kündigte einen Gesang von Spitta an. Er las das, was gesungen werden sollte, erst einmal bis zu Ende vor, wiederholte dann die ersten Strophen und darnach fiel der Chor ein. Zur Stütze des Gesangs war kein Instrument vorhanden, aber eine vorsingende Frau leitete die Melodie so sicher, dass keine Schwankung vorkam. Ich sang indes bald die mir unbekannte Weise in begleitender Stimme mit, zumal auch die um mich stehenden Männer harmonisch die tiefere Stimme anschlugen. Der Mann am Lesepult sang ebenfalls laut mit.

Nach drei Versen verstummte der Gesang, und es folgte eine Verlesung, die sich im Allgemeinen durch guten Vortrag auszeichnete, indes dadurch etwas gestört wurde, dass der Vorleser an einzelnen Stellen ganz kurze, die Aufmerksamkeit wachrufende Bemerkungen einflocht. Es wurde das ganze Kapitel vorgetragen, in welchem Paulus sich vor Agrippa verteidigt. Der Abschnitt war mit gutem Bedacht, und mit besonderer Rücksicht auf die nachfolgende Predigt gewählt. Nachdem die Verlesung zu Ende war betete jener laut, und mit besonderer Hingebung, welche etwas Schwärmerisches hatte. Ausser diesem Umstande fiel mir noch auf, dass der Betende nach einander die einzelnen Personen der Dreieinigkeit anrief. Nach nochmaligem kurzen Gesange folgte die Predigt über das Gleichnis von Sämann, oder richtiger nicht über das ganze Gleichnis, sondern nur wenige Worte desselben. Der Redner nahm zum Thema die religiösen Regungen, wobei er besonders das Wort des Agrippa aus der vorhin angeführten Vorlesung benutze: "es fehlt nicht viel, dass ich ein Christ würde." Er behandelte das Thema in den drei Teilen:

  1. Was sind Regungen des Herzens?

  2. Wie werden sie unterdrückt u.

  3. Welche Folge hat das?

Der Vortrag war sehr verständlich gehalten, recht zu Herzen gehend. Er war bilderreich, wie ich noch keinen gehört. Der Redner suchte offenbar in der Wahl der Vergleiche möglichst trivial (im guten Sinne) zu sein, wobei freilich zuweilen nicht gerade edle Bilder unterliefen, wie: er hat einen Regenmantel angezogen, oder: einen Regenschirm mitgebracht, von einem Menschen, der das Wort Gottes ungenützt an sich abprallen lässt. Der Grundcharakter der Predigt war erwecklich und verständlich. Besonders Wohlgefallen fand ich an der Art, wie Verlesung und Predigt verschmolzen wurden; das ist gewiss eine gute Art den Gottesdienst zu einem harmonischen Ganzen zu machen und zugleich die Aufmerksamkeit auf seine einzelnen Teile zu richten. Auch die gute Art der Vorlesung, die der Gegensatz alles Schematischen war, ist lobend anzuerkennen.

Nach der Predigt wurde noch kurz gesungen, und zum Schluss einige Gebetsworte gesprochen, die in eine Art Doxologie ausgingen. Die Gemeinde blieb darnach noch bei einander. Der Prediger begrüßte Einzelne daraus, während unter den Frauen oder Mädchen einige recht wohllautende Gesänge angestimmt wurden. Ich benutzte die Nähe des Predigers nur noch, um mir von ihm sagen zu lassen, wo ich die Sammlung der Gesänge kaufen könnte. Er versprach mir sie zu besorgen, und ich ließ ihm meine Adresse zurück. Vielleicht komme ich durch ihn wiederholt mit der Gemeinde in Berührung.

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Anmerkungen

Überblick über die Bereiche der Postleitzahlen

Cuntz, Friedrich Philipp Ferdinand

Geboren am 01.04.1831 in Dillenburg D-35, Studium der Theologie in Halle D-06 und Heidelberg D-68, Ordination am 17.12.1854 in Wiesbaden-D65, Pfarrer von 1855 bis 1856 in Altstadt D-57627, 1856 bis 1864 Kaplan in Montabaur D-56410, 1864 bis 1873 Pfarrer in Dausenau D-56132, vom 06.07.1873 bis 12.04.1903 Pfarrer an der Paulikirche in Bremen D-28,  begründete 1881 die Auswanderer-Mission, gestorben am 17.10.1906 in Bremen.

Verheiratet mit Dorothea Ninck, 3 Söhne und 1 Tochter, Foto

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Funcke, Otto Julius

Geboren am 09.03.1836 in Wülfrath D-42489, Studium der Theologie in Halle D-06, Tübingen D-72 und Bonn D-53, von 1860 bis 1867 in Holpe D-51597, von Februar 1868 bis 1872 Inspektor des Vereins für Innere Mission in Bremen D-28, von 1872 bis 16.05.1904 Pfarrer an der Friedenskirche in Bremen D-28, 1897 D. theol. Halle, gestorben am 26.12.1910 in Bremen.

Am 04.04.1870 Gebecke Amalia Meier geheiratet, 2 Söhne und 5 Töchter, Foto

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Leiboldt, Carl Emil August

Geboren am 26.09.1839 in Unterbarmen, Studium der Theologie in Halle, Tübingen und Bonn, Ordination 30.07.1865 in Barmen, Pfarrer in 1865 in Koblenz, 1866 in Engelskirchen, 1869 in Siegburg, vom 01.01.1878 bis 30.04.1909 Pfarrer an der Paulikirche in Bremen.

Am 24.09.1868 Auguste Dicke geheiratet, 3 Söhne und 5 Töchter, Foto

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Lehmkuhlenbusch

Auszug aus "Delmenhorster Stadtbild" von Nils Aschenbeck, Beilage zum Delmenhorster Kreisblatt vom 14.06.96: "Nachdem die Oldenburg-Bremer Bahn 1867 ihren Betrieb aufgenommen hatte, nachdem Delmenhorst also im festen Takt mit der Handelsstadt Bremen verbunden war, entdeckten plötzlich und unvermittelt Bremer Kaufleute das kleine Städtchen an der Delme. Hier, so ihre Meinung, könne man abseits des großstädtischen Getriebes gemütlich und ländlich leben und war doch nicht abgeschnitten von den Bremer Kontoren. An der Oldenburger und an der Wildeshauser Straße entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vier großzügige Anwesen. Der Kaufmann und Konsul Johann Abraham Albers baute 1880 auf dem Lehmkuhlenbusch eine Villa im Stil der Neorenaissance, fast ein neues Delmenhorster Schloss. Die letzten Reste des Albers-Anwesens wurden - mit Ausnahme des verwilderten Parks - erst im vergangenen Jahr abgerissen. Hier, auf dem ehemaligen Grund und Boden eines international tätigen Bremer Kaufmanns soll nun das Hanse-Wissenschafts-Zentrum entstehen."

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Schluttig, Karl Fürchtegott Volkmar

Geboren am 21.08.1843 in Zschorna, Studium der Theologie in Leipzig, Ordination 1869, von 1869 bis 1876 Pfarrer in Detmold,  vom 16.07.1876 bis 31.03.1914 Pfarrer am Petridom in Bremen, gestorben am 15.07.1924 in Bremen.

Am 04.04.1872 Alwine  Caesar geheiratet,  1 Sohn und 1 Tochter, Foto

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Vietor, Cornelius Rudolf I

Geboren am 31.10.1814 in Bremen, Studium der Theologie in Göttingen, Berlin und Bonn. Ordination 1843 in Stade, von 1843 bis 1855 Pfarrer in Blumenthal (luth.), von 1855 bis 30.04.1886 Pfarrer an der Kirche Unser Lieben Frauen in Bremen, 1883 D. theol. Marburg, gestorben am 08.02.1897 in Bremen.

  1. Ehe am 28.05.1844 mit Katharine Noltenius, 2 Söhne und 6 Töchter

  2. Ehe am 14.07.1859 mit Adelheid Luce (1832 - 1865), 3 Söhne und 2 Töchter
    das zweite Kind ist Johann Karl Vietor II (1861 - 1934)  Kaufmann 

  3. Ehe am 28.08.1866 mit Henriette Stachow, 4 Töchter

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Vietor, Johann Karl I

Geboren am 31.12.1810 in Bremen gestorben am 17.01.1870 in Bremen. War ein deutscher Kaufmann und Unternehmer.

  • Auszug aus "Die wirtschaftlichen Interessen bei Gründung der deutschen Kolonien Togo und Kamerun unter besonderer Berücksichtigung des Branntweinhandels" von Harald Paul 1 MB, Seite 5:

    "Die wichtigsten Wegbereiter waren die führenden Köpfe der NMG (Norddeutsche Missionsgesellschaft): die Bremer Kaufmannsfamilie Vietor und der Missionsinspektor Franz Michael Zahn. Die Zusammenarbeit von NMG und der Familie Vietor war im Laufe der Jahre gewachsen. Die Familie war stets im Vorstand der NMG vertreten, unter den Konkurrenten nannte man die Firma Vietor auch die 'Fromme Firma'. Es ergab sich somit ein Bündnis zwischen Mission und Handel. Im Jahre 1886 wurde auf betreiben des Missionsinspektors Zahn – der eine Verweltlichung der NMG ablehnte – die Verbindung von Handel und Mission offiziell beendet und auf Basis einer Arbeitsteilung fortgeführt. Vietor zeigte durch den Verzicht auf Branntweinhandel, dass es sehr wohl möglich war, gute Geschäfte zu machen, ohne Spirituosen nach Afrika zu verschiffen. Bei der Gründung neuer Handelsniederlassungen ging Vietor soweit, seine Partner zu verpflichten, weder Branntwein an Togolesen zu verkaufen, noch selbst zu trinken. Um diesen Standpunkt aufrechtzuerhalten, büßte Vietor bewusst erhebliche Gewinne ein, die seinem Bremer Kollegen Oloff zugute kamen."
     

  • Philipp Schmidt, Stadtmissionar an der St. Pauli-Gemeinde in der Neustadt schreibt in seinen Lebenserinnerungen: "J. K. Vietor, sehr gebefreudig und ein rechter Freund der Berufsarbeiter der Inneren Mission, aber etwas sprunghaft in dem, was er anfasste, war uns eine große Hilfe. Er hatte ein warmes Herz für die Arbeit der Inneren Mission und die Stadtmissionare, die er jedes Jahr mit ihren Familien nach Leuchtenburg einlud, wo er uns in einem Gartenrestaurant königlich bewirtete. Dabei wurden dann auch die Probleme unserer Arbeit besprochen, und wir erhielten von ihm aufmunternde Worte. Da wir Stadtmissionare nur ein geringes Gehalt hatten, schenkte er uns öfter die Fahrkarten, wenn wir größere Reisen vorhatten. Gedenken möchte ich auch noch des Vorstandsmitgliedes Fritz Vietor, der für kurze Zeit Rechnungsführer war. Von ihm hätte die Innere Mission viel erhoffen können, wenn er nicht auf einer Reise bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen wäre."
     

  • ZDF vom 08.11.2005: "Kaum Skandale, nur kleinere Aufstände - Togo galt im Deutschen Reich als das am besten verwaltete und vor allem kostengünstigste Schutzgebiet. Zu dem guten Ruf trug auch das hier ansässige Bremer Unternehmen Vietor bei. Johann Karl Vietor lebte von 1884 bis 1896 in Togo, war ein überzeugter Christ, handelte nicht mit Alkohol und beschäftigte in seinen Faktoreien nur Freiwillige, denen er einen relativ guten Lohn zahlte."
     

  • Im SPIEGEL 3, 2004 heißt es u.a. "Vergebens mahnten liberale Kolonialunternehmer wie der Bremer Handelskaufmann Johann Karl Vietor, das gängige Gerede von der "Faulheit der Neger" sei nichts als "Schwindel" - viele Schwarze weigerten sich lediglich, zu Hungerlöhnen und unter Peitschenhieben auf den Plantagen der Europäer zu schuften. Die Einheimischen, forderte Vietor, sollten nicht als 'Untertanen' behandelt werden, sondern in Deutschlands Kolonien als "unabhängige, selbständige Bauern" leben können." Doch solche Stimmen gingen unter im rassistischen Gedröhn jener Zeit."
     

  • Auszug aus Wiebke Hoffmann "Auswandern und Zurückkehren" zu Johann Karl Vietor.
     

  • Johann Karl Vietor – Wikipedia

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Volkmann, Johann Gustav

Geboren am 25.01.1842 in Bremen, studierte Theologie in Bonn und Berlin, ordiniert am 26.05.1867 in Simmern, Pfarrer von 1869 bis 1879 in Laubenheim und vom 24.08.1879 bis zum 06.07.1913 an der Jacobikirche in Bremen, gestorben am 17.07.1917 in Bremen.

Geheiratet am 07.06.1871 Emmy Forstmann, 1 Tochter, Bild

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Zahn, Franz Michael

Geboren am 03.06.1833 in Moers, studierte Theologie in Erlangen, D. theol. Halle, bis 1862 Pfarrer in Barmen, vom 03.03.1862 bis zu seinem Tod am 15.03.1900 in Bremen Inspektor der Norddeutschen Mission.

Verheiratet mit Anna Crooks, 1 Tochter, Bild

Franz Michael Zahn im Kirchenlexikon

Auszug aus "Die wirtschaftlichen Interessen bei Gründung der deutschen Kolonien Togo und Kamerun unter besonderer Berücksichtigung des Branntweinhandels" von Harald Paul 1 MB, Seite 8:

"Franz Michael Zahn bezog ... öffentlich Stellung gegen die massenhafte Einfuhr von Branntwein und wandte sich gegen Woermann. Zahn äußerte sich in seiner Schrift 'Der überseeische Branntweinhandel' folgendermaßen: 'Er (der Branntwein) ruiniert, wie immer wieder aufs neue unsere Berichte melden müssen, den Neger physisch, intellektuell, moralisch, religiös. Er wird den Neger ermorden.' ... Während die protestantischen Missionen ihren Auftrag zum kulturellen Aufbau der Kolonien durch den Branntweinhandel gefährdet sahen, und sich deshalb u.a. weigerten einen offiziellen Missionsauftrag der Regierung anzunehmen, verhielten sich die katholischen Missionen zurückhaltend und standen im Einklang mit den wirtschaftlichen und politischen Interessen."

Vgl. auch das Zitat oben unter Kaufmann Vietor.

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