"Es wäre Verbrechen, einen Selbstmörder zu unterstützen." So
schrieb eine norwegische Zeitung, als der in der Öffentlichkeit noch kaum
bekannte Konservator am naturwissenschaftlichen Museum in Bergen, Fridtjof
Nansen, den Plan vorlegte, das unbekannte Innere von Grönland auf Schneeschuhen
zu durchqueren. Nansen hatte von der norwegischen Regierung für die geplante
Expedition den bescheidenen Betrag von fünftausend Kronen erbeten. Doch das
Gesuch wurde ohne ernsthafte Prüfung abgelehnt. "Warum soll das norwegische Volk
die kostbare Vergnügungsfahrt bezahlen, die ein Privatmann nach Grönland
unternimmt?" fragte eine der Regierung nahe stehende Zeitung.
Nansen hatte sich schon in jungen Jahren mit den Problemen
der arktischen Forschung beschäftigt. Am 10. Oktober 1861 wurde er auf einem Gut
nahe der Hauptstadt Christinnia, dem heutigen Oslo, geboren. Der Lebenszuschnitt
in seinem Elternhaus war einfach, die Erziehung spartanisch. Den Weg in die
Stadt zur Schule musste er auch im härtesten Winter stets zu Fuß zurücklegen.
Nördlich von Christiania erstreckte sich ein damals noch unwegsames Waldgebiet,
die Nordmark. Sie wird geschildert als eine einsame Welt von engen Tälern und
steilen Höhen, versteckten Wasserspiegeln und brausenden Bächen. Hier verbrachte Nansen in der Jugend mit einem seiner Brüder jeden freien Tag. Sie angelten
Forellen, schliefen in verlassenen Köhlerhütten und empfanden das ganze
Jugendglück eines Robinsonlebens. ,,Ich werde diese Tage nie vergessen. Dort war
Freiheit! Weder Vater noch Mutter, die nach uns riefen, dass wir essen oder
schlafen sollten. Alles verlief, wie wir selbst es wollten. Die Nacht war hell
und lang, der Schlaf war kurz." Schon in der Jugend ein Einzelgänger, erlebte er
hier die Natur in ihrer strengen Schönheit und unbarmherzigen Gewalt. Von
Rousseaus Naturschwärmerei war er ebenso weit entfernt wie sein Zeitgenosse und
Landsmann Knut Hamsun. Als er zwei Jahrzehnte später mit der "Fram" das
Polarmeer durchquerte, hing in seiner Kajüte ein Bild dieses Waldes. "Du ernster
Fichtenwald", schrieb er damals in sein Tagebuch, "der einzige Vertraute des
Kindes, bei dir lernte ich die tiefsten Töne der Natur, ihre Schwermut, ihre
Wildheit. Du gabst der Seele Farbe fürs Leben."
Als Nansen das Abschlussexamen der Schule bestanden hatte,
musste er sich für einen Beruf entscheiden. Die Wahl fiel ihm sehr schwer. Er
wollte Naturwissenschaften studieren, aber zugleich war er ein
leidenschaftlicher Jäger. Wie konnte er seine Berufspläne in Einklang bringen
mit dem Freiluftleben, an das er gewöhnt war? Physik und Chemie, die ihn vor
allem reizten, boten dafür kaum Aussicht. So entschloss er sich zum Studium der
Zoologie, weil er hoffte, dabei noch am meisten den Umgang mit der freien Natur
zu finden.
Unter Robben und Eisbären
Einer seiner Professoren gab ihm den Rat, einen Robbenfänger
auf der Fahrt ins Eismeer zu begleiten, um gleich zu Anfang seines Studiums
einen Einblick in die Lebensbedingungen der arktischen Tierwelt zu erhalten.
Nichts konnte Nansen willkommener sein. Anfang März 1882 trat er auf dem
Robbenjäger "Viking" seine erste Reise in die Polarwelt an. Nach einer Woche
trafen sie auf die ersten Eisschollen und drangen nun Tag für Tag immer tiefer
in die leuchtende Fläche des Treibeises ein. Krachend zersplitterten die
mächtigen Schollen an dem starken Bug des Schiffes. Nansen spürt es sofort: das
ist die Welt, die seinem Wesen entspricht, in der er leben möchte und in der er
glücklich sein wird!
Lange Zeit war nicht eine einzige Robbe zu sehen. Plötzlich
stießen sie auf eine riesige Herde. Zehn Boote wurden ausgeschickt und brachten
reiche Beute zum Schiff zurück. Doch dann fror der "Viking" vor der Küste von
Grönland im Eise fest. Für den Kapitän war das schmerzlich, denn er verlor vier
Wochen der besten Fangzeit. Nansen aber war hoch erfreut. Hatte er bisher nur
die Lebensgewohnheiten der Vögel und die Tierwelt des Meeres untersuchen können,
so fand er hier zum ersten Male Gelegenheit zur Jagd auf Eisbären, die neugierig
das Schiff umkreisten. Nansen ist der leidenschaftlichste unter allen Jägern. Er
scheut sich nicht, bei der Verfolgung eines angeschossenen Bären ins Wasser zu
springen, wenn die Rinnen im Eis zu breit sind. Aber als er dann endlich das
Tier erreicht und mit seiner letzten Patrone erlegt hat, durchzuckt ihn der
Gedanke: "Herrgott, wie gemein, dass ein Stückchen Blei diesem freien Leben in
den endlosen Eisweiten so plötzlich ein Ende setzen kann."
Wenn er Wache hatte und oben am Mast in der Tonne als Ausguck
saß, sah er vor sich im Westen die Küste von Grönland. "Die Gipfel und Gletscher
glitzerten im Tageslicht hinter dem Treibeis. Abends, wenn die Sonne auf ihrer
Rundreise am Himmel sie berührte und Luft wie Wolken hinter ihnen in Brand
steckte, trat ihre wilde Schönheit noch bezaubernder hervor." Gar zu gern hätte
er einen Vorstoß dahin unternommen, aber der Kapitän erlaubte es nicht. Doch
schon jetzt ist ihm klar: Grönland wird das Ziel seiner nächsten Reise in die
Arktis sein!
Als Nansen vom Eismeer zurückkehrte, wurde er als Konservator am Museum in
Bergen angestellt. Mit der Energie, mit der er alle selbstgewählten Aufgaben
anpackte, stürzte er sich auf das Studium der Zoologie. Jahrelang musste er für
seine erste wissenschaftliche Arbeit zahllose Präparate und Schnitte machen, die
er in unermüdlicher Arbeit am Mikroskop untersuchte und zeichnete. Er beklagt
es, nun das Leben eines Stubenhockers führen zu müssen, aber zum Ausgleich tritt
er gleich zwei Turnvereinen bei.
Im Jahre 1885 begab sich Nansen auf eine Studienreise nach
Italien. Mehrere Monate lang arbeitete er an der biologischen Station in Neapel,
die der deutsche Naturforscher Anton Dohrn hier geschaffen hatte. Er schwärmt
mit Freunden auf Ischia und auf den Felsen von Capri, bei Chianti und
Tarantella. "Der geschmeidige nordische Hüne war immer der beste und feurigste
Tänzer", berichtet einer seiner Bekannten aus dieser Zeit. Aber dieser Ausflug
in die Welt des Südens blieb nur eine Episode in seinem Leben, das schon damals
unweigerlich dem Norden, der Polarforschung verschrieben war.
Nansen kehrt nach Bergen zurück und erwirbt im Jahre 1888 mit
einer zoologischen Arbeit den Doktorgrad. So intensiv er sich auch seinen
Studien hingibt, immer findet er noch die Zeit zu wagehalsigen Touren im
Hochgebirge und vor allem für seinen geliebten Sport, das Schneeschuhlaufen.
Nansen war kein Freund der Presse. Zeit seines Lebens konnte
er monatelang ohne die Lektüre von Zeitungen auskommen. Es genügte ihm, die
wichtigsten Tagesneuigkeiten von seinen Freunden zu erfahren. Doch einmal
horchte er auf, als die letzten Zeitungsmeldungen vorgelesen wurden. Nordenskiöld, dem berühmten schwedischen Polarforscher, war es gelungen, von
Westen her eine kurze Strecke in das Hochplateau des grönländischen Inlandeises
vorzudringen, und er hatte dort gutes Skigelände gefunden. Diese Nachricht wurde
für Nonsens Grönlandpläne von entscheidender Bedeutung. "Wie ein Blitz
erleuchtete mich der Gedanke: eine Expedition auf Skiern müsste Grönland von der
Ostküste aus durchdringen! Mein Plan war geboren, wie er später ausgeführt
wurde."
Doch erst vier Jahre danach, als er seine Studien
abgeschlossen hatte, konnte er ernstlich mit den Vorbereitungen beginnen,
überall fand er für seinen Plan höhnische Ablehnung, zum mindesten ernste
Skepsis. An der Westküste Grönlands gab es zahlreiche Siedlungen, auf die man
sich bei einem missglückten Unternehmen zurückziehen konnte. Die Ostküste
dagegen war unwirtlich und fast unbekannt.
"Aber wenns schief geht, wenn Sie nicht durchkommen", hielt
man Nansen vor, "dann fehlt Ihnen ja eine Rückzugslinie!" Doch gerade das war
es, was Nansen wollte: keine Rückzugslinie! Immer, so meinte er, ist man auf
einem solchen Unternehmen in Versuchung, zu früh aufzugeben. Wenn man aber erst
alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, dann hilft nur eines: vorwärts, immer
vorwärts!
Auf Schneeschuhen durch Grönland
Niemals im Leben hat Nansen sich gescheut, ein ernsthaftes
Risiko einzugehen. Aber nie war er leichtsinnig. Mit der größten Umsicht und
Sorgfalt bereitete er seine Expedition vor. Schon längst hatte er alle früheren
Berichte über Forschungsreisen in der Arktis studiert, um die Gründe für ihre
Erfolge oder ihr Versagen zu erforschen. Es war ihm dabei klar geworden, dass
schon der kleinste Fehler in der Ausrüstung über Leben oder Tod der Mannschaft
entscheiden kann. "Ein Nagel oder eine Fuge, die ihren Zweck nicht erfüllen,
können die ganze Expedition aufhalten, ja die allerernstlichsten Folgen nach
sich ziehen. Jede noch so kleine Einzelheit muss gewissenhaft geprüft werden.
Das Ganze erfordert die bedachtsame Überlegung einer langen Reihe von
Bagatellen, von deren Summe aber der Erfolg abhängig ist; es kann schwerlich zu
viel Gewicht darauf gelegt werden. Viele der früheren Expeditionen sind meiner
Ansicht nach zu leicht über diesen Punkt hinweggegangen."
Ursprünglich hatte Nansen vorgehabt, die Schlitten mit dem Proviant und der
sonstigen Ausrüstung von Hunden oder auch von Rentieren ziehen zu lassen. Es
erwies sich aber als unmöglich, wirklich geeignete Tiere in absehbarer Zeit zu
beschaffen. Auch wäre es wohl sehr schwierig gewesen, sie an der Ostküste
Grönlands durch den Treibeisgürtel an Land zu bringen.
So entschloss er sich dazu, allein von Menschenkraft gezogene
Schlitten zu benutzen. Nach seiner Ansicht waren die auf früheren Expeditionen
verwendeten Schlitten meist zu schwer und zu klotzig gebaut, auch viel zu groß. Nansen studiert das Problem genau und entwirft dann ein eigenes Modell. Für
seine Schlitten wurde nur auserlesenes Eschenholz verwendet. Sie waren so leicht
wie möglich, wogen kaum vierzehn Kilogramm bei einer Länge von knapp drei Metern
und bestanden die Probe auf dem schwierigsten Inlandeis vortrefflich. Kein
einziger zerbrach; spätere Polarreisende nahmen sie sich als "Nansenschlitten"
zum Vorbild. Von diesem Modell wurden fünf Stück angefertigt. Jeder sollte von
einem Mann gezogen werden, nur der an der Spitze von zweien, da er den Weg zu
bahnen hatte und es oft nötig war, einen Mann vorauszuschicken, um das Gelinde
zu erkunden.
Nach seinen Angaben wurden ferner zwei kurze, kräftige
Spezialboote gebaut, in denen die Expeditionsteilnehmer von dem Robbenfangschiff
durch die Treibeiszone zur Küste gelangen sollten. Weiter gehörten zur
Ausrüstung ein Zelt und zwei Schlafsäcke aus Rentierfell, jeder mit Raum für
drei Mann. Diese kombinierten Schlafsäcke waren wohl etwas unbequem, weil man
bei jeder Bewegung seines Nachbarn gestört wurde, aber sie boten den
unschätzbaren Vorteil, dass die Schläfer sich gegenseitig wärmten.
Mit großer Sorgfalt wurde der Proviant ausgewählt. Nansen
legte dabei zum Vergleich die Rationen zugrunde, die ein preußischer Soldat bei
strengem Dienst bekam. Konserven in Dosen, so meinte er, wären zwar angenehm und
gesund; aber für eine Expedition wie diese waren sie viel zu schwer, konnten
darum nur in geringen Mengen mitgenommen werden. So entschied er sich im
wesentlichen für Pemmikan, eine auf vielen Polarreisen bewährte Mischung uns
Fleischpulver und Fett. Dazu kamen Schokolade, Butter, schwedisches Knäckebrot, Fleischcakes aus England und Erbswurst aus Görlitz.
Eisern war er in der Ablehnung des Alkohols, der seiner
Meinung nach besonders in der Kälte unbedingt erschlaffend wirkt, die
Körperwärme mindert und die Verdauungstätigkeit stört. Auch den Tabak hält Nansen auf Expeditionen für schädlich. Doch hier ist er milder in seinem Urteil,
weil nun einmal die meisten Männer daran gewöhnt sind. Gegen Kaffee hatte er
keine Bedenken und nahm ihn in der Form von Kaffee-Extrakt mit. Es stellte sich
jedoch bald heraus, dass die gesamte Mannschaft nach dem Genuss des Kaffees
schlecht oder gar nicht schlafen konnte, weil offenbar in diesem Extrakt das
Koffein besonders stark konzentriert war. So verbot er sehr zum Schmerz einiger
Expeditionsteilnehmer den Kaffeegenuss, bis sie in die sichere Nähe der
Westküste gekommen waren. Die Ausrüstung kann auf einer Polarexpedition lebensentscheidend sein, nicht minder aber die Auswahl der Mannschaft. Nansen
konnte nur Leute gebrauchen, die von Kind auf mit dem Leben in Eis und Kälte und
mit dem Schneeschuhlaufen vertraut waren. Obwohl man allgemein der Ansicht war,
dass sein geplantes Unternehmen eine Tollkühnheit sei, stellte sich ihm eine
große Anzahl von Bewerbern zur Verfügung, nicht allein aus Norwegen, sondern
auch aus Dänemark, Frankreich, Holland und England.
Er wählte schließlich drei Norweger: den Seekapitän Otto
Sverdrup, der ihm durch sein ganzes Leben ein treuer Gefährte blieb, den
Leutnant Dietrichson und Kristiansen, einen norwegischen Bauernburschen. Da er
ursprünglich die Absicht hatte, Rentiere mitzunehmen, auch glaubte, aus den
angeborenen Gaben eines Naturvolkes für seine Reise Nutzen ziehen zu können,
hatte er sich durch Freunde aus den Finnmarken zwei Lappen kommen lassen. Als
sie im letzten Augenblick vor der Abreise in Christiania eintrafen, war er
bitter enttäuscht. Der eine war zu jung, der andere zu alt. Beide waren nicht
aus Freude am Abenteuer, sondern des Geldverdienstes wegen gekommen, und sie
gaben offen zu, dass sie große Furcht hätten, ihre Heimat nie mehr wiederzusehen.
Nansen wollte sie am liebsten sofort wieder zurückschicken. Aber nun war es zu
spät. So redete er ihnen gut zu, die Sache sei gar nicht so gefährlich. Im
Verlauf der Reise erwiesen sich die beiden Lappen, Balto und Ravna, als
gutartige und treue Menschen. Aber den eigentlichen Nutzen, den er sich von
ihnen versprochen hatte, konnten sie nicht leisten.
Anfang Juni 1888 ging Nansen mit seinen Gefährten in Island
an Bord des Robbenfängers "Jason", der sie möglichst nahe an die Ostküste
Grönlands bringen sollte. Der Kapitän hatte sich jedoch ausdrücklich
vorbehalten, dass die Interessen des Robbenfanges durch die Pläne der Expedition
keinen Schaden leiden dürften.
Nach acht Tagen tauchten vor ihnen die hohen, zackigen Felsen
von Grönland auf. Für Nansen war es der lockende Blick auf das Land, dem seit
Jahren seine Sehnsucht galt. Der Lappe Balto ist nicht so beglückt über den
ersten Anblick. In seinem Tagebuch, das er während der ganzen Reise führte,
schreibt er: "Der Teil von Grönlands Ostküste, den wir sahen, war nicht schön
und lieblich zu schauen, denn fürchterlich hohe Felsberge ragten wie Kirchtürme
zu den Wolken des Himmels auf, die ihre Gipfel bedeckten."
Die Eisverhältnisse waren jedoch für eine Landung an dieser
Stelle nicht günstig. Dann führte der Robbenfang den "Jason" wieder weit ins
Meer hinaus. Erst einen Monat später, als sie noch einmal nahe der Küste waren,
ergab sich die Gelegenheit, den großen Absprung zu wagen. Nansen hatte von der
Ausgucktonne gesehen, dass der Weg zum Lande nur kurz war und genügend offenes
Wasser zwischen dem Treibeis bot.
Zu Anfang ging alles gut. Das Eis lag lose. Man konnte fast
immer zwischen den Schollen hindurchrudern. Gelegentlich mussten Brechstangen
und Äxte den Weg bahnen. Ein kräftiger Regen setzte ein, aber alle waren
wohlgemut und sprachen schon davon, wann und wo sie am Lande Kaffee kochen
wollten. Doch plötzlich gerieten sie in einen reissenden Malstrom, der die
Schollen aufeinander trieb, so dass sie sich krachend überschlugen. Eine scharfe
Eiskante zerriss eine Planke von Nansens Boot. Schnell wurden beide Fahrzeuge
auf eine Eisscholle gezogen, wo es in kurzer Zeit gelang, den Schaden zu
beheben. Dennoch wurde dieser Aufenthalt für die Expedition zum Verhängnis. Die
Scholle, der sie sich anvertraut hatten, trieb in der reißenden Strömung immer
weiter nach Süden. So blieb ihnen nichts anderes übrig als das Zelt
aufzuschlagen und in die Schlafsäcke zu kriechen, während der "Jason" am
Horizont verschwand. "Ach, wie dumm sind wir gewesen", sagte in diesem
Augenblick der Lappe Ravna zu seinem Landsmann, "dass wir das Schiff verlassen
haben, um hier zu sterben. Es ist keine Aussicht, lebendig davonzukommen. Das
große Meer wird unser Grab werden."
Nansen betrachtete die Dinge weit ruhiger. Doch auch er sah
mit Besorgnis, dass die Gipfel am Eingang des Fjords, wo er an Land gehen
wollte, immer weiter in der Ferne versanken. Am Morgen des übernächsten Tages
erwachten alle durch einen heftigen Stoß. Die Scholle, die etwa dreißig Meter
Durchmesser hatte, war dicht bei dem Zelt geborsten. Schnell waren sie auf den
Beinen, um mit Schlitten und Booten, Zelt und Proviant auf die nächste größere
Eisscholle überzusiedeln. Aber die Gefahr wurde dadurch nicht geringer.
"Inzwischen nähern wir uns der Brandung mehr und mehr, der Lärm wächst, die
Wellen prallen gegen unsere Scholle an und treiben an allen Ecken und Kanten
darüber hin. Die Situation fängt an, kritisch zu werden."
Am nächsten Vormittag waren die beiden Lappen spurlos
verschwunden. Niemand konnte begreifen, wo sie geblieben waren, denn auf der
Eisscholle gab es kaum eine Stelle, wo man sich verstecken konnte. Da bemerkte Nansen, dass über eines der Boote sorgfältig einige Persennings
gebreitet waren. "Ich hob sie leise in die Höhe und sah die beiden Lappen auf
dem Boden des Bootes liegen. Der jüngere, Balto, las dem älteren auf Lappländisch aus dem
Neuen Testament vor. Ohne dass sie es bemerkten, deckte ich die kleine Kirche,
die sie sich eingerichtet hatten, leise wieder zu. Sie hatten das Leben
aufgegeben und bereiteten sich zum Tode vor."
Nansen bereute jetzt, die Lappen mitgenommen zu haben. In ihrer Heimat waren sie
mit allen Gefahren von Eis und Schnee vertraut, aber das Meer war ihnen ein
fremdes und unheimliches Element. Ja, auch ihm selbst, dem immer unverzagten
Führer der Expedition, kommen Todesgedanken. Als am Abend dieses Tages die Sonne
unterging, ließ sie das ersehnte Land im Westen, das Eis und das Meer in
glühenden Farben aufleuchten. Kein Lüftchen regte sich, aber in unmittelbarer
Nähe toste die gefährliche Brandung, und wie ein Schild rollte ihnen die
Meeresfläche entgegen. Da fiel Nansen der Anfang eines alten Liedes ein:
-
"Schön ist das Meer, wenn still es sich wölbt
Blank wie ein Schild ob des Wikingers Grab -".
"Der Gedanke an Untergang bei einem solchen Wetter erscheint uns fast
unglaublich, doch einmal muss es ja sein, und eine schönere Abschiedsstunde kann
man sich wohl kaum wünschen."
Nansen gibt sich keiner Täuschung über die Lage hin. Er weiß:
wenn ihre Scholle in den nächsten Stunden ins offene Meer getrieben wird - und
es sieht ganz danach aus - werden sie alle ihre Kräfte nötig haben. Er schickt
darum alle Mann zum Schlafen in das Zelt, das als einziges von der ganzen
Ausrüstung noch nicht in die Boote gepackt war. Sverdrup, neben Nansen der
Erfahrenste und Ruhigste von allen, übernimmt die erste Wache, um sie im
entscheidenden Augenblick zu wecken. Nach kurzem Schlaf erwachte Nansen und
fühlte, wie die Eisscholle gleich einem Schiff in starkem Seegang auf und ab
wogte. Das Getöse der Brandung war lauter als je zuvor. Er erwartete jeden
Augenblick, dass Sverdrup sie wecken würde. "Deutlich hörte ich seinen
wohlbekannten ruhigen Schritt auf der Scholle zwischen dem Zelt und den Booten.
Es war mir, als sähe ich seine kräftige Gestalt dort unbekümmert hin- und
herwandern, die beiden Hände in den Taschen, ein wenig vornübergebeugt, das
nachdenkliche, unerschütterlich ruhige Gesicht auf die See gerichtet, von Zeit
zu Zeit auf dem Kautabak im Munde priemend, - dann verwirren sich meine
Gedanken, ich schlafe wieder ein."
Als Nansen am nächsten Morgen erwachte, traute er seinen Ohren
nicht. Die Brandung war jetzt nur noch ganz von vernehmbar. Er trat aus dem Zelt
und sah, dass sich am Rande ihrer Scholle große und kleine Eisstücke zu einem
hohen Wall aufgetürmt hatten, an denen sich die Wellen brachen.
Sverdrup erzählte, er sei im Laufe der Nacht mehrmals nahe
daran gewesen, sie alle zu wecken und in die Boote zu rufen. Die Scholle trieb
am äußersten Eisrand. Dicht daneben zogen große Eishügel vorüber, die jeden
Augenblick umstürzen und sie in die Tiefe reißen konnten. Schon hatte er eine
Krampe der Zelttür geöffnet, beschloss aber dann doch, die nächste Sturzsee
abzuwarten. "Mehr Krampen sollte er jedoch nicht öffnen", schreibt Nansen,
"denn
gerade als es am allerschlimmsten aussah und unsere Eisscholle kurz davor war,
in die stärkste Brandung hineingeschleudert zu werden, veränderte sie plötzlich
ihren Kurs und steuerte mit ganz erstaunlicher Schnelligkeit dem Lande zu. Sverdrup sagte, es habe auf ihn den Eindruck gemacht, als würde sie von einer
unsichtbaren Hand gelenkt."
Fast zwei Wochen lang dauerte die Fahrt auf der treibenden
Scholle. Immer wieder versuchte Nansen, zur Küste vorzudringen. Doch das Eis ist
nicht fest genug, um die Boote und Schlitten zu tragen; aber die Schollen liegen
auch zu dicht, als dass man es hätte wagen können hindurchzurudern. Schon
nähern sie sich bedenklich dem Kap Farvel, der Südspitze Grönlands. Doch
plötzlich lockert sich das Eis. Sie sind jetzt der Küste näher als je zuvor.
Hier, wenn überhaupt, musste es gelingen, an Land zu kommen! Nach einigen
Stunden angestrengten Ruderns sind sie aus dem Treibeis heraus und landen auf
einer dicht vor der Küste gelegenen Insel. "Wir sprangen ans Land, wir fühlten
Steine unter den Füßen, wir bestiegen den Berg, wir freuten uns wie Kinder. Ein
Büschel Moos, ein Grashalm, eine Blume erweckten einen Strom von Gefühlen. Die
Lappen liefen sofort in die Berge; lange sahen wir sie nicht wieder."
Während der Fahrt auf der Eisscholle hatten sie sich nur ganz
selten den Luxus einer warmen Mahlzeit geleistet, um den Spiritus für den
Kochapparat zu sparen. Jetzt aber gibt es ein festliches Mahl: heiße Schokolade,
so viel jeder mag, dazu außer den üblichen Rationen noch Haferkeks, Käse und
eingemachte Preiselbeeren. Die Stimmung der ganzen Mannschaft ist glänzend;
selbst die Lappen sind vergnügt.
Viel wertvolle Zeit war verstrichen. Weil dem Robbenjäger
"Jason" der Seehundfang wichtiger war als die Interessen der Expedition, hatten
sie einen kostbaren Monat des kurzen grönländischen Sommers verloren. Die Drift
im Treibeis kostete zwei weitere Wochen und hatte den Proviant, der nur für die
Durchquerung Grönlands bemessen war, trotz äußerster Sparsamkeit erheblich
vermindert. Wäre es nicht klüger, jetzt nach Süden zu gehen, wo man bald eine
menschliche Ansiedlung erreichen konnte, und dort zu überwintern? Doch davon
will Nansen nichts wissen. Nach kurzer Ruhepause gibt er den Befehl, dicht an
der Küste nach Norden zu rudern, um die Stelle zu erreichen, die er als
Ausgangspunkt für die Inlandreise vorgesehen hatte. Es gilt, alle Kräfte auf
dieses Ziel zu richten. "Von nun an lautete die Parole: So wenig Schlaf wie
möglich, so wenig und so schnelles Essen wie möglich, so viel Arbeit wie
möglich."
Die Fahrt nach Norden war mühselig genug, aber doch nicht so
schwierig, wie sie nach den Erfahrungen im Treibeis erwartet hatten. Meist gab
es in Nähe der Küste offenes Wasser. Nur gelegentlich war es nötig, mit den
Bootshaken einen Weg durch die Eisschollen zu bahnen. Nach einigen Tagen
begegnen ihnen zwei Eskimos, die in ihren Kajaks nach Süden paddeln. Bald darauf
treffen sie auf ein ganzes Eskimolager. Der Hügel über der Stelle des Ufers, wo
sie laden wollten, war übersät mit zahllosen Menschen, die sie mit fröhlichem
Geschrei begrüßten. Die Eskimos führten Nansen und seine Leute in das größte der
Zelte und redeten unausgesetzt auf ihre Gäste ein. Leider war eine Konversation
unmöglich, da keiner der Norweger die Eskimosprache beherrschte. So musste die
Zeichensprache aushelfen, mit der man sich schließlich ganz gut verständigte.
Nansen war glücklich, hier zum ersten Male Angehörige dieses
seltsamen Volkes kennenzulernen. Die Atmosphäre in dem Zelt war freilich für
europäische Begriffe nicht angenehm. Es herrschte ein durchdringender Trangeruch,
dazu kamen alle möglichen menschlichen Ausdünstungen, Einige von Nansens
Gefährten zogen sich darum rasch zurück. Er selbst aber gewöhnte sich bald an
diese Umgebung. "Das erste, was meine Aufmerksamkeit erregte, war die Unmenge
nackter Körper, die ich rings umher im Zelt sitzen, liegen und stehen sah. Sie
trugen alle ihr "Natit" (Hausgewand). Dies ist aber so klein, dass ein ungeübtes
Auge nicht sonderlich daran hängen bleibt. Es besteht aus einem schmalen Band um
die Lenden, das sich besonders bei den Frauen auf das allergeringste beschränkt.
Von falscher Scham war hier nicht viel zu entdecken... Dass sogar einzelne von
uns erröteten, als wir sahen, wie ein paar junge Mädchen und Burschen
gleichzeitig mit uns ins Zelt kamen, sich ganz ungeniert entkleideten, diese
Haustracht anlegten und Platz auf der Pritsche nahmen, ist wohl ganz erklärlich,
wenn man bedenkt, wie lange wir jetzt ausschließlich mit Männern zwischen Meer
und Eis verkehrt hatten. Besonders den Lappen schien dieser Anblick sehr
anstößig zu sein."
Nansen fasste sofort eine warme Zuneigung zu diesen Menschen.
Gewiss, ihre äußere Erscheinung entspricht nicht dem klassischen europäischen
Schönheitsideal. Ihre Gesichter sind rund, flach und fett mit breiten
vorstehenden Backenknochen. Aber er findet in ihrem Angesicht etwas so
Freundliches, Zufriedenes und Gemütliches, dass er ihnen unbedingt zugetan sein
muss. Ihre Gastfreundschaft kennt keine Grenzen. Immer sind sie hilfsbereit und
liebenswürdig. Nansen stellt fest: Dies ist ein heiteres, sorgloses Volk, das
mindestens so glücklich lebt wie viele Kulturnationen jenseits des Ozeans.
Nansen bedauert, nicht länger die Lebensgewohnheiten der
Eskimos studieren zu können. Aber die Zeit drängte. Die Expedition musste rasch
weiter nach Norden vordringen. Der Kampf mit dem Treibeis war oft hart. An
manchen Tagen ruderten sie siebzehn Stunden lang. Der Lappe Balto beklagte sich
bitter: Alle Versprechungen, die man ihm und seinem Gefährten in Christiania
gemacht hatte, würden nicht eingehalten. In den letzten drei Wochen hätten sie
nur ein einziges Mal Kaffee bekommen, und die Ernährung sei mehr als kümmerlich
bei so harter Arbeit. Keiner von ihnen sei in den letzten Wochen auch nur ein
einziges Mal satt geworden. Nansen versuchte, ihm klarzumachen, ihrer aller
Leben sei davon abhängig, dass der Proviant bis zur Westküste ausreicht. Aber Balto konnte das nicht begreifen und jammerte darüber, dass ihn das Schicksal
mit Menschen zusammengebracht habe, "die so fremde Sitten und Gebräuche hätten."
Eines Morgens erwachte Nansen von heftigem Jucken im Gesicht.
Das ganze Zelt war voll von Mücken. Er eilte ins Freie, doch auch hier stürzten
sich ganze Schwärme auf sein Gesicht, den Nacken und die Hände. Beim Frühstück
konnten sie keinen Bissen zum Munde führen, der nicht mit einer dicken Schicht
von Mücken belegt war. Sie flüchteten auf den Gipfel eines nahen Berges, aber
auch hier konnten sie ihren Peinigern nicht entgehen. Sie sprangen am Ufer von
Klippe zu Klippe, schlugen um sich mit Tüchern und Mützen, doch auch das brachte
keine Hilfe. Es war ein Wunder, meinte Nansen, dass sie nicht alle den Verstand
verloren. Selbst weit aufs Meer hinaus folgten ihnen die Blutsauger, und erst
ein kräftiger Seewind befreite sie von ihren Verfolgern.
Auf der weiteren Fahrt nach Norden versperrten ihnen jetzt oft mächtige Eisberge
den Weg, die mehrmals in gefährlicher Nähe der Boote mit gewaltigem Getöse
zusammenbrachen. An einer Stelle mussten sie sogar mitten durch die tunnelartige
Höhlung eines Eisberges hindurchrudern, während von oben das Schmelzwasser auf
sie herabrieselte. Einen dieser Berge bestiegen sie. Er war tausend Meter breit,
und sein höchster Punkt erhob sich mehr als siebzig Meter über den
Meeresspiegel. Vom Gipfel hatten sie einen herrlichen Ausblick. Der Berg selbst
glich einer bizarren Alpenlandschaft in Eis. Tief unten schlängelte sich
zwischen den Eisbergen wie ein schmales dunkelblaues Band die enge Rinne, die
sie nun durchfahren mussten, rechts und links von senkrechten Eiswänden
flankiert.
Am 10. August gingen sie nahe dem Umivikfjord an Land, der
Stelle, die Nansen jetzt als Ausgangspunkt der Inlandreise vorgesehen hatte. Zur
Feier des Tages wurde wieder Kaffee gekocht; es war die zweite warme Mahlzeit
seit zwölf Tagen. Jetzt gilt es, die letzten Vorbereitungen für die Eiswanderung
zu treffen. Die Boote werden in einer kleinen Bergschlucht mit dem Kiel nach
oben an einer geschützten Stelle niedergelegt. Sechs Tage nach der Landung, aber
volle zwei Monate später, als Nansens ursprünglicher Plan es vorgesehen hatte,
konnten sie endlich die große Reise in das Inlandeis antreten.
Schon der erste steile Anstieg brachte ihnen harte Arbeit.
Jeder Schlitten war mit mehr als hundert Kilogramm belastet. Meist waren drei
Mann nötig, um ihn auf dem schwierigen Eis vorwärtszubringen. So konnten sie in
den ersten vierundzwanzig Stunden kaum mehr als fünf Kilometer zurücklegen. Da
setzte plötzlich ein heftiger Regen ein, der drei Tage und drei Nächte lang
nicht aufhörte. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als im Zelt in die
Schlafsäcke zu kriechen und auf Vorrat zu schlafen. Wer nicht arbeitet, meinte Nansen, braucht auch nicht viel Nahrung, und gab darum nur einmal am Tag eine
Essensration, aus. .Einige der Gefährten fanden allerdings, dass dies herzlich
wenig war, und behaupteten, ihr Magen schrie vor Hunger."
Endlich hörte der Regen auf. Es wurde erheblich kälter, und
sie konnten weiterwandern. Aber mit der Kälte kam auch ein neues Übel, der
gefürchtete Polardurst, der sie von nun an peinigte. "Trinkwasser gibt es nicht
mehr, wir sollten es erst an der Westküste wiederfinden. Den einzigen Ersatz
dafür mussten wir in dem Wasser suchen, das wir gewannen, indem wir unsere
Feldflaschen aus Blech mit Schnee füllten und sie an der Brust, zuweilen sogar
am bloßen Leibe trugen. Wenige von uns waren jedoch warmblütig und geduldig
genug, um zu warten, bis der Schnee sich in Wasser verwandelte. Man sog lieber
allmählich, als er anfing, ein wenig feucht zu werden, die Wassertropfen ab, und
so konnte denn nichts aus dem Trinkwasser werden."
Zum Durst kam der Hunger. Ihr Hauptnahrungsmittel, das Pemmikan, war durch ein Missverständnis des Fabrikanten ohne Fett angefertigt
worden. So kam es, dass sie alle während der ganzen Reise unter schwerem
Fettmangel litten und niemals das Gefühl hatten, richtig satt zu sein.
Am zehnten Tage ihrer Wanderung brach ein heftiger
Schneesturm aus. Als sie erwachten, fanden sie sich in ihren Schlafsäcken unter
dem Schnee begraben. Trotzdem beschloss Nansen, weiter zu marschieren. Die
Steigung war jetzt so steil, dass auch hier jeder Schlitten von drei Mann
gezogen werden musste. So kamen sie nur langsam vorwärts und waren bald am Ende
ihrer Kraft. Kristiansen, einer der Norweger, der nur selten den Mund auftat,
stöhnte plötzlich: "Großer Gott, dass die Menschen es so schlecht mit sich
meinen können, sich auf so etwas einzulassen."
Nansen wollte das Inlandeis in nordwestlicher Richtung
durchqueren, um bei Kristianshaab die Westküste zu erreichen. Jetzt wurde ihm
klar, dass er dies Ziel vor Ende September nicht erreichen konnte. Dann war aber
gewiss das letzte Schiff nach Kopenhagen schon abgegangen. Er entschloss sich
daher, den Kurs zu ändern und direkt nach Westen in Richtung auf Godthaab zu
wandern. Dieser Weg war kürzer, doch auch hier mussten noch fast fünfhundert
Kilometer bewältigt werden.
Die Kälte machte ihnen jetzt schwer zu schaffen. Das ganze
Gesicht, Bart, Mund und die Umhüllung des Kopfes froren unter ihrem Atem
vollständig zu einem Stück Eis zusammen, so dass sie kaum den Mund öffnen
konnten. Nansens Schleuderthermometer reichte nur bis -30 Grad, das Minimumthermometer bis -37 Grad. Doch jetzt sank die Temperatur noch tiefer, so
dass die Instrumente nutzlos wurden. Erst spätere Berechnungen aus dem Abfall
der Temperatur vom Tag zum Abend ergaben, dass sie in den kältesten Nächten bis
-45 Grad gehabt hatten, und das mitten im September!
Die nächsten Wochen, schreibt Nansen in seinem Tagebuch,
verliefen höchst monoton: Harte Arbeit im Eis von morgens bis spät am Abend,
dann eine sehr knappe Mahlzeit im Zelt und kurze Nachtruhe. So ging es Tag um
Tag. "Wochenlang arbeiteten wir uns durch die endlose, flache Schneewüste
hindurch, ein Tag verging wie der andere, es war dieselbe ermüdende
Einförmigkeit, dieselbe anstrengende Arbeit. Wer es nicht erlebt hat, kann sich
schwerlich einen Begriff davon machen. Alles war flach und weiß, wie ein in
Schnee verwandeltes Meer. Am Tage sahen wir nur dreierlei in dieser Natur: die
Sonne, die Schneefläche und uns selber. Wir nahmen uns aus wie eine
verschwindend kleine schwarze Linie, die durch eine einzige weiße Unendlichkeit
zog, - überall derselbe Gesichtskreis, nirgends ein Punkt, auf dem das Auge
ruhen konnte."
Der 17. September wurde von der Expedition als Fest- und
Gedenktag gefeiert. An diesem Tag hatte sie vor zwei Monaten den Seehundfänger
"Jason" verlassen. Am Morgen wurden Butterrationen verteilt und Tee mit Zucker
am Schlafsack serviert. Als sie an diesem Tage aufbrachen, hörten sie plötzlich
Vogelgezwitscher. Es war ein Schneesperling, der ihren Schlitten umkreiste und
ihnen ein Stück des Weges folgte, ein erster Gruß des Lebens von der Westküste
Grönlands.
Jetzt kam ein starker und ausdauernder Rückenwind auf.
Endlich konnte Nansen seine Lieblingsidee verwirklichen, auf den Schlitten Segel
zu setzen und so über das Eis dem Ziel entgegenzubrausen. Balto, der sich viel
auf seine Schlittenerfahrung zugute tat, erklärte das für völlig verrückt und
sparte nicht mit seinem Spott. Die ersten Versuche waren auch wenig erfolgversprechend. Aber dann fand Nansen ein brauchbares System: je zwei
Schlitten wurden nebeneinander gebunden. Vorn erhielt das Fahrzeug eine
Deichsel, die von einem Mann auf Skiern gesteuert wurde. Als Segel diente der
Zeltboden. So ging es in sausender Fahrt über die Eisfläche dahin. Plötzlich
hörte Nansen, der das erste Schlittenpaar steuerte, hinter sich den Jubelruf: "Land in Sicht!" Am Horizont zeigte sich ein dunkler Berggipfel, daneben ein
kleinerer.
Abends, als es schon dunkel wurde, setzte eine breite Spalte
im Eis ihrer Fahrt ein Ende. Als sie dann am Morgen aus dem Zelt traten, lag vor
ihnen eine herrliche Landschaft: die Täler und Höhen südlich des Godthaab-Fjords.
Alle waren von dem Anblick tief bewegt. Doch der Abstieg war beschwerlicher, als
sie erwartet hatten, und dauerte mehrere Tage. Großer Jubel brach aus, als sie
zum ersten Male auf einen kleinen Teich mit süßem, klarem Wasser trafen. "Wir
warfen uns nieder, legten den Mund an die Wasserfläche und sogen das herrliche
Nass nach Herzenslust ein. Nachdem wir monatelang unsern Durst nur durch
spärliche Wasserrationen hatten befriedigen können, gewährte es uns einen
unbeschreiblichen Genuss, uns endlich einmal satt trinken zu können. Wie viele
Liter wir zu uns nahmen, vermag ich nicht zu sagen, - eine ganz beträchtliche
Anzahl war es aber. Wir konnten förmlich fühlen, wie unsere Mägen anschwollen
und groß und rund wurden."
Am 24. September hatten sie endlich die Grenze des
Inlandeises erreicht und konnten ihren Fuß auf feste Erde setzen. "Worte
vermögen es nicht zu beschreiben, was es für uns alle war, endlich wieder Erde
und Steine unter den Füßen zu fühlen! Eine wahre Wonne durchrieselte uns, als
wir mit unseren Füßen das Heidekraut berührten und der würzige Duft von Gras und
Moos uns in die Nase stieg."
Zwei Tage später standen sie am Ufer des Ameralik-Fjordes.
Die Küste Grönlands ist hier so zerrissen von tief einschneidenden Fjorden, dass
sie kaum hoffen konnten, auf dem Landweg ihr Ziel zu erreichen. Sie beschlossen
daher, ein Boot zu bauen, in dem zunächst nur Nansen und Sverdrup nach Godthaab
rudern sollten.
Das Boot wurde eines der seltsamsten Fahrzeuge, die man je an der Küste
Grönlands gesehen hatte. Als Gerippe dienten Zweige, die Nansen in einem nahen
Weidendickicht schnitt und mit einigen Bambusstöcken verstärkte. Aus dem Boden
des Zeltes nähte Sverdrup die Außenhaut. Am Abend war das Boot fertig. "Es war
zwar kein Prachtexemplar, seine Form hatte große Ähnlichkeit mit der Schale
einer Schildkröte, aber es trug uns beide."
Das Boot hatte nur einen Fehler: es war nicht dicht. An den
Nahtstellen drang Wasser ein, so dass es alle zehn Minuten mit Bechern
ausgeschöpft werden musste. Doch abgesehen davon erwies es sich auch im offenen
Wasser als durchaus seetüchtig. Da oft ein widriger Wind die Fahrt hemmte, kamen
sie nur langsam vorwärts. Erst nach sechs Tagen langten sie in Godthaab an. Eine
große Schar von Eskimos begrüßte sie gleich am Ufer mit fröhlichem Geschrei und
Geplapper. Sie halfen ihnen, ihre Sachen hinaufzutragen, und bestaunten mit
Kennermiene das seltsame Fahrzeug, das die beiden Fremden an ihre Küste gebracht
hatte. Von dem ersten Europäer, den sie trafen, einem jungen Dänen, erfuhr Nansen, dass das letzte Schiff Godthaab schon verlassen hatte. Sie mussten sich
also damit abfinden, den Winter über hier zu bleiben.
Die Kameraden vom Ameralik-Fjord wurden nach Godthaab geholt
und von den wenigen Europäern gastfreundlich aufgenommen. Für Nansens Gefährten,
die sich nach ihren Familien sehnten, war die Verzögerung der Heimreise ein
schwerer Schlag. Er selbst war nicht unglücklich darüber, denn so bekam er
Gelegenheit, mehr als ein halbes Jahr lang das Leben der Eskimos zu studieren. "Ich lebe das Leben dieses Volkes, esse ihre Speisen, lerne ihre Leckerbissen
schätzen wie rohen Speck, rohe Heilbutthaut, wintergefrorene Krähenbeeren mit
ranzigem Speck usw. Ich schwatze mit ihnen im Kajak, fische, schieße, gehe mit
ihnen auf die Jagd, kurz es wird mir klar, dass es nicht ganz unmöglich für
einen Europäer ist, ein Eskimo zu werden, wenn ihm nur die nötige Zeit dafür
gelassen wird. Unwillkürlich fühlt man sich wohl in der Gesellschaft dieser
Menschen. Ihr unschuldiges, sorgloses Wesen, ihre anspruchslose Zufriedenheit
und Güte wirken ansteckend und vertreiben allen Missmut, alles unruhige Sehnen."
Als endlich die Abschiedsstunde gekommen war, wurde selbst Nansen wehmütig. "Nicht ohne Trauer schieden wir on dem Ort und dem Volk, bei
dem wir uns so unsagbar befunden hatten." Am Tage vor der Abreise sagte einer nlm«r grönländischen Freunde zu ihm: "Nun kehrst du zurück in die große Welt,
von der du zu uns gekommen bist. Du triffst dort viel Neues und wirst uns
vielleicht bald vergessen. Aber wir können dich niemals vergessen." - Doch auch Nansen hat seine Eskimofreunde nicht vergessen. In seinem großen Reisewerk "In
Nacht und Eis" und in dem Buch "Eskimoleben" hat er ihnen ein bleibendes Denkmal
gesetzt. Und mit dem Grönländer, der ihm das Kajakrudern beigebracht hatte,
blieb er zeitlebens in Verbindung.
Mitte April kam das Schiff, das sie nach Europa bringen
sollte. Fünf Wochen später waren sie in Kopenhagen. Schon hier wurde ihnen ein
triumphaler Empfang zuteil. Es gab Festreden und Festessen ohne Ende. Nansen
weiß, auch das gehört zu den Strapazen, die ein berühmter Weltreisender, und das
war er jetzt mit einem Schlage geworden, erdulden muss. Aber kaum erträglich
fand er die Qualen, "welche eine gewisse Spezies der Menschheit, die sich
Interviewer nennt, einem armen Burschen, der sich keines Verbrechens bewusst
ist, verursachen kann... Es war keine Kleinigkeit, Grönland zu durchqueren, aber
es ist mein bitterer Ernst, wenn ich sage, dass es in dieser Beziehung noch weit
schlimmer ist, in die Heimat zurückzukehren."
Ende Mai, ein Jahr, nachdem sie Island verlassen hatten,
wurden sie im Christiania-Fjord an einem strahlenden Frühlingstag von Hunderten
von Seglern und Dampfschiffen begrüßt. Die Ufer, die Brücken, der Festungswall
waren schwarz von Menschen, die ihnen entgegenjubelten. Selbst der Lappe Ravna
konnte sich dem Eindruck dieses festlichen Empfanges nicht entziehen. "Ist es
nicht hübsch", fragte ihn Dietrichson, "mit allen den Menschen, Ravna?" -
"Ja,
sehr hübsch", sagte Ravna, "wenn es nur alles Rentiere wären."
Nansens Grönlanddurchquerung wurde von der Welt zunächst als
sportliche Sensation gefeiert, als die kühne Tat eines Mannes, der wieder ein
Stück von dem Schleier gelüftet hatte, der auch damals noch immer weite Teile
der Erde bedeckte. Erst später wurden die wissenschaftlichen Ergebnisse der
Reise bekannt.
Noch Nordenskiöld war der Meinung, weite Gebiete im Inneren
von Grönland seien eisfrei. Nansen stellte fest, dass diese größte Insel der
Erde unter einer gewaltigen Eisdecke begraben liegt und man hier
Lebensbedingungen und Eisverhältnisse studieren kann, wie sie wohl ganz ähnlich
zur Eiszeit in Nordeuropa und im nördlichen Amerika geherrscht haben. Nansens
Beobachtungen auf dem Inlandeis und den Gletschern Grönlands führten daher zu
wichtigen Erkenntnissen für die Eiszeitforschung in beiden Kontinenten.
Seine Reise brachte weiter die Entdeckung, dass es neben dem
schon lange bekannten Kältepol bei Werchochansk in Ostsibirien auf der
nördlichen Halbkugel noch einen zweiten gab, das Innere von Grönland, das mit
seinen extrem niedrigen Temperaturen für Klima und Witterungsverlauf eines
großen Teiles unserer Hemisphäre von entscheidender Bedeutung ist. Und
schließlich hat Nansen der Technik des Reisens in arktischen Gebieten ganz neue
Wege gewiesen, indem er zum ersten Mal systematisch den Schneeschuh in den
Dienst der geographischen Forschung stellte.
Mit der "Fram" ins Polarmeer
Wenige Monate nach der Rückkehr aus Grönland verlobte sich
Nansen mit Eva Sars, einer jungen Sängerin. Schon im Herbst heirateten sie. Die
Hochzeitsreise führte sie auf einer Vortragstournee nach Hamburg, London und
Paris, dann nach Stockholm, wo er aus der Hand des schwedischen Königs die Vega-Medaille entgegennahm, Skandinaviens höchste Auszeichnung für Verdienste um
die geographische Forschung.
Nansen gewöhnte seine junge Frau rasch an gewagte Skitouren
im Hochgebirge. Zum Jahresende wollten sie einen anderthalb tausend Meter hohen
Berg besteigen. Sie waren am Morgen etwas spät aufgestanden, und als sie
schließlich nach sieben Stunden den Gipfel erreicht hatten, brach die Dämmerung
herein. Der Proviant, den sie hier verzehrten, Molkenkäse und Pemmikan,
schmeckte Eva nicht so gut wie ihrem Mann, der von Grönland her nicht verwöhnt
war. Der Abstieg war schwierig und gefährlich. Mitten in der Nacht trafen sie
auf einen Küsterhof im Tal. Kaum saß die junge Frau auf einem Stuhl, da schlief
sie auch schon ein. Erst als das Essen kam und sie an dem Duft, der ihr in die
Nase stieg, merkte, dass es nicht wieder Käse und Pemmikan war, erwachte sie. "Das Bübchen, das du da bei dir hast, ist aber ordentlich müde", sagte der
Küster. Als er hörte, dass das "Bübchen" in Skihosen und Skiweste Nansens Frau
war, konnte er sich gar nicht darüber beruhigen, dass ein Mann, ein jung
verheirateter Mann, ausgerechnet in der Neujahrsnacht seine Frau über eine der
schwierigsten Gebirgsstrecken schleppt. Doch Nansen war anderer Meinung: "Es ist
ganz gut, sich zwischendurch mal tüchtig abzurackern, damit man es nachher gut
haben kann. Wer keine Kälte gekostet hat, weiß nicht, was Wärme ist."
Die Fahrt auf dem Robbenfänger "Viking" hatte Nansen zum
ersten Male mit dem Eismeer bekannt gemacht. Die Durchquerung Grönlands rückte
ihn in die vorderste Linie der Polarforscher seiner Zeit. Jetzt glaubte er,
Erfahrung genug zu besitzen, um auch das höchste Ziel angehen zu können: den
Pol. Schon bei der Verlobung hatte er seiner Braut gesagt: "Aber zum Nordpol
muss ich!"
Den entscheidenden Anstoß zu seinem Reiseplan gaben ihm eine
ölgetränkte Matrosenhose, eine Proviantliste und ein handschriftliches
Bootsverzeichnis, die an der Küste Grönlands angespült worden waren. Sie
stammten von der Jeanetteexpedition, die ausgezogen war, um der vermeintlich
verschollenen "Vega" Nordenskiölds Hilfe zu bringen. Während aber die "Vega"
schon längst wieder glücklich in der Heimat angekommen war, versank die "Jeanette" im Juni 1881 nördlich von den Neusibirischen Inseln, nachdem sie fast
zwei Jahre lang eingefroren war und einen heroischen Kampf gegen die
Eispressungen geführt hatte. Nur dreizehn von den dreiunddreißig Teilnehmern der
Expedition kehrten zurück.
Die Gegenstände der "Jeanette", die man an der Küste
Grönlands gefunden hatte, mussten nach Nansens Meinung von einer Eisströmung
durch das Polarmeer getrieben worden sein, die dicht am Nordpol vorbeiführte.
Sie waren drei Jahre unterwegs gewesen. Sofort war ihm klar, dass er hier den
Ansatzpunkt für seine große Expedition suchen musste. Jetzt legte er der
wissenschaftlichen Welt den Plan für seine Polfahrt vor: "Wenn wir auf die
Kräfte in der Natur selbst achten und mit ihnen und nicht gegen sie zu arbeiten
suchen, werden wir am leichtesten den Weg zum Pol finden... Wir müssen
untersuchen, ob es nicht einen Strom gibt, mit dem wir arbeiten können.
Gewichtige Gründe sprechen dafür, dass es einen solchen Strom gibt." Als
treibende Kraft dieser Strömung sah er vor allem die Riesenströme Sibiriens an,
die gewaltige Wassermassen in das Polarmeer ergießen.
Nansen beschloss, ein Schiff bauen zu lassen, so klein und so
stark wie möglich. Es sollte gerade groß genug sein, um Kohlenvorrat, Ausrüstung
und Proviant für etwa zwölf Mann auf fünf Jahre zu fassen. Das Wichtigste und
entscheidend Neue war, dem Schiff eine Form zu geben, dass es nicht wie die "Jeanette" von den Eispressungen zerdrückt, sondern durch seine schrägen
Seitenwände und abgerundeten Formen in die Höhe gehoben wurde, gleichsam auf dem
Eis reiten konnte. In dem norwegischen Schiffsbaumeister Colin Archer fand er
den Mann, der auf alle seine Anregungen und Konstruktionsvorschläge
verständnisvoll einging.
Trotz vieler ablehnender Stimmen, die sich vor allem im
Ausland gegen seinen Plan erhoben hatten und das Unternehmen als Tollkühnheit
bezeichneten, fand Nansen bei der norwegischen Regierung tatkräftige
Unterstützung. Das Storting bewilligte ihm zweihundertachtzigtausend Kronen.
Damit waren fast zwei Drittel der vorgesehenen Kosten gedeckt. Eine private
Spendenliste, an deren Spitze der König stand, beschaffte den Rest. Im Oktober
1892 lief das Schiff vom Stapel. In der Öffentlichkeit hatte man viel darüber
gerätselt, welchen Namen es wohl tragen werde. Nansens Frau vollzog die Taufe
und nannte es "Fram", das heißt "Vorwärts".
Als Schiffskapitän, darüber gab es für Nansen keinen Zweifel,
kam nur Sverdrup in Frage, der auf der Grönlandfahrt in allen Gefahren bewährte
Mann. Die Wahl der übrigen Expeditionsteilnehmer war schwierig. Aus vielen
Ländern liefen Bewerbungen ein. Nansen entschloss sich, nur Norweger
mitzunehmen. Nach sorgsamer Prüfung hatte er schließlich zwölf Mann beisammen.
Für die wissenschaftlichen Beobachtungen wurde der Marineleutnant Scott-Hansen
verpflichtet, als Arzt der Kandidat der Medizin Henrik Blessing. Steuermann der
"Fram" wurde der auf vielen Nordlandfahrten bewährte Jacobsen. Der
Reserveleutnant Johansen, der Nansen später auf der Wanderung über das Polareis
begleiten sollte, hatte sich so für den Expeditionsplan begeistert, dass «r
bereit war, selbst den Posten eines Heizers zu übernehmen, um nur mitzukommen.
Der Auswahl des Proviants wandte Nansen auch diesmal wieder
besondere Sorgfalt zu. Vor allem galt es bei einer so langen Reise, der Gefahr
des Skorbuts vorzubeugen. Er studiert und prüft alle Erfahrungen, die frühere
Polarreisende gemacht hatten. Da es jetzt nicht nötig war, wie auf der
Grönlandfahrt mit dem Gewicht zu geizen, wählte er vorwiegend Büchsenkonserven:
Fleisch, Fisch und Gemüse, Trockenkartoffeln und Obst, Konfitüren und Marmelade.
- Für sehr wichtig hielt Nansen auf einer solchen Reise eine gute Bibliothek.
Mehrere Verleger und andere Freunde der Expedition hatten ihm sechshundert
Bücher zur Verfügung gestellt, die von der ganzen Mannschaft eifrig benutzt
wurden.
Das Schiff, in dem alle diese Dinge verstaut werden sollten,
war inzwischen auch im Innenausbau fertig geworden. Es war in der Wasserlinie
fünfunddreißig Meter lang und gut zehn Meter breit. In der Mitte des
Hinterschiffs lag der gemeinschaftliche Speise- und Tagesraum. Er war umgeben
von vier Einbett- und zwei Vierbettkabinen. Decken, Fußböden und Seitenwände
waren durch viele Schichten wärmeisolierenden Materials abgedichtet. Höchst
modern für eine Polarexpedition zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die
elektrische Beleuchtung aller Schiffsräume.
Nansen war sich der Verantwortung bewusst, die er als Führer
der Expedition für das Leben aller Teilnehmer zu tragen hatte. Nichts durfte dem
Zufall überlassen bleiben. In den letzten Wochen vor der Abreise lag er nachts
oft stundenlang wach und überdachte, was etwa an der Ausrüstung noch fehlte.
Immer wieder machte er Licht und notierte dies und jenes, bis ihm endlich seine
Frau zurief: "Kannst du denn nie schlafen, du Mensch?"
Endlich war der Tag der Abreise gekommen, der Johannistag des
Jahres 1893. "Grau und traurig brach er herein. Nun hieß es Abschied nehmen,
unwiderruflichen Abschied. Die Tür schloss sich hinter mir. Einsam ging ich zum
letzten Mal durch den Garten zum Strand hinab, wo an der Bucht das kleine
Motorboot der "Fram" unbarmherzig wartete. Hinter mir lag alles, was ich im
Leben lieb hatte. Was lag vor mir? Und wie lange Jahre mögen vergehen, ehe ich
alles wiedersehen werde? Was hätte ich in diesem Augenblick nicht darum gegeben,
umkehren zu können. Oben am Fenster saß Liv, mein Töchterchen, und klatschte in
die Händchen. Glückliches Kind, du ahnst noch nicht, wie wunderbar verwickelt
und wechselvoll das Leben ist."
Nansen besteigt die "Fram". Die letzten Menschen, die zum
Abschiednehmen gekommen sind, gehen an Land. Dann lichtet das Schiff den Anker
und wendet den Bug zum Ausgang des Fjords, vorbei an Nansens Heim. "Durch das
Fernrohr sah ich eine weiße Gestalt schimmern, auf der Bank unter dem
Fichtenbaum. - Das war der schwerste Augenblick der ganzen Fahrt."
Schon in den ersten Tagen packt sie ein toller Sturm. Selbst
Nansen wird seekrank. Es stellte sich heraus, dass die "Fram" überlastet war.
Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Der letzte norwegische Hafen, den
sie anliefen, war Vardö, schon jenseits des Nordkaps gelegen. Trotz der späten
Abendstunde begrüßte sie eine wimmelnde Menschenmenge mit der Nationalhymne: "Ja, wir lieben dieses Land". Die Fahrt der
"Fram" war zu einer Sache der ganzen
Nation geworden.
Ihr nächstes Ziel war Chabarowa, eine kleine Ansiedlung von
Russen und Samojeden an der Jugarstraße. Hier erwartete sie ein Russe mit
vierunddreißig Eskimohunden. Es waren wilde und rauflustige Tiere. Sie wurden
auf dem Vorderdeck festgebunden und machten lange Zeit einen ohrenzerreissenden
Lärm, bis sie sich endlich an ihre neue Umgebung gewöhnt hatten.
Die "Fram" war auf Sicherheit im Eis, nicht auf
Geschwindigkeit gebaut. Acht Seemeilen in der Stunde war das Höchste, was sie
bei ruhiger See schaffen konnte. Nansen drängte daher auf rasche Weiterfahrt, um
noch vor Einbruch des Winters bis zu den Neusibirischen Inseln zu kommen und
dort so weit wie möglich nach Norden vorzustoßen. Am 20. September erreichten
sie den Eisrand, ziemlich genau an der von Nansen vorgesehenen Stelle. Fünf Tage
später waren sie fest im Eis eingefroren.
Jetzt begann die Drift der "Fram" durch das Polarmeer, die
als eine der denkwürdigsten Unternehmungen in die Geschichte der arktischen
Forschung eingehen sollte. Schon bald kam die Nacht, die gefürchtete Polarnacht.
Alle Vorbereitungen wurden getroffen. Auf dem Vorderdeck wurde ein Windmotor
errichtet, der die Dynamomaschine für die elektrische Beleuchtung antreiben
sollte.
Scott-Hansen begann mit den wissenschaftlichen Beobachtungen.
Weit ab von der "Fram" wurde eine Schneehütte für die magnetischen Messungen
errichtet, damit das Eisen des Schiffes nicht auf die empfindliche Magnetnadel
einwirken konnte. Die meteorologischen Beobachtungen wurden alle vier Stunden
vorgenommen. Die Mannschaft war am meisten an den astronomischen
Ortsbestimmungen interessiert, die zeigten, ob die "Fram" in der Eisdrift gute
Fahrt machte, am Ort blieb oder gar rückwärts lief. Die Stimmung an Bord stieg
oder fiel, sobald die Ergebnisse dieser Messungen bekannt wurden. Nansen selbst
widmete sich vor allem den Problemen der ozeanographischen Forschung:
Beobachtungen über das Entstehen und Wachsen das Polareises, Untersuchung der
Tierwelt im Wasser und auf dem Eise, Messung von Temperatur und Salzgehalt des
Meerwassers in verschiedenen Tiefen.
Der Tagesablauf für die Mannschaft, die nichts mit den
wissenschaftlichen Arbeiten zu tun hatte, war denkbar einförmig. Ein Tag glich
dem anderen. Viel Arbeit gab es anfangs nicht. Umso mehr konzentrierte sich das
Interesse aller auf die Mahlzeiten. Um acht Uhr morgens stand man auf und
widmete sich zunächst dem Frühstück. Es bestand aus Hartbrot, Käse, Fleisch oder
Schinken, Räucherspeck und Marmelade. Dreimal in der Woche gab es
frischgebackenes Brot. Nach dem Frühstück mussten mehrere Männer sich mit den
Hunden beschäftigen, sie losketten und ihnen Futter geben. Die übrigen machten
sich an die Erledigung der laufenden Arbeiten. Jeder musste der Reihe nach eine
Woche lang in der Küche Dienst tun, dem Koch beim Abwaschen helfen, den Tisch
decken und die Speisen auftragen. Um ein Uhr kam das Mittagessen. Es bestand
gewöhnlich aus drei Gängen: Suppe, Fleisch oder Fisch und Nachspeise. Dazu gab
es stets Kartoffeln und Gemüse oder Makkaroni. Dann ging jeder wieder an seine
Arbeit, bis man sich um sechs Uhr beim Abendessen zusammenfand, das ähnlich wie
das Frühstück war. Im Anschluss daran machten sich fast alle über die
Bücherschätze der Bibliothek her, oder sie suchten Zerstreuung im Karten-,
Schach- und Halmaspiel, bei Musik und Plauderei. Der Gesundheitszustand der
ganzen Mannschaft war ausgezeichnet. Der Arzt hatte kaum etwas zu tun. Später
klagten einige Männer über Schlaflosigkeit. Nansen spürte nichts davon. Wer am
Tage mehrere Stunden ruht, meinte er, darf nicht erwarten, nachts ebenso gut zu
schlafen. Sverdrup, der Kapitän, beendete die Diskussion mit den Worten: "Einen
Teil seiner Zeit muss man wach sein."
Oft schämte sich Nansen der Behaglichkeit, mit der sie in der
ersten Zeit ihr Leben an Bord der "Fram" führten, wenn er an all die
Entbehrungen dachte, die frühere Expeditionen ertragen mussten. Aber das war ja
gerade das Entscheidende an seinem Plan: Er wollte zeigen, dass man in aller
Bequemlichkeit das Polareis durchqueren kann, wenn man mit den Kräften der Natur
und nicht gegen sie arbeitet, übrigens war dies nur der Lebensaspekt der ersten
Monate. Bald lernten auch die Framleute die Sorgen und Nöte kennen, die keinem
erspart bleiben, der zum Pol strebt. Wird die "Fram" auf die Dauer den
furchtbaren Eispressungen Widerstand leisten können, die schon jetzt begannen?
Und war Nansens Drifttheorie wirklich richtig? Die Erfahrungen in der ersten
Polarnacht waren wenig ermutigend. Die Eisscholle, die ihr Schiff umklammerte,
wurde vorwärts und rückwärts getrieben. Sechs Wochen, nachdem sie eingefroren
waren, befanden sie sich wieder genau an der gleichen Stelle. Dann setzte eine
im ganzen nordwestliche Drift ein, die aber einem seltsamen Zickzack-Kurs folgte
und oft tagelang rückläufig war. Nach fünf Monaten hatten sie nur einen Grad
nördlicher Breite gewonnen. Nansens Berechnungen ergaben: Wenn das so
weitergeht, wird die "Fram" bestenfalls in acht Jahren wieder zu Hause sein!
Nansen war nicht der Mann, der sich durch einen Misserfolg zu
Anfang eines Unternehmens erschüttern ließ. Aber nachts verfolgt ihn jetzt oft
die Frage: "Weshalb hast du diese Reise unternommen?" Doch immer wieder findet
er die gleiche Antwort: "Konnte ich anders? Kann der Strom seinen Lauf hemmen
und bergauf fließen?" Er braucht das Wagnis, den Kampf mit den gewaltigen
Kräften der Polar-weit. Mögen auch einige Voraussetzungen seiner Theorie sich
als falsch erweisen, im ganzen stimmt sie, das ist sein felsenfester Glaube.
Im Dezember gab es ein Nordlicht, das schöner war als je
eines zuvor. Nansen ist ein aufmerksamer und begeisterter Beobachter: "Worte
können die Pracht nicht beschreiben, die sich unseren Augen darbot. Die
glühenden Feuermassen hatten sich in glänzende vielfarbige Streifen geteilt, die
sich im Süden wie im Norden über den Himmel wanden und durcheinander
verschlangen. Die Strahlen funkelten in den reinsten, kristallklaren
Regenbogenfarben, hauptsächlich in Violett, Rot oder Karmin und im hellsten
Grün. Sehr oft waren die Strahlen am Ende rot, verwandelten sich höher hinauf in
funkelndes Grün, das ganz oben dunkler wurde, und gingen in Blau oder Violett
über, ehe sie im Blau des Himmels verschwanden. Es war eine endlose
Phantasmagorie von funkelnden Farben und übertraf alles, was man sich nur denken
kann."
Das Weihnachtsfest kam heran und führte die Gedanken aller
nach Hause zu den Menschen, die ihnen lieb waren. Um keine wehmütige Stimmung
aufkommen zu lassen, wurde es, so gut das ging, als rauschendes Fest gefeiert.
Am späten Abend öffneten sie zwei Kisten mit Weihnachtsgeschenken, die
Scott-Hansens Mutter und Braut der Expedition mitgegeben hatten. Jeder bekam
eine kleine Gabe, eine Pfeife, ein Messer oder sonst etwas, und alle empfanden
es gerührt als einen Gruß aus der fernen Heimat.
Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages macht Nansen im
Schein des Vollmondes einen einsamen Spaziergang über das Eis. Das Thermometer
zeigt fast vierzig Grad Kälte an. Dabei erlebt er die Majestät der arktischen
Nacht in ihrer ganzen Größe. "O, Polarnacht, du bist wie ein Weib, ein wunderbar
liebliches Weib. Du besitzest die edlen, reinen Züge antiker Schönheit, aber
auch ihre Marmorkälte. Auf deiner hohen, glatten Stirn, rein wie der klare
Äther, ist keine Spur von Mitgefühl für die kleinen Leiden des verachteten
Menschengeschlechts... Deine in den Raum hinauswallenden rabenschwarzen Locken
sind vom Reife mit glitzernden Kristallen überstreut. Die stolzen Linien deines
Halses, die Rundung deiner Schultern sind so edel, aber - ach - auch so unsagbar
kalt. Dein keuscher weißer Busen ist gefühllos wie schneebedecktes Eis.
Rein, schön und stolz schwebst du durch den Äther über das
gefrorene Meer, und dein aus Strahlen des Nordlichtes gewobenes Gewand bedeckt
das Himmelsgewölbe. Nur zuweilen ahne ich ein schmerzliches Zucken deiner
Lippen, und aus deinen Augen schaut traumverloren unendliche Traurigkeit.
O, wie müde bin ich deiner kalten Schönheit! Es verlangt
mich, zum Leben zurückzukehren. Lass mich als Sieger oder als Bettler
heimkehren, mir gilt alles gleich! Aber lass mich heimkehren, um das Leben neu
zu beginnen."
Die Hunde, die sie in Chabarowa an Bord genommen hatten,
waren eine tolle Meute. Sobald sie losgelassen wurden, begann eine wüste
Rauferei. Wenn einer im Kampf unterlag, stürzten sich alle übrigen auf ihn.
Schon im Verlauf der ersten Polarnacht wurde eine ganze Anzahl von ihren
Kameraden zerrissen. Nur vor den Eisbären hatten sie Respekt, die sich jetzt
immer öfter an das Schiff heranpirschten.
Eines Morgens kam Peter Hendriksen, der Harpunierer der
Expedition, in den Salon gestürzt und schrie: "Eine Büchse! Eine Büchse!" Ein
Bär hatte ihn in die Seite gebissen. Nun eilte Nansen an Deck. Dort sahen sie,
wie unmittelbar neben der Schiffswand ein Eisbär sich daran machte, einen der
Hunde zu zerfleischen. Nansen wollte schießen, aber der Lauf seines Gewehrs war
an beiden Enden sorgsam mit Wergpfropfen verstopft, die er jetzt in der Eile
nicht herausbringen konnte. Hendriksen, der auch seine Büchse geholt hatte,
erging es ähnlich. Er hatte sie zu gut mit Vaseline eingefettet, die in der
Kälte eingefroren war. Da standen sie nun schwerbewaffnet an der Reling, konnten
den Bären mit ihren Gewehrläufen im Kücken kitzeln, aber schießen konnte keiner.
Endlich kam Johansen hinzu und schickte dem Bären zwei, drei Schüsse auf den
Pelz. Jetzt war auch Nansen mit seinem Gewehr zurechtgekommen und gab ihm den
letzten Schuss in den Kopf.
Eine wichtige Entdeckung machten sie schon in den ersten
Monaten. Die allgemeine Vorstellung, das Polarmeer sei nur ein ganz flaches
Becken, erwies sich als grundfalsch! Bereits die ersten Lotungen ergaben mehr
als zweitausend Meter, und später stellten sie Meerestiefen von fast viertausend
Metern fest. Damit war eine wesentliche Voraussetzung von Nansens Theorie
hinfällig geworden. Bei der Annahme eines kaum zweihundert Meter tiefen
Polarmeeres konnte man erwarten, dass die Wassermassen der großen sibirischen
Ströme eine starke Drift auslösten. Da man aber nun die zwanzigfache Tiefe
festgestellt hatte, war es begreiflich, dass die Schubwirkung des Wassers nur
ganz gering sein konnte. "Unsere einzige Hoffnung beruht jetzt auf den Winden",
schreibt Nansen in seinem Tagebuch. "Kolumbus entdeckte Amerika durch eine
falsche Berechnung, die nicht einmal von ihm selbst herrührte. Nur der Himmel
weiß, wohin mein Irrtum uns führen wird. Ich wiederhole nur, das sibirische
Treibholz an der Küste von Grönland kann nicht lügen, und den Weg, den es
gemacht hat, müssen auch wir gehen."
Am 9. Oktober saßen alle nach Tisch friedlich im Speiseraum
und plauderten. Plötzlich entstand ein ohrenbetäubendes Getöse. Es war die erste
Eispressung. Sie stürzten an Deck. Das ganze Schiff erzitterte. Mit gewaltigem
Druck schob sich das Eis heran. Die "Fram" wurde um mehrere Fuß gehoben. Aber
das junge Eis war noch nicht stark genug, sie zu tragen, und brach unter ihr
entzwei. - Später waren diese Pressungen nicht mehr so harmlos. Große Eishügel
türmten sich auf und wälzten sich gegen die "Fram". Mehrmals mussten alle
Vorbereitungen getroffen werden, damit die Mannschaft im Notfall das Schiff so
schnell wie möglich verlassen konnte. Schlitten, Kajaks, Hundekuchen und
Proviant wurden auf das Eis gebracht.
In seinem Tagebuch schildert Nansen ausführlich eine dieser
Eispressungen: "Eine solche Stauung ist ein gewaltiges Schauspiel. Man hat das
Gefühl, Riesen gegenüberzustehen. Wenn sie im Ernst einsetzt, möchte man
glauben, dass es keinen Punkt mehr auf der Erde gäbe, der nicht erschüttert
werden könnte. Anfangs hört man das Grollen eines Erdbebens draußen in der Öde.
Dann dröhnt es von mehreren Seiten, kommt näher und näher. Die Riesenschlacht
beginnt. Das Eis birst, türmt sich auf, und mit einem Schlage stehst du mitten
drin. Ringsherum tost und kreischt es. Unter den Füßen fühlst du das Eis beben
und krachen; alles ist in Bewegung. Schollen, drei, fünf Meter dick, werden
zermalmt und übereinandergeschoben, als wären es Federbälle. Du springst zurück,
um das Leben zu retten. Doch da zerbirst der Grund unter deinen Füßen. Ein
Schlund gähnt; du wirfst dich zur Seite, doch da rückt ein neuer Berg von
Eistürmen heran. Du schlägst eine andere Richtung ein. Wie der gewaltigste
Wasserfall tobt und rast es von allen Seiten, donnert und dröhnt wie von
Kanonensalven. Es zieht sich um dich zusammen. Deine Eisscholle wird kleiner und
kleiner, Wasser sprudelt herauf. Da gibts keine andere Rettung, als über die
rollenden Hisstücke zu springen, um über den Staurücken hinwegzukommen. Aber da
flaut es ab. Der Lärm zieht weiter und verliert sich nach und nach in der
Ferne."
Immer wieder verfolgt Nansen die wunderliche Kurslinie der
"Fram", wie sie sich aus den astronomischen Ortsbestimmungen ergab. Die Drift
war jetzt ein wenig schneller, aber sie wich weit nach Westen ab. So konnten sie
niemals den Pol erreichen. Lange schon war daher in ihm der Plan gereift, mit
einem Gefährten das Schiff zu verlassen und auf Hundeschlitten direkt nach
Norden vorzudringen. Nur eines machte ihm Sorge: Konnte er seine Kameraden auf
der "Fram" ihrem Schicksal überlassen? "Man denke sich nur, wenn ich nach Hause
käme und sie nicht!" Doch weiß er Schiff und Mannschaft bei Kapitän Sverdrup in
besten Händen. "Ich bin hierher gekommen, um die unbekannten Polarregionen zu
erforschen. Dafür haben die Norweger ihr Geld hergegeben, und es ist sicherlich
meine erste Pflicht zu tun, was ich kann... Es ist des Mannes unwürdig, eine
Aufgabe zu übernehmen und sie dann aufzugeben, wenn der Höhepunkt der Schlacht
bevorsteht. Es gibt nur einen Weg, und der heißt 'Vorwärts'!"
Als Begleiter hatte er Hjalmar Johansen vorgesehen, der ein
hervorragender Skiläufer war, zäh, abgehärtet und immer guter Laune. Zu Beginn
der zweiten Polarnacht entwickelte er ihm seinen Plan. Er machte ihm alle
Gefahren des Unternehmens klar: "Es handelt sich um Leben oder Tod, jedenfalls
um Leiden und Entbehrungen. Bedenken Sie sich einen Tag oder zwei, bevor Sie mir
antworten." Doch Johansen, der bereits von dem Reiseplan gehört hatte,
antwortete: "Ich will Sie gern begleiten! Eine Bedenkzeit brauche ich nicht. Ich
halte es für eine Ehre, dass Ihre Wahl auf mich gefallen ist."
Dem Nordpol entgegen
Im Laufe der zweiten Polarnacht trafen sie alle
Vorbereitungen für die verwegene Fahrt. Die "Fram" wurde jetzt eine einzige
Werkstatt, in der man unter Mithilfe der ganzen Mannschaft alle die Dinge
herstellte, die für eine solche Reise nötig waren: Schlitten, zwei Kajaks,
Schlafsack, Zelt, Skier, Stiefel und vieles andere. Bei der Zusammenstellung des
Proviants war wieder wie auf der Grönlanddurchquerung geringes Gewicht das erste
Gebot. Doch galt es jetzt, nicht nur für die Menschen, sondern auch für die
Hunde zu sorgen. Es war vorgesehen, dass mit dem Fortschreiten der Reise und dem
Erleichtern des Schlittengepäcks ein Hund nach dem anderen geschlachtet und
seinen Kameraden vorgeworfen werden sollte, da die Tiere nur leistungsfähig
bleiben konnten, wenn sie neben dem Trockenfutter gelegentlich auch etwas
Frischfleisch bekamen. Heide empfanden es jedesmal als einen der bittersten
Augenblicke der ganzen Reise, wenn sie wieder einen der Hunde töten mussten.
Die Abreise stand unter keinem günstigen Stern. Ende Februar
1895 brachen Nansen und Johansen auf. Doch bald mussten sie wieder umkehren,
weil einer der Schlitten zu schwer beladen war und zerbrach. Zwei Tage später
ging es wieder los. Aber auch jetzt konnten die Hunde die schweren Lasten nicht
vorwärts bringen. Nansen, in Stunden der Gefahr stets kühn und entschlossen,
aber nie um sein Prestige besorgt, scheut sich nicht, auch ein zweites Mal
umzukehren. Die Zahl der Schlitten wurde auf drei reduziert. Das Gewicht der
ganzen Ausrüstung betrug nur noch siebenhundert Kilogramm, die von
achtundzwanzig Hunden gezogen wurden.
Am 14. März verließen sie endlich unter dem donnernden Salut der "Fram" zum
letzten Mal das Schiff. Sverdrup begleitete sie ein kurzes Stück des Weges. Auf
dem Gipfel eines Eishügels sagten sie sich Lebewohl. Nansen sah ihm lange nach,
wie er auf seinen Schneeschuhen langsam heimwärts zog: "Beinahe hätte ich
gewünscht, mit ihm umzukehren, um wieder im gemütlichen warmen Salon ausruhen zu
können. Ich wusste nur zu gut, dass eine lange Zeit vergehen würde, bis wir
wieder unter einem behaglichen Dache schlafen und speisen würden. Dass aber die
Zeit so lange dauern sollte, wie sie in Wirklichkeit dauerte, hat damals keiner
von uns auch nur geahnt. Wir alle glaubten, dass die Expedition entweder glücken
werde und wir dann noch in demselben Jahre heimkehren würden, oder dass sie -
nicht glücken werde."
In der ersten Woche waren die Eisverhältnisse weit besser,
als Nansen erwartet hatte. Oft lagen vor ihnen weite, fast ebene Eisflächen.
Wohl kamen gelegentlich Hindernisse. Ein Schlitten stürzte um, manchmal war das
Eis uneben. Dann mussten beide Männer den Hunden zu Hilfe kommen und die
Schlitten über die Eisketten tragen. Aber noch am 20. März notiert Nansen: "Das
Eis scheint immer ebener zu werden, je weiter wir vordringen... Wenn das so
anhält, wird das Ganze wie ein Tanz gehen."
Am Tage führten beide die Schlitten, die sie jetzt immer
öfter vorwärtsschieben oder tragen mussten. Abends versorgte Johansen die Hunde,
während Nansen das Zelt aufschlug und das Essen bereitete. Die Abendmahlzeit war
stets der Höhepunkt ihres Daseins, auf den sie sich schon den ganzen Tag lang
freuten. Meist gab es Labskaus aus Pemmikan und getrockneten Kartoffeln oder "Fiskegratin",
das aus Fischpulver, Weizenmehl und Butter bereitet wurde. Dann rutschten sie
tiefer in den gemeinsamen Schlafsack und schnallten die Klappen über den Köpfen
fest. Die erste Stunde war nicht angenehm. "Wenn wir abends in den Schlafsack
gekrochen waren", schreibt Nansen, "begann die Kleidung langsam aufzutauen, ein
Prozess, bei dem ein beträchtliches Quantum Körperwärme verbraucht wurde. Wir
drückten uns im Sack dicht aneinander und lagen dann eine oder anderthalb
Stunden mit klappernden Zähnen, ehe wir im Körper etwas Wärme verspürten, deren
wir so dringend bedurften. Endlich wurden unsere Kleider nass und schmiegsam,
aber nur um morgens, wenige Minuten, nachdem wir uns aus dem Sack erhoben
hatten, wieder steif zu frieren. Davon, dass wir die Kleider auf der Reise
trocken bekommen konnten, solange die Kälte anhielt, war keine Rede, da sich
immer mehr Körperfeuchtigkeit darin sammelte."
In der zweiten Woche ihrer Wanderung wurde der Weg
schwieriger. Eine Eiskette nach der anderen türmte sich auf. Manchmal waren es
Wälle von neun Metern Höhe, über die sie die Schlitten tragen mussten. Anfangs,
auf der glatten Eisfläche, bestimmten sie die Länge der zurückgelegten
Tagesstrecken mit einem auf der "Fram" gefertigten Wegemesser, später, als sie
ihn verloren hatten, durch vorsichtige Schätzungen. Als Nansen am Ende der
zweiten Woche diese Tagesstrecken addierte, fand er, dass sie jetzt weit über
den 86. Breitengrad hinausgekommen sein mussten. Die astronomische
Ortsbestimmung ergab dagegen kaum 85° 30' nördlicher Breite. Wie war dieser
Widerspruch zu erklären? Nansen prüfte immer wieder seine Berechnung und
wiederholt die Beobachtungen. Doch das Ergebnis blieb stets das gleiche. Es gab
nur eine Erklärung dafür: Das Eis, auf dem sie nach Norden zogen, wurde vom Wind
oder einer unbekannten Strömung nach Süden getrieben! Gegen solche Naturmächte
anzugehen war kaum möglich. Noch acht Tage lang kämpften sie sich vorwärts. Doch
das Eis wurde immer schlimmer. Vom Gipfel eines zehn Meter hohen Eisrückens
blickte Nansen nach Norden. Vor sich sah er ein endloses Gewirr von Blöcken, das
sich wie eine zu Eis erstarrte Brandung bis an den Horizont erstreckte. "Es hat
keinen Sinn", schreibt er am 8. April im Tagebuch, "noch weiter vorzudringen.
Wir opfern die kostbare Zeit und erreichen nichts. Ich beschloss daher,
umzukehren und unseren Kurs auf Kap Fligely zu richten." Wie Nansen später
errechnete, hatten sie an diesem Tage 86o 14' nördlicher Breite erreicht und
waren damit dem Pol dreihundert Kilometer näher gekommen als je ein Mensch vor
ihnen. Ihr nächstes Ziel, Kap Fligely im Norden des noch kaum erforschten
Franz-Joseph-Landes, war in der Luftlinie etwa siebenhundert Kilometer entfernt.
Aber ein gerader Kurs ließ sich jetzt nicht einhalten. Im Frühling brach das Eis
auf, und zu den Eisrücken, die sie schon auf der Reise nordwärts behindert
hatten, kamen zahllose Rinnen und Spalten, die man umgehen musste. Jetzt wurde
auch der Proviant knapp. Bisher hatten sie gegessen, so viel sie wollten. Nun
mussten die Rationen verringert und abgewogen werden. Zum Frühstück gab es nur
noch fünfzig Gramm Butter und zweihundert Gramm Brot. Ein Hund nach dem anderen
musste geschlachtet werden, weil auch das Futter zu Ende ging.
Einer der drei Schlitten wird verbrannt, da sie jetzt nur
noch zwölf Hunde besitzen. Die Tiere sind so ausgehungert, dass sie schon Leder,
Holz und Segeltuch zu fressen versuchen. Selbst Nansen wird besorgt. Längst, so
meint er, müssten sie die ersten Inseln des Franz-Joseph-Landes erreicht haben.
Aber Tag für Tag breitet sich vor ihnen derselbe eintönige Eishorizont aus. "Nach keiner Richtung ein Zeichen von Land; kein offenes Wasser, obwohl wir
jetzt auf der Breite von Kap Fligely oder höchstens ein paar Minuten weiter
nördlich sein müssten. Wir wissen weder, wo wir sind, noch wissen wir, wie das
enden soll."
Die Spalten im Eis wurden jetzt immer breiter. Darum gingen
sie daran, die Kajaks zu reparieren, die bei der Schlittenfahrt erheblichen
Schaden genommen hatten. Das war eine mühsame und zeitraubende Arbeit. "Wir
hatten dann aber auch die Genugtuung zu wissen, dass die Kajaks völlig
seetüchtig und im Notfalle imstande waren, auf der überfahrt nach Spitzbergen
einen Sturm auszuhalten... Lasst uns nur erst offenes Wasser haben, dann können
wir die Kajaks benutzen, und dann wird es auch nicht lange dauern, bis wir zu
Hause sind."
Endlich kam ein Lichtblick in ihr einförmiges Dasein. Als sie
in einer Rinne die Kajaks erprobten, tauchte plötzlich ein Seehund auf. Johansen
kam zum Schuss, und Nansen konnte die kostbare Beute mit der Harpune festhalten,
ehe sie versank. Das gab Nahrung und Brennmaterial für mehr als einen Monat.
Seit langer Zeit konnten sie sich zum erstenmal wieder nach Herzenslust
sattessen. Aber noch immer war kein Land in Sicht. Da die beiden Uhren, die sie
mit sich führten, stehen geblieben waren, konnten sie ihren astronomischen
Ortsbestimmungen jetzt nur noch sehr geringen Wert beimessen. Doch am 24. Juli
kam die große Wendung. "Endlich hat das Wunder sich ereignet. Land, Land,
nachdem wir unseren Glauben daran schon beinahe aufgegeben hatten!" Nansen
meinte, es könne kaum viel mehr als eine Tagesreise weit entfernt sein.
Tatsächlich brauchten sie jedoch noch dreizehn Tage, und sie gehörten zu den
schwierigsten der ganzen Reise.
Nansen bekam einen Hexenschuss. Drei Tage konnte er sich nur mit äußerster Mühe
vorwärts schleppen. Am Abend im Zelt musste Johansen ihn wie ein kleines Kind
betreuen. Als es ihm wieder besser ging, notierte er: "Jetzt habe ich einen
Begriff davon, wie es sein würde, wenn einer von uns erkranken sollte. Mir ist
ernstlich bange davor. Unser Schicksal wäre dann besiegelt."
Auch für Johansen wäre einer dieser Tage beinahe
verhängnisvoll geworden. Sie waren eines Morgens in dichtem Nebel marschiert und
wurden dann von einer breiten Rinne aufgehalten, die sie mit den Kajaks
überqueren wollten. Plötzlich hörte Nansen hinter sich die Stimme seines
Kameraden: "Schnell die Büchse!" - "Ich drehte mich um und sah, wie ein riesiger
Bär sich über ihn warf. Sie purzelten hintenüber. Ich griff nach der Flinte, die
im Futteral auf dem Vorderdeck lag. Doch im selben Augenblick rutschte der Kajak
ins Wasser, - ich versuchte, ihn auf den hohen Eisrand heraufzuzerren, aber er
war mit seiner Last zu schwer. Ich lag auf den Knien, zog und zerrte und reckte
mich nach dem Gewehr. Mich umzusehen, was hinter mir vorging, dazu hatte ich
keine Zeit. Da hörte ich Johansen ruhig sagen: "Nun musst du dich beeilen!"
Schließlich erwischte ich den Gewehrkolben, zog ihn hervor, warf mich herum und
spannte in der Hitze des Gefechtes den Hahn des Schrotlaufs. Doch da stand der
Bär ein paar Schritte vor mir ... Ich hatte keine Zeit mehr, den anderen Hahn zu
spannen. Er erhielt die ganze Schrotladung hinters Ohr und stürzte tot zwischen
uns nieder."
Jetzt hatten sie den Rand des Polareises erreicht. Vor ihnen
lag eine offene Meeresstraße, und drüben das ersehnte Land, das ihnen zunächst
eine hohe Gletscherwand zukehrte. Nun war der Zeitpunkt gekommen, von der
Schlittenreise zur Kajakfahrt überzugehen. Aber jeder von beiden hatte noch
einen Hund bei sich - "Kaiphas" hieß der eine, "Suggen" der andere. Auf der
Fahrt über das offene Wasser konnten sie die Tiere nicht mitnehmen. Es blieb
also nichts anderes übrig, als sie zu töten. "Armer Suggen, so rührend, wie er
gewesen war, und Kaiphas, wie stolz und prächtig war er bis zuletzt. Voll Treue
und Ausdauer hatten sie sich auf der ganzen Fahrt für uns abgerackert. Sie wie
die anderen zu schlachten vermochten wir nicht. Wir opferten für jeden eine
Patrone. Johansen erschoss hinter einem Eishügel meinen Hund, und ich seinen -
eine harte Pflicht."
Jetzt begann die Bootsfahrt. Eines Tages machte plötzlich Johansen mit seinem
Kajak einen Luftsprung. Ein Walross hatte sein Boot von unten angehoben und
tauchte jetzt auf. "Ich ergriff meine Büchse", schreibt Nansen, "und da das Tier
seinen Kopf nicht so wenden wollte, dass ich hinter das Ohr zielen konnte, wo es
leichter verwundbar ist, war ich gezwungen, ihm eine Kugel mitten durch die
Stirn zu jagen. Es war keine Zeit zu verlieren. Glücklicherweise genügte das;
das Tier trieb tot auf dem Wasser. Mit großer Mühe gelang es uns, ein Loch in
die dicke Haut zu schneiden. Nachdem wir uns einige Streifen Speck und Fleisch
aus dem Rücken geschnitten hatten, setzten wir unsere Fahrt fort."
Mitte August, fünf Monate, nachdem sie die "Fram" verlassen
hatten, konnten sie endlich zum ersten Male seit zwei Jahren ihren Fuß auf
eisfreien Boden setzen. "Es war ein unbeschreiblich herrliches Gefühl, von einem
Granitblock zum andern springen zu können. Es wurde noch schöner dadurch, dass
wir in einem kleinen versteckten Winkel zwischen den Steinen Moos und Blumen,
großen schönen Mohn, Steinbrech und eine Sternmiere fanden. Selbstverständlich
musste die norwegische Flagge über diesem unserm ersten eisfreien Lande wehen,
und ein Festmahl wurde bereitet."
In Nacht und Eis
Das Jahr war jetzt schon weit vorgeschritten. Ende August
mussten sie einsehen, dass sich ihre Hoffnung, Spitzbergen noch im Herbst zu
erreichen, kaum verwirklichen ließ. So beschlossen sie, rechtzeitig ein
Winterquartier zu errichten, In dem sie ohne Sorgen die dritte Polarnacht
überstehen konnten.
Das Zelt war gut für die Reise im Sommer. Aber im Winter bot
es nicht genügend Schutz. Darum begannen sie mit dem Hau einer Hütte. Ihre
Werkzeuge waren so primitiv wie die Robinsons auf seiner Insel. Eine
Schlittenkufe diente als Spitzaxt, um die festgefrorenen Steine loszubrechen.
Aus dem Schulterblatt eines Walrosses wurde ein Spaten, aus einem Walrosshauer
eine Hacke gefertigt. Die Wände der Hütte bestanden aus Steinen und Moos, den
Dachfirst bildete ein Treibholzstamm, über den sie Walrosshäute spannten. Der
Eingang war nach Art der Eskimohäuser schmal und niedrig. Aber das Innere war
geräumig. Sogar Nansen konnte fast aufrecht darin stehen.
Der Ort, den sie sich zum Winterlager ausgesucht hatten, war
reich an Wild. Füchse erschienen fast jede Nacht und stahlen alles, was sie aus
dem Materialdepot neben der Hütte hervorzerren konnten, darunter die
unsinnigsten Dinge wie Leinen, Stahldraht und Harpunen. Einmal nahmen sie sogar
das Minimumthermometer mit, das zur Messung der Nachttemperatur vor der Hütte
hing. Auch das große Wild der Arktis gab es hier reichlich: Seehunde, Walrosse
und Eisbären. Nansen und Johansen konnten so viel davon erbeuten, dass sie jetzt
keinerlei Sorge mehr um ihre Ernährung in der Polarnacht zu haben brauchten. Es
gab Tran und Speck in Fülle; vor allem das Fleisch der Eisbären wurde nun ihre
Hauptnahrung. Jeden Morgen gab es Bärenfleisch in Bouillon, abends gebratene
Steaks. Seltsamerweise wurden sie dieser Nahrung niemals überdrüssig. Nansen
stellte später fest, dass sie neunzehn Bären verspeist hatten.
Mehr als je sind in den Tagen vor Weihnachten Nansens
Gedanken daheim bei seiner Frau. "Beim Scheine der Lampe sitzt sie am
Winterabend und näht. Neben ihr steht ein kleines Mädchen mit blauen Augen und
goldigem Haar und spielt mit der Puppe. Sie blickt das Kind zärtlich an und
streichelt ihm das Haar, aber ihre Augen werden feucht, und dicke Tränen rollen
über ihre Arbeit."
Der Weihnachtsabend kommt heran. Es ist kalt und stürmisch
draußen, und auch in der Hütte ist es kalt und zugig. Noch niemals hatten Nansen
und sein Gefährte ein so einsames Weihnachtsfest gefeiert. Wieder gehen die
Gedanken in die Heimat: "Nun läuten sie daheim den Heiligen Abend ein. Ich höre
den Glockenklang durch die Luft von den Kirchtürmen schwingen. Wie schön das
klingt! - Jetzt werden die Christbaumkerzen angezündet, die Kinderschar wird
hereingelassen, und nun tanzen sie jubelnd um den Tannenbaum herum. Ich muss
einen Weihnachtsschmaus für Kinder halten, wenn ich wieder zurückkomme. Jetzt
ist Freudenzeit zu Hause und Fest in jeder Hütte."
Die Einsamkeit der Polarnacht ist schwer zu ertragen. Nansen
und Johansen verstehen sich ausgezeichnet. Die gefürchtete Polarpsychose vermag
ihnen nicht viel anzutun. "Wir brachten es nicht einmal fertig, uns zu zanken",
schreibt Nansen. "Nach unserer Rückkehr wurde Johansen einmal gefragt, wie wir
beiden durch den Winter gekommen seien und es angestellt hätten, uns nicht zu
überwerfen, da es doch eine schwere Prüfung für zwei Männer sei, in völliger
Einsamkeit so lange miteinander zu leben. ,O nein', antwortete er, ,wir haben
uns nicht gezankt, das einzige war, dass ich im Schlafe die schlechte
Angewohnheit habe zu schnarchen, und dann pflegte mich Nansen in den Rücken zu
stoßen!'"
Aber schließlich haben sie sich wirklich alles erzählt, was
den einen am anderen interessieren konnte, und neue Eindrücke gab es kaum. Was
sie jetzt am meisten entbehrten, waren die Bücher der "Fram". Dort hatte
Johansen mit Begeisterung Heyses Novellen gelesen, war aber damit nicht zu Ende
gekommen. Jetzt stöhnte er nach der Fortsetzung. Nansen ging es ähnlich. In
seiner Verzweiflung studiert er immer wieder die beiden einzigen Bücher, die sie
bei sich haben, die Navigationstabellen und einen nautischen Almanach. - Wenn
ihnen gar nichts mehr einfiel, dann malten sie sich stundenlang mit allen
Details aus, wie herrlich es sein werde, zum ersten Male wieder in ein großes,
helles, von Sauberkeit blitzendes Kaufhaus eintreten und nach Herzenslust
aussuchen zu können, was ihnen gefällt: schneeweiße Hemden, weiche warme
Unterhosen, feine wollene Strümpfe, einen bequemen Anzug und neue Schuhe. Dazu
Seife, unendlich viel Seife!
Unter all den physischen Leiden, die sie ertragen mussten,
war die Unmöglichkeit, ihre Kleidung zu erneuern oder auch nur zu waschen, wohl
das schlimmste. Sie klebte wie Leim am ganzen Körper, durchtränkt von den monatealten Ausdünstungen des Leibes und dem Tran, der beim Zerlegen der
Seehunde und Walrosse und beim Kochen des Essens auf sie gespritzt war. "Unsere
Beine hatten am meisten zu leiden, da die Hosen fest an den Knien klebten, so
dass sie, wenn wir uns bewegten, an der Innenseite der Oberschenkel die Haut
abschabten und abrissen, bis alles wund und blutig war. Es machte mir die größte
Mühe zu verhindern, dass diese Wunden allzu sehr mit Fett und Schmutz beschmiert
wurden, und ich musste sie beständig mit Moos oder einem Fetzen von einer der
Binden aus unserer Apotheke und ein wenig Wasser waschen, das ich in einem
Becher über der Lampe erwärmte. Nie vorher habe ich so sehr eingesehen, welch
großartige Erfindung Seife in Wirklichkeit ist."
Wenn seine Gedanken nachts nicht bei Frau und Kind sind, dann sind sie bei den
Kameraden von der "Fram". Wohin mag die Eisdrift sie getrieben haben? Nansen
rechnete sich aus, dass sie wohl im späten Sommer zu Hause ankommen werde. Bis
dahin musste auch er mit Johansen zurückkehren, wenn ihre Angehörigen und
Freunde sich nicht die schlimmsten Sorgen um ihr Schicksal machen sollten.
Gegen Ende der Polarnacht begannen sie mit den Vorbereitungen
für die Weiterreise. Mit Fleisch und Speck waren sie gut versehen. Aber ihre
Kleidung war so abgerissen, dass sie sich an die tolle Aufgabe machten, aus
ihren wollenen Schlafdecken neue Anzüge zu schneidern, ihre Schuhe mit
Walrossleder zu besohlen und aus Bärenfellen Socken, Handschuhe und einen neuen
Schlafsack herzustellen. "Dies alles nahm Zeit in Anspruch, und wir arbeiteten
daher von diesem Augenblick an vom frühen Morgen bis spät in die Nacht fleißig
mit der Nadel. Unsere Hütte war plötzlich in eine geschäftige Schneider- und
Schusterwerkstätte verwandelt. Seite an Seite saßen wir auf dem Steinlager im
Schlafsack und nähten und nähten und dachten an die Heimkehr."
Spät im Mai konnten sie endlich ihr Winterlager verlassen.
Aber noch lange mussten sie ihre Kajaks auf den Schlitten über das Eis vorwärts
ziehen. Schließlich erreichten sie offenes Wasser, konnten die Boote
zusammenbinden und bei günstigem Wind ein Segel hissen. Eines Tages landeten sie
am Eisrand, um sich die Beine zu vertreten und von einem Eishügel Ausschau zu
halten.
Sie vertäuten die Boote, spazierten ein wenig umher und
bestiegen den Hügel. Als sie oben waren, schrie Johansen plötzlich: "Sieh - da
treiben unsere Kajaks!" Sie rannten hinab, so schnell sie konnten. Nansen warf
einige Kleidungsstücke ab, um besser schwimmen zu können, dann sprang er ins
Wasser.
"Der Wind wehte vom Eis hinweg. In den leichten Kajaks mit
der hohen Takelage fand er eine gute Angriffsfläche. Schon schwammen sie weit
draußen und trieben rasch weiter. Das Wasser war eisig kalt. In Kleidern zu
schwimmen kostet Kräfte. Weiter und weiter trieben die Kajaks, oft schneller,
als ich zu schwimmen vermochte. Es sah mehr als zweifelhaft aus, dass ich sie
einholen könnte. Doch da trieb ja unsere ganze Hoffnung. Alles, was wir besaßen,
befand sich an Bord. Nicht einmal ein Messer hatten wir bei uns. Ob ich also
hier erstarrte und sank oder ob ich ohne die Kajaks umkehrte, kam auf eines
heraus. Ich schwamm also mit aller Kraft. Wenn ich müde wurde, schwamm ich auf
dem Rücken. Doch nach und nach fühlte ich die Glieder erstarren und gefühllos
werden. Ich merkte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich sie nicht
mehr rühren könnte. Aber jetzt war es auch nicht mehr weit. Wenn ich nur noch
ein Weilchen aushielt, waren wir gerettet. Matter und matter wurden die Züge,
doch kürzer und kürzer wurde der Abstand. Die Kajaks einzuholen hatte ich
geschafft, war aber nun nicht mehr imstande, hinaufzukommen. Endlich, nach einer
Weile, gelang es mir, das eine Bein auf den Rand des Schlittens, der auf dem
Deck stand, hinaufzuwerfen und mich auf diese Weise hinaufzuwälzen. Nun saß ich
im Boot, war aber vor Kälte starr, dass ich kaum rudern konnte. Ich zitterte,
dass die Zähne klapperten. Doch allmählich vermochte ich die Ruder zu führen."
Am Eisrand erwartete ihn Johansen. Er riss ihm die nassen
Kleider vom Leibe, zog ihm alles trockene Zeug an, das er auftreiben konnte und
steckte ihn tief in den Schlafsack. Nansen schlief ein, und als er erwachte, war
das Abendessen fertig, eine heiße Suppe, die ihn wohltätig erwärmte, so dass er
dies schlimmste Abenteuer der Reise ohne böse Folgen überstand.
Der 17. Juni begann wie alle anderen Reisetage. Nansen hatte
Wasser geholt, die Frühstücksuppe aufs Feuer gesetzt und ging dann noch einmal
hinaus, um sich auf einem nahen Hügel umzusehen. Plötzlich hörte er einen Laut,
der kaum etwas anderes sein konnte als das Bellen eines Hundes. Er eilte zum
Zelt zurück, zog Johansen aus dem Schlafsack und erzählte ihm von seiner
Entdeckung. Der wollte es nicht glauben. Hunde - hier? Das war doch unmöglich!
Aber Nansen stürzte das Frühstück hinunter, holte seine Schneeschuhe, Fernrohr
und Büchse hervor und machte sich auf den Weg. Bald fand er Spuren, die nur von
Hunden stammen konnten. Kurz danach kam ihm ein Mensch entgegen. Es war Jackson,
der englische Nordpolfahrer, dem er vor Jahren einmal begegnet war. Nansen
wusste sofort, wen er vor sich hatte. Der Engländer starrt ihn eine Weile an.
Dann erinnert auch er sich:
"Aren't you Nansen?" - Nansen: "Yes, I am." Da weiß sich
Jackson vor Freude kaum zu fassen: "By Jove, I am glad to see you!" Wieder und
wieder schüttelt er Nansen die Hand und ist glücklich, dass er der erste ist,
der ihn begrüßen kann. Bald kamen Jacksons Kameraden herbei, und als sie gehört
hatten, dass Nansen dem Pol näher als je ein anderer Mensch gekommen war,
brachten sie auf ihn ein dreifaches englisches Hurra aus. Sofort wurden
Schlitten ausgesandt, um Johansen und die ganze Ausrüstung der beiden zu holen.
Jackson bringt Nansen zu der Blockhütte,
die er für sich und seine Mitarbeiter errichten ließ. So einfach sie war, Nansen kam sie als eine Stätte von
unerhörtem Luxus vor. Da hingen Bilder an den Wänden, es gab Bücher in Mengen,
und in der Mitte des Raumes verbreitete ein Ofen behagliche Wärme. "Ein
seltsames Gefühl überkam mich, als ich mich in dieser ungewohnten Umgebung auf
einen bequemen Stuhl setzte. Mit einem Schlage hatte das wechselvolle Schicksal
jede Verantwortlichkeit, alle Schwierigkeiten aus meinen Gedanken, die während
dreier langer Jahre damit bedrückt gewesen waren, fortgefegt. Hier war ich
inmitten des Eises in einem sichern Hafen, und die sehnsüchtigen Wünsche dreier
Jahre wurden von dem goldenen Sonnenscheine des dämmernden Tages eingeschläfert.
Meine Pflicht war erfüllt, meine Aufgabe beendet, jetzt konnte ich ruhen, ruhen
und warten."
Die erste Mahlzeit in der Blockhütte Jacksons bot alles,
wonach sie sich ein Jahr lang gesehnt hatten: Brot und Butter, Milch, Zucker,
Kaffee und vieles andere. "Der Höhepunkt der Behaglichkeit wurde aber erreicht,
als wir unsere schmutzigen Lumpen abwarfen, ein warmes Bad nehmen und uns von so
viel Schmutz befreien konnten, als auf einmal möglich war. Einigermaßen rein zu
werden gelang uns jedoch erst nach mehreren Tagen."
Sie waren jetzt am Kap Flora, auf der südlichsten Insel des Franz-Joseph-Landes.
Jackson erwartete Tag für Tag das Schiff, das einige Männer seiner Expedition
abholen sollte. Schon befürchtete Nansen, dass sie noch einen Winter im Polareis
zubringen müssten. Da weckte ihn eines Morgens Jackson freudestrahlend mit der
Nachricht, dass die "Windward" angekommen sei. Nansen sprang auf und blickte zum
Fenster hinaus. Er sah, wie das Schiff langsam herankam und einen Platz zum
Vertäuen suchte. "Wundervoll, wieder ein Schiff zu sehen! Wie hoch die Takelung
erscheint! Und der Rumpf, er gleicht einer Insel! An Bord gab es Nachrichten aus
der großen Welt weit da draußen."
Am 7. August verließ die "Windward" mit Nansen und Johansen
an Bord Kap Flora. Fünf Tage später liefen sie in den norwegischen Hafen Vardö
ein. Noch ehe der Anker gefallen war, eilte Nansen zum Postamt, um ein dickes
Bündel Telegramme aufzugeben. Es waren fast hundert, zwei davon ein paar tausend
Worte lang. Nansens erstes Telegramm ging an seine Frau, das zweite an den
König, das dritte an die norwegische Regierung, der er einen kurzen Bericht über
den Verlauf der Expedition gab.
In Hammerfest traf Nansen seine Frau, die ihm auf das erste
Telegramm aus Vardö entgegengeeilt war. Hier traf er auch seinen alten
englischen Freund Sir George Baden-Powell, der mit seiner Luxusyacht "Otavia"
soeben von einer Forschungsreise nach Nowaja Semlja zurückgekehrt war und ihn
bat, sein Gast zu sein. Und hier erreichte ihn die Nachricht, die ihn mehr als
jede andere erregen musste. Am frühen Morgen des 20. August erschien der Chef
des Telegraphenamtes vor seiner Kabinentür, um ihm persönlich ein Telegramm zu
übergeben, weil er glaubte, dass es Nansen brennend interessieren würde. "Es gab
nur noch eines in der Welt, das mich wirklich interessieren konnte. Mit
zitternden Händen riss ich das Telegramm auf:
'Fridtjof Nansen. - Fram heute in gutem Zustand angekommen.
Alles wohl an Bord. Gehe sofort nach Tromsö. Willkommen in der Heimat. - Otto
Sverdrup.' Mir war, als sollte ich ersticken. Alles, was ich sagen konnte, war:
'Die Fram ist angekommen!'" - Baden-Powell machte einen Luftsprung vor
Aufregung, Johansen strahlte über das ganze Gesicht, und der Chef des Telegraphenamtes war beglückt über die Freude, die er angerichtet hatte. Nansen
eilte in die Kabine, um seiner Frau die glückliche Nachricht zu bringen.
"Schneller als sonst war sie angekleidet und draußen. Aber ich konnte es noch
kaum glauben; es erschien mir wie ein Feenmärchen. Ich las die Depesche wieder
und immer wieder, ehe ich mich überzeugen konnte, dass nicht alles ein Traum
war. Dann überkam mich eine eigentümliche heitere Ruhe, wie ich sie nie vorher
gekannt hatte."
Als sie am nächsten Tag in den Hafen von Tromsö einliefen,
lag dort die "Fram", groß und stark, vom Eis unbesiegt. "Das Wiedersehen, das
jetzt folgte, werde ich nicht zu beschreiben versuchen. Ich möchte wissen, ob
einer von uns mehr fühlte als das Eine: nun sind wir wieder alle beisammen, nun
sind wir wieder in Norwegen, und die Expedition hat ihre Aufgabe erfüllt."
Am 9. September fuhr die "Fram" den Christianiafjord hinauf.
Es gab einen Empfang, wie ihn hier noch kein König erhalten hatte. Kriegsschiffe
und Torpedoboote führten sie in den Hafen. Mehr als hundert festlich beflaggte
Dampfer folgten ihnen in zwei Reihen. Jedes der Kriegsschiffe feuerte dreizehn
Schuss ab. Dann gingen sie an Land. "Hoch, aufrecht und ernst stand Nansen im
Boot", während ein Chor ,Ein feste Burg ist unser Gott' anstimmte. Und dann
erklang aus Tausenden von Kehlen die norwegische Nationalhymne: "Ja, wir lieben
dieses Land!"
Fünf Tage lang dauerten die Empfangsfeiern. Die
Stadtverordneten begrüßten sie, ein Festzug führte durch einen Triumphbogen zur
Universität, wo sie der Rektor mit allen Professoren und Studenten willkommen
hieß. König Oskar gab ihnen ein Festmahl. Es gab Festbankette und Festreden,
eine Festvorstellung im Theater, Siegeskränze und Girlanden und einen Fackelzug.
Wieder, wie nach der Heimkehr von der Grönlandfahrt, erträgt Nansen alles
geduldig, aber viel Freude hat er nicht daran. Er teilt eher die Ansicht seines
Kameraden Peder Hendriksen von der "Fram", der schon bei der Einfahrt in den
Fjord von Drontheim mit einem wehmütigen Blick auf die jubelnden Menschenmassen
gesagt hatte: "Du, Nansen, das mag ja ganz gut sein, aber es ist zu viel Leben!
Ich denke an das Eismeer: da hatten wir es gut!"
Am Abend nach der Heimkehr stand Nansen am Ufer des
Christianiafjords vor seinem Hause. "Der Lärm nach dem Feste war verhallt, die
Fichtenwälder lagen ringsum schweigend und dunkel. Auf der Felsenklippe draußen
rauchten noch die letzten glimmenden Kohlen eines uns zum Willkommen
angezündeten Freudenfeuers, und zu meinen Füßen plätscherte und flüsterte die
See: "Jetzt bist du zu Hause." Der tiefe Friede des Herbstabends senkte sich
wohltuend auf den ermüdeten Geist. Ich musste mich jenes regenschweren
Junimorgens erinnern, als ich diesen Strand zum letzten Male betreten hatte.
Mehr als drei Jahre sind vorübergegangen. Wir haben gekämpft, wir haben gesät,
aber jetzt ist die Erntezeit gekommen. Es schluchzte und weinte in mir vor
Freude und Dankbarkeit. Das Eis und die langen Mondnächte mit all ihrer Qual
erschienen mir wie ein ferner Traum aus einer anderen Welt: ein Traum, der
entstanden und dahingeschwunden war. Aber welchen Wert hätte das Leben ohne
seine Träume?"
Nansens Reise durch die Arktis machte Epoche in der
Geschichte der Polarforschung. Das Werk "In Nacht und Eis" schildert seine
Erlebnisse und Erfahrungen auf der "Fram" und später auf der Eiswanderung mit
Johansen. Sein Stil ist einfach und klar. Es ist ein Tagebuch, das berichtet,
was geschehen ist. Als Knabe hatte er einmal in einem Brief an seinen Vater
bemerkt: "Wenn ich nichts zu berichten habe, dann kann ich nicht schreiben."
Aber jetzt gab es unendlich viel zu berichten, und zu den nüchternen Tatsachen
kamen die vielfältigen Reflexionen und Gefühle eines Mannes, der in seltsamer
Weise Klarheit, Härte und Empfindsamkeit in sich vereinigte. Das Ganze wurde ein
Werk, bei dessen Lektüre die Zeitgenossen oft den Atem anhielten vor Spannung
und Anteilnahme.
Erst später, in den Jahren 1900 bis 1906, erschienen die
wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise, sechs dicke Bände. Sie waren eine
Sensation für die Arktisforscher. Nansen hatte festgestellt: das Polarmeer ist
ein gewaltiger Ozean, an manchen Stellen fast viertausend Meter tief. Er hatte
weiter erwiesen, dass es den von manchen Forschern vermuteten arktischen
Kontinent nicht gab; ja nicht einmal Inseln im näheren Umkreis des Pols hatte er
gefunden. Seine Messungen der Wassertemperaturen ergaben ein überraschendes
Resultat: das Wasser unterhalb von zweihundert Metern ist wärmer als an der
Oberfläche, was zu ganz neuen Erkenntnissen über die Wasserzirkulation der
Arktis führte. Noch nie vorher waren meteorologische und magnetische
Beobachtungen so nahe am Pol gemacht worden, zum ersten Mal überhaupt
Pendelversuche über der Tiefsee.
Nansen wurde nach seiner Rückkehr eine Professur für Zoologie in Christiania
übertragen, zunächst ohne die Verpflichtung zu Vorlesungen, um ihm die
Bearbeitung der wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Expedition zu ermöglichen.
Immer mehr wandte sich beim Fortschreiten dieser Arbeiten sein Interesse den
Problemen der Ozeanographie zu, einer damals noch ganz jungen Wissenschaft. Ihr
ist er sein Leben lang treu geblieben, soweit nicht andere Pflichten ihn von der
wissenschaftlichen Arbeit fernhielten.
Doch diese Pflichten kamen bald. Sie forderten viel von
seiner Zeit, schließlich fast sein ganzes Dasein. Der Unionsstreit mit Schweden
zog ihn zum ersten Mal auf das Feld der Politik. Sein Name hatte Gewicht, nicht
nur in Skandinavien, sondern in aller Welt, vor allem in England. Als die Krise
im Jahre 1905 auf dem Höhepunkt war und man ernstlich mit einer militärischen
Aktion Schwedens rechnen musste, wurde Nansen nach London geschickt, um bei der
englischen Regierung und überhaupt bei den Großmächten um Verständnis für die
Haltung seines Landes in dem Streit zu werben.
Von 1906 bis 1908 war er der Chef der norwegischen
Gesandtschaft in London. Die Zeit war ein Opfer, das er seinem Volke brachte.
Bitter entbehrte er das Leben in freier Natur. In der pompösen Diplomatenuniform
und im mondänen Leben der Londoner Gesellschaft konnte ein Mann wie Nansen sich
nicht glücklich fühlen. Dazu kam ein schwerer persönlicher Schlag, der ihn traf.
Seine Frau, die mit den Kindern noch in Norwegen geblieben war, erkrankte
plötzlich und starb, ehe er zu ihr kommen konnte. Er bestattete ihre Asche unter
einem der vielen Rosenstöcke, die er in seinem Garten gepflanzt hatte. Jetzt
konnte ihn nichts mehr in London halten. "Ich sehne mich, diese Fesseln zu
zerreißen; ich sehne mich nach dem Wald und meinem freien Fjell!"
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges musste einen Mann wie
Nansen tief erregen. Er war kaum das, was man einen Pazifisten nannte.
Weichliche Sentimentalität lag ihm sehr fern. Er wusste nur zu gut: alles Leben
ist Kampf ums Dasein. Aber was hier geschah, war in seinen Augen der Selbstmord
Europas. Was sollte werden, wenn die besten Völker des Abendlandes im Kampfe
verbluteten?
Zunächst forderte ihn wieder sein eigenes Land für eine
politische Mission. Norwegen hatte als neutraler Staat in den ersten Jahren des
Krieges viel Geld verdient. Bald aber zeigte es sich, dass auf dem Weltmarkt
alle lebenswichtigen Waren immer knapper wurden und für Geld allein nicht mehr
zu haben waren, wenn man nicht als Gegenleistung kriegswichtige Güter zu bieten
hatte. Dazu aber war Norwegen kaum imstande, da es schon seit langer Zeit den
größten Teil seiner Lebensmittel, auch die Rohstoffe für seine Industrie aus dem
Ausland beziehen musste. Als Mitte des Jahres 1917 die amerikanische Regierung
ein grundsätzliches Ausfuhrverbot für Lebensmittel erließ, wurde die Lage
katastrophal. Wenn es nicht gelang, für Norwegen ein Sonderabkommen zu
schließen, stand der Hunger vor der Tür.
Wieder war es Nansen, der als Leiter einer Kommission nach
Amerika geschickt wurde, um das Schlimmste zu verhüten. Die Verhandlungen waren
schwierig und zogen sich lange hin. Schließlich kam nach neun Monaten ein
Abkommen zustande, das Norwegen vor der Hungersnot bewahrte. Über Nansens Art,
Verhandlungen zu führen, berichtet einer seiner damaligen Mitarbeiter: "Durch
seine überlegene Tüchtigkeit als Unterhändler, durch die Offenheit und
Wahrhaftigkeit, die von seiner ganzen Person ausstrahlte, war es Nansen nicht
nur gelungen, die amerikanischen Unterhändler sachlich zu überzeugen, er hatte
auch ihr Vertrauen und ihre Herzen gewonnen. Nansens Amerikaabkommen war der
Sieg einer Art Diplomatie, der man nicht immer diesen Namen zubilligt, die aber
trotzdem die Form für Verhandlungen zwischen den Völkern darstellt, die am
weitesten führt und die Diplomatie der Zukunft werden wird."
Kriegsgefangene und Flüchtlinge
Als der Weltkrieg zu Ende war, wurde Nansen Vertreter
Norwegens beim Völkerbund. Der hatte die Aufgabe übernommen, für die Rückführung
der Kriegsgefangenen aus allen ehemals kriegführenden Ländern in ihre Heimat
Sorge zu tragen. Vor allem handelte es sich um die Gefangenen der Mittelmächte
in Sibirien. Durch den politischen Umsturz in Russland waren sie völlig von der
Welt abgeschnitten. Langsam hörte man davon, wie es in ihren Lagern aussah, dass
Nahrung, Kleidung, Medikamente fehlten und täglich Hunderte dahinstarben.
Die Schwierigkeiten in dem politischen und wirtschaftlichen
Chaos der Nachkriegszeit waren riesengroß, und man musste rasch handeln, wenn
nicht alle Hilfe zu spät kommen sollte. Von dem Völkerbundssekretär Noel Baker
stammte der Vorschlag: Es gilt, einen Mann zu finden, der nicht nur die
technischen und finanziellen Schwierigkeiten meistern kann, sondern auch in
allen Ländern ein überragendes menschliches Ansehen genießt. Es gibt nur einen
solchen Mann, sagte Baker: das ist Nansen!
Als er die telegraphische Anfrage des Völkerbundes erhielt,
zögerte Nansen zuerst. Er glaubte, für eine solche Aufgabe nicht genügend
Erfahrung zu besitzen, und es fiel ihm schwer, sich von seinen
wissenschaftlichen Arbeiten zu trennen. Doch er ließ sich bald umstimmen. Mit
Schmerz und Grauen hatte er erlebt, wie die Jugend Europas auf den
Schlachtfeldern verblutete. Nansens Tagebücher geben ein erschütterndes Zeugnis
von seinen Empfindungen in diesen Jahren. So wollte er jetzt mithelfen zu
retten, wo noch etwas zu retten war.
Ohne aufrichtige Mitarbeit der Sowjetunion waren alle Pläne
undurchführbar. Nansen reiste darum zuerst nach Moskau. Hier erklärte ihm der
Außenkommissar Tschitscherin, da die Sowjetunion den Völkerbund nicht anerkenne,
könne sie auch mit ihm als dessen Beauftragten nicht verhandeln. - "Dann wollen
Sie mir innerhalb von zwei Stunden einen Extrazug für meine Rückreise bis zur
Grenze bereitstellen", antwortete Nansen. Doch bald einigten sie sich dahin,
dass er nicht im Namen des Völkerbundes, sondern als Vertreter aller der
einzelnen an der Aktion beteiligten Länder verhandeln sollte, deren Vollmachten
er sofort beantragte. Aber noch ehe sie da waren, hatte man ein befriedigendes
Abkommen erreicht. Die Sowjetregierung erklärte sich bereit, jede Woche
mindestens zwei Züge mit Gefangenen aus Russland und Sibirien an die Westgrenze
zu schicken. Dort sollten sie gegen russische Kriegsgefangene, die aus den
Ländern Mitteleuropas hierher gebracht wurden, ausgetauscht werden. Zur
Durchführung dieses Planes errichtete man an der Grenze mehrere Lager, das
wichtigste in Narwa. Obgleich sich Russland damals im Krieg mit Polen befand und
sein ganzes Eisenbahnmaterial dafür benötigte, hielt es den Vertrag ein. Ja,
manchmal kamen mehr Züge als vereinbart.
Die nächste Schwierigkeit bestand in der Frage der
Finanzierung. Der Völkerbund hatte Nansen wohl einen Auftrag gegeben, aber kein
Geld, da er damals selbst noch über keine Mittel verfügte. Die einzelnen
Regierungen zu Zahlungen heranzuziehen war schwierig und vor allem sehr
zeitraubend. Da entdeckte Nansen, dass mehrere Länder Anleihen zum Wiederaufbau
Mitteleuropas erhalten sollten. Sofort schaltete er sich ein und erklärte der
Kommission, die diese Beträge verwaltete, dass die Heimführung der
Kriegsgefangenen die wesentlichste Voraussetzung für den Wiederaufbau sei. Es
gelang ihm, aus diesen Fonds einen Kredit in Höhe von achteinhalb Millionen
Goldmark zu erhalten. Das war sehr wenig für seine riesenhafte Aufgabe; doch er
verstand es, sparsam zu wirtschaften. In kurzer Zeit war eine kleine, aber sehr
wirksame Organisation aufgebaut. Das Rote Kreuz und alle sonstigen Verbände, die
sich schon bisher mit der Betreuung der Kriegsgefangenen befasst hatten, wurden
herangezogen. Nansen hatte immer eine glückliche Hand in der Wahl seiner
Mitarbeiter, und er wusste jeden auf den richtigen Platz zu stellen. "Verstehe
ich mich auf etwas, dann auf Menschen", sagte er einmal.
Jetzt fehlte es an Schiffen, um die Transporte von Narwa nach
Swinemünde zu bringen. Schiffsraum war damals fast noch schwieriger zu bekommen
als Butter und Speck. Wohl lagen in den deutschen Häfen viele Schiffe. Aber sie
waren von den Engländern beschlagnahmt, die sie auch für die Zwecke des
Gefangenenaustausches nicht freigeben wollten. Nansen erklärte sich bereit, die
Schiffe reparieren zu lassen und so ihren Wert zu steigern. Er reiste selbst
nach London und erreichte, dass man ihm vierzehn Dampfer zur Verfügung stellte.
Sie wurden sofort auf deutschen Werften ausgebessert und mit deutschen Seeleuten
bemannt. Im Mai 1920 begannen die ersten Transporte. Schon auf der
Völkerbundssitzung im November kann Nansen berichten, dass
einhundertfünfzigtausend Gefangene zurückgekehrt sind. Es war ein Wettlauf mit
der Zeit. Aber weitere sechzig- bis achtzigtausend mussten noch einen Winter in
Russland aushalten.
In anderthalb Jahren waren schließlich
vierhundertfünfzigtausend Kriegsgefangene, die aus sechsundzwanzig verschiedenen
Ländern stammten, in ihre Heimat zurückgeführt worden. "Es gibt nicht ein Land
auf dem Kontinent", erklärte der Völkerbundssekretär Noel Baker, "wo nicht
Frauen und Mütter vor Dankbarkeit für Nansens Arbeit geweint haben." In einem
Bericht an den Völkerbundsrat zieht Nansen das Fazit dieser zwei Jahre: "Nie in
meinem Leben bin ich mit einem so entsetzlichen Übermaß von Elend in Berührung
gekommen wie hier, wo ich lindern soll. Diese Leiden sind aber nichts anderes
als die unausbleibliche Folge eines Krieges, der das Unterste zuoberst kehrte.
Der Völkerbund tut recht, dass er Fragen wie diese aufnimmt. Was ich aber vor
allen Dingen bei meiner Arbeit gelernt habe, ist dies: dass es eine Hauptaufgabe
des Völkerbundes werden muss, für alle Zeiten die Wiederholung einer solchen
Katastrophe zu verhindern."
Nansen war sechzig Jahre alt, als die Heimführung der
Kriegsgefangenen nahezu vollendet war. Wiederum hoffte er, sich nun ganz seinen
Studien widmen zu können. Wie viele wichtige Arbeiten und Forschungspläne hatte
er zurückstellen müssen, seit die Politik immer mehr von seiner Zeit in Anspruch
nahm! Zu Anfang des Jahrhunderts hatte er von einer Fahrt in die Antarktis
geträumt und von einem nochmaligen Vorstoß zum Nordpol. Die immer mehr sich
entfaltende Wissenschaft der allgemeinen Meereskunde stellte neue und reizvolle
Probleme. Gewiss, er verstand es, auch neben den politischen Aufgaben seine
wissenschaftlichen Arbeiten zu fördern, und mehrere wertvolle Untersuchungen,
die sich besonders mit Fragen der Ozeanographie, der historischen Klimatologie
und der Entdeckungsgeschichte befassen, kamen auch in dieser Zeit heraus. Aber
seine Hauptarbeitskraft musste er jetzt doch ganz anderen Dingen widmen.
Die Stunde, in der er sich zum ersten Mal für eine der
humanitären Aufgaben des Völkerbundes zur Verfügung gestellt hatte, entschied
auch über das letzte Jahrzehnt seines Lebens. Noch war die
Kriegsgefangenenaktion nicht beendet, da tauchte ein neues Problem auf: die
politischen Flüchtlinge. Mehr als eine Million Menschen war durch die russische
Revolution aus ihrer Heimat vertrieben worden. Aber niemand wollte sie haben;
denn überall herrschte Arbeitslosigkeit, und viele von ihnen waren alt und
krank. Man trieb sie hin und her über die Grenzen. Alle private Wohltätigkeit
konnte gegenüber diesem Meer von Not und Elend nur wenig helfen.
Für viele dieser Flüchtlinge bot sich die Möglichkeit, bei
Freunden oder Verwandten in anderen Ländern Arbeit zu finden; aber man ließ sie
nicht einreisen, weil sie keinen Pass hatten. Noch einmal ergab sich ein
internationales Problem von ähnlichem Ausmaß wie in der Kriegsgefangenenfrage.
Wieder wusste der Völkerbund keinen besseren Rat, als Nansen zu bitten, sich als
Generalkommissar dieser Sache anzunehmen. Konnte er sich angesichts solcher
Notlage ins Privatleben zurückziehen? Niemand verstand es so wie er, das
Gewissen der Welt aufzurütteln.
Es wurden Mittel bereitgestellt, die schlimmste Not zu
lindern. Aber das war keine Endlösung. Nansen forderte in einer Konferenz vor
Vertretern vieler Länder, man müsse diesen Flüchtlingen einen Pass ausstellen,
der es ihnen - die bisher als Staatenlose galten - ermöglichte, in jedes Land zu
reisen, wo es für sie eine Chance gab. Mehr als alle vorübergehenden
Unterstützungsmaßnahmen half dieser Ausweis, der unter dem Namen "Nansenpass"
berühmt wurde und den schließlich zweiundfünfzig Staaten anerkannten, dass ein
großer Teil von ihnen wieder den Weg in ein neues Leben fand.
Die russische Hungersnot
Im Juni des Jahres 1921 sandte der Dichter Maxim Gorki einen
Notruf in die Welt. Die fruchtbarsten Gebiete Russlands, die Ukraine und das
Land an der unteren Wolga, die schon jahrelang unter Dürre gelitten hatten,
waren von einer furchtbaren Hungersnot bedroht. Der Präsident des
Internationalen Roten Kreuzes in Genf berief eine Konferenz ein. Trotz mancher
Bedenken aus politischen Motiven waren zwölf Staaten bereit, Russland durch
Lieferung von Lebensmitteln zu helfen. Wieder war es Nansen, der die Leitung der
Aktion übernehmen sollte.
In Riga beginnt er, das Hilfswerk zu organisieren. Aber dort
konnte man nicht alle Fragen klären. Darum wird er mit Extrazug nach Moskau
geholt. Den Empfang im Kreml hat sein norwegischer Verleger geschildert: "Nansen
besuchte die rote Burg, um mit Lenin zu sprechen. Statt dessen kam ihm ein Mann
mit großem Bart und hohen Stiefeln entgegen. - ‚Mein Name ist Trotzki.' Nansen
erfuhr, dass Lenin krank war. Alle Geschäfte hatten die Minister übernommen. - 'Bitte, Herr Professor, dieses Arbeitszimmer steht Ihnen zur Verfügung. Wollen
Sie sich darin niederlassen und bestimmen, mit welchen von den russischen
Ministern Sie zu verhandeln wünschen. Dann werden diese in der Reihenfolge
erscheinen, die Sie vorschreiben!' - So schlug Nansen in der roten Burg sein
Quartier auf und erteilte den Führern der russischen Regierung Audienz."
Nansen verschaffte sich rasch ein Bild von der Lage. Zwanzig
bis dreißig Millionen Menschen waren vom Hungertode bedroht, wenn nicht sehr
schnell Hilfe kam. Unendliche Mengen von Getreide - etwa so viel, wie
achttausend Züge zu je fünfzig Waggons laden konnten - waren nötig, sie am Leben
zu erhalten. Russland selbst konnte kaum die Hälfte davon aufbringen. Die andere
Hälfte musste von außen kommen. Schon war ein Anfang gemacht worden. Der
Amerikaner Herbert Hoover, der spätere Präsident der Vereinigten Staaten,
leitete eine private Organisation, die drei Millionen russische Kinder ernährte.
Auch aus England kam Hilfe. Aber das alles musste vervielfacht werden, und zwar
noch in diesem Jahr, um die drohende Katastrophe abzuwenden. Russland besaß
nicht die Mittel, diese Getreideeinfuhr zu bezahlen. Es brauchte Kredit. Aber
Kredit für die Sowjetunion war damals schwer zu bekommen. Nansen übernahm es,
die nötigen Anleihen bei den europäischen Regierungen zu vermitteln.
Am 9. September 1921 - es war genau der Tag, an dem er vor
fünfundzwanzig Jahren mit der "Fram" von seiner Polarfahrt zurückgekommen war, -
sprach er vor dem Völkerbundsrat in Genf und bald danach vor der
Vollversammlung. Mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit bemüht er sich, die
Völker Europas zu einer gemeinsamen Hilfsaktion zu bringen: "Versuchen Sie sich
vorzustellen, was es bedeutet, wenn der russische Winter im Ernst einsetzt.
Versuchen Sie sich vorzustellen, was es bedeutet, wenn die Menschenmassen durch
das leere Land wandern, um etwas Nahrung zu erwischen. Männer, Frauen und Kinder
sterben im Schnee Russlands! Wenn Sie je erlebten, was es heißt, gegen Hunger
und Kälte kämpfen zu müssen, dann können Sie das russische Elend verstehen... Im
Namen der Menschheit, im Namen von allem, was für Sie heilig ist, beschwöre ich
Sie als Gatten und Väter zu bedenken, dass in Russland Frauen und Kinder zu
Millionen sterben! Von dieser Stelle aus bitte ich die Regierungen, die Völker
Europas, die ganze Welt um Hilfe. Beeilen Sie sich zu handeln, bevor es zu spät
wird, bevor Sie bereuen!"
Doch der Völkerbund versagte. Es geschah, was Nansen am
meisten befürchtet hatte: eine neue Konferenz wurde einberufen, die einen Monat
später in Brüssel tagte. Dort beschloss man, zunächst eine Kommission nach
Russland zu schicken, um die Notlage an Ort und Stelle zu untersuchen. Auch
sollte ein Kredit erst dann gegeben werden, wenn die Sowjetunion die Schulden
des Zarenreiches anerkannte. Nansen war aufs tiefste erbittert. Warum hatte man
ihn gerufen, wenn man nicht bereit war, die Mittel für seine Aufgabe
bereitzustellen? War es Trägheit des Herzens oder bewusste Absicht, die ganze
Hilfsaktion zu sabotieren? Er wusste es besser als jeder andere, dass diese
Verzögerungstaktik Millionen von Menschen das Leben kosten musste.
So blieb nur die Hoffnung auf die Liebestätigkeit privater
Organisationen. Vielerlei kam zusammen: Lebensmittel, Medikamente, auch Geld. Nansen bemühte sich, alle diese Spenden rasch in die rechten Kanäle zu leiten.
Dann fuhr er nach Russland in die Hungergebiete. Was er dort sah, war weit
schlimmer, als selbst er es erwartet hatte. Aus Dachstroh, Baumrinden und Laub
versuchten die Menschen Brot zu backen oder einen Brei zu kochen. Hunde und
Katzen waren längst verzehrt. Man scheute sich nicht, selbst die Leichen auf dem
Friedhof wieder auszugraben und zu essen. Empört rief Nansen nach Europa: "Warum
strömen nicht die Mittel im Überfluss? Wo bleibt die Nächstenliebe?"
Um Geld herbeizuschaffen, begab er sich auf eine
Vortragsreise durch die Hauptstädte Europas und nach Amerika, überall waren die
Säle voll von Menschen. Als er in einer Kirche in Stockholm sprach, waren sowohl
Mitglieder des Königshauses wie auch die Führer der Kommunisten anwesend. Nansen
ersparte ihnen nichts. Er schildert realistisch, was er gesehen hat, und er
macht es durch Lichtbilder deutlich. Die Zuhörer waren erschüttert. Viele
weinten, einige fielen in Ohnmacht. Selbst Nansen versagte manchmal die Stimme.
"Ich sage es jetzt und ich werde es immer sagen: wer diese russischen Kinder mit
ihren flehenden Augen gesehen hat, kann ihren Blick nie vergessen."
Die Zeitung "Dagbladet" berichtet im März 1922 von einem
dieser Vorträge: "Die Versammlung ist zu Ende. Professor Nansen erhebt sich, und
ein müdes Lächeln leuchtet einen Augenblick in seinem Antlitz auf. Bald soll er
seine übermenschlich anstrengende Reise fortsetzen, die Reise durch ein Eisland,
hundertmal schlimmer als das Polarmeer, das er einst überwand, die eisige
Herzenskälte einer abgestumpften Menschheit.
Seine gerade Gestalt hastet die Straße hinab - ein riesiger
Hut, zwei scharfe Augen, ein rassig gemeißeltes Antlitz, hart, entschlossen,
unerschütterlich - so sieht er aus, der für dreißig Millionen unglückliche
Menschen das Schicksal darstellt."
Nansens Propagandafeldzug hatte Erfolg. Aus privaten
Sammlungen und von verschiedenen Vereinigungen strömten ihm reiche Mittel zu,
und auch einige Regierungen leisteten jetzt Beiträge. Seine Organisation, die "Nansenhilfe",
sorgte dafür, dass das Geld so schnell wie möglich in Nahrungsmittel umgesetzt
und in die Notstandsgebiete geleitet wurde. Auch Hoovers Aktion bekam durch Nansens Appell an das Weltgewissen neuen Auftrieb. Das Zögern des Völkerbundes
hatte zur Folge, dass es nicht gelang, die große Katastrophe zu verhindern.
Millionen von Menschen starben, weil die Hilfe zu spät kam. Aber Millionen
wurden gerettet, weil Nansen sich bis zum äußersten seiner Kraft für sie
einsetzte.
Im Dezember 1922 wurde Nansen der Friedens-Nobelpreis
verliehen. Nach dem Testament seines Stifters sollte er denen zuerkannt werden,
"die am meisten oder am besten für die Verbrüderung der Völker wirken." Der
Vorsitzende des Nobelkomitees, Professor Strang, hielt die Festrede. Nachdem er Nansens Verdienste um die Rückführung der Kriegsgefangenen, die Flüchtlinge und
die Bekämpfung der Hungersnot in Russland gewürdigt hatte, erinnerte er an die
Fahrt der "Fram", die allein Nansens Glaube an die Polardrift zum Ziel gebracht
hatte. Dann fuhr er fort: "Dasselbe sehen wir in unseren Tagen. Wieder hat ein
Unterstrom, an den nur wenige geglaubt haben, Nansen vorwärts getragen - der
tiefe Strom des Menschengefühls, der unter der Eisschicht fließt, mit der sich
Staaten und Individuen umgeben. An diesen Strom hat Nansen geglaubt, und durch
diesen Glauben hat sein Werk gesiegt."
Der Völkerbund betrachtete Nansen jetzt als seinen bewährten
Experten für Flüchtlingsfragen aller Art. Als in dem griechisch-türkischen Krieg
Kemal Pascha den Griechen im Sommer 1922 eine vernichtende Niederlage
beigebracht hatte, flohen Hunderttausende von Griechen und Armeniern auf die
Inseln im Ägäischen Meer, um dem drohenden Massaker durch die Türken zu
entgehen. Nach dem Waffenstillstand im Herbst musste Griechenland Ostthrazien an
die Türkei abtreten. Wer nicht unter türkische Herrschaft kommen wollte, musste
das Land innerhalb von achtundvierzig Tagen verlassen. Aber unter den
griechischen Bauern, die nicht lesen konnten, verbreitete sich das Gerücht, es
sei ihnen eine Frist von nur achtundvierzig Stunden gesetzt. Da sie um keinen
Preis osmanische Untertanen werden wollten, flüchteten sie in wilder Panik über
den Grenzfluss Maritza nach Griechenland. Wieder war es Nansen, der die
schlimmsten Leiden dieses Flüchtlingsstromes linderte und beim Völkerbund eine
Anleihe erwirkte, um die Heimatlosen in Griechenland anzusiedeln.
Verratenes Volk
Nansens letzte Hilfsaktion galt dem
Schicksal des
armenischen Volkes.
Armenien, im
Altertum ein mächtiges Reich, lag an der Dreiländerecke, wo Russland, die Türkei
und Persien zusammenstoßen. Weitaus die meisten Armenier lebten auf türkischem
Gebiet, wurden aber hier von den Türken aufs bitterste bekämpft und misshandelt.
Schon der alte Gladstone, Englands langjähriger Premierminister unter der
Königin Viktoria, hatte 1876 empört gegen die Greueltaten der Türken in Armenien
protestiert. Er nannte die Türkei einen Schandfleck in der Welt und den Sultan
Abdul Hamid, der alle Grausamkeiten deckte, einen Mörder auf dem Thron. Zu
Beginn des ersten Weltkrieges hatten die Großmächte andere Sorgen, als sich um
das Schicksal einer kleinen Nation in Asien zu kümmern. Darum ging die Türkei
jetzt daran, die armenische Frage in ihrem Sinne zu lösen, das hieß: "das
Vaterland von der verfluchten Rasse zu befreien und alle Armenier im türkischen
Reiche auszurotten, so dass auch nicht eine lebende Seele entwische." Zunächst
wurden in Konstantinopel sechshundert Intellektuelle verhaftet, Lehrer und
Geistliche, Ärzte, Literaten und Rechtsanwälte. Nur acht davon sah man wieder,
über das, was kurz danach in der Provinz geschah, berichtet Nansens Biograph
Soerensen: "Dann brachen Greuel los, wie sie in der Geschichte nicht
Ihresgleichen haben. Von Cilicien, Anatolien und Mesopotamien wurden die
Armenier auf ihren Todesmarsch in die Wüste hinausgetrieben. Diejenigen, die
nicht niedergemacht oder erschossen wurden, starben vor Hunger. Ihr ganzes Hab
und Gut rissen die Türken an sich."
Um den Widerstand der Türkei zu brechen, versprachen im weiteren Verlauf des
Krieges die Alliierten den Armeniern Freiheit und politische Selbständigkeit,
wenn sie sich der Entente anschließen und in ihren Reihen kämpfen wollten.
Feierliche Versprechungen wurden ihnen von den großen Staatsmännern der
westlichen Welt gemacht: von
Asquith und
Lloyd George, von
Clemenceau,
Poincare
und Wilson.
Mehr als zweihunderttausend Armenier gaben ihr Leben für die
Sache der Alliierten. Die Hälfte des Volkes fiel den türkischen Massakern zum
Opfer. Achthunderttausend flüchteten ins Ausland oder in ein Versteck. Als der
Krieg zu Ende war, erinnerte sich niemand der großartigen Versprechungen. Doch
irgend jemand musste sich der Flüchtlinge annehmen. Der Völkerbund ernannte eine
Kommission, die untersuchen sollte, ob man nicht einen Teil von ihnen in dem
Gebiet südlich des Kaukasus ansiedeln könnte. Wieder bat man Nansen, den Vorsitz
zu übernehmen. Er konnte helfen, einigen Zehntausenden hier und anderswo eine
neue Heimstätte zu bereiten. Aber zu einer wirklichen großzügigen Hilfsaktion
für das ganze Volk verweigerte man ihm die Mittel. In zwei Büchern, "Betrogenes
Volk" und "Durch Armenien", hat er seine Erlebnisse in diesem Kampf geschildert.
Die Passivität der Großmächte in der armenischen Frage hat ihn tief erschüttert.
"Aber ich verstehe", schreibt er voll bitterer Ironie, "warum nichts geschieht,
warum die Staatsmänner Europas des ewigen armenischen Problems müde geworden
sind. Es hat ihnen ja nur Niederlagen eingebracht! Schon der bloße Name weckt
ihr schlafendes Gewissen. Wie viele Versprechungen haben sie nicht erfüllt! Ja,
nicht einmal versucht zu erfüllen. Es handelte sich ja nur um dieses kleine
blutende Volk, das zwar begabt war, aber weder Ölfelder noch Goldgruben besaß."
An Bord der "Fram" hatte Nansen in sein Tagebuch geschrieben: "Es kommt ein Tag,
groß und stille, öffnet die gewaltige Pforte zum Nirwana, und du wirst
hinübergetragen ins Meer der Ewigkeit." In der Winterhütte auf dem
Franz-Joseph-Land schrieb er zu Weihnachten 1895: "Der Tod kann sich, glaube
ich, niemals nähern, ehe man seine Mission erfüllt hat."
Jetzt, ein Menschenalter später, hatte er seine Mission
erfüllt. Seit dem Februar 1930 litt er an einer Venenentzündung. Auch begann
sein Herz zu versagen. Sein Biograph Wartenweiler berichtet von dem 13. Mai
dieses Jahres: "Der Nachmittag war schön -, diese Frühlingstage im Norden sind
von einer ergreifenden Milde - Nansen verlangte nach der Veranda seines Heimes,
nach dem Ausblick über Garten und Fjord. Draußen hörte ihn seine
Schwiegertochter plötzlich sagen: 'Wie gut, dass wir in unserm Garten diese
Linden gepflanzt haben ... Ihr Grün ist so frisch, dass sie den Frühling zu
verlängern scheinen.' Er neigt sich vornüber. Sie nähert sich ihm und richtet
das Haupt wieder auf: es war ihm auf die Brust gesunken. Noch einmal öffnet er
die Augen, küsst leise die Stirne, die sich über ihn beugt und seufzt: 'O ja!'
Es ist sein letztes Ja."
Am 17. Mai, dem Nationalfeiertag der Norweger, an dem Nansen
die Festrede halten sollte, wurde er beigesetzt. In der Pfeilerhalle vor der
Aula der Universität stand der Sarg. Ganz Oslo strömte herbei. Es kamen der
König und der Kronprinz. Es kamen Nansens alter Kamerad Sverdrup und Noel Baker
als Vertreter der englischen Regierung. Die Kinder aller Schulen zogen an dem
Katafalk vorbei. Zwei Minuten lang ruhte der Verkehr. Die Gedächtnisrede des
Staatsministers an der Bahre klang aus in dem Gedicht von Anders Horden:
-
"Mein Leben schenk ich
ungeteilt,
und alles, was ich bin und hab."
Und dann sang die Menge ernst und feierlich Norwegens Nationallied:
"Ja, wir
lieben dieses Land!"
Nansen ging ein in die Geschichte als ein großer
Polarforscher und als großer Mensch.
Was die Menschen antreibt, die Arktis, ja überhaupt die unbekannten Regionen der
Erde und des Geistes zu erforschen, hat er selbst einmal formuliert: "Solange
das menschliche Ohr die Brandung des Meeres hört, solange das menschliche Auge
das Nordlicht über dem Schneefeld sieht, solange der menschliche Gedanke Welten
im endlosen Räume sucht, so lange wird die Sehnsucht nach dem Unbekannten den
menschlichen Geist vorwärts und aufwärts führen."
Und solange es Kriege gibt, die von Generation zu Generation
immer grauenvoller werden, die in ihrem Gefolge Not und Elend bringen, die
Kriegsgefangene und Flüchtlinge zu Millionen an den Rand der Existenz werfen,
wird man sich seiner erinnern. Und man wird danach rufen, ob nicht wieder ein
Mann erstehen werde, wie Nansen es war. Kein weltfremder Ideologe, sondern ein
harter und nüchterner Mann. Ein Mann, der nicht nur von Humanität redet, sondern
männlich und stark unter den harten Realitäten der Politik mit der heißen
Leidenschaft seines Herzens tut, was nur getan werden kann, um für zahllose
Menschen die Not zu lindern und ihr Schicksal zu wenden. |