Fridtjof Nansen

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Fridtjof Nansen

In Nacht und Eis

Quelle: Johannes Paul: ''Abenteuerliche Lebensreise - Sieben biographische Essays'' (Seite 247 - 316: Fridtjof Nansen: In Nacht und Eis) - Wilhelm Köhler Verlag Minden 1954

"Es wäre Verbrechen, einen Selbstmörder zu unterstützen." So schrieb eine norwegische Zeitung, als der in der Öffentlichkeit noch kaum bekannte Konservator am naturwissenschaftlichen Museum in Bergen, Fridtjof Nansen, den Plan vorlegte, das unbekannte Innere von Grönland auf Schneeschuhen zu durchqueren. Nansen hatte von der norwegischen Regierung für die geplante Expedition den bescheidenen Betrag von fünftausend Kronen erbeten. Doch das Gesuch wurde ohne ernsthafte Prüfung abgelehnt. "Warum soll das norwegische Volk die kostbare Vergnügungsfahrt bezahlen, die ein Privatmann nach Grönland unternimmt?" fragte eine der Regierung nahe stehende Zeitung.

 

Nansen hatte sich schon in jungen Jahren mit den Problemen der arktischen Forschung beschäftigt. Am 10. Oktober 1861 wurde er auf einem Gut nahe der Hauptstadt Christinnia, dem heutigen Oslo, geboren. Der Lebenszuschnitt in seinem Elternhaus war einfach, die Erziehung spartanisch. Den Weg in die Stadt zur Schule musste er auch im härtesten Winter stets zu Fuß zurücklegen. Nördlich von Christiania erstreckte sich ein damals noch unwegsames Waldgebiet, die Nordmark. Sie wird geschildert als eine einsame Welt von engen Tälern und steilen Höhen, versteckten Wasserspiegeln und brausenden Bächen. Hier verbrachte Nansen in der Jugend mit einem seiner Brüder jeden freien Tag. Sie angelten Forellen, schliefen in verlassenen Köhlerhütten und empfanden das ganze Jugendglück eines Robinsonlebens. ,,Ich werde diese Tage nie vergessen. Dort war Freiheit! Weder Vater noch Mutter, die nach uns riefen, dass wir essen oder schlafen sollten. Alles verlief, wie wir selbst es wollten. Die Nacht war hell und lang, der Schlaf war kurz." Schon in der Jugend ein Einzelgänger, erlebte er hier die Natur in ihrer strengen Schönheit und unbarmherzigen Gewalt. Von Rousseaus Naturschwärmerei war er ebenso weit entfernt wie sein Zeitgenosse und Landsmann Knut Hamsun. Als er zwei Jahrzehnte später mit der "Fram" das Polarmeer durchquerte, hing in seiner Kajüte ein Bild dieses Waldes. "Du ernster Fichtenwald", schrieb er damals in sein Tagebuch, "der einzige Vertraute des Kindes, bei dir lernte ich die tiefsten Töne der Natur, ihre Schwermut, ihre Wildheit. Du gabst der Seele Farbe fürs Leben."

Als Nansen das Abschlussexamen der Schule bestanden hatte, musste er sich für einen Beruf entscheiden. Die Wahl fiel ihm sehr schwer. Er wollte Naturwissenschaften studieren, aber zugleich war er ein leidenschaftlicher Jäger. Wie konnte er seine Berufspläne in Einklang bringen mit dem Freiluftleben, an das er gewöhnt war? Physik und Chemie, die ihn vor allem reizten, boten dafür kaum Aussicht. So entschloss er sich zum Studium der Zoologie, weil er hoffte, dabei noch am meisten den Umgang mit der freien Natur zu finden.


Unter Robben und Eisbären

Einer seiner Professoren gab ihm den Rat, einen Robbenfänger auf der Fahrt ins Eismeer zu begleiten, um gleich zu Anfang seines Studiums einen Einblick in die Lebensbedingungen der arktischen Tierwelt zu erhalten. Nichts konnte Nansen willkommener sein. Anfang März 1882 trat er auf dem Robbenjäger "Viking" seine erste Reise in die Polarwelt an. Nach einer Woche trafen sie auf die ersten Eisschollen und drangen nun Tag für Tag immer tiefer in die leuchtende Fläche des Treibeises ein. Krachend zersplitterten die mächtigen Schollen an dem starken Bug des Schiffes. Nansen spürt es sofort: das ist die Welt, die seinem Wesen entspricht, in der er leben möchte und in der er glücklich sein wird!

Lange Zeit war nicht eine einzige Robbe zu sehen. Plötzlich stießen sie auf eine riesige Herde. Zehn Boote wurden ausgeschickt und brachten reiche Beute zum Schiff zurück. Doch dann fror der "Viking" vor der Küste von Grönland im Eise fest. Für den Kapitän war das schmerzlich, denn er verlor vier Wochen der besten Fangzeit. Nansen aber war hoch erfreut. Hatte er bisher nur die Lebensgewohnheiten der Vögel und die Tierwelt des Meeres untersuchen können, so fand er hier zum ersten Male Gelegenheit zur Jagd auf Eisbären, die neugierig das Schiff umkreisten. Nansen ist der leidenschaftlichste unter allen Jägern. Er scheut sich nicht, bei der Verfolgung eines angeschossenen Bären ins Wasser zu springen, wenn die Rinnen im Eis zu breit sind. Aber als er dann endlich das Tier erreicht und mit seiner letzten Patrone erlegt hat, durchzuckt ihn der Gedanke: "Herrgott, wie gemein, dass ein Stückchen Blei diesem freien Leben in den endlosen Eisweiten so plötzlich ein Ende setzen kann."

Wenn er Wache hatte und oben am Mast in der Tonne als Ausguck saß, sah er vor sich im Westen die Küste von Grönland. "Die Gipfel und Gletscher glitzerten im Tageslicht hinter dem Treibeis. Abends, wenn die Sonne auf ihrer Rundreise am Himmel sie berührte und Luft wie Wolken hinter ihnen in Brand steckte, trat ihre wilde Schönheit noch bezaubernder hervor." Gar zu gern hätte er einen Vorstoß dahin unternommen, aber der Kapitän erlaubte es nicht. Doch schon jetzt ist ihm klar: Grönland wird das Ziel seiner nächsten Reise in die Arktis sein!

Als Nansen vom Eismeer zurückkehrte, wurde er als Konservator am Museum in Bergen angestellt. Mit der Energie, mit der er alle selbstgewählten Aufgaben anpackte, stürzte er sich auf das Studium der Zoologie. Jahrelang musste er für seine erste wissenschaftliche Arbeit zahllose Präparate und Schnitte machen, die er in unermüdlicher Arbeit am Mikroskop untersuchte und zeichnete. Er beklagt es, nun das Leben eines Stubenhockers führen zu müssen, aber zum Ausgleich tritt er gleich zwei Turnvereinen bei.

Im Jahre 1885 begab sich Nansen auf eine Studienreise nach Italien. Mehrere Monate lang arbeitete er an der biologischen Station in Neapel, die der deutsche Naturforscher Anton Dohrn hier geschaffen hatte. Er schwärmt mit Freunden auf Ischia und auf den Felsen von Capri, bei Chianti und Tarantella. "Der geschmeidige nordische Hüne war immer der beste und feurigste Tänzer", berichtet einer seiner Bekannten aus dieser Zeit. Aber dieser Ausflug in die Welt des Südens blieb nur eine Episode in seinem Leben, das schon damals unweigerlich dem Norden, der Polarforschung verschrieben war.

Nansen kehrt nach Bergen zurück und erwirbt im Jahre 1888 mit einer zoologischen Arbeit den Doktorgrad. So intensiv er sich auch seinen Studien hingibt, immer findet er noch die Zeit zu wagehalsigen Touren im Hochgebirge und vor allem für seinen geliebten Sport, das Schneeschuhlaufen.

 

Nansen war kein Freund der Presse. Zeit seines Lebens konnte er monatelang ohne die Lektüre von Zeitungen auskommen. Es genügte ihm, die wichtigsten Tagesneuigkeiten von seinen Freunden zu erfahren. Doch einmal horchte er auf, als die letzten Zeitungsmeldungen vorgelesen wurden. Nordenskiöld, dem berühmten schwedischen Polarforscher, war es gelungen, von Westen her eine kurze Strecke in das Hochplateau des grönländischen Inlandeises vorzudringen, und er hatte dort gutes Skigelände gefunden. Diese Nachricht wurde für Nonsens Grönlandpläne von entscheidender Bedeutung. "Wie ein Blitz erleuchtete mich der Gedanke: eine Expedition auf Skiern müsste Grönland von der Ostküste aus durchdringen! Mein Plan war geboren, wie er später ausgeführt wurde."

Doch erst vier Jahre danach, als er seine Studien abgeschlossen hatte, konnte er ernstlich mit den Vorbereitungen beginnen, überall fand er für seinen Plan höhnische Ablehnung, zum mindesten ernste Skepsis. An der Westküste Grönlands gab es zahlreiche Siedlungen, auf die man sich bei einem missglückten Unternehmen zurückziehen konnte. Die Ostküste dagegen war unwirtlich und fast unbekannt.

"Aber wenns schief geht, wenn Sie nicht durchkommen", hielt man Nansen vor, "dann fehlt Ihnen ja eine Rückzugslinie!" Doch gerade das war es, was Nansen wollte: keine Rückzugslinie! Immer, so meinte er, ist man auf einem solchen Unternehmen in Versuchung, zu früh aufzugeben. Wenn man aber erst alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, dann hilft nur eines: vorwärts, immer vorwärts!


Auf Schneeschuhen durch Grönland

Niemals im Leben hat Nansen sich gescheut, ein ernsthaftes Risiko einzugehen. Aber nie war er leichtsinnig. Mit der größten Umsicht und Sorgfalt bereitete er seine Expedition vor. Schon längst hatte er alle früheren Berichte über Forschungsreisen in der Arktis studiert, um die Gründe für ihre Erfolge oder ihr Versagen zu erforschen. Es war ihm dabei klar geworden, dass schon der kleinste Fehler in der Ausrüstung über Leben oder Tod der Mannschaft entscheiden kann. "Ein Nagel oder eine Fuge, die ihren Zweck nicht erfüllen, können die ganze Expedition aufhalten, ja die allerernstlichsten Folgen nach sich ziehen. Jede noch so kleine Einzelheit muss gewissenhaft geprüft werden. Das Ganze erfordert die bedachtsame Überlegung einer langen Reihe von Bagatellen, von deren Summe aber der Erfolg abhängig ist; es kann schwerlich zu viel Gewicht darauf gelegt werden. Viele der früheren Expeditionen sind meiner Ansicht nach zu leicht über diesen Punkt hinweggegangen."

Ursprünglich hatte Nansen vorgehabt, die Schlitten mit dem Proviant und der sonstigen Ausrüstung von Hunden oder auch von Rentieren ziehen zu lassen. Es erwies sich aber als unmöglich, wirklich geeignete Tiere in absehbarer Zeit zu beschaffen. Auch wäre es wohl sehr schwierig gewesen, sie an der Ostküste Grönlands durch den Treibeisgürtel an Land zu bringen.

So entschloss er sich dazu, allein von Menschenkraft gezogene Schlitten zu benutzen. Nach seiner Ansicht waren die auf früheren Expeditionen verwendeten Schlitten meist zu schwer und zu klotzig gebaut, auch viel zu groß. Nansen studiert das Problem genau und entwirft dann ein eigenes Modell. Für seine Schlitten wurde nur auserlesenes Eschenholz verwendet. Sie waren so leicht wie möglich, wogen kaum vierzehn Kilogramm bei einer Länge von knapp drei Metern und bestanden die Probe auf dem schwierigsten Inlandeis vortrefflich. Kein einziger zerbrach; spätere Polarreisende nahmen sie sich als "Nansenschlitten" zum Vorbild. Von diesem Modell wurden fünf Stück angefertigt. Jeder sollte von einem Mann gezogen werden, nur der an der Spitze von zweien, da er den Weg zu bahnen hatte und es oft nötig war, einen Mann vorauszuschicken, um das Gelinde zu erkunden.

Nach seinen Angaben wurden ferner zwei kurze, kräftige Spezialboote gebaut, in denen die Expeditionsteilnehmer von dem Robbenfangschiff durch die Treibeiszone zur Küste gelangen sollten. Weiter gehörten zur Ausrüstung ein Zelt und zwei Schlafsäcke aus Rentierfell, jeder mit Raum für drei Mann. Diese kombinierten Schlafsäcke waren wohl etwas unbequem, weil man bei jeder Bewegung seines Nachbarn gestört wurde, aber sie boten den unschätzbaren Vorteil, dass die Schläfer sich gegenseitig wärmten.

Mit großer Sorgfalt wurde der Proviant ausgewählt. Nansen legte dabei zum Vergleich die Rationen zugrunde, die ein preußischer Soldat bei strengem Dienst bekam. Konserven in Dosen, so meinte er, wären zwar angenehm und gesund; aber für eine Expedition wie diese waren sie viel zu schwer, konnten darum nur in geringen Mengen mitgenommen werden. So entschied er sich im wesentlichen für Pemmikan, eine auf vielen Polarreisen bewährte Mischung uns Fleischpulver und Fett. Dazu kamen Schokolade, Butter, schwedisches Knäckebrot, Fleischcakes aus England und Erbswurst aus Görlitz.

Eisern war er in der Ablehnung des Alkohols, der seiner Meinung nach besonders in der Kälte unbedingt erschlaffend wirkt, die Körperwärme mindert und die Verdauungstätigkeit stört. Auch den Tabak hält Nansen auf Expeditionen für schädlich. Doch hier ist er milder in seinem Urteil, weil nun einmal die meisten Männer daran gewöhnt sind. Gegen Kaffee hatte er keine Bedenken und nahm ihn in der Form von Kaffee-Extrakt mit. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die gesamte Mannschaft nach dem Genuss des Kaffees schlecht oder gar nicht schlafen konnte, weil offenbar in diesem Extrakt das Koffein besonders stark konzentriert war. So verbot er sehr zum Schmerz einiger Expeditionsteilnehmer den Kaffeegenuss, bis sie in die sichere Nähe der Westküste gekommen waren. Die Ausrüstung kann auf einer Polarexpedition lebensentscheidend sein, nicht minder aber die Auswahl der Mannschaft. Nansen konnte nur Leute gebrauchen, die von Kind auf mit dem Leben in Eis und Kälte und mit dem Schneeschuhlaufen vertraut waren. Obwohl man allgemein der Ansicht war, dass sein geplantes Unternehmen eine Tollkühnheit sei, stellte sich ihm eine große Anzahl von Bewerbern zur Verfügung, nicht allein aus Norwegen, sondern auch aus Dänemark, Frankreich, Holland und England.

Er wählte schließlich drei Norweger: den Seekapitän Otto Sverdrup, der ihm durch sein ganzes Leben ein treuer Gefährte blieb, den Leutnant Dietrichson und Kristiansen, einen norwegischen Bauernburschen. Da er ursprünglich die Absicht hatte, Rentiere mitzunehmen, auch glaubte, aus den angeborenen Gaben eines Naturvolkes für seine Reise Nutzen ziehen zu können, hatte er sich durch Freunde aus den Finnmarken zwei Lappen kommen lassen. Als sie im letzten Augenblick vor der Abreise in Christiania eintrafen, war er bitter enttäuscht. Der eine war zu jung, der andere zu alt. Beide waren nicht aus Freude am Abenteuer, sondern des Geldverdienstes wegen gekommen, und sie gaben offen zu, dass sie große Furcht hätten, ihre Heimat nie mehr wiederzusehen. Nansen wollte sie am liebsten sofort wieder zurückschicken. Aber nun war es zu spät. So redete er ihnen gut zu, die Sache sei gar nicht so gefährlich. Im Verlauf der Reise erwiesen sich die beiden Lappen, Balto und Ravna, als gutartige und treue Menschen. Aber den eigentlichen Nutzen, den er sich von ihnen versprochen hatte, konnten sie nicht leisten.

 

Anfang Juni 1888 ging Nansen mit seinen Gefährten in Island an Bord des Robbenfängers "Jason", der sie möglichst nahe an die Ostküste Grönlands bringen sollte. Der Kapitän hatte sich jedoch ausdrücklich vorbehalten, dass die Interessen des Robbenfanges durch die Pläne der Expedition keinen Schaden leiden dürften.

Nach acht Tagen tauchten vor ihnen die hohen, zackigen Felsen von Grönland auf. Für Nansen war es der lockende Blick auf das Land, dem seit Jahren seine Sehnsucht galt. Der Lappe Balto ist nicht so beglückt über den ersten Anblick. In seinem Tagebuch, das er während der ganzen Reise führte, schreibt er: "Der Teil von Grönlands Ostküste, den wir sahen, war nicht schön und lieblich zu schauen, denn fürchterlich hohe Felsberge ragten wie Kirchtürme zu den Wolken des Himmels auf, die ihre Gipfel bedeckten."

Die Eisverhältnisse waren jedoch für eine Landung an dieser Stelle nicht günstig. Dann führte der Robbenfang den "Jason" wieder weit ins Meer hinaus. Erst einen Monat später, als sie noch einmal nahe der Küste waren, ergab sich die Gelegenheit, den großen Absprung zu wagen. Nansen hatte von der Ausgucktonne gesehen, dass der Weg zum Lande nur kurz war und genügend offenes Wasser zwischen dem Treibeis bot.

Zu Anfang ging alles gut. Das Eis lag lose. Man konnte fast immer zwischen den Schollen hindurchrudern. Gelegentlich mussten Brechstangen und Äxte den Weg bahnen. Ein kräftiger Regen setzte ein, aber alle waren wohlgemut und sprachen schon davon, wann und wo sie am Lande Kaffee kochen wollten. Doch plötzlich gerieten sie in einen reissenden Malstrom, der die Schollen aufeinander trieb, so dass sie sich krachend überschlugen. Eine scharfe Eiskante zerriss eine Planke von Nansens Boot. Schnell wurden beide Fahrzeuge auf eine Eisscholle gezogen, wo es in kurzer Zeit gelang, den Schaden zu beheben. Dennoch wurde dieser Aufenthalt für die Expedition zum Verhängnis. Die Scholle, der sie sich anvertraut hatten, trieb in der reißenden Strömung immer weiter nach Süden. So blieb ihnen nichts anderes übrig als das Zelt aufzuschlagen und in die Schlafsäcke zu kriechen, während der "Jason" am Horizont verschwand. "Ach, wie dumm sind wir gewesen", sagte in diesem Augenblick der Lappe Ravna zu seinem Landsmann, "dass wir das Schiff verlassen haben, um hier zu sterben. Es ist keine Aussicht, lebendig davonzukommen. Das große Meer wird unser Grab werden."

Nansen betrachtete die Dinge weit ruhiger. Doch auch er sah mit Besorgnis, dass die Gipfel am Eingang des Fjords, wo er an Land gehen wollte, immer weiter in der Ferne versanken. Am Morgen des übernächsten Tages erwachten alle durch einen heftigen Stoß. Die Scholle, die etwa dreißig Meter Durchmesser hatte, war dicht bei dem Zelt geborsten. Schnell waren sie auf den Beinen, um mit Schlitten und Booten, Zelt und Proviant auf die nächste größere Eisscholle überzusiedeln. Aber die Gefahr wurde dadurch nicht geringer. "Inzwischen nähern wir uns der Brandung mehr und mehr, der Lärm wächst, die Wellen prallen gegen unsere Scholle an und treiben an allen Ecken und Kanten darüber hin. Die Situation fängt an, kritisch zu werden."

Am nächsten Vormittag waren die beiden Lappen spurlos verschwunden. Niemand konnte begreifen, wo sie geblieben waren, denn auf der Eisscholle gab es kaum eine Stelle, wo man sich verstecken konnte. Da bemerkte Nansen, dass über eines der Boote sorgfältig einige Persennings gebreitet waren. "Ich hob sie leise in die Höhe und sah die beiden Lappen auf dem Boden des Bootes liegen. Der jüngere, Balto, las dem älteren auf Lappländisch aus dem Neuen Testament vor. Ohne dass sie es bemerkten, deckte ich die kleine Kirche, die sie sich eingerichtet hatten, leise wieder zu. Sie hatten das Leben aufgegeben und bereiteten sich zum Tode vor."

Nansen bereute jetzt, die Lappen mitgenommen zu haben. In ihrer Heimat waren sie mit allen Gefahren von Eis und Schnee vertraut, aber das Meer war ihnen ein fremdes und unheimliches Element. Ja, auch ihm selbst, dem immer unverzagten Führer der Expedition, kommen Todesgedanken. Als am Abend dieses Tages die Sonne unterging, ließ sie das ersehnte Land im Westen, das Eis und das Meer in glühenden Farben aufleuchten. Kein Lüftchen regte sich, aber in unmittelbarer Nähe toste die gefährliche Brandung, und wie ein Schild rollte ihnen die Meeresfläche entgegen. Da fiel Nansen der Anfang eines alten Liedes ein:

"Schön ist das Meer, wenn still es sich wölbt
Blank wie ein Schild ob des Wikingers Grab -".
"Der Gedanke an Untergang bei einem solchen Wetter erscheint uns fast unglaublich, doch einmal muss es ja sein, und eine schönere Abschiedsstunde kann man sich wohl kaum wünschen."

Nansen gibt sich keiner Täuschung über die Lage hin. Er weiß: wenn ihre Scholle in den nächsten Stunden ins offene Meer getrieben wird - und es sieht ganz danach aus - werden sie alle ihre Kräfte nötig haben. Er schickt darum alle Mann zum Schlafen in das Zelt, das als einziges von der ganzen Ausrüstung noch nicht in die Boote gepackt war. Sverdrup, neben Nansen der Erfahrenste und Ruhigste von allen, übernimmt die erste Wache, um sie im entscheidenden Augenblick zu wecken. Nach kurzem Schlaf erwachte Nansen und fühlte, wie die Eisscholle gleich einem Schiff in starkem Seegang auf und ab wogte. Das Getöse der Brandung war lauter als je zuvor. Er erwartete jeden Augenblick, dass Sverdrup sie wecken würde. "Deutlich hörte ich seinen wohlbekannten ruhigen Schritt auf der Scholle zwischen dem Zelt und den Booten. Es war mir, als sähe ich seine kräftige Gestalt dort unbekümmert hin- und herwandern, die beiden Hände in den Taschen, ein wenig vornübergebeugt, das nachdenkliche, unerschütterlich ruhige Gesicht auf die See gerichtet, von Zeit zu Zeit auf dem Kautabak im Munde priemend, - dann verwirren sich meine Gedanken, ich schlafe wieder ein."

Als Nansen am nächsten Morgen erwachte, traute er seinen Ohren nicht. Die Brandung war jetzt nur noch ganz von vernehmbar. Er trat aus dem Zelt und sah, dass sich am Rande ihrer Scholle große und kleine Eisstücke zu einem hohen Wall aufgetürmt hatten, an denen sich die Wellen brachen.

Sverdrup erzählte, er sei im Laufe der Nacht mehrmals nahe daran gewesen, sie alle zu wecken und in die Boote zu rufen. Die Scholle trieb am äußersten Eisrand. Dicht daneben zogen große Eishügel vorüber, die jeden Augenblick umstürzen und sie in die Tiefe reißen konnten. Schon hatte er eine Krampe der Zelttür geöffnet, beschloss aber dann doch, die nächste Sturzsee abzuwarten. "Mehr Krampen sollte er jedoch nicht öffnen", schreibt Nansen, "denn gerade als es am allerschlimmsten aussah und unsere Eisscholle kurz davor war, in die stärkste Brandung hineingeschleudert zu werden, veränderte sie plötzlich ihren Kurs und steuerte mit ganz erstaunlicher Schnelligkeit dem Lande zu. Sverdrup sagte, es habe auf ihn den Eindruck gemacht, als würde sie von einer unsichtbaren Hand gelenkt."

 

Fast zwei Wochen lang dauerte die Fahrt auf der treibenden Scholle. Immer wieder versuchte Nansen, zur Küste vorzudringen. Doch das Eis ist nicht fest genug, um die Boote und Schlitten zu tragen; aber die Schollen liegen auch zu dicht, als dass man es hätte wagen können hindurchzurudern. Schon nähern sie sich bedenklich dem Kap Farvel, der Südspitze Grönlands. Doch plötzlich lockert sich das Eis. Sie sind jetzt der Küste näher als je zuvor. Hier, wenn überhaupt, musste es gelingen, an Land zu kommen! Nach einigen Stunden angestrengten Ruderns sind sie aus dem Treibeis heraus und landen auf einer dicht vor der Küste gelegenen Insel. "Wir sprangen ans Land, wir fühlten Steine unter den Füßen, wir bestiegen den Berg, wir freuten uns wie Kinder. Ein Büschel Moos, ein Grashalm, eine Blume erweckten einen Strom von Gefühlen. Die Lappen liefen sofort in die Berge; lange sahen wir sie nicht wieder."

Während der Fahrt auf der Eisscholle hatten sie sich nur ganz selten den Luxus einer warmen Mahlzeit geleistet, um den Spiritus für den Kochapparat zu sparen. Jetzt aber gibt es ein festliches Mahl: heiße Schokolade, so viel jeder mag, dazu außer den üblichen Rationen noch Haferkeks, Käse und eingemachte Preiselbeeren. Die Stimmung der ganzen Mannschaft ist glänzend; selbst die Lappen sind vergnügt.

Viel wertvolle Zeit war verstrichen. Weil dem Robbenjäger "Jason" der Seehundfang wichtiger war als die Interessen der Expedition, hatten sie einen kostbaren Monat des kurzen grönländischen Sommers verloren. Die Drift im Treibeis kostete zwei weitere Wochen und hatte den Proviant, der nur für die Durchquerung Grönlands bemessen war, trotz äußerster Sparsamkeit erheblich vermindert. Wäre es nicht klüger, jetzt nach Süden zu gehen, wo man bald eine menschliche Ansiedlung erreichen konnte, und dort zu überwintern? Doch davon will Nansen nichts wissen. Nach kurzer Ruhepause gibt er den Befehl, dicht an der Küste nach Norden zu rudern, um die Stelle zu erreichen, die er als Ausgangspunkt für die Inlandreise vorgesehen hatte. Es gilt, alle Kräfte auf dieses Ziel zu richten. "Von nun an lautete die Parole: So wenig Schlaf wie möglich, so wenig und so schnelles Essen wie möglich, so viel Arbeit wie möglich."

Die Fahrt nach Norden war mühselig genug, aber doch nicht so schwierig, wie sie nach den Erfahrungen im Treibeis erwartet hatten. Meist gab es in Nähe der Küste offenes Wasser. Nur gelegentlich war es nötig, mit den Bootshaken einen Weg durch die Eisschollen zu bahnen. Nach einigen Tagen begegnen ihnen zwei Eskimos, die in ihren Kajaks nach Süden paddeln. Bald darauf treffen sie auf ein ganzes Eskimolager. Der Hügel über der Stelle des Ufers, wo sie laden wollten, war übersät mit zahllosen Menschen, die sie mit fröhlichem Geschrei begrüßten. Die Eskimos führten Nansen und seine Leute in das größte der Zelte und redeten unausgesetzt auf ihre Gäste ein. Leider war eine Konversation unmöglich, da keiner der Norweger die Eskimosprache beherrschte. So musste die Zeichensprache aushelfen, mit der man sich schließlich ganz gut verständigte.

Nansen war glücklich, hier zum ersten Male Angehörige dieses seltsamen Volkes kennenzulernen. Die Atmosphäre in dem Zelt war freilich für europäische Begriffe nicht angenehm. Es herrschte ein durchdringender Trangeruch, dazu kamen alle möglichen menschlichen Ausdünstungen, Einige von Nansens Gefährten zogen sich darum rasch zurück. Er selbst aber gewöhnte sich bald an diese Umgebung. "Das erste, was meine Aufmerksamkeit erregte, war die Unmenge nackter Körper, die ich rings umher im Zelt sitzen, liegen und stehen sah. Sie trugen alle ihr "Natit" (Hausgewand). Dies ist aber so klein, dass ein ungeübtes Auge nicht sonderlich daran hängen bleibt. Es besteht aus einem schmalen Band um die Lenden, das sich besonders bei den Frauen auf das allergeringste beschränkt. Von falscher Scham war hier nicht viel zu entdecken... Dass sogar einzelne von uns erröteten, als wir sahen, wie ein paar junge Mädchen und Burschen gleichzeitig mit uns ins Zelt kamen, sich ganz ungeniert entkleideten, diese Haustracht anlegten und Platz auf der Pritsche nahmen, ist wohl ganz erklärlich, wenn man bedenkt, wie lange wir jetzt ausschließlich mit Männern zwischen Meer und Eis verkehrt hatten. Besonders den Lappen schien dieser Anblick sehr anstößig zu sein."

Nansen fasste sofort eine warme Zuneigung zu diesen Menschen. Gewiss, ihre äußere Erscheinung entspricht nicht dem klassischen europäischen Schönheitsideal. Ihre Gesichter sind rund, flach und fett mit breiten vorstehenden Backenknochen. Aber er findet in ihrem Angesicht etwas so Freundliches, Zufriedenes und Gemütliches, dass er ihnen unbedingt zugetan sein muss. Ihre Gastfreundschaft kennt keine Grenzen. Immer sind sie hilfsbereit und liebenswürdig. Nansen stellt fest: Dies ist ein heiteres, sorgloses Volk, das mindestens so glücklich lebt wie viele Kulturnationen jenseits des Ozeans.

 

Nansen bedauert, nicht länger die Lebensgewohnheiten der Eskimos studieren zu können. Aber die Zeit drängte. Die Expedition musste rasch weiter nach Norden vordringen. Der Kampf mit dem Treibeis war oft hart. An manchen Tagen ruderten sie siebzehn Stunden lang. Der Lappe Balto beklagte sich bitter: Alle Versprechungen, die man ihm und seinem Gefährten in Christiania gemacht hatte, würden nicht eingehalten. In den letzten drei Wochen hätten sie nur ein einziges Mal Kaffee bekommen, und die Ernährung sei mehr als kümmerlich bei so harter Arbeit. Keiner von ihnen sei in den letzten Wochen auch nur ein einziges Mal satt geworden. Nansen versuchte, ihm klarzumachen, ihrer aller Leben sei davon abhängig, dass der Proviant bis zur Westküste ausreicht. Aber Balto konnte das nicht begreifen und jammerte darüber, dass ihn das Schicksal mit Menschen zusammengebracht habe, "die so fremde Sitten und Gebräuche hätten."

Eines Morgens erwachte Nansen von heftigem Jucken im Gesicht. Das ganze Zelt war voll von Mücken. Er eilte ins Freie, doch auch hier stürzten sich ganze Schwärme auf sein Gesicht, den Nacken und die Hände. Beim Frühstück konnten sie keinen Bissen zum Munde führen, der nicht mit einer dicken Schicht von Mücken belegt war. Sie flüchteten auf den Gipfel eines nahen Berges, aber auch hier konnten sie ihren Peinigern nicht entgehen. Sie sprangen am Ufer von Klippe zu Klippe, schlugen um sich mit Tüchern und Mützen, doch auch das brachte keine Hilfe. Es war ein Wunder, meinte Nansen, dass sie nicht alle den Verstand verloren. Selbst weit aufs Meer hinaus folgten ihnen die Blutsauger, und erst ein kräftiger Seewind befreite sie von ihren Verfolgern.

Auf der weiteren Fahrt nach Norden versperrten ihnen jetzt oft mächtige Eisberge den Weg, die mehrmals in gefährlicher Nähe der Boote mit gewaltigem Getöse zusammenbrachen. An einer Stelle mussten sie sogar mitten durch die tunnelartige Höhlung eines Eisberges hindurchrudern, während von oben das Schmelzwasser auf sie herabrieselte. Einen dieser Berge bestiegen sie. Er war tausend Meter breit, und sein höchster Punkt erhob sich mehr als siebzig Meter über den Meeresspiegel. Vom Gipfel hatten sie einen herrlichen Ausblick. Der Berg selbst glich einer bizarren Alpenlandschaft in Eis. Tief unten schlängelte sich zwischen den Eisbergen wie ein schmales dunkelblaues Band die enge Rinne, die sie nun durchfahren mussten, rechts und links von senkrechten Eiswänden flankiert.

 

Am 10. August gingen sie nahe dem Umivikfjord an Land, der Stelle, die Nansen jetzt als Ausgangspunkt der Inlandreise vorgesehen hatte. Zur Feier des Tages wurde wieder Kaffee gekocht; es war die zweite warme Mahlzeit seit zwölf Tagen. Jetzt gilt es, die letzten Vorbereitungen für die Eiswanderung zu treffen. Die Boote werden in einer kleinen Bergschlucht mit dem Kiel nach oben an einer geschützten Stelle niedergelegt. Sechs Tage nach der Landung, aber volle zwei Monate später, als Nansens ursprünglicher Plan es vorgesehen hatte, konnten sie endlich die große Reise in das Inlandeis antreten.

Schon der erste steile Anstieg brachte ihnen harte Arbeit. Jeder Schlitten war mit mehr als hundert Kilogramm belastet. Meist waren drei Mann nötig, um ihn auf dem schwierigen Eis vorwärtszubringen. So konnten sie in den ersten vierundzwanzig Stunden kaum mehr als fünf Kilometer zurücklegen. Da setzte plötzlich ein heftiger Regen ein, der drei Tage und drei Nächte lang nicht aufhörte. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als im Zelt in die Schlafsäcke zu kriechen und auf Vorrat zu schlafen. Wer nicht arbeitet, meinte Nansen, braucht auch nicht viel Nahrung, und gab darum nur einmal am Tag eine Essensration, aus. .Einige der Gefährten fanden allerdings, dass dies herzlich wenig war, und behaupteten, ihr Magen schrie vor Hunger."

Endlich hörte der Regen auf. Es wurde erheblich kälter, und sie konnten weiterwandern. Aber mit der Kälte kam auch ein neues Übel, der gefürchtete Polardurst, der sie von nun an peinigte. "Trinkwasser gibt es nicht mehr, wir sollten es erst an der Westküste wiederfinden. Den einzigen Ersatz dafür mussten wir in dem Wasser suchen, das wir gewannen, indem wir unsere Feldflaschen aus Blech mit Schnee füllten und sie an der Brust, zuweilen sogar am bloßen Leibe trugen. Wenige von uns waren jedoch warmblütig und geduldig genug, um zu warten, bis der Schnee sich in Wasser verwandelte. Man sog lieber allmählich, als er anfing, ein wenig feucht zu werden, die Wassertropfen ab, und so konnte denn nichts aus dem Trinkwasser werden."

Zum Durst kam der Hunger. Ihr Hauptnahrungsmittel, das Pemmikan, war durch ein Missverständnis des Fabrikanten ohne Fett angefertigt worden. So kam es, dass sie alle während der ganzen Reise unter schwerem Fettmangel litten und niemals das Gefühl hatten, richtig satt zu sein.

Am zehnten Tage ihrer Wanderung brach ein heftiger Schneesturm aus. Als sie erwachten, fanden sie sich in ihren Schlafsäcken unter dem Schnee begraben. Trotzdem beschloss Nansen, weiter zu marschieren. Die Steigung war jetzt so steil, dass auch hier jeder Schlitten von drei Mann gezogen werden musste. So kamen sie nur langsam vorwärts und waren bald am Ende ihrer Kraft. Kristiansen, einer der Norweger, der nur selten den Mund auftat, stöhnte plötzlich: "Großer Gott, dass die Menschen es so schlecht mit sich meinen können, sich auf so etwas einzulassen."

Nansen wollte das Inlandeis in nordwestlicher Richtung durchqueren, um bei Kristianshaab die Westküste zu erreichen. Jetzt wurde ihm klar, dass er dies Ziel vor Ende September nicht erreichen konnte. Dann war aber gewiss das letzte Schiff nach Kopenhagen schon abgegangen. Er entschloss sich daher, den Kurs zu ändern und direkt nach Westen in Richtung auf Godthaab zu wandern. Dieser Weg war kürzer, doch auch hier mussten noch fast fünfhundert Kilometer bewältigt werden.

Die Kälte machte ihnen jetzt schwer zu schaffen. Das ganze Gesicht, Bart, Mund und die Umhüllung des Kopfes froren unter ihrem Atem vollständig zu einem Stück Eis zusammen, so dass sie kaum den Mund öffnen konnten. Nansens Schleuderthermometer reichte nur bis -30 Grad, das Minimumthermometer bis -37 Grad. Doch jetzt sank die Temperatur noch tiefer, so dass die Instrumente nutzlos wurden. Erst spätere Berechnungen aus dem Abfall der Temperatur vom Tag zum Abend ergaben, dass sie in den kältesten Nächten bis -45 Grad gehabt hatten, und das mitten im September!

 

Die nächsten Wochen, schreibt Nansen in seinem Tagebuch, verliefen höchst monoton: Harte Arbeit im Eis von morgens bis spät am Abend, dann eine sehr knappe Mahlzeit im Zelt und kurze Nachtruhe. So ging es Tag um Tag. "Wochenlang arbeiteten wir uns durch die endlose, flache Schneewüste hindurch, ein Tag verging wie der andere, es war dieselbe ermüdende Einförmigkeit, dieselbe anstrengende Arbeit. Wer es nicht erlebt hat, kann sich schwerlich einen Begriff davon machen. Alles war flach und weiß, wie ein in Schnee verwandeltes Meer. Am Tage sahen wir nur dreierlei in dieser Natur: die Sonne, die Schneefläche und uns selber. Wir nahmen uns aus wie eine verschwindend kleine schwarze Linie, die durch eine einzige weiße Unendlichkeit zog, - überall derselbe Gesichtskreis, nirgends ein Punkt, auf dem das Auge ruhen konnte."

Der 17. September wurde von der Expedition als Fest- und Gedenktag gefeiert. An diesem Tag hatte sie vor zwei Monaten den Seehundfänger "Jason" verlassen. Am Morgen wurden Butterrationen verteilt und Tee mit Zucker am Schlafsack serviert. Als sie an diesem Tage aufbrachen, hörten sie plötzlich Vogelgezwitscher. Es war ein Schneesperling, der ihren Schlitten umkreiste und ihnen ein Stück des Weges folgte, ein erster Gruß des Lebens von der Westküste Grönlands.

Jetzt kam ein starker und ausdauernder Rückenwind auf. Endlich konnte Nansen seine Lieblingsidee verwirklichen, auf den Schlitten Segel zu setzen und so über das Eis dem Ziel entgegenzubrausen. Balto, der sich viel auf seine Schlittenerfahrung zugute tat, erklärte das für völlig verrückt und sparte nicht mit seinem Spott. Die ersten Versuche waren auch wenig erfolgversprechend. Aber dann fand Nansen ein brauchbares System: je zwei Schlitten wurden nebeneinander gebunden. Vorn erhielt das Fahrzeug eine Deichsel, die von einem Mann auf Skiern gesteuert wurde. Als Segel diente der Zeltboden. So ging es in sausender Fahrt über die Eisfläche dahin. Plötzlich hörte Nansen, der das erste Schlittenpaar steuerte, hinter sich den Jubelruf: "Land in Sicht!" Am Horizont zeigte sich ein dunkler Berggipfel, daneben ein kleinerer.

Abends, als es schon dunkel wurde, setzte eine breite Spalte im Eis ihrer Fahrt ein Ende. Als sie dann am Morgen aus dem Zelt traten, lag vor ihnen eine herrliche Landschaft: die Täler und Höhen südlich des Godthaab-Fjords. Alle waren von dem Anblick tief bewegt. Doch der Abstieg war beschwerlicher, als sie erwartet hatten, und dauerte mehrere Tage. Großer Jubel brach aus, als sie zum ersten Male auf einen kleinen Teich mit süßem, klarem Wasser trafen. "Wir warfen uns nieder, legten den Mund an die Wasserfläche und sogen das herrliche Nass nach Herzenslust ein. Nachdem wir monatelang unsern Durst nur durch spärliche Wasserrationen hatten befriedigen können, gewährte es uns einen unbeschreiblichen Genuss, uns endlich einmal satt trinken zu können. Wie viele Liter wir zu uns nahmen, vermag ich nicht zu sagen, - eine ganz beträchtliche Anzahl war es aber. Wir konnten förmlich fühlen, wie unsere Mägen anschwollen und groß und rund wurden."

Am 24. September hatten sie endlich die Grenze des Inlandeises erreicht und konnten ihren Fuß auf feste Erde setzen. "Worte vermögen es nicht zu beschreiben, was es für uns alle war, endlich wieder Erde und Steine unter den Füßen zu fühlen! Eine wahre Wonne durchrieselte uns, als wir mit unseren Füßen das Heidekraut berührten und der würzige Duft von Gras und Moos uns in die Nase stieg."

Zwei Tage später standen sie am Ufer des Ameralik-Fjordes. Die Küste Grönlands ist hier so zerrissen von tief einschneidenden Fjorden, dass sie kaum hoffen konnten, auf dem Landweg ihr Ziel zu erreichen. Sie beschlossen daher, ein Boot zu bauen, in dem zunächst nur Nansen und Sverdrup nach Godthaab rudern sollten.

Das Boot wurde eines der seltsamsten Fahrzeuge, die man je an der Küste Grönlands gesehen hatte. Als Gerippe dienten Zweige, die Nansen in einem nahen Weidendickicht schnitt und mit einigen Bambusstöcken verstärkte. Aus dem Boden des Zeltes nähte Sverdrup die Außenhaut. Am Abend war das Boot fertig. "Es war zwar kein Prachtexemplar, seine Form hatte große Ähnlichkeit mit der Schale einer Schildkröte, aber es trug uns beide."

Das Boot hatte nur einen Fehler: es war nicht dicht. An den Nahtstellen drang Wasser ein, so dass es alle zehn Minuten mit Bechern ausgeschöpft werden musste. Doch abgesehen davon erwies es sich auch im offenen Wasser als durchaus seetüchtig. Da oft ein widriger Wind die Fahrt hemmte, kamen sie nur langsam vorwärts. Erst nach sechs Tagen langten sie in Godthaab an. Eine große Schar von Eskimos begrüßte sie gleich am Ufer mit fröhlichem Geschrei und Geplapper. Sie halfen ihnen, ihre Sachen hinaufzutragen, und bestaunten mit Kennermiene das seltsame Fahrzeug, das die beiden Fremden an ihre Küste gebracht hatte. Von dem ersten Europäer, den sie trafen, einem jungen Dänen, erfuhr Nansen, dass das letzte Schiff Godthaab schon verlassen hatte. Sie mussten sich also damit abfinden, den Winter über hier zu bleiben.

Die Kameraden vom Ameralik-Fjord wurden nach Godthaab geholt und von den wenigen Europäern gastfreundlich aufgenommen. Für Nansens Gefährten, die sich nach ihren Familien sehnten, war die Verzögerung der Heimreise ein schwerer Schlag. Er selbst war nicht unglücklich darüber, denn so bekam er Gelegenheit, mehr als ein halbes Jahr lang das Leben der Eskimos zu studieren. "Ich lebe das Leben dieses Volkes, esse ihre Speisen, lerne ihre Leckerbissen schätzen wie rohen Speck, rohe Heilbutthaut, wintergefrorene Krähenbeeren mit ranzigem Speck usw. Ich schwatze mit ihnen im Kajak, fische, schieße, gehe mit ihnen auf die Jagd, kurz es wird mir klar, dass es nicht ganz unmöglich für einen Europäer ist, ein Eskimo zu werden, wenn ihm nur die nötige Zeit dafür gelassen wird. Unwillkürlich fühlt man sich wohl in der Gesellschaft dieser Menschen. Ihr unschuldiges, sorgloses Wesen, ihre anspruchslose Zufriedenheit und Güte wirken ansteckend und vertreiben allen Missmut, alles unruhige Sehnen."

 

Als endlich die Abschiedsstunde gekommen war, wurde selbst Nansen wehmütig. "Nicht ohne Trauer schieden wir on dem Ort und dem Volk, bei dem wir uns so unsagbar befunden hatten." Am Tage vor der Abreise sagte einer nlm«r grönländischen Freunde zu ihm: "Nun kehrst du zurück in die große Welt, von der du zu uns gekommen bist. Du triffst dort viel Neues und wirst uns vielleicht bald vergessen. Aber wir können dich niemals vergessen." - Doch auch Nansen hat seine Eskimofreunde nicht vergessen. In seinem großen Reisewerk "In Nacht und Eis" und in dem Buch "Eskimoleben" hat er ihnen ein bleibendes Denkmal gesetzt. Und mit dem Grönländer, der ihm das Kajakrudern beigebracht hatte, blieb er zeitlebens in Verbindung.

Mitte April kam das Schiff, das sie nach Europa bringen sollte. Fünf Wochen später waren sie in Kopenhagen. Schon hier wurde ihnen ein triumphaler Empfang zuteil. Es gab Festreden und Festessen ohne Ende. Nansen weiß, auch das gehört zu den Strapazen, die ein berühmter Weltreisender, und das war er jetzt mit einem Schlage geworden, erdulden muss. Aber kaum erträglich fand er die Qualen, "welche eine gewisse Spezies der Menschheit, die sich Interviewer nennt, einem armen Burschen, der sich keines Verbrechens bewusst ist, verursachen kann... Es war keine Kleinigkeit, Grönland zu durchqueren, aber es ist mein bitterer Ernst, wenn ich sage, dass es in dieser Beziehung noch weit schlimmer ist, in die Heimat zurückzukehren."

Ende Mai, ein Jahr, nachdem sie Island verlassen hatten, wurden sie im Christiania-Fjord an einem strahlenden Frühlingstag von Hunderten von Seglern und Dampfschiffen begrüßt. Die Ufer, die Brücken, der Festungswall waren schwarz von Menschen, die ihnen entgegenjubelten. Selbst der Lappe Ravna konnte sich dem Eindruck dieses festlichen Empfanges nicht entziehen. "Ist es nicht hübsch", fragte ihn Dietrichson, "mit allen den Menschen, Ravna?" - "Ja, sehr hübsch", sagte Ravna, "wenn es nur alles Rentiere wären."

 

Nansens Grönlanddurchquerung wurde von der Welt zunächst als sportliche Sensation gefeiert, als die kühne Tat eines Mannes, der wieder ein Stück von dem Schleier gelüftet hatte, der auch damals noch immer weite Teile der Erde bedeckte. Erst später wurden die wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise bekannt.

Noch Nordenskiöld war der Meinung, weite Gebiete im Inneren von Grönland seien eisfrei. Nansen stellte fest, dass diese größte Insel der Erde unter einer gewaltigen Eisdecke begraben liegt und man hier Lebensbedingungen und Eisverhältnisse studieren kann, wie sie wohl ganz ähnlich zur Eiszeit in Nordeuropa und im nördlichen Amerika geherrscht haben. Nansens Beobachtungen auf dem Inlandeis und den Gletschern Grönlands führten daher zu wichtigen Erkenntnissen für die Eiszeitforschung in beiden Kontinenten.

Seine Reise brachte weiter die Entdeckung, dass es neben dem schon lange bekannten Kältepol bei Werchochansk in Ostsibirien auf der nördlichen Halbkugel noch einen zweiten gab, das Innere von Grönland, das mit seinen extrem niedrigen Temperaturen für Klima und Witterungsverlauf eines großen Teiles unserer Hemisphäre von entscheidender Bedeutung ist. Und schließlich hat Nansen der Technik des Reisens in arktischen Gebieten ganz neue Wege gewiesen, indem er zum ersten Mal systematisch den Schneeschuh in den Dienst der geographischen Forschung stellte.


Mit der "Fram" ins Polarmeer

Wenige Monate nach der Rückkehr aus Grönland verlobte sich Nansen mit Eva Sars, einer jungen Sängerin. Schon im Herbst heirateten sie. Die Hochzeitsreise führte sie auf einer Vortragstournee nach Hamburg, London und Paris, dann nach Stockholm, wo er aus der Hand des schwedischen Königs die Vega-Medaille entgegennahm, Skandinaviens höchste Auszeichnung für Verdienste um die geographische Forschung.

Nansen gewöhnte seine junge Frau rasch an gewagte Skitouren im Hochgebirge. Zum Jahresende wollten sie einen anderthalb tausend Meter hohen Berg besteigen. Sie waren am Morgen etwas spät aufgestanden, und als sie schließlich nach sieben Stunden den Gipfel erreicht hatten, brach die Dämmerung herein. Der Proviant, den sie hier verzehrten, Molkenkäse und Pemmikan, schmeckte Eva nicht so gut wie ihrem Mann, der von Grönland her nicht verwöhnt war. Der Abstieg war schwierig und gefährlich. Mitten in der Nacht trafen sie auf einen Küsterhof im Tal. Kaum saß die junge Frau auf einem Stuhl, da schlief sie auch schon ein. Erst als das Essen kam und sie an dem Duft, der ihr in die Nase stieg, merkte, dass es nicht wieder Käse und Pemmikan war, erwachte sie. "Das Bübchen, das du da bei dir hast, ist aber ordentlich müde", sagte der Küster. Als er hörte, dass das "Bübchen" in Skihosen und Skiweste Nansens Frau war, konnte er sich gar nicht darüber beruhigen, dass ein Mann, ein jung verheirateter Mann, ausgerechnet in der Neujahrsnacht seine Frau über eine der schwierigsten Gebirgsstrecken schleppt. Doch Nansen war anderer Meinung: "Es ist ganz gut, sich zwischendurch mal tüchtig abzurackern, damit man es nachher gut haben kann. Wer keine Kälte gekostet hat, weiß nicht, was Wärme ist."

 

Die Fahrt auf dem Robbenfänger "Viking" hatte Nansen zum ersten Male mit dem Eismeer bekannt gemacht. Die Durchquerung Grönlands rückte ihn in die vorderste Linie der Polarforscher seiner Zeit. Jetzt glaubte er, Erfahrung genug zu besitzen, um auch das höchste Ziel angehen zu können: den Pol. Schon bei der Verlobung hatte er seiner Braut gesagt: "Aber zum Nordpol muss ich!"

Den entscheidenden Anstoß zu seinem Reiseplan gaben ihm eine ölgetränkte Matrosenhose, eine Proviantliste und ein handschriftliches Bootsverzeichnis, die an der Küste Grönlands angespült worden waren. Sie stammten von der Jeanetteexpedition, die ausgezogen war, um der vermeintlich verschollenen "Vega" Nordenskiölds Hilfe zu bringen. Während aber die "Vega" schon längst wieder glücklich in der Heimat angekommen war, versank die "Jeanette" im Juni 1881 nördlich von den Neusibirischen Inseln, nachdem sie fast zwei Jahre lang eingefroren war und einen heroischen Kampf gegen die Eispressungen geführt hatte. Nur dreizehn von den dreiunddreißig Teilnehmern der Expedition kehrten zurück.

Die Gegenstände der "Jeanette", die man an der Küste Grönlands gefunden hatte, mussten nach Nansens Meinung von einer Eisströmung durch das Polarmeer getrieben worden sein, die dicht am Nordpol vorbeiführte. Sie waren drei Jahre unterwegs gewesen. Sofort war ihm klar, dass er hier den Ansatzpunkt für seine große Expedition suchen musste. Jetzt legte er der wissenschaftlichen Welt den Plan für seine Polfahrt vor: "Wenn wir auf die Kräfte in der Natur selbst achten und mit ihnen und nicht gegen sie zu arbeiten suchen, werden wir am leichtesten den Weg zum Pol finden... Wir müssen untersuchen, ob es nicht einen Strom gibt, mit dem wir arbeiten können. Gewichtige Gründe sprechen dafür, dass es einen solchen Strom gibt." Als treibende Kraft dieser Strömung sah er vor allem die Riesenströme Sibiriens an, die gewaltige Wassermassen in das Polarmeer ergießen.

Nansen beschloss, ein Schiff bauen zu lassen, so klein und so stark wie möglich. Es sollte gerade groß genug sein, um Kohlenvorrat, Ausrüstung und Proviant für etwa zwölf Mann auf fünf Jahre zu fassen. Das Wichtigste und entscheidend Neue war, dem Schiff eine Form zu geben, dass es nicht wie die "Jeanette" von den Eispressungen zerdrückt, sondern durch seine schrägen Seitenwände und abgerundeten Formen in die Höhe gehoben wurde, gleichsam auf dem Eis reiten konnte. In dem norwegischen Schiffsbaumeister Colin Archer fand er den Mann, der auf alle seine Anregungen und Konstruktionsvorschläge verständnisvoll einging.

 

Trotz vieler ablehnender Stimmen, die sich vor allem im Ausland gegen seinen Plan erhoben hatten und das Unternehmen als Tollkühnheit bezeichneten, fand Nansen bei der norwegischen Regierung tatkräftige Unterstützung. Das Storting bewilligte ihm zweihundertachtzigtausend Kronen. Damit waren fast zwei Drittel der vorgesehenen Kosten gedeckt. Eine private Spendenliste, an deren Spitze der König stand, beschaffte den Rest. Im Oktober 1892 lief das Schiff vom Stapel. In der Öffentlichkeit hatte man viel darüber gerätselt, welchen Namen es wohl tragen werde. Nansens Frau vollzog die Taufe und nannte es "Fram", das heißt "Vorwärts".

Als Schiffskapitän, darüber gab es für Nansen keinen Zweifel, kam nur Sverdrup in Frage, der auf der Grönlandfahrt in allen Gefahren bewährte Mann. Die Wahl der übrigen Expeditionsteilnehmer war schwierig. Aus vielen Ländern liefen Bewerbungen ein. Nansen entschloss sich, nur Norweger mitzunehmen. Nach sorgsamer Prüfung hatte er schließlich zwölf Mann beisammen. Für die wissenschaftlichen Beobachtungen wurde der Marineleutnant Scott-Hansen verpflichtet, als Arzt der Kandidat der Medizin Henrik Blessing. Steuermann der "Fram" wurde der auf vielen Nordlandfahrten bewährte Jacobsen. Der Reserveleutnant Johansen, der Nansen später auf der Wanderung über das Polareis begleiten sollte, hatte sich so für den Expeditionsplan begeistert, dass «r bereit war, selbst den Posten eines Heizers zu übernehmen, um nur mitzukommen.

Der Auswahl des Proviants wandte Nansen auch diesmal wieder besondere Sorgfalt zu. Vor allem galt es bei einer so langen Reise, der Gefahr des Skorbuts vorzubeugen. Er studiert und prüft alle Erfahrungen, die frühere Polarreisende gemacht hatten. Da es jetzt nicht nötig war, wie auf der Grönlandfahrt mit dem Gewicht zu geizen, wählte er vorwiegend Büchsenkonserven: Fleisch, Fisch und Gemüse, Trockenkartoffeln und Obst, Konfitüren und Marmelade. - Für sehr wichtig hielt Nansen auf einer solchen Reise eine gute Bibliothek. Mehrere Verleger und andere Freunde der Expedition hatten ihm sechshundert Bücher zur Verfügung gestellt, die von der ganzen Mannschaft eifrig benutzt wurden.

Das Schiff, in dem alle diese Dinge verstaut werden sollten, war inzwischen auch im Innenausbau fertig geworden. Es war in der Wasserlinie fünfunddreißig Meter lang und gut zehn Meter breit. In der Mitte des Hinterschiffs lag der gemeinschaftliche Speise- und Tagesraum. Er war umgeben von vier Einbett- und zwei Vierbettkabinen. Decken, Fußböden und Seitenwände waren durch viele Schichten wärmeisolierenden Materials abgedichtet. Höchst modern für eine Polarexpedition zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die elektrische Beleuchtung aller Schiffsräume.

Nansen war sich der Verantwortung bewusst, die er als Führer der Expedition für das Leben aller Teilnehmer zu tragen hatte. Nichts durfte dem Zufall überlassen bleiben. In den letzten Wochen vor der Abreise lag er nachts oft stundenlang wach und überdachte, was etwa an der Ausrüstung noch fehlte. Immer wieder machte er Licht und notierte dies und jenes, bis ihm endlich seine Frau zurief: "Kannst du denn nie schlafen, du Mensch?"

 

Endlich war der Tag der Abreise gekommen, der Johannistag des Jahres 1893. "Grau und traurig brach er herein. Nun hieß es Abschied nehmen, unwiderruflichen Abschied. Die Tür schloss sich hinter mir. Einsam ging ich zum letzten Mal durch den Garten zum Strand hinab, wo an der Bucht das kleine Motorboot der "Fram" unbarmherzig wartete. Hinter mir lag alles, was ich im Leben lieb hatte. Was lag vor mir? Und wie lange Jahre mögen vergehen, ehe ich alles wiedersehen werde? Was hätte ich in diesem Augenblick nicht darum gegeben, umkehren zu können. Oben am Fenster saß Liv, mein Töchterchen, und klatschte in die Händchen. Glückliches Kind, du ahnst noch nicht, wie wunderbar verwickelt und wechselvoll das Leben ist."

Nansen besteigt die "Fram". Die letzten Menschen, die zum Abschiednehmen gekommen sind, gehen an Land. Dann lichtet das Schiff den Anker und wendet den Bug zum Ausgang des Fjords, vorbei an Nansens Heim. "Durch das Fernrohr sah ich eine weiße Gestalt schimmern, auf der Bank unter dem Fichtenbaum. - Das war der schwerste Augenblick der ganzen Fahrt."

 

Schon in den ersten Tagen packt sie ein toller Sturm. Selbst Nansen wird seekrank. Es stellte sich heraus, dass die "Fram" überlastet war. Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Der letzte norwegische Hafen, den sie anliefen, war Vardö, schon jenseits des Nordkaps gelegen. Trotz der späten Abendstunde begrüßte sie eine wimmelnde Menschenmenge mit der Nationalhymne: "Ja, wir lieben dieses Land". Die Fahrt der "Fram" war zu einer Sache der ganzen Nation geworden.

Ihr nächstes Ziel war Chabarowa, eine kleine Ansiedlung von Russen und Samojeden an der Jugarstraße. Hier erwartete sie ein Russe mit vierunddreißig Eskimohunden. Es waren wilde und rauflustige Tiere. Sie wurden auf dem Vorderdeck festgebunden und machten lange Zeit einen ohrenzerreissenden Lärm, bis sie sich endlich an ihre neue Umgebung gewöhnt hatten.

Die "Fram" war auf Sicherheit im Eis, nicht auf Geschwindigkeit gebaut. Acht Seemeilen in der Stunde war das Höchste, was sie bei ruhiger See schaffen konnte. Nansen drängte daher auf rasche Weiterfahrt, um noch vor Einbruch des Winters bis zu den Neusibirischen Inseln zu kommen und dort so weit wie möglich nach Norden vorzustoßen. Am 20. September erreichten sie den Eisrand, ziemlich genau an der von Nansen vorgesehenen Stelle. Fünf Tage später waren sie fest im Eis eingefroren.

 

Jetzt begann die Drift der "Fram" durch das Polarmeer, die als eine der denkwürdigsten Unternehmungen in die Geschichte der arktischen Forschung eingehen sollte. Schon bald kam die Nacht, die gefürchtete Polarnacht. Alle Vorbereitungen wurden getroffen. Auf dem Vorderdeck wurde ein Windmotor errichtet, der die Dynamomaschine für die elektrische Beleuchtung antreiben sollte.

Scott-Hansen begann mit den wissenschaftlichen Beobachtungen. Weit ab von der "Fram" wurde eine Schneehütte für die magnetischen Messungen errichtet, damit das Eisen des Schiffes nicht auf die empfindliche Magnetnadel einwirken konnte. Die meteorologischen Beobachtungen wurden alle vier Stunden vorgenommen. Die Mannschaft war am meisten an den astronomischen Ortsbestimmungen interessiert, die zeigten, ob die "Fram" in der Eisdrift gute Fahrt machte, am Ort blieb oder gar rückwärts lief. Die Stimmung an Bord stieg oder fiel, sobald die Ergebnisse dieser Messungen bekannt wurden. Nansen selbst widmete sich vor allem den Problemen der ozeanographischen Forschung: Beobachtungen über das Entstehen und Wachsen das Polareises, Untersuchung der Tierwelt im Wasser und auf dem Eise, Messung von Temperatur und Salzgehalt des Meerwassers in verschiedenen Tiefen.

Der Tagesablauf für die Mannschaft, die nichts mit den wissenschaftlichen Arbeiten zu tun hatte, war denkbar einförmig. Ein Tag glich dem anderen. Viel Arbeit gab es anfangs nicht. Umso mehr konzentrierte sich das Interesse aller auf die Mahlzeiten. Um acht Uhr morgens stand man auf und widmete sich zunächst dem Frühstück. Es bestand aus Hartbrot, Käse, Fleisch oder Schinken, Räucherspeck und Marmelade. Dreimal in der Woche gab es frischgebackenes Brot. Nach dem Frühstück mussten mehrere Männer sich mit den Hunden beschäftigen, sie losketten und ihnen Futter geben. Die übrigen machten sich an die Erledigung der laufenden Arbeiten. Jeder musste der Reihe nach eine Woche lang in der Küche Dienst tun, dem Koch beim Abwaschen helfen, den Tisch decken und die Speisen auftragen. Um ein Uhr kam das Mittagessen. Es bestand gewöhnlich aus drei Gängen: Suppe, Fleisch oder Fisch und Nachspeise. Dazu gab es stets Kartoffeln und Gemüse oder Makkaroni. Dann ging jeder wieder an seine Arbeit, bis man sich um sechs Uhr beim Abendessen zusammenfand, das ähnlich wie das Frühstück war. Im Anschluss daran machten sich fast alle über die Bücherschätze der Bibliothek her, oder sie suchten Zerstreuung im Karten-, Schach- und Halmaspiel, bei Musik und Plauderei. Der Gesundheitszustand der ganzen Mannschaft war ausgezeichnet. Der Arzt hatte kaum etwas zu tun. Später klagten einige Männer über Schlaflosigkeit. Nansen spürte nichts davon. Wer am Tage mehrere Stunden ruht, meinte er, darf nicht erwarten, nachts ebenso gut zu schlafen. Sverdrup, der Kapitän, beendete die Diskussion mit den Worten: "Einen Teil seiner Zeit muss man wach sein."

Oft schämte sich Nansen der Behaglichkeit, mit der sie in der ersten Zeit ihr Leben an Bord der "Fram" führten, wenn er an all die Entbehrungen dachte, die frühere Expeditionen ertragen mussten. Aber das war ja gerade das Entscheidende an seinem Plan: Er wollte zeigen, dass man in aller Bequemlichkeit das Polareis durchqueren kann, wenn man mit den Kräften der Natur und nicht gegen sie arbeitet, übrigens war dies nur der Lebensaspekt der ersten Monate. Bald lernten auch die Framleute die Sorgen und Nöte kennen, die keinem erspart bleiben, der zum Pol strebt. Wird die "Fram" auf die Dauer den furchtbaren Eispressungen Widerstand leisten können, die schon jetzt begannen? Und war Nansens Drifttheorie wirklich richtig? Die Erfahrungen in der ersten Polarnacht waren wenig ermutigend. Die Eisscholle, die ihr Schiff umklammerte, wurde vorwärts und rückwärts getrieben. Sechs Wochen, nachdem sie eingefroren waren, befanden sie sich wieder genau an der gleichen Stelle. Dann setzte eine im ganzen nordwestliche Drift ein, die aber einem seltsamen Zickzack-Kurs folgte und oft tagelang rückläufig war. Nach fünf Monaten hatten sie nur einen Grad nördlicher Breite gewonnen. Nansens Berechnungen ergaben: Wenn das so weitergeht, wird die "Fram" bestenfalls in acht Jahren wieder zu Hause sein!

Nansen war nicht der Mann, der sich durch einen Misserfolg zu Anfang eines Unternehmens erschüttern ließ. Aber nachts verfolgt ihn jetzt oft die Frage: "Weshalb hast du diese Reise unternommen?" Doch immer wieder findet er die gleiche Antwort: "Konnte ich anders? Kann der Strom seinen Lauf hemmen und bergauf fließen?" Er braucht das Wagnis, den Kampf mit den gewaltigen Kräften der Polar-weit. Mögen auch einige Voraussetzungen seiner Theorie sich als falsch erweisen, im ganzen stimmt sie, das ist sein felsenfester Glaube.

Im Dezember gab es ein Nordlicht, das schöner war als je eines zuvor. Nansen ist ein aufmerksamer und begeisterter Beobachter: "Worte können die Pracht nicht beschreiben, die sich unseren Augen darbot. Die glühenden Feuermassen hatten sich in glänzende vielfarbige Streifen geteilt, die sich im Süden wie im Norden über den Himmel wanden und durcheinander verschlangen. Die Strahlen funkelten in den reinsten, kristallklaren Regenbogenfarben, hauptsächlich in Violett, Rot oder Karmin und im hellsten Grün. Sehr oft waren die Strahlen am Ende rot, verwandelten sich höher hinauf in funkelndes Grün, das ganz oben dunkler wurde, und gingen in Blau oder Violett über, ehe sie im Blau des Himmels verschwanden. Es war eine endlose Phantasmagorie von funkelnden Farben und übertraf alles, was man sich nur denken kann."

Das Weihnachtsfest kam heran und führte die Gedanken aller nach Hause zu den Menschen, die ihnen lieb waren. Um keine wehmütige Stimmung aufkommen zu lassen, wurde es, so gut das ging, als rauschendes Fest gefeiert. Am späten Abend öffneten sie zwei Kisten mit Weihnachtsgeschenken, die Scott-Hansens Mutter und Braut der Expedition mitgegeben hatten. Jeder bekam eine kleine Gabe, eine Pfeife, ein Messer oder sonst etwas, und alle empfanden es gerührt als einen Gruß aus der fernen Heimat.

Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages macht Nansen im Schein des Vollmondes einen einsamen Spaziergang über das Eis. Das Thermometer zeigt fast vierzig Grad Kälte an. Dabei erlebt er die Majestät der arktischen Nacht in ihrer ganzen Größe. "O, Polarnacht, du bist wie ein Weib, ein wunderbar liebliches Weib. Du besitzest die edlen, reinen Züge antiker Schönheit, aber auch ihre Marmorkälte. Auf deiner hohen, glatten Stirn, rein wie der klare Äther, ist keine Spur von Mitgefühl für die kleinen Leiden des verachteten Menschengeschlechts... Deine in den Raum hinauswallenden rabenschwarzen Locken sind vom Reife mit glitzernden Kristallen überstreut. Die stolzen Linien deines Halses, die Rundung deiner Schultern sind so edel, aber - ach - auch so unsagbar kalt. Dein keuscher weißer Busen ist gefühllos wie schneebedecktes Eis.

Rein, schön und stolz schwebst du durch den Äther über das gefrorene Meer, und dein aus Strahlen des Nordlichtes gewobenes Gewand bedeckt das Himmelsgewölbe. Nur zuweilen ahne ich ein schmerzliches Zucken deiner Lippen, und aus deinen Augen schaut traumverloren unendliche Traurigkeit.

O, wie müde bin ich deiner kalten Schönheit! Es verlangt mich, zum Leben zurückzukehren. Lass mich als Sieger oder als Bettler heimkehren, mir gilt alles gleich! Aber lass mich heimkehren, um das Leben neu zu beginnen."

 

Die Hunde, die sie in Chabarowa an Bord genommen hatten, waren eine tolle Meute. Sobald sie losgelassen wurden, begann eine wüste Rauferei. Wenn einer im Kampf unterlag, stürzten sich alle übrigen auf ihn. Schon im Verlauf der ersten Polarnacht wurde eine ganze Anzahl von ihren Kameraden zerrissen. Nur vor den Eisbären hatten sie Respekt, die sich jetzt immer öfter an das Schiff heranpirschten.

Eines Morgens kam Peter Hendriksen, der Harpunierer der Expedition, in den Salon gestürzt und schrie: "Eine Büchse! Eine Büchse!" Ein Bär hatte ihn in die Seite gebissen. Nun eilte Nansen an Deck. Dort sahen sie, wie unmittelbar neben der Schiffswand ein Eisbär sich daran machte, einen der Hunde zu zerfleischen. Nansen wollte schießen, aber der Lauf seines Gewehrs war an beiden Enden sorgsam mit Wergpfropfen verstopft, die er jetzt in der Eile nicht herausbringen konnte. Hendriksen, der auch seine Büchse geholt hatte, erging es ähnlich. Er hatte sie zu gut mit Vaseline eingefettet, die in der Kälte eingefroren war. Da standen sie nun schwerbewaffnet an der Reling, konnten den Bären mit ihren Gewehrläufen im Kücken kitzeln, aber schießen konnte keiner. Endlich kam Johansen hinzu und schickte dem Bären zwei, drei Schüsse auf den Pelz. Jetzt war auch Nansen mit seinem Gewehr zurechtgekommen und gab ihm den letzten Schuss in den Kopf.

 

Eine wichtige Entdeckung machten sie schon in den ersten Monaten. Die allgemeine Vorstellung, das Polarmeer sei nur ein ganz flaches Becken, erwies sich als grundfalsch! Bereits die ersten Lotungen ergaben mehr als zweitausend Meter, und später stellten sie Meerestiefen von fast viertausend Metern fest. Damit war eine wesentliche Voraussetzung von Nansens Theorie hinfällig geworden. Bei der Annahme eines kaum zweihundert Meter tiefen Polarmeeres konnte man erwarten, dass die Wassermassen der großen sibirischen Ströme eine starke Drift auslösten. Da man aber nun die zwanzigfache Tiefe festgestellt hatte, war es begreiflich, dass die Schubwirkung des Wassers nur ganz gering sein konnte. "Unsere einzige Hoffnung beruht jetzt auf den Winden", schreibt Nansen in seinem Tagebuch. "Kolumbus entdeckte Amerika durch eine falsche Berechnung, die nicht einmal von ihm selbst herrührte. Nur der Himmel weiß, wohin mein Irrtum uns führen wird. Ich wiederhole nur, das sibirische Treibholz an der Küste von Grönland kann nicht lügen, und den Weg, den es gemacht hat, müssen auch wir gehen."

Am 9. Oktober saßen alle nach Tisch friedlich im Speiseraum und plauderten. Plötzlich entstand ein ohrenbetäubendes Getöse. Es war die erste Eispressung. Sie stürzten an Deck. Das ganze Schiff erzitterte. Mit gewaltigem Druck schob sich das Eis heran. Die "Fram" wurde um mehrere Fuß gehoben. Aber das junge Eis war noch nicht stark genug, sie zu tragen, und brach unter ihr entzwei. - Später waren diese Pressungen nicht mehr so harmlos. Große Eishügel türmten sich auf und wälzten sich gegen die "Fram". Mehrmals mussten alle Vorbereitungen getroffen werden, damit die Mannschaft im Notfall das Schiff so schnell wie möglich verlassen konnte. Schlitten, Kajaks, Hundekuchen und Proviant wurden auf das Eis gebracht.

In seinem Tagebuch schildert Nansen ausführlich eine dieser Eispressungen: "Eine solche Stauung ist ein gewaltiges Schauspiel. Man hat das Gefühl, Riesen gegenüberzustehen. Wenn sie im Ernst einsetzt, möchte man glauben, dass es keinen Punkt mehr auf der Erde gäbe, der nicht erschüttert werden könnte. Anfangs hört man das Grollen eines Erdbebens draußen in der Öde. Dann dröhnt es von mehreren Seiten, kommt näher und näher. Die Riesenschlacht beginnt. Das Eis birst, türmt sich auf, und mit einem Schlage stehst du mitten drin. Ringsherum tost und kreischt es. Unter den Füßen fühlst du das Eis beben und krachen; alles ist in Bewegung. Schollen, drei, fünf Meter dick, werden zermalmt und übereinandergeschoben, als wären es Federbälle. Du springst zurück, um das Leben zu retten. Doch da zerbirst der Grund unter deinen Füßen. Ein Schlund gähnt; du wirfst dich zur Seite, doch da rückt ein neuer Berg von Eistürmen heran. Du schlägst eine andere Richtung ein. Wie der gewaltigste Wasserfall tobt und rast es von allen Seiten, donnert und dröhnt wie von Kanonensalven. Es zieht sich um dich zusammen. Deine Eisscholle wird kleiner und kleiner, Wasser sprudelt herauf. Da gibts keine andere Rettung, als über die rollenden Hisstücke zu springen, um über den Staurücken hinwegzukommen. Aber da flaut es ab. Der Lärm zieht weiter und verliert sich nach und nach in der Ferne."

Immer wieder verfolgt Nansen die wunderliche Kurslinie der "Fram", wie sie sich aus den astronomischen Ortsbestimmungen ergab. Die Drift war jetzt ein wenig schneller, aber sie wich weit nach Westen ab. So konnten sie niemals den Pol erreichen. Lange schon war daher in ihm der Plan gereift, mit einem Gefährten das Schiff zu verlassen und auf Hundeschlitten direkt nach Norden vorzudringen. Nur eines machte ihm Sorge: Konnte er seine Kameraden auf der "Fram" ihrem Schicksal überlassen? "Man denke sich nur, wenn ich nach Hause käme und sie nicht!" Doch weiß er Schiff und Mannschaft bei Kapitän Sverdrup in besten Händen. "Ich bin hierher gekommen, um die unbekannten Polarregionen zu erforschen. Dafür haben die Norweger ihr Geld hergegeben, und es ist sicherlich meine erste Pflicht zu tun, was ich kann... Es ist des Mannes unwürdig, eine Aufgabe zu übernehmen und sie dann aufzugeben, wenn der Höhepunkt der Schlacht bevorsteht. Es gibt nur einen Weg, und der heißt 'Vorwärts'!"

Als Begleiter hatte er Hjalmar Johansen vorgesehen, der ein hervorragender Skiläufer war, zäh, abgehärtet und immer guter Laune. Zu Beginn der zweiten Polarnacht entwickelte er ihm seinen Plan. Er machte ihm alle Gefahren des Unternehmens klar: "Es handelt sich um Leben oder Tod, jedenfalls um Leiden und Entbehrungen. Bedenken Sie sich einen Tag oder zwei, bevor Sie mir antworten." Doch Johansen, der bereits von dem Reiseplan gehört hatte, antwortete: "Ich will Sie gern begleiten! Eine Bedenkzeit brauche ich nicht. Ich halte es für eine Ehre, dass Ihre Wahl auf mich gefallen ist."


Dem Nordpol entgegen

Im Laufe der zweiten Polarnacht trafen sie alle Vorbereitungen für die verwegene Fahrt. Die "Fram" wurde jetzt eine einzige Werkstatt, in der man unter Mithilfe der ganzen Mannschaft alle die Dinge herstellte, die für eine solche Reise nötig waren: Schlitten, zwei Kajaks, Schlafsack, Zelt, Skier, Stiefel und vieles andere. Bei der Zusammenstellung des Proviants war wieder wie auf der Grönlanddurchquerung geringes Gewicht das erste Gebot. Doch galt es jetzt, nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Hunde zu sorgen. Es war vorgesehen, dass mit dem Fortschreiten der Reise und dem Erleichtern des Schlittengepäcks ein Hund nach dem anderen geschlachtet und seinen Kameraden vorgeworfen werden sollte, da die Tiere nur leistungsfähig bleiben konnten, wenn sie neben dem Trockenfutter gelegentlich auch etwas Frischfleisch bekamen. Heide empfanden es jedesmal als einen der bittersten Augenblicke der ganzen Reise, wenn sie wieder einen der Hunde töten mussten.

Die Abreise stand unter keinem günstigen Stern. Ende Februar 1895 brachen Nansen und Johansen auf. Doch bald mussten sie wieder umkehren, weil einer der Schlitten zu schwer beladen war und zerbrach. Zwei Tage später ging es wieder los. Aber auch jetzt konnten die Hunde die schweren Lasten nicht vorwärts bringen. Nansen, in Stunden der Gefahr stets kühn und entschlossen, aber nie um sein Prestige besorgt, scheut sich nicht, auch ein zweites Mal umzukehren. Die Zahl der Schlitten wurde auf drei reduziert. Das Gewicht der ganzen Ausrüstung betrug nur noch siebenhundert Kilogramm, die von achtundzwanzig Hunden gezogen wurden.

Am 14. März verließen sie endlich unter dem donnernden Salut der "Fram" zum letzten Mal das Schiff. Sverdrup begleitete sie ein kurzes Stück des Weges. Auf dem Gipfel eines Eishügels sagten sie sich Lebewohl. Nansen sah ihm lange nach, wie er auf seinen Schneeschuhen langsam heimwärts zog: "Beinahe hätte ich gewünscht, mit ihm umzukehren, um wieder im gemütlichen warmen Salon ausruhen zu können. Ich wusste nur zu gut, dass eine lange Zeit vergehen würde, bis wir wieder unter einem behaglichen Dache schlafen und speisen würden. Dass aber die Zeit so lange dauern sollte, wie sie in Wirklichkeit dauerte, hat damals keiner von uns auch nur geahnt. Wir alle glaubten, dass die Expedition entweder glücken werde und wir dann noch in demselben Jahre heimkehren würden, oder dass sie - nicht glücken werde."

In der ersten Woche waren die Eisverhältnisse weit besser, als Nansen erwartet hatte. Oft lagen vor ihnen weite, fast ebene Eisflächen. Wohl kamen gelegentlich Hindernisse. Ein Schlitten stürzte um, manchmal war das Eis uneben. Dann mussten beide Männer den Hunden zu Hilfe kommen und die Schlitten über die Eisketten tragen. Aber noch am 20. März notiert Nansen: "Das Eis scheint immer ebener zu werden, je weiter wir vordringen... Wenn das so anhält, wird das Ganze wie ein Tanz gehen."

Am Tage führten beide die Schlitten, die sie jetzt immer öfter vorwärtsschieben oder tragen mussten. Abends versorgte Johansen die Hunde, während Nansen das Zelt aufschlug und das Essen bereitete. Die Abendmahlzeit war stets der Höhepunkt ihres Daseins, auf den sie sich schon den ganzen Tag lang freuten. Meist gab es Labskaus aus Pemmikan und getrockneten Kartoffeln oder "Fiskegratin", das aus Fischpulver, Weizenmehl und Butter bereitet wurde. Dann rutschten sie tiefer in den gemeinsamen Schlafsack und schnallten die Klappen über den Köpfen fest. Die erste Stunde war nicht angenehm. "Wenn wir abends in den Schlafsack gekrochen waren", schreibt Nansen, "begann die Kleidung langsam aufzutauen, ein Prozess, bei dem ein beträchtliches Quantum Körperwärme verbraucht wurde. Wir drückten uns im Sack dicht aneinander und lagen dann eine oder anderthalb Stunden mit klappernden Zähnen, ehe wir im Körper etwas Wärme verspürten, deren wir so dringend bedurften. Endlich wurden unsere Kleider nass und schmiegsam, aber nur um morgens, wenige Minuten, nachdem wir uns aus dem Sack erhoben hatten, wieder steif zu frieren. Davon, dass wir die Kleider auf der Reise trocken bekommen konnten, solange die Kälte anhielt, war keine Rede, da sich immer mehr Körperfeuchtigkeit darin sammelte."

In der zweiten Woche ihrer Wanderung wurde der Weg schwieriger. Eine Eiskette nach der anderen türmte sich auf. Manchmal waren es Wälle von neun Metern Höhe, über die sie die Schlitten tragen mussten. Anfangs, auf der glatten Eisfläche, bestimmten sie die Länge der zurückgelegten Tagesstrecken mit einem auf der "Fram" gefertigten Wegemesser, später, als sie ihn verloren hatten, durch vorsichtige Schätzungen. Als Nansen am Ende der zweiten Woche diese Tagesstrecken addierte, fand er, dass sie jetzt weit über den 86. Breitengrad hinausgekommen sein mussten. Die astronomische Ortsbestimmung ergab dagegen kaum 85° 30' nördlicher Breite. Wie war dieser Widerspruch zu erklären? Nansen prüfte immer wieder seine Berechnung und wiederholt die Beobachtungen. Doch das Ergebnis blieb stets das gleiche. Es gab nur eine Erklärung dafür: Das Eis, auf dem sie nach Norden zogen, wurde vom Wind oder einer unbekannten Strömung nach Süden getrieben! Gegen solche Naturmächte anzugehen war kaum möglich. Noch acht Tage lang kämpften sie sich vorwärts. Doch das Eis wurde immer schlimmer. Vom Gipfel eines zehn Meter hohen Eisrückens blickte Nansen nach Norden. Vor sich sah er ein endloses Gewirr von Blöcken, das sich wie eine zu Eis erstarrte Brandung bis an den Horizont erstreckte. "Es hat keinen Sinn", schreibt er am 8. April im Tagebuch, "noch weiter vorzudringen. Wir opfern die kostbare Zeit und erreichen nichts. Ich beschloss daher, umzukehren und unseren Kurs auf Kap Fligely zu richten." Wie Nansen später errechnete, hatten sie an diesem Tage 86o 14' nördlicher Breite erreicht und waren damit dem Pol dreihundert Kilometer näher gekommen als je ein Mensch vor ihnen. Ihr nächstes Ziel, Kap Fligely im Norden des noch kaum erforschten Franz-Joseph-Landes, war in der Luftlinie etwa siebenhundert Kilometer entfernt. Aber ein gerader Kurs ließ sich jetzt nicht einhalten. Im Frühling brach das Eis auf, und zu den Eisrücken, die sie schon auf der Reise nordwärts behindert hatten, kamen zahllose Rinnen und Spalten, die man umgehen musste. Jetzt wurde auch der Proviant knapp. Bisher hatten sie gegessen, so viel sie wollten. Nun mussten die Rationen verringert und abgewogen werden. Zum Frühstück gab es nur noch fünfzig Gramm Butter und zweihundert Gramm Brot. Ein Hund nach dem anderen musste geschlachtet werden, weil auch das Futter zu Ende ging.

Einer der drei Schlitten wird verbrannt, da sie jetzt nur noch zwölf Hunde besitzen. Die Tiere sind so ausgehungert, dass sie schon Leder, Holz und Segeltuch zu fressen versuchen. Selbst Nansen wird besorgt. Längst, so meint er, müssten sie die ersten Inseln des Franz-Joseph-Landes erreicht haben. Aber Tag für Tag breitet sich vor ihnen derselbe eintönige Eishorizont aus. "Nach keiner Richtung ein Zeichen von Land; kein offenes Wasser, obwohl wir jetzt auf der Breite von Kap Fligely oder höchstens ein paar Minuten weiter nördlich sein müssten. Wir wissen weder, wo wir sind, noch wissen wir, wie das enden soll."

Die Spalten im Eis wurden jetzt immer breiter. Darum gingen sie daran, die Kajaks zu reparieren, die bei der Schlittenfahrt erheblichen Schaden genommen hatten. Das war eine mühsame und zeitraubende Arbeit. "Wir hatten dann aber auch die Genugtuung zu wissen, dass die Kajaks völlig seetüchtig und im Notfalle imstande waren, auf der überfahrt nach Spitzbergen einen Sturm auszuhalten... Lasst uns nur erst offenes Wasser haben, dann können wir die Kajaks benutzen, und dann wird es auch nicht lange dauern, bis wir zu Hause sind."

 

Endlich kam ein Lichtblick in ihr einförmiges Dasein. Als sie in einer Rinne die Kajaks erprobten, tauchte plötzlich ein Seehund auf. Johansen kam zum Schuss, und Nansen konnte die kostbare Beute mit der Harpune festhalten, ehe sie versank. Das gab Nahrung und Brennmaterial für mehr als einen Monat. Seit langer Zeit konnten sie sich zum erstenmal wieder nach Herzenslust sattessen. Aber noch immer war kein Land in Sicht. Da die beiden Uhren, die sie mit sich führten, stehen geblieben waren, konnten sie ihren astronomischen Ortsbestimmungen jetzt nur noch sehr geringen Wert beimessen. Doch am 24. Juli kam die große Wendung. "Endlich hat das Wunder sich ereignet. Land, Land, nachdem wir unseren Glauben daran schon beinahe aufgegeben hatten!" Nansen meinte, es könne kaum viel mehr als eine Tagesreise weit entfernt sein. Tatsächlich brauchten sie jedoch noch dreizehn Tage, und sie gehörten zu den schwierigsten der ganzen Reise.

Nansen bekam einen Hexenschuss. Drei Tage konnte er sich nur mit äußerster Mühe vorwärts schleppen. Am Abend im Zelt musste Johansen ihn wie ein kleines Kind betreuen. Als es ihm wieder besser ging, notierte er: "Jetzt habe ich einen Begriff davon, wie es sein würde, wenn einer von uns erkranken sollte. Mir ist ernstlich bange davor. Unser Schicksal wäre dann besiegelt."

Auch für Johansen wäre einer dieser Tage beinahe verhängnisvoll geworden. Sie waren eines Morgens in dichtem Nebel marschiert und wurden dann von einer breiten Rinne aufgehalten, die sie mit den Kajaks überqueren wollten. Plötzlich hörte Nansen hinter sich die Stimme seines Kameraden: "Schnell die Büchse!" - "Ich drehte mich um und sah, wie ein riesiger Bär sich über ihn warf. Sie purzelten hintenüber. Ich griff nach der Flinte, die im Futteral auf dem Vorderdeck lag. Doch im selben Augenblick rutschte der Kajak ins Wasser, - ich versuchte, ihn auf den hohen Eisrand heraufzuzerren, aber er war mit seiner Last zu schwer. Ich lag auf den Knien, zog und zerrte und reckte mich nach dem Gewehr. Mich umzusehen, was hinter mir vorging, dazu hatte ich keine Zeit. Da hörte ich Johansen ruhig sagen: "Nun musst du dich beeilen!" Schließlich erwischte ich den Gewehrkolben, zog ihn hervor, warf mich herum und spannte in der Hitze des Gefechtes den Hahn des Schrotlaufs. Doch da stand der Bär ein paar Schritte vor mir ... Ich hatte keine Zeit mehr, den anderen Hahn zu spannen. Er erhielt die ganze Schrotladung hinters Ohr und stürzte tot zwischen uns nieder."

 

Jetzt hatten sie den Rand des Polareises erreicht. Vor ihnen lag eine offene Meeresstraße, und drüben das ersehnte Land, das ihnen zunächst eine hohe Gletscherwand zukehrte. Nun war der Zeitpunkt gekommen, von der Schlittenreise zur Kajakfahrt überzugehen. Aber jeder von beiden hatte noch einen Hund bei sich - "Kaiphas" hieß der eine, "Suggen" der andere. Auf der Fahrt über das offene Wasser konnten sie die Tiere nicht mitnehmen. Es blieb also nichts anderes übrig, als sie zu töten. "Armer Suggen, so rührend, wie er gewesen war, und Kaiphas, wie stolz und prächtig war er bis zuletzt. Voll Treue und Ausdauer hatten sie sich auf der ganzen Fahrt für uns abgerackert. Sie wie die anderen zu schlachten vermochten wir nicht. Wir opferten für jeden eine Patrone. Johansen erschoss hinter einem Eishügel meinen Hund, und ich seinen - eine harte Pflicht."

Jetzt begann die Bootsfahrt. Eines Tages machte plötzlich Johansen mit seinem Kajak einen Luftsprung. Ein Walross hatte sein Boot von unten angehoben und tauchte jetzt auf. "Ich ergriff meine Büchse", schreibt Nansen, "und da das Tier seinen Kopf nicht so wenden wollte, dass ich hinter das Ohr zielen konnte, wo es leichter verwundbar ist, war ich gezwungen, ihm eine Kugel mitten durch die Stirn zu jagen. Es war keine Zeit zu verlieren. Glücklicherweise genügte das; das Tier trieb tot auf dem Wasser. Mit großer Mühe gelang es uns, ein Loch in die dicke Haut zu schneiden. Nachdem wir uns einige Streifen Speck und Fleisch aus dem Rücken geschnitten hatten, setzten wir unsere Fahrt fort."

Mitte August, fünf Monate, nachdem sie die "Fram" verlassen hatten, konnten sie endlich zum ersten Male seit zwei Jahren ihren Fuß auf eisfreien Boden setzen. "Es war ein unbeschreiblich herrliches Gefühl, von einem Granitblock zum andern springen zu können. Es wurde noch schöner dadurch, dass wir in einem kleinen versteckten Winkel zwischen den Steinen Moos und Blumen, großen schönen Mohn, Steinbrech und eine Sternmiere fanden. Selbstverständlich musste die norwegische Flagge über diesem unserm ersten eisfreien Lande wehen, und ein Festmahl wurde bereitet."


In Nacht und Eis

Das Jahr war jetzt schon weit vorgeschritten. Ende August mussten sie einsehen, dass sich ihre Hoffnung, Spitzbergen noch im Herbst zu erreichen, kaum verwirklichen ließ. So beschlossen sie, rechtzeitig ein Winterquartier zu errichten, In dem sie ohne Sorgen die dritte Polarnacht überstehen konnten.

Das Zelt war gut für die Reise im Sommer. Aber im Winter bot es nicht genügend Schutz. Darum begannen sie mit dem Hau einer Hütte. Ihre Werkzeuge waren so primitiv wie die Robinsons auf seiner Insel. Eine Schlittenkufe diente als Spitzaxt, um die festgefrorenen Steine loszubrechen. Aus dem Schulterblatt eines Walrosses wurde ein Spaten, aus einem Walrosshauer eine Hacke gefertigt. Die Wände der Hütte bestanden aus Steinen und Moos, den Dachfirst bildete ein Treibholzstamm, über den sie Walrosshäute spannten. Der Eingang war nach Art der Eskimohäuser schmal und niedrig. Aber das Innere war geräumig. Sogar Nansen konnte fast aufrecht darin stehen.

Der Ort, den sie sich zum Winterlager ausgesucht hatten, war reich an Wild. Füchse erschienen fast jede Nacht und stahlen alles, was sie aus dem Materialdepot neben der Hütte hervorzerren konnten, darunter die unsinnigsten Dinge wie Leinen, Stahldraht und Harpunen. Einmal nahmen sie sogar das Minimumthermometer mit, das zur Messung der Nachttemperatur vor der Hütte hing. Auch das große Wild der Arktis gab es hier reichlich: Seehunde, Walrosse und Eisbären. Nansen und Johansen konnten so viel davon erbeuten, dass sie jetzt keinerlei Sorge mehr um ihre Ernährung in der Polarnacht zu haben brauchten. Es gab Tran und Speck in Fülle; vor allem das Fleisch der Eisbären wurde nun ihre Hauptnahrung. Jeden Morgen gab es Bärenfleisch in Bouillon, abends gebratene Steaks. Seltsamerweise wurden sie dieser Nahrung niemals überdrüssig. Nansen stellte später fest, dass sie neunzehn Bären verspeist hatten.

Mehr als je sind in den Tagen vor Weihnachten Nansens Gedanken daheim bei seiner Frau. "Beim Scheine der Lampe sitzt sie am Winterabend und näht. Neben ihr steht ein kleines Mädchen mit blauen Augen und goldigem Haar und spielt mit der Puppe. Sie blickt das Kind zärtlich an und streichelt ihm das Haar, aber ihre Augen werden feucht, und dicke Tränen rollen über ihre Arbeit."

Der Weihnachtsabend kommt heran. Es ist kalt und stürmisch draußen, und auch in der Hütte ist es kalt und zugig. Noch niemals hatten Nansen und sein Gefährte ein so einsames Weihnachtsfest gefeiert. Wieder gehen die Gedanken in die Heimat: "Nun läuten sie daheim den Heiligen Abend ein. Ich höre den Glockenklang durch die Luft von den Kirchtürmen schwingen. Wie schön das klingt! - Jetzt werden die Christbaumkerzen angezündet, die Kinderschar wird hereingelassen, und nun tanzen sie jubelnd um den Tannenbaum herum. Ich muss einen Weihnachtsschmaus für Kinder halten, wenn ich wieder zurückkomme. Jetzt ist Freudenzeit zu Hause und Fest in jeder Hütte."

Die Einsamkeit der Polarnacht ist schwer zu ertragen. Nansen und Johansen verstehen sich ausgezeichnet. Die gefürchtete Polarpsychose vermag ihnen nicht viel anzutun. "Wir brachten es nicht einmal fertig, uns zu zanken", schreibt Nansen. "Nach unserer Rückkehr wurde Johansen einmal gefragt, wie wir beiden durch den Winter gekommen seien und es angestellt hätten, uns nicht zu überwerfen, da es doch eine schwere Prüfung für zwei Männer sei, in völliger Einsamkeit so lange miteinander zu leben. ,O nein', antwortete er, ,wir haben uns nicht gezankt, das einzige war, dass ich im Schlafe die schlechte Angewohnheit habe zu schnarchen, und dann pflegte mich Nansen in den Rücken zu stoßen!'"

Aber schließlich haben sie sich wirklich alles erzählt, was den einen am anderen interessieren konnte, und neue Eindrücke gab es kaum. Was sie jetzt am meisten entbehrten, waren die Bücher der "Fram". Dort hatte Johansen mit Begeisterung Heyses Novellen gelesen, war aber damit nicht zu Ende gekommen. Jetzt stöhnte er nach der Fortsetzung. Nansen ging es ähnlich. In seiner Verzweiflung studiert er immer wieder die beiden einzigen Bücher, die sie bei sich haben, die Navigationstabellen und einen nautischen Almanach. - Wenn ihnen gar nichts mehr einfiel, dann malten sie sich stundenlang mit allen Details aus, wie herrlich es sein werde, zum ersten Male wieder in ein großes, helles, von Sauberkeit blitzendes Kaufhaus eintreten und nach Herzenslust aussuchen zu können, was ihnen gefällt: schneeweiße Hemden, weiche warme Unterhosen, feine wollene Strümpfe, einen bequemen Anzug und neue Schuhe. Dazu Seife, unendlich viel Seife!

Unter all den physischen Leiden, die sie ertragen mussten, war die Unmöglichkeit, ihre Kleidung zu erneuern oder auch nur zu waschen, wohl das schlimmste. Sie klebte wie Leim am ganzen Körper, durchtränkt von den monatealten Ausdünstungen des Leibes und dem Tran, der beim Zerlegen der Seehunde und Walrosse und beim Kochen des Essens auf sie gespritzt war. "Unsere Beine hatten am meisten zu leiden, da die Hosen fest an den Knien klebten, so dass sie, wenn wir uns bewegten, an der Innenseite der Oberschenkel die Haut abschabten und abrissen, bis alles wund und blutig war. Es machte mir die größte Mühe zu verhindern, dass diese Wunden allzu sehr mit Fett und Schmutz beschmiert wurden, und ich musste sie beständig mit Moos oder einem Fetzen von einer der Binden aus unserer Apotheke und ein wenig Wasser waschen, das ich in einem Becher über der Lampe erwärmte. Nie vorher habe ich so sehr eingesehen, welch großartige Erfindung Seife in Wirklichkeit ist."

Wenn seine Gedanken nachts nicht bei Frau und Kind sind, dann sind sie bei den Kameraden von der "Fram". Wohin mag die Eisdrift sie getrieben haben? Nansen rechnete sich aus, dass sie wohl im späten Sommer zu Hause ankommen werde. Bis dahin musste auch er mit Johansen zurückkehren, wenn ihre Angehörigen und Freunde sich nicht die schlimmsten Sorgen um ihr Schicksal machen sollten.

Gegen Ende der Polarnacht begannen sie mit den Vorbereitungen für die Weiterreise. Mit Fleisch und Speck waren sie gut versehen. Aber ihre Kleidung war so abgerissen, dass sie sich an die tolle Aufgabe machten, aus ihren wollenen Schlafdecken neue Anzüge zu schneidern, ihre Schuhe mit Walrossleder zu besohlen und aus Bärenfellen Socken, Handschuhe und einen neuen Schlafsack herzustellen. "Dies alles nahm Zeit in Anspruch, und wir arbeiteten daher von diesem Augenblick an vom frühen Morgen bis spät in die Nacht fleißig mit der Nadel. Unsere Hütte war plötzlich in eine geschäftige Schneider- und Schusterwerkstätte verwandelt. Seite an Seite saßen wir auf dem Steinlager im Schlafsack und nähten und nähten und dachten an die Heimkehr."

Spät im Mai konnten sie endlich ihr Winterlager verlassen. Aber noch lange mussten sie ihre Kajaks auf den Schlitten über das Eis vorwärts ziehen. Schließlich erreichten sie offenes Wasser, konnten die Boote zusammenbinden und bei günstigem Wind ein Segel hissen. Eines Tages landeten sie am Eisrand, um sich die Beine zu vertreten und von einem Eishügel Ausschau zu halten.

Sie vertäuten die Boote, spazierten ein wenig umher und bestiegen den Hügel. Als sie oben waren, schrie Johansen plötzlich: "Sieh - da treiben unsere Kajaks!" Sie rannten hinab, so schnell sie konnten. Nansen warf einige Kleidungsstücke ab, um besser schwimmen zu können, dann sprang er ins Wasser.

"Der Wind wehte vom Eis hinweg. In den leichten Kajaks mit der hohen Takelage fand er eine gute Angriffsfläche. Schon schwammen sie weit draußen und trieben rasch weiter. Das Wasser war eisig kalt. In Kleidern zu schwimmen kostet Kräfte. Weiter und weiter trieben die Kajaks, oft schneller, als ich zu schwimmen vermochte. Es sah mehr als zweifelhaft aus, dass ich sie einholen könnte. Doch da trieb ja unsere ganze Hoffnung. Alles, was wir besaßen, befand sich an Bord. Nicht einmal ein Messer hatten wir bei uns. Ob ich also hier erstarrte und sank oder ob ich ohne die Kajaks umkehrte, kam auf eines heraus. Ich schwamm also mit aller Kraft. Wenn ich müde wurde, schwamm ich auf dem Rücken. Doch nach und nach fühlte ich die Glieder erstarren und gefühllos werden. Ich merkte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich sie nicht mehr rühren könnte. Aber jetzt war es auch nicht mehr weit. Wenn ich nur noch ein Weilchen aushielt, waren wir gerettet. Matter und matter wurden die Züge, doch kürzer und kürzer wurde der Abstand. Die Kajaks einzuholen hatte ich geschafft, war aber nun nicht mehr imstande, hinaufzukommen. Endlich, nach einer Weile, gelang es mir, das eine Bein auf den Rand des Schlittens, der auf dem Deck stand, hinaufzuwerfen und mich auf diese Weise hinaufzuwälzen. Nun saß ich im Boot, war aber vor Kälte starr, dass ich kaum rudern konnte. Ich zitterte, dass die Zähne klapperten. Doch allmählich vermochte ich die Ruder zu führen."

Am Eisrand erwartete ihn Johansen. Er riss ihm die nassen Kleider vom Leibe, zog ihm alles trockene Zeug an, das er auftreiben konnte und steckte ihn tief in den Schlafsack. Nansen schlief ein, und als er erwachte, war das Abendessen fertig, eine heiße Suppe, die ihn wohltätig erwärmte, so dass er dies schlimmste Abenteuer der Reise ohne böse Folgen überstand.

 

Der 17. Juni begann wie alle anderen Reisetage. Nansen hatte Wasser geholt, die Frühstücksuppe aufs Feuer gesetzt und ging dann noch einmal hinaus, um sich auf einem nahen Hügel umzusehen. Plötzlich hörte er einen Laut, der kaum etwas anderes sein konnte als das Bellen eines Hundes. Er eilte zum Zelt zurück, zog Johansen aus dem Schlafsack und erzählte ihm von seiner Entdeckung. Der wollte es nicht glauben. Hunde - hier? Das war doch unmöglich! Aber Nansen stürzte das Frühstück hinunter, holte seine Schneeschuhe, Fernrohr und Büchse hervor und machte sich auf den Weg. Bald fand er Spuren, die nur von Hunden stammen konnten. Kurz danach kam ihm ein Mensch entgegen. Es war Jackson, der englische Nordpolfahrer, dem er vor Jahren einmal begegnet war. Nansen wusste sofort, wen er vor sich hatte. Der Engländer starrt ihn eine Weile an. Dann erinnert auch er sich:

"Aren't you Nansen?" - Nansen: "Yes, I am." Da weiß sich Jackson vor Freude kaum zu fassen: "By Jove, I am glad to see you!" Wieder und wieder schüttelt er Nansen die Hand und ist glücklich, dass er der erste ist, der ihn begrüßen kann. Bald kamen Jacksons Kameraden herbei, und als sie gehört hatten, dass Nansen dem Pol näher als je ein anderer Mensch gekommen war, brachten sie auf ihn ein dreifaches englisches Hurra aus. Sofort wurden Schlitten ausgesandt, um Johansen und die ganze Ausrüstung der beiden zu holen.

Jackson bringt Nansen zu der Blockhütte, die er für sich und seine Mitarbeiter errichten ließ. So einfach sie war, Nansen kam sie als eine Stätte von unerhörtem Luxus vor. Da hingen Bilder an den Wänden, es gab Bücher in Mengen, und in der Mitte des Raumes verbreitete ein Ofen behagliche Wärme. "Ein seltsames Gefühl überkam mich, als ich mich in dieser ungewohnten Umgebung auf einen bequemen Stuhl setzte. Mit einem Schlage hatte das wechselvolle Schicksal jede Verantwortlichkeit, alle Schwierigkeiten aus meinen Gedanken, die während dreier langer Jahre damit bedrückt gewesen waren, fortgefegt. Hier war ich inmitten des Eises in einem sichern Hafen, und die sehnsüchtigen Wünsche dreier Jahre wurden von dem goldenen Sonnenscheine des dämmernden Tages eingeschläfert. Meine Pflicht war erfüllt, meine Aufgabe beendet, jetzt konnte ich ruhen, ruhen und warten."

Die erste Mahlzeit in der Blockhütte Jacksons bot alles, wonach sie sich ein Jahr lang gesehnt hatten: Brot und Butter, Milch, Zucker, Kaffee und vieles andere. "Der Höhepunkt der Behaglichkeit wurde aber erreicht, als wir unsere schmutzigen Lumpen abwarfen, ein warmes Bad nehmen und uns von so viel Schmutz befreien konnten, als auf einmal möglich war. Einigermaßen rein zu werden gelang uns jedoch erst nach mehreren Tagen."

Sie waren jetzt am Kap Flora, auf der südlichsten Insel des Franz-Joseph-Landes. Jackson erwartete Tag für Tag das Schiff, das einige Männer seiner Expedition abholen sollte. Schon befürchtete Nansen, dass sie noch einen Winter im Polareis zubringen müssten. Da weckte ihn eines Morgens Jackson freudestrahlend mit der Nachricht, dass die "Windward" angekommen sei. Nansen sprang auf und blickte zum Fenster hinaus. Er sah, wie das Schiff langsam herankam und einen Platz zum Vertäuen suchte. "Wundervoll, wieder ein Schiff zu sehen! Wie hoch die Takelung erscheint! Und der Rumpf, er gleicht einer Insel! An Bord gab es Nachrichten aus der großen Welt weit da draußen."

 

Am 7. August verließ die "Windward" mit Nansen und Johansen an Bord Kap Flora. Fünf Tage später liefen sie in den norwegischen Hafen Vardö ein. Noch ehe der Anker gefallen war, eilte Nansen zum Postamt, um ein dickes Bündel Telegramme aufzugeben. Es waren fast hundert, zwei davon ein paar tausend Worte lang. Nansens erstes Telegramm ging an seine Frau, das zweite an den König, das dritte an die norwegische Regierung, der er einen kurzen Bericht über den Verlauf der Expedition gab.

In Hammerfest traf Nansen seine Frau, die ihm auf das erste Telegramm aus Vardö entgegengeeilt war. Hier traf er auch seinen alten englischen Freund Sir George Baden-Powell, der mit seiner Luxusyacht "Otavia" soeben von einer Forschungsreise nach Nowaja Semlja zurückgekehrt war und ihn bat, sein Gast zu sein. Und hier erreichte ihn die Nachricht, die ihn mehr als jede andere erregen musste. Am frühen Morgen des 20. August erschien der Chef des Telegraphenamtes vor seiner Kabinentür, um ihm persönlich ein Telegramm zu übergeben, weil er glaubte, dass es Nansen brennend interessieren würde. "Es gab nur noch eines in der Welt, das mich wirklich interessieren konnte. Mit zitternden Händen riss ich das Telegramm auf:

'Fridtjof Nansen. - Fram heute in gutem Zustand angekommen. Alles wohl an Bord. Gehe sofort nach Tromsö. Willkommen in der Heimat. - Otto Sverdrup.' Mir war, als sollte ich ersticken. Alles, was ich sagen konnte, war: 'Die Fram ist angekommen!'" - Baden-Powell machte einen Luftsprung vor Aufregung, Johansen strahlte über das ganze Gesicht, und der Chef des Telegraphenamtes war beglückt über die Freude, die er angerichtet hatte. Nansen eilte in die Kabine, um seiner Frau die glückliche Nachricht zu bringen. "Schneller als sonst war sie angekleidet und draußen. Aber ich konnte es noch kaum glauben; es erschien mir wie ein Feenmärchen. Ich las die Depesche wieder und immer wieder, ehe ich mich überzeugen konnte, dass nicht alles ein Traum war. Dann überkam mich eine eigentümliche heitere Ruhe, wie ich sie nie vorher gekannt hatte."

Als sie am nächsten Tag in den Hafen von Tromsö einliefen, lag dort die "Fram", groß und stark, vom Eis unbesiegt. "Das Wiedersehen, das jetzt folgte, werde ich nicht zu beschreiben versuchen. Ich möchte wissen, ob einer von uns mehr fühlte als das Eine: nun sind wir wieder alle beisammen, nun sind wir wieder in Norwegen, und die Expedition hat ihre Aufgabe erfüllt."

Am 9. September fuhr die "Fram" den Christianiafjord hinauf. Es gab einen Empfang, wie ihn hier noch kein König erhalten hatte. Kriegsschiffe und Torpedoboote führten sie in den Hafen. Mehr als hundert festlich beflaggte Dampfer folgten ihnen in zwei Reihen. Jedes der Kriegsschiffe feuerte dreizehn Schuss ab. Dann gingen sie an Land. "Hoch, aufrecht und ernst stand Nansen im Boot", während ein Chor ,Ein feste Burg ist unser Gott' anstimmte. Und dann erklang aus Tausenden von Kehlen die norwegische Nationalhymne: "Ja, wir lieben dieses Land!"

Fünf Tage lang dauerten die Empfangsfeiern. Die Stadtverordneten begrüßten sie, ein Festzug führte durch einen Triumphbogen zur Universität, wo sie der Rektor mit allen Professoren und Studenten willkommen hieß. König Oskar gab ihnen ein Festmahl. Es gab Festbankette und Festreden, eine Festvorstellung im Theater, Siegeskränze und Girlanden und einen Fackelzug. Wieder, wie nach der Heimkehr von der Grönlandfahrt, erträgt Nansen alles geduldig, aber viel Freude hat er nicht daran. Er teilt eher die Ansicht seines Kameraden Peder Hendriksen von der "Fram", der schon bei der Einfahrt in den Fjord von Drontheim mit einem wehmütigen Blick auf die jubelnden Menschenmassen gesagt hatte: "Du, Nansen, das mag ja ganz gut sein, aber es ist zu viel Leben! Ich denke an das Eismeer: da hatten wir es gut!"

Am Abend nach der Heimkehr stand Nansen am Ufer des Christianiafjords vor seinem Hause. "Der Lärm nach dem Feste war verhallt, die Fichtenwälder lagen ringsum schweigend und dunkel. Auf der Felsenklippe draußen rauchten noch die letzten glimmenden Kohlen eines uns zum Willkommen angezündeten Freudenfeuers, und zu meinen Füßen plätscherte und flüsterte die See: "Jetzt bist du zu Hause." Der tiefe Friede des Herbstabends senkte sich wohltuend auf den ermüdeten Geist. Ich musste mich jenes regenschweren Junimorgens erinnern, als ich diesen Strand zum letzten Male betreten hatte. Mehr als drei Jahre sind vorübergegangen. Wir haben gekämpft, wir haben gesät, aber jetzt ist die Erntezeit gekommen. Es schluchzte und weinte in mir vor Freude und Dankbarkeit. Das Eis und die langen Mondnächte mit all ihrer Qual erschienen mir wie ein ferner Traum aus einer anderen Welt: ein Traum, der entstanden und dahingeschwunden war. Aber welchen Wert hätte das Leben ohne seine Träume?"

Nansens Reise durch die Arktis machte Epoche in der Geschichte der Polarforschung. Das Werk "In Nacht und Eis" schildert seine Erlebnisse und Erfahrungen auf der "Fram" und später auf der Eiswanderung mit Johansen. Sein Stil ist einfach und klar. Es ist ein Tagebuch, das berichtet, was geschehen ist. Als Knabe hatte er einmal in einem Brief an seinen Vater bemerkt: "Wenn ich nichts zu berichten habe, dann kann ich nicht schreiben." Aber jetzt gab es unendlich viel zu berichten, und zu den nüchternen Tatsachen kamen die vielfältigen Reflexionen und Gefühle eines Mannes, der in seltsamer Weise Klarheit, Härte und Empfindsamkeit in sich vereinigte. Das Ganze wurde ein Werk, bei dessen Lektüre die Zeitgenossen oft den Atem anhielten vor Spannung und Anteilnahme.

Erst später, in den Jahren 1900 bis 1906, erschienen die wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise, sechs dicke Bände. Sie waren eine Sensation für die Arktisforscher. Nansen hatte festgestellt: das Polarmeer ist ein gewaltiger Ozean, an manchen Stellen fast viertausend Meter tief. Er hatte weiter erwiesen, dass es den von manchen Forschern vermuteten arktischen Kontinent nicht gab; ja nicht einmal Inseln im näheren Umkreis des Pols hatte er gefunden. Seine Messungen der Wassertemperaturen ergaben ein überraschendes Resultat: das Wasser unterhalb von zweihundert Metern ist wärmer als an der Oberfläche, was zu ganz neuen Erkenntnissen über die Wasserzirkulation der Arktis führte. Noch nie vorher waren meteorologische und magnetische Beobachtungen so nahe am Pol gemacht worden, zum ersten Mal überhaupt Pendelversuche über der Tiefsee.

Nansen wurde nach seiner Rückkehr eine Professur für Zoologie in Christiania übertragen, zunächst ohne die Verpflichtung zu Vorlesungen, um ihm die Bearbeitung der wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Expedition zu ermöglichen. Immer mehr wandte sich beim Fortschreiten dieser Arbeiten sein Interesse den Problemen der Ozeanographie zu, einer damals noch ganz jungen Wissenschaft. Ihr ist er sein Leben lang treu geblieben, soweit nicht andere Pflichten ihn von der wissenschaftlichen Arbeit fernhielten.

Doch diese Pflichten kamen bald. Sie forderten viel von seiner Zeit, schließlich fast sein ganzes Dasein. Der Unionsstreit mit Schweden zog ihn zum ersten Mal auf das Feld der Politik. Sein Name hatte Gewicht, nicht nur in Skandinavien, sondern in aller Welt, vor allem in England. Als die Krise im Jahre 1905 auf dem Höhepunkt war und man ernstlich mit einer militärischen Aktion Schwedens rechnen musste, wurde Nansen nach London geschickt, um bei der englischen Regierung und überhaupt bei den Großmächten um Verständnis für die Haltung seines Landes in dem Streit zu werben.

Von 1906 bis 1908 war er der Chef der norwegischen Gesandtschaft in London. Die Zeit war ein Opfer, das er seinem Volke brachte. Bitter entbehrte er das Leben in freier Natur. In der pompösen Diplomatenuniform und im mondänen Leben der Londoner Gesellschaft konnte ein Mann wie Nansen sich nicht glücklich fühlen. Dazu kam ein schwerer persönlicher Schlag, der ihn traf. Seine Frau, die mit den Kindern noch in Norwegen geblieben war, erkrankte plötzlich und starb, ehe er zu ihr kommen konnte. Er bestattete ihre Asche unter einem der vielen Rosenstöcke, die er in seinem Garten gepflanzt hatte. Jetzt konnte ihn nichts mehr in London halten. "Ich sehne mich, diese Fesseln zu zerreißen; ich sehne mich nach dem Wald und meinem freien Fjell!"

 

Der Ausbruch des ersten Weltkrieges musste einen Mann wie Nansen tief erregen. Er war kaum das, was man einen Pazifisten nannte. Weichliche Sentimentalität lag ihm sehr fern. Er wusste nur zu gut: alles Leben ist Kampf ums Dasein. Aber was hier geschah, war in seinen Augen der Selbstmord Europas. Was sollte werden, wenn die besten Völker des Abendlandes im Kampfe verbluteten?

Zunächst forderte ihn wieder sein eigenes Land für eine politische Mission. Norwegen hatte als neutraler Staat in den ersten Jahren des Krieges viel Geld verdient. Bald aber zeigte es sich, dass auf dem Weltmarkt alle lebenswichtigen Waren immer knapper wurden und für Geld allein nicht mehr zu haben waren, wenn man nicht als Gegenleistung kriegswichtige Güter zu bieten hatte. Dazu aber war Norwegen kaum imstande, da es schon seit langer Zeit den größten Teil seiner Lebensmittel, auch die Rohstoffe für seine Industrie aus dem Ausland beziehen musste. Als Mitte des Jahres 1917 die amerikanische Regierung ein grundsätzliches Ausfuhrverbot für Lebensmittel erließ, wurde die Lage katastrophal. Wenn es nicht gelang, für Norwegen ein Sonderabkommen zu schließen, stand der Hunger vor der Tür.

Wieder war es Nansen, der als Leiter einer Kommission nach Amerika geschickt wurde, um das Schlimmste zu verhüten. Die Verhandlungen waren schwierig und zogen sich lange hin. Schließlich kam nach neun Monaten ein Abkommen zustande, das Norwegen vor der Hungersnot bewahrte. Über Nansens Art, Verhandlungen zu führen, berichtet einer seiner damaligen Mitarbeiter: "Durch seine überlegene Tüchtigkeit als Unterhändler, durch die Offenheit und Wahrhaftigkeit, die von seiner ganzen Person ausstrahlte, war es Nansen nicht nur gelungen, die amerikanischen Unterhändler sachlich zu überzeugen, er hatte auch ihr Vertrauen und ihre Herzen gewonnen. Nansens Amerikaabkommen war der Sieg einer Art Diplomatie, der man nicht immer diesen Namen zubilligt, die aber trotzdem die Form für Verhandlungen zwischen den Völkern darstellt, die am weitesten führt und die Diplomatie der Zukunft werden wird."


Kriegsgefangene und Flüchtlinge

Als der Weltkrieg zu Ende war, wurde Nansen Vertreter Norwegens beim Völkerbund. Der hatte die Aufgabe übernommen, für die Rückführung der Kriegsgefangenen aus allen ehemals kriegführenden Ländern in ihre Heimat Sorge zu tragen. Vor allem handelte es sich um die Gefangenen der Mittelmächte in Sibirien. Durch den politischen Umsturz in Russland waren sie völlig von der Welt abgeschnitten. Langsam hörte man davon, wie es in ihren Lagern aussah, dass Nahrung, Kleidung, Medikamente fehlten und täglich Hunderte dahinstarben.

Die Schwierigkeiten in dem politischen und wirtschaftlichen Chaos der Nachkriegszeit waren riesengroß, und man musste rasch handeln, wenn nicht alle Hilfe zu spät kommen sollte. Von dem Völkerbundssekretär Noel Baker stammte der Vorschlag: Es gilt, einen Mann zu finden, der nicht nur die technischen und finanziellen Schwierigkeiten meistern kann, sondern auch in allen Ländern ein überragendes menschliches Ansehen genießt. Es gibt nur einen solchen Mann, sagte Baker: das ist Nansen!

Als er die telegraphische Anfrage des Völkerbundes erhielt, zögerte Nansen zuerst. Er glaubte, für eine solche Aufgabe nicht genügend Erfahrung zu besitzen, und es fiel ihm schwer, sich von seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu trennen. Doch er ließ sich bald umstimmen. Mit Schmerz und Grauen hatte er erlebt, wie die Jugend Europas auf den Schlachtfeldern verblutete. Nansens Tagebücher geben ein erschütterndes Zeugnis von seinen Empfindungen in diesen Jahren. So wollte er jetzt mithelfen zu retten, wo noch etwas zu retten war.

Ohne aufrichtige Mitarbeit der Sowjetunion waren alle Pläne undurchführbar. Nansen reiste darum zuerst nach Moskau. Hier erklärte ihm der Außenkommissar Tschitscherin, da die Sowjetunion den Völkerbund nicht anerkenne, könne sie auch mit ihm als dessen Beauftragten nicht verhandeln. - "Dann wollen Sie mir innerhalb von zwei Stunden einen Extrazug für meine Rückreise bis zur Grenze bereitstellen", antwortete Nansen. Doch bald einigten sie sich dahin, dass er nicht im Namen des Völkerbundes, sondern als Vertreter aller der einzelnen an der Aktion beteiligten Länder verhandeln sollte, deren Vollmachten er sofort beantragte. Aber noch ehe sie da waren, hatte man ein befriedigendes Abkommen erreicht. Die Sowjetregierung erklärte sich bereit, jede Woche mindestens zwei Züge mit Gefangenen aus Russland und Sibirien an die Westgrenze zu schicken. Dort sollten sie gegen russische Kriegsgefangene, die aus den Ländern Mitteleuropas hierher gebracht wurden, ausgetauscht werden. Zur Durchführung dieses Planes errichtete man an der Grenze mehrere Lager, das wichtigste in Narwa. Obgleich sich Russland damals im Krieg mit Polen befand und sein ganzes Eisenbahnmaterial dafür benötigte, hielt es den Vertrag ein. Ja, manchmal kamen mehr Züge als vereinbart.

Die nächste Schwierigkeit bestand in der Frage der Finanzierung. Der Völkerbund hatte Nansen wohl einen Auftrag gegeben, aber kein Geld, da er damals selbst noch über keine Mittel verfügte. Die einzelnen Regierungen zu Zahlungen heranzuziehen war schwierig und vor allem sehr zeitraubend. Da entdeckte Nansen, dass mehrere Länder Anleihen zum Wiederaufbau Mitteleuropas erhalten sollten. Sofort schaltete er sich ein und erklärte der Kommission, die diese Beträge verwaltete, dass die Heimführung der Kriegsgefangenen die wesentlichste Voraussetzung für den Wiederaufbau sei. Es gelang ihm, aus diesen Fonds einen Kredit in Höhe von achteinhalb Millionen Goldmark zu erhalten. Das war sehr wenig für seine riesenhafte Aufgabe; doch er verstand es, sparsam zu wirtschaften. In kurzer Zeit war eine kleine, aber sehr wirksame Organisation aufgebaut. Das Rote Kreuz und alle sonstigen Verbände, die sich schon bisher mit der Betreuung der Kriegsgefangenen befasst hatten, wurden herangezogen. Nansen hatte immer eine glückliche Hand in der Wahl seiner Mitarbeiter, und er wusste jeden auf den richtigen Platz zu stellen. "Verstehe ich mich auf etwas, dann auf Menschen", sagte er einmal.

Jetzt fehlte es an Schiffen, um die Transporte von Narwa nach Swinemünde zu bringen. Schiffsraum war damals fast noch schwieriger zu bekommen als Butter und Speck. Wohl lagen in den deutschen Häfen viele Schiffe. Aber sie waren von den Engländern beschlagnahmt, die sie auch für die Zwecke des Gefangenenaustausches nicht freigeben wollten. Nansen erklärte sich bereit, die Schiffe reparieren zu lassen und so ihren Wert zu steigern. Er reiste selbst nach London und erreichte, dass man ihm vierzehn Dampfer zur Verfügung stellte. Sie wurden sofort auf deutschen Werften ausgebessert und mit deutschen Seeleuten bemannt. Im Mai 1920 begannen die ersten Transporte. Schon auf der Völkerbundssitzung im November kann Nansen berichten, dass einhundertfünfzigtausend Gefangene zurückgekehrt sind. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Aber weitere sechzig- bis achtzigtausend mussten noch einen Winter in Russland aushalten.

In anderthalb Jahren waren schließlich vierhundertfünfzigtausend Kriegsgefangene, die aus sechsundzwanzig verschiedenen Ländern stammten, in ihre Heimat zurückgeführt worden. "Es gibt nicht ein Land auf dem Kontinent", erklärte der Völkerbundssekretär Noel Baker, "wo nicht Frauen und Mütter vor Dankbarkeit für Nansens Arbeit geweint haben." In einem Bericht an den Völkerbundsrat zieht Nansen das Fazit dieser zwei Jahre: "Nie in meinem Leben bin ich mit einem so entsetzlichen Übermaß von Elend in Berührung gekommen wie hier, wo ich lindern soll. Diese Leiden sind aber nichts anderes als die unausbleibliche Folge eines Krieges, der das Unterste zuoberst kehrte. Der Völkerbund tut recht, dass er Fragen wie diese aufnimmt. Was ich aber vor allen Dingen bei meiner Arbeit gelernt habe, ist dies: dass es eine Hauptaufgabe des Völkerbundes werden muss, für alle Zeiten die Wiederholung einer solchen Katastrophe zu verhindern."

Nansen war sechzig Jahre alt, als die Heimführung der Kriegsgefangenen nahezu vollendet war. Wiederum hoffte er, sich nun ganz seinen Studien widmen zu können. Wie viele wichtige Arbeiten und Forschungspläne hatte er zurückstellen müssen, seit die Politik immer mehr von seiner Zeit in Anspruch nahm! Zu Anfang des Jahrhunderts hatte er von einer Fahrt in die Antarktis geträumt und von einem nochmaligen Vorstoß zum Nordpol. Die immer mehr sich entfaltende Wissenschaft der allgemeinen Meereskunde stellte neue und reizvolle Probleme. Gewiss, er verstand es, auch neben den politischen Aufgaben seine wissenschaftlichen Arbeiten zu fördern, und mehrere wertvolle Untersuchungen, die sich besonders mit Fragen der Ozeanographie, der historischen Klimatologie und der Entdeckungsgeschichte befassen, kamen auch in dieser Zeit heraus. Aber seine Hauptarbeitskraft musste er jetzt doch ganz anderen Dingen widmen.

Die Stunde, in der er sich zum ersten Mal für eine der humanitären Aufgaben des Völkerbundes zur Verfügung gestellt hatte, entschied auch über das letzte Jahrzehnt seines Lebens. Noch war die Kriegsgefangenenaktion nicht beendet, da tauchte ein neues Problem auf: die politischen Flüchtlinge. Mehr als eine Million Menschen war durch die russische Revolution aus ihrer Heimat vertrieben worden. Aber niemand wollte sie haben; denn überall herrschte Arbeitslosigkeit, und viele von ihnen waren alt und krank. Man trieb sie hin und her über die Grenzen. Alle private Wohltätigkeit konnte gegenüber diesem Meer von Not und Elend nur wenig helfen.

Für viele dieser Flüchtlinge bot sich die Möglichkeit, bei Freunden oder Verwandten in anderen Ländern Arbeit zu finden; aber man ließ sie nicht einreisen, weil sie keinen Pass hatten. Noch einmal ergab sich ein internationales Problem von ähnlichem Ausmaß wie in der Kriegsgefangenenfrage. Wieder wusste der Völkerbund keinen besseren Rat, als Nansen zu bitten, sich als Generalkommissar dieser Sache anzunehmen. Konnte er sich angesichts solcher Notlage ins Privatleben zurückziehen? Niemand verstand es so wie er, das Gewissen der Welt aufzurütteln.

Es wurden Mittel bereitgestellt, die schlimmste Not zu lindern. Aber das war keine Endlösung. Nansen forderte in einer Konferenz vor Vertretern vieler Länder, man müsse diesen Flüchtlingen einen Pass ausstellen, der es ihnen - die bisher als Staatenlose galten - ermöglichte, in jedes Land zu reisen, wo es für sie eine Chance gab. Mehr als alle vorübergehenden Unterstützungsmaßnahmen half dieser Ausweis, der unter dem Namen "Nansenpass" berühmt wurde und den schließlich zweiundfünfzig Staaten anerkannten, dass ein großer Teil von ihnen wieder den Weg in ein neues Leben fand.


Die russische Hungersnot

Im Juni des Jahres 1921 sandte der Dichter Maxim Gorki einen Notruf in die Welt. Die fruchtbarsten Gebiete Russlands, die Ukraine und das Land an der unteren Wolga, die schon jahrelang unter Dürre gelitten hatten, waren von einer furchtbaren Hungersnot bedroht. Der Präsident des Internationalen Roten Kreuzes in Genf berief eine Konferenz ein. Trotz mancher Bedenken aus politischen Motiven waren zwölf Staaten bereit, Russland durch Lieferung von Lebensmitteln zu helfen. Wieder war es Nansen, der die Leitung der Aktion übernehmen sollte.

In Riga beginnt er, das Hilfswerk zu organisieren. Aber dort konnte man nicht alle Fragen klären. Darum wird er mit Extrazug nach Moskau geholt. Den Empfang im Kreml hat sein norwegischer Verleger geschildert: "Nansen besuchte die rote Burg, um mit Lenin zu sprechen. Statt dessen kam ihm ein Mann mit großem Bart und hohen Stiefeln entgegen. - ‚Mein Name ist Trotzki.' Nansen erfuhr, dass Lenin krank war. Alle Geschäfte hatten die Minister übernommen. - 'Bitte, Herr Professor, dieses Arbeitszimmer steht Ihnen zur Verfügung. Wollen Sie sich darin niederlassen und bestimmen, mit welchen von den russischen Ministern Sie zu verhandeln wünschen. Dann werden diese in der Reihenfolge erscheinen, die Sie vorschreiben!' - So schlug Nansen in der roten Burg sein Quartier auf und erteilte den Führern der russischen Regierung Audienz."

Nansen verschaffte sich rasch ein Bild von der Lage. Zwanzig bis dreißig Millionen Menschen waren vom Hungertode bedroht, wenn nicht sehr schnell Hilfe kam. Unendliche Mengen von Getreide - etwa so viel, wie achttausend Züge zu je fünfzig Waggons laden konnten - waren nötig, sie am Leben zu erhalten. Russland selbst konnte kaum die Hälfte davon aufbringen. Die andere Hälfte musste von außen kommen. Schon war ein Anfang gemacht worden. Der Amerikaner Herbert Hoover, der spätere Präsident der Vereinigten Staaten, leitete eine private Organisation, die drei Millionen russische Kinder ernährte. Auch aus England kam Hilfe. Aber das alles musste vervielfacht werden, und zwar noch in diesem Jahr, um die drohende Katastrophe abzuwenden. Russland besaß nicht die Mittel, diese Getreideeinfuhr zu bezahlen. Es brauchte Kredit. Aber Kredit für die Sowjetunion war damals schwer zu bekommen. Nansen übernahm es, die nötigen Anleihen bei den europäischen Regierungen zu vermitteln.

Am 9. September 1921 - es war genau der Tag, an dem er vor fünfundzwanzig Jahren mit der "Fram" von seiner Polarfahrt zurückgekommen war, - sprach er vor dem Völkerbundsrat in Genf und bald danach vor der Vollversammlung. Mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit bemüht er sich, die Völker Europas zu einer gemeinsamen Hilfsaktion zu bringen: "Versuchen Sie sich vorzustellen, was es bedeutet, wenn der russische Winter im Ernst einsetzt. Versuchen Sie sich vorzustellen, was es bedeutet, wenn die Menschenmassen durch das leere Land wandern, um etwas Nahrung zu erwischen. Männer, Frauen und Kinder sterben im Schnee Russlands! Wenn Sie je erlebten, was es heißt, gegen Hunger und Kälte kämpfen zu müssen, dann können Sie das russische Elend verstehen... Im Namen der Menschheit, im Namen von allem, was für Sie heilig ist, beschwöre ich Sie als Gatten und Väter zu bedenken, dass in Russland Frauen und Kinder zu Millionen sterben! Von dieser Stelle aus bitte ich die Regierungen, die Völker Europas, die ganze Welt um Hilfe. Beeilen Sie sich zu handeln, bevor es zu spät wird, bevor Sie bereuen!"

Doch der Völkerbund versagte. Es geschah, was Nansen am meisten befürchtet hatte: eine neue Konferenz wurde einberufen, die einen Monat später in Brüssel tagte. Dort beschloss man, zunächst eine Kommission nach Russland zu schicken, um die Notlage an Ort und Stelle zu untersuchen. Auch sollte ein Kredit erst dann gegeben werden, wenn die Sowjetunion die Schulden des Zarenreiches anerkannte. Nansen war aufs tiefste erbittert. Warum hatte man ihn gerufen, wenn man nicht bereit war, die Mittel für seine Aufgabe bereitzustellen? War es Trägheit des Herzens oder bewusste Absicht, die ganze Hilfsaktion zu sabotieren? Er wusste es besser als jeder andere, dass diese Verzögerungstaktik Millionen von Menschen das Leben kosten musste.

So blieb nur die Hoffnung auf die Liebestätigkeit privater Organisationen. Vielerlei kam zusammen: Lebensmittel, Medikamente, auch Geld. Nansen bemühte sich, alle diese Spenden rasch in die rechten Kanäle zu leiten. Dann fuhr er nach Russland in die Hungergebiete. Was er dort sah, war weit schlimmer, als selbst er es erwartet hatte. Aus Dachstroh, Baumrinden und Laub versuchten die Menschen Brot zu backen oder einen Brei zu kochen. Hunde und Katzen waren längst verzehrt. Man scheute sich nicht, selbst die Leichen auf dem Friedhof wieder auszugraben und zu essen. Empört rief Nansen nach Europa: "Warum strömen nicht die Mittel im Überfluss? Wo bleibt die Nächstenliebe?"

Um Geld herbeizuschaffen, begab er sich auf eine Vortragsreise durch die Hauptstädte Europas und nach Amerika, überall waren die Säle voll von Menschen. Als er in einer Kirche in Stockholm sprach, waren sowohl Mitglieder des Königshauses wie auch die Führer der Kommunisten anwesend. Nansen ersparte ihnen nichts. Er schildert realistisch, was er gesehen hat, und er macht es durch Lichtbilder deutlich. Die Zuhörer waren erschüttert. Viele weinten, einige fielen in Ohnmacht. Selbst Nansen versagte manchmal die Stimme. "Ich sage es jetzt und ich werde es immer sagen: wer diese russischen Kinder mit ihren flehenden Augen gesehen hat, kann ihren Blick nie vergessen."

Die Zeitung "Dagbladet" berichtet im März 1922 von einem dieser Vorträge: "Die Versammlung ist zu Ende. Professor Nansen erhebt sich, und ein müdes Lächeln leuchtet einen Augenblick in seinem Antlitz auf. Bald soll er seine übermenschlich anstrengende Reise fortsetzen, die Reise durch ein Eisland, hundertmal schlimmer als das Polarmeer, das er einst überwand, die eisige Herzenskälte einer abgestumpften Menschheit.

Seine gerade Gestalt hastet die Straße hinab - ein riesiger Hut, zwei scharfe Augen, ein rassig gemeißeltes Antlitz, hart, entschlossen, unerschütterlich - so sieht er aus, der für dreißig Millionen unglückliche Menschen das Schicksal darstellt."

Nansens Propagandafeldzug hatte Erfolg. Aus privaten Sammlungen und von verschiedenen Vereinigungen strömten ihm reiche Mittel zu, und auch einige Regierungen leisteten jetzt Beiträge. Seine Organisation, die "Nansenhilfe", sorgte dafür, dass das Geld so schnell wie möglich in Nahrungsmittel umgesetzt und in die Notstandsgebiete geleitet wurde. Auch Hoovers Aktion bekam durch Nansens Appell an das Weltgewissen neuen Auftrieb. Das Zögern des Völkerbundes hatte zur Folge, dass es nicht gelang, die große Katastrophe zu verhindern. Millionen von Menschen starben, weil die Hilfe zu spät kam. Aber Millionen wurden gerettet, weil Nansen sich bis zum äußersten seiner Kraft für sie einsetzte.

 

Im Dezember 1922 wurde Nansen der Friedens-Nobelpreis verliehen. Nach dem Testament seines Stifters sollte er denen zuerkannt werden, "die am meisten oder am besten für die Verbrüderung der Völker wirken." Der Vorsitzende des Nobelkomitees, Professor Strang, hielt die Festrede. Nachdem er Nansens Verdienste um die Rückführung der Kriegsgefangenen, die Flüchtlinge und die Bekämpfung der Hungersnot in Russland gewürdigt hatte, erinnerte er an die Fahrt der "Fram", die allein Nansens Glaube an die Polardrift zum Ziel gebracht hatte. Dann fuhr er fort: "Dasselbe sehen wir in unseren Tagen. Wieder hat ein Unterstrom, an den nur wenige geglaubt haben, Nansen vorwärts getragen - der tiefe Strom des Menschengefühls, der unter der Eisschicht fließt, mit der sich Staaten und Individuen umgeben. An diesen Strom hat Nansen geglaubt, und durch diesen Glauben hat sein Werk gesiegt."

Der Völkerbund betrachtete Nansen jetzt als seinen bewährten Experten für Flüchtlingsfragen aller Art. Als in dem griechisch-türkischen Krieg Kemal Pascha den Griechen im Sommer 1922 eine vernichtende Niederlage beigebracht hatte, flohen Hunderttausende von Griechen und Armeniern auf die Inseln im Ägäischen Meer, um dem drohenden Massaker durch die Türken zu entgehen. Nach dem Waffenstillstand im Herbst musste Griechenland Ostthrazien an die Türkei abtreten. Wer nicht unter türkische Herrschaft kommen wollte, musste das Land innerhalb von achtundvierzig Tagen verlassen. Aber unter den griechischen Bauern, die nicht lesen konnten, verbreitete sich das Gerücht, es sei ihnen eine Frist von nur achtundvierzig Stunden gesetzt. Da sie um keinen Preis osmanische Untertanen werden wollten, flüchteten sie in wilder Panik über den Grenzfluss Maritza nach Griechenland. Wieder war es Nansen, der die schlimmsten Leiden dieses Flüchtlingsstromes linderte und beim Völkerbund eine Anleihe erwirkte, um die Heimatlosen in Griechenland anzusiedeln.


Verratenes Volk

Nansens letzte Hilfsaktion galt dem Schicksal des armenischen Volkes. Armenien, im Altertum ein mächtiges Reich, lag an der Dreiländerecke, wo Russland, die Türkei und Persien zusammenstoßen. Weitaus die meisten Armenier lebten auf türkischem Gebiet, wurden aber hier von den Türken aufs bitterste bekämpft und misshandelt. Schon der alte Gladstone, Englands langjähriger Premierminister unter der Königin Viktoria, hatte 1876 empört gegen die Greueltaten der Türken in Armenien protestiert. Er nannte die Türkei einen Schandfleck in der Welt und den Sultan Abdul Hamid, der alle Grausamkeiten deckte, einen Mörder auf dem Thron. Zu Beginn des ersten Weltkrieges hatten die Großmächte andere Sorgen, als sich um das Schicksal einer kleinen Nation in Asien zu kümmern. Darum ging die Türkei jetzt daran, die armenische Frage in ihrem Sinne zu lösen, das hieß: "das Vaterland von der verfluchten Rasse zu befreien und alle Armenier im türkischen Reiche auszurotten, so dass auch nicht eine lebende Seele entwische." Zunächst wurden in Konstantinopel sechshundert Intellektuelle verhaftet, Lehrer und Geistliche, Ärzte, Literaten und Rechtsanwälte. Nur acht davon sah man wieder, über das, was kurz danach in der Provinz geschah, berichtet Nansens Biograph Soerensen: "Dann brachen Greuel los, wie sie in der Geschichte nicht Ihresgleichen haben. Von Cilicien, Anatolien und Mesopotamien wurden die Armenier auf ihren Todesmarsch in die Wüste hinausgetrieben. Diejenigen, die nicht niedergemacht oder erschossen wurden, starben vor Hunger. Ihr ganzes Hab und Gut rissen die Türken an sich."

Um den Widerstand der Türkei zu brechen, versprachen im weiteren Verlauf des Krieges die Alliierten den Armeniern Freiheit und politische Selbständigkeit, wenn sie sich der Entente anschließen und in ihren Reihen kämpfen wollten. Feierliche Versprechungen wurden ihnen von den großen Staatsmännern der westlichen Welt gemacht: von Asquith und Lloyd George, von Clemenceau, Poincare und Wilson.

Mehr als zweihunderttausend Armenier gaben ihr Leben für die Sache der Alliierten. Die Hälfte des Volkes fiel den türkischen Massakern zum Opfer. Achthunderttausend flüchteten ins Ausland oder in ein Versteck. Als der Krieg zu Ende war, erinnerte sich niemand der großartigen Versprechungen. Doch irgend jemand musste sich der Flüchtlinge annehmen. Der Völkerbund ernannte eine Kommission, die untersuchen sollte, ob man nicht einen Teil von ihnen in dem Gebiet südlich des Kaukasus ansiedeln könnte. Wieder bat man Nansen, den Vorsitz zu übernehmen. Er konnte helfen, einigen Zehntausenden hier und anderswo eine neue Heimstätte zu bereiten. Aber zu einer wirklichen großzügigen Hilfsaktion für das ganze Volk verweigerte man ihm die Mittel. In zwei Büchern, "Betrogenes Volk" und "Durch Armenien", hat er seine Erlebnisse in diesem Kampf geschildert. Die Passivität der Großmächte in der armenischen Frage hat ihn tief erschüttert. "Aber ich verstehe", schreibt er voll bitterer Ironie, "warum nichts geschieht, warum die Staatsmänner Europas des ewigen armenischen Problems müde geworden sind. Es hat ihnen ja nur Niederlagen eingebracht! Schon der bloße Name weckt ihr schlafendes Gewissen. Wie viele Versprechungen haben sie nicht erfüllt! Ja, nicht einmal versucht zu erfüllen. Es handelte sich ja nur um dieses kleine blutende Volk, das zwar begabt war, aber weder Ölfelder noch Goldgruben besaß."

An Bord der "Fram" hatte Nansen in sein Tagebuch geschrieben: "Es kommt ein Tag, groß und stille, öffnet die gewaltige Pforte zum Nirwana, und du wirst hinübergetragen ins Meer der Ewigkeit." In der Winterhütte auf dem Franz-Joseph-Land schrieb er zu Weihnachten 1895: "Der Tod kann sich, glaube ich, niemals nähern, ehe man seine Mission erfüllt hat."

Jetzt, ein Menschenalter später, hatte er seine Mission erfüllt. Seit dem Februar 1930 litt er an einer Venenentzündung. Auch begann sein Herz zu versagen. Sein Biograph Wartenweiler berichtet von dem 13. Mai dieses Jahres: "Der Nachmittag war schön -, diese Frühlingstage im Norden sind von einer ergreifenden Milde - Nansen verlangte nach der Veranda seines Heimes, nach dem Ausblick über Garten und Fjord. Draußen hörte ihn seine Schwiegertochter plötzlich sagen: 'Wie gut, dass wir in unserm Garten diese Linden gepflanzt haben ... Ihr Grün ist so frisch, dass sie den Frühling zu verlängern scheinen.' Er neigt sich vornüber. Sie nähert sich ihm und richtet das Haupt wieder auf: es war ihm auf die Brust gesunken. Noch einmal öffnet er die Augen, küsst leise die Stirne, die sich über ihn beugt und seufzt: 'O ja!'

Es ist sein letztes Ja."

 

Am 17. Mai, dem Nationalfeiertag der Norweger, an dem Nansen die Festrede halten sollte, wurde er beigesetzt. In der Pfeilerhalle vor der Aula der Universität stand der Sarg. Ganz Oslo strömte herbei. Es kamen der König und der Kronprinz. Es kamen Nansens alter Kamerad Sverdrup und Noel Baker als Vertreter der englischen Regierung. Die Kinder aller Schulen zogen an dem Katafalk vorbei. Zwei Minuten lang ruhte der Verkehr. Die Gedächtnisrede des Staatsministers an der Bahre klang aus in dem Gedicht von Anders Horden:

"Mein Leben schenk ich ungeteilt,
und alles, was ich bin und hab."
Und dann sang die Menge ernst und feierlich Norwegens Nationallied:
"Ja, wir lieben dieses Land!"

Nansen ging ein in die Geschichte als ein großer Polarforscher und als großer Mensch. Was die Menschen antreibt, die Arktis, ja überhaupt die unbekannten Regionen der Erde und des Geistes zu erforschen, hat er selbst einmal formuliert: "Solange das menschliche Ohr die Brandung des Meeres hört, solange das menschliche Auge das Nordlicht über dem Schneefeld sieht, solange der menschliche Gedanke Welten im endlosen Räume sucht, so lange wird die Sehnsucht nach dem Unbekannten den menschlichen Geist vorwärts und aufwärts führen."

Und solange es Kriege gibt, die von Generation zu Generation immer grauenvoller werden, die in ihrem Gefolge Not und Elend bringen, die Kriegsgefangene und Flüchtlinge zu Millionen an den Rand der Existenz werfen, wird man sich seiner erinnern. Und man wird danach rufen, ob nicht wieder ein Mann erstehen werde, wie Nansen es war. Kein weltfremder Ideologe, sondern ein harter und nüchterner Mann. Ein Mann, der nicht nur von Humanität redet, sondern männlich und stark unter den harten Realitäten der Politik mit der heißen Leidenschaft seines Herzens tut, was nur getan werden kann, um für zahllose Menschen die Not zu lindern und ihr Schicksal zu wenden.

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