Bildungspolitik in Bremen
Eltern sitzen mit im Unterricht - Neue
Strategien gegen Schulverweigerer
Von Elke Hoesmann
Der 15-Jährige stürmt in die Klasse, er ist
mal wieder zu spät. Die Hausaufgaben hat er nicht gemacht. Seine
Mitschülerin, zwei Bänke weiter, starrt in die Luft, kann sich nicht
konzentrieren. Nach drei Unterichtsstunden verlässt sie unauffällig die
Schule - wie schon in der Woche zuvor. Die beiden könnten Kandidaten für die
Familienklasse werden. In dieser Klasse an der Oberschule am Waller Ring
sitzen verhaltensauffällige Schüler mit ihren Angehörigen einmal wöchentlich
zusammen im Unterricht.
In einer Familienklasse begleitet ein
Elternteil - auch die Tante oder der Opa - das Kind für drei bis sechs
Monate an jeweils einem Wochentag von 8 bis 11 Uhr. Während eine Lehrkaft
die höchstens acht Schüler pro Klasse unterrichtet, sitzen die Angehörigen
daneben oder hinten im Raum. Sie müssen darauf achten, dass ihre Kinder gut
mitarbeiten. Zugleich können sie mit der Familientherapeutin über das
Verhalten der Schüler sprechen.
"Wir müssen die Eltern einbeziehen, wenn ihre
Kinder auffällig werden", sagt Doris Drümmer, Organisatorin der
Familienklasse. Die Therapeutin weiß aus ihrer Arbeit, dass viele
Verhaltensauffälligkeiten in den Familien entstanden sind. Die Eltern
müssten mit in die Verantwortung genommen werden. Nur so könne man
Jugendlichen, die Zeichen von Schulvermeidung zeigten, helfen, bevor sie zu
notorischen Blaumachern werden.
Acht Initiativen werden unterstützt
Denn Schulschwänzer gibt es in Bremen bereits
genug - es sind aber nicht mehr als in den anderen deutschen Großstädten,
wie eine kriminologische Studie der Universität Hamburg belegt. Das Bremer
Bildungsressort geht von "500 festen Schulverweigerern" aus. Sie wieder in
den Unterricht und letztlich zum Schulabschluss zu bringen, ist das erklärte
Ziel aller Hilfsprojekte. Acht Initiativen werden vom Bildungsressort
unterstützt. Bei zwei weiteren ist die Sozialbehörde federführend, dazu
gehört auch die Familienklasse in Walle - laut Bildungsresort das einzige
Projekt für Kinder und Jugendliche, die noch nicht notorisch schwänzen.
Beim Elterngespräch in der Familienklasse hat
Doris Drümmer oft erfahren, dass die Kinder auch zu Hause gegen Regeln
verstoßen. Manchmal gebe es gar keine Regeln, der Umgangston stimme nicht,
oder die Eltern seien selbst unpünktlich. Gemeinsam würden Lösungsstrategien
entwickelt. Doris Drümmer: "Eltern sollen in der Klasse lernen, konsequent
zu sein und Verantwortung für das Verhalten des Kindes zu übernehmen."
Sieben Kinder hat die Mutter von M., die mit
ihm in der Familienklasse sitzt. "Ich weiß, dass mein Sohn mehr Kontrolle
braucht", sagt sie. M. war oft zu spät gekommen und hatte auch im Unterricht
gestört. "Wenn wir zusammen in der Klasse sind, habe ich ihn mehr im Blick,
und das tut ihm gut." Auch die Angehörigen fühlen sich in der Klasse ernst
genommen und schätzen den Austausch mit anderen Eltern: "Viele haben
ähnliche Schwierigkeiten wie ich", stellt eine Teilnehmerin erleichtert
fest.
In der kleinen Klasse verschwänden elterliche
Schuld- oder Schamgefühle und auch die Angst vor der Institution Schule,
glaubt Drümmer. Zugleich helfen sich die Angehörigen untereinander. Eine
Mutter: "Durch die Gruppe schaffe ich es besser, konsequent zu sein und
etwas zu bestimmen. Denn beim nächsten Mal fragen sie mich, ob ich bei
meiner Meinung geblieben bin."
"Ich habe mein Arbeitsmaterial dabei, ich
arbeite sorgfältig, ich erscheine pünktlich zum Unterricht" - diese Ziele
hat sich M. nun gesetzt - nach Gesprächen mit seinem Klassenlehrer, den
Eltern und der Therapeutin. Neben der Familienklasse geht er wieder in den
normalen Unterricht zurück. Seine Lehrer an der Waller Oberschule bewerten
aber nach jeder Stunde anhand einer Skala von 1 bis 4, ob und wie M. seine
Ziele erreicht. M. kann das nachlesen und nimmt die Bewertungsbögen mit nach
Hause. Die Eltern müssen die Zettel jeden Tag unterschreiben. Dieses
Verfahren gilt für alle Familienklässler.
Doris Drümmer hat das Projekt vor eineinhalb
Jahren in Bremen aufgebaut, sie betreut auch eine zweite Familienklasse für
das Förderzentrum an der Vegesacker Straße. Vom Erfolg ihres Konzepts ist
sie überzeugt; es stammt aus London, wo es laut Drümmer an 25 Schulen
praktiziert wird.
Trägerin des Bremer Modellprojekts ist die
Waller Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft. Für die
Familienklasse fließen Mittel vom Bundesfamilienministerium und vom
Europäischen Sozialfonds, allerdings nur noch bis August nächsten Jahres.
"Wie es weitergeht, wissen wir nicht", sagt Drümmer. Dabei gebe es noch so
viel zu tun. So sei es erschreckend, wie viele Bremer Schüler regelmäßig zu
spät kämen. Lehrer müssten stärker auf die "Vorstufen von Schulverweigerung"
achten. Häufig hätten sie vor allem die lauten Störenfriede im Blick,
während sich andere unbemerkt aus dem Staub machen könnten, besonders
Mädchen. "Die verabschieden sich allmählich und still."
Auch die Bildungsbehörde weiß, dass Pädagogen
oft zu lange warten, bis sie gegen Schulschwänzer vorgehen. Sie hat deshalb
eine Handlungsanleitung erstellen lassen, die Lehrern aufzeigt, wie sie mit
Schulverweigerern umgehen sollen. Die Anleitung soll in diesem Monat an alle
Bremer Schulen gehen.
Weser Kurier vom 04.01.2011
Wer nicht spurt, fliegt raus
Das Förderprogramm "Zeig, was du kannst!" will Jugendliche in Ausbildung
bringen
Von Marco Thomfohrde
Burak (15), Bayram (16) und Steven (15)
besuchen die zehnte Sekundar-schulklasse an der Wilhelm-Olbers-Schule in
Hemelingen. Im nächsten Jahr machen sie ihre Berufsbildungsreife, da heißt
es, jetzt die Weichen für die berufliche Zukunft zu stellen. Wie es sich für
Jungs ihres Alters gehört, haben auch diese Drei längst nicht nur die Schule
im Kopf.
Dennoch stehen für sie die Chancen auf eine
Lehrstelle besser als für den einen oder anderen Mitpennäler: Denn Burak,
Bayram und Steven nehmen am Förderprogramm " Zeig, was du kannst!
Erfolgreich ins Berufsleben starten" teil. Das Modellprojekt wurde von der
Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw) mit Unterstützung des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) umgesetzt. Es richtet
sich an leistungsorientierte Hauptschüler, die kurz vor dem Übergang ins
Berufsleben stehen, und soll sie fit für eine Ausbildung machen.
Die Förderung ist auf drei Jahre angelegt:
vom Beginn des vorletzten Schuljahres bis zum Ende des ersten
Ausbildungsjahres. Im Land Bremen sind sechs Schulen an dem Projekt
beteiligt: die Immanuel-Kant-Schule und die Paula-Modersohn-Schule in
Bremerhaven sowie die Albert-Einstein-Schule, die Gerhard-Rohlfs-Schule, die
Johann-Heinrich-Pestalozzi-Schule und die Wilhelm-Olbers-Schule in Bremen.
Wenn Burak, Bayram und Steven von dem
Programm erzählen, spürt man schnell ihre Begeisterung. Seit einem Jahr)
sind sie nun dabei und haben schon einiges erlebt: zum Beispiel einen
zweitägigen Zielfindungsworkshop in der Jugendherberge Bremen, bei dem sich
die insgesamt 30 Teilnehmer ihres Jahrgangs aus dem Land Bremen gegenseitig
beschnupperten. "Alles Leute, mit denen man gut klarkommen kann", versichert
Bayram und erntet ein entschlossenes Nicken seiner zwei Freunde. Als
weiteres Highlight macht das Trio ein fünftägiges Berufsvorbereitungscamp in
Seevetal aus. In dessen Rahmen wurden persönliche Stärken und Fähigkeiten
ausgelotet sowie Schlüsselkompetenzen wie Zuverlässigkeit und Teamfähigkeit
vermittelt. Beim Gedanken an diesen Ausflug überkommt die drei Jungs
plötzlich ein breites Grinsen. "Das war total cool", bricht es aus dem sonst
eher zurückhaltenden Steven heraus. Und schon beginnen die Kameraden, aus
dem Nähkästchen zu plaudern - über schwierige Out-door-Übungen, die sie in
Gruppen meisterten, über die Rollen- Verteilung der einzelnen Mitglieder und
über die Coaches, die jede Aktion der Teilnehmer mit Argusaugen
beobachteten. "Mir wurde zum Beispiel gesagt, dass ich gerne im Team
arbeite, aber Probleme habe, mich auszudrücken", erzählt Steven, während
Burak durch Kreativität bestach, jedoch an seiner Kritikfähigkeit arbeiten
sollte.
Neben Workshops und Camps stehen auch
Betriebserkundungen auf dem Plan. Da Burak eine Ausbildung im Handel machen
möchte, sah er einen Tag lang hinter die Kulissen einer Supermarktkette.
Bay-ram hat dagegen schon einen konkreten Wunschberuf. Seit seinem Einblick
bei einem Energieversorger möchte er Industriemechaniker werden. Sein Plan:
"Erst mal weiter zur Schule und Abi machen." Vielleicht, orakelt er, setze
er ein Wirtschaftsstudium obendrauf. An Selbstbewusstsein mangelt es den
Jungs eben nicht - das Förderprojekt trägt erste Früchte.
Der Ablauf des Programms ist in drei Teile
gegliedert. Im ersten Jahr dreht sich alles um die Berufsorientierung, im
zweiten um die Berufswahlentscheidung inklusive Bewerbungstraining und im
dritten um die Stabilisierung während der Ausbildung. Das Mitwirken verlangt
von den Jugendlichen ein Höchstmaß an Leistungsbereitschaft, Disziplin und
Konzentration. "Es ist ein strenges Regime, dem sich die Schüler unterwerfen
müssen", verdeutlicht Lehrer Carl Böhm, der an der Wilhelm-Olbers-Schule für
die Betreuung des Programms verantwortlich ist. Im Rahmen mehrtägiger Camps
bedeute das für die Schüler etwa, körperlich und geistig immer bei der Sache
zu sein und sich in der Gruppe adäquat zu verhalten. Und: kein Rauchen, kein
Alkohol, keine Drogen und Bettruhe um Punkt 21 Uhr! Wer gegen die Regeln
verstößt, fliegt raus.
Burak, Bayram und Steven nehmen das Projekt
ernst. Die Jungs haben begriffen, dass sich der Einsatz lohnt. Dass sie in
der Schule und außerhalb Aufmerksamkeit und Wertschätzung genießen - und
dass die Teilnahme an dem Förderprogramm quasi eine Ausbildungsplatzgarantie
beinhaltet. Sie sind sich einig: "Dabei zu sein, ist wirklich etwas
Besonderes."
Näheres zum Förderprojekt "Zeig, was du
kannst! Erfolgreich ins Berufsleben starten" gibt es unter
www.sdw.org. Hier sind auch alle Details
zum Bewerbungs- und Auswahlverfahren aufgeführt. Alle Infos zum Thema
Ausbildung finden sich auch unter
www.job4u-bremen.de.
Weser Kurier vom 22.08.2009
Die geplante Änderung des Schulverwaltungsgesetzes soll nicht nur die Schulleitung betreffen. Um den pädagogischen Erfahrungshorizont von Lehrern zu erweitern, soll ihr Arbeitgeber mit dem neuen Gesetz verpflichtet werden, sie "nach Möglichkeit in regelmäßigen Abständen von acht Jahren in unterschiedlichen Schulen einzusetzen". Diese Rotation, so die Begründung im Referentenentwurf, soll Pädagogen die Möglichkeit geben, in unterschiedlichen Schulen Anregungen zu sammeln und Erfahrungen auszutauschen.
Weser Kurier vom 25.11.2005 |
Forum Lehren und Lernen der Uni Bremen Übergänge - Programm der Universität Bremen für Lehrer und Schüler Lernherbst für Eltern |
"Wir wollen gern in der Champions League spielen. Seit 2000 stehen wir eigentlich nur in der Regionalliga. Jetzt haben wir einen Schritt gemacht, um in die Zweite Bundesliga aufzusteigen." Willi Lemke, Bremer Bildungssenator und ehemaliger Bundesligamanager mit Hang zu Fußball-Vergleichen. Bei der ersten Pisa-Studie bildete Bremen das Schlusslicht der deutschen Bundesländer, was Lemke als "Katastrophe" bezeichnete. |
Der Tanker Bildung, mit dem unsere Zukunft unterwegs ist, kann durch Investition in Köpfe gesichert werden.
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