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Inhalt


WAS HAT MEINE CHRISTLICHE ERZIEHUNG AN POSITIVEM UND NEGATIVEM GEBRACHT?

Von H. Nico Plomp

Eigentlich bin ich mein ganzes erwachsenes Leben lang beschäftigt mit der Frage wie ich meine christliche Erziehung finde. Deshalb freue ich mich sehr, dass die Frage jetzt thematisiert ist und jeder etwas darüber aufgeschrieben hat. Dadurch ist es möglich darüber zu kommunizieren.

Die Frage setzt aber voraus, dass es möglich ist, solch eine Bilanz von der eigenen christlichen Erziehung zu machen. Man ist nicht so autonom wie wir uns oft wünschen vielleicht und auch das Produkt seiner Erziehung und deshalb kann die Antwort auf die Frage nur eine subjektive und vorläufige sein. Meine vorläufige Antwort auf die Frage habe ich in drei Teilen aufgebaut: Elternhaus, Erwachsenheit, Heute.

MEIN ELTERNHAUS

Wie bei mehreren hier war mein Vater Pfarrer. Man sagt dass das bedeutet, dass wir in einem gläsernen Haus lebten. In sicherer Hinsicht war das auch der Fall; ich werde gleich noch etwas dazu sagen. Wir gehörten zur Gereformeerde kerk, eine damals homogene orthodoxe Kalvinistische Kirche, abgespalten im 19. Jahrhundert von die NH Staatskirche, um mit der Christianisierung unseres säkularisierten Landes, das es schon im 19. Jahrhundert war, ernst zu machen. Bei uns zu Hause gab es tägliche Bibellesung, Gebete beim Anfang und Abschluss jeder Mahlzeit, jeden Sonntag zweimal zur Kirche und am Sonntagabend wurden geistliche Lieder gesungen im Familienkreis. Darüber hinaus besuchte ich die Christliche Schule, wo wir jede Woche einen Psalmvers auswendig lernten für den Fall wir - wie Paulus ins Gefängnis geraten und sie unsere Sangbücher abnehmen werden, die Lieder doch noch singen und den Herrn preisen konnten. Auch war ich Mitglied eines christlichen Jugendvereins. Ich erinnere mich an ein Streitlied, das lautete ´Die Arbeit die wir wollen beginnen, ist die Welt für Christus zu gewinnen´. Wir waren doch eine Art von Heilssoldaten. Der orthodoxe Glaube war unzweifelhaft. Der Glaube zu Hause war eine seriöse Angelegenheit nicht so sehr frohmütig, aber streitbar und fromm. Das ganze Leben war/sollte vom Glauben durchdrungen sein: die Wahl von der politischen Partei, Sexualität, Moral der Ehe. Wir sollten dankbar sein für das, was wir empfangen haben - nicht selbst erworben - und - wie ein Gebet lautete - nicht am Leben kleben, aber tun was Gott gebietet.

Als Kind habe ich mich ziemlich happy gefühlt in diesem Milieu. Ich war sicherlich gläubig, streitbar und polemisch. Und ich kann mich auch jetzt gut in die Lage eines fundamentalistischen Christen oder Muslim versetzen. Ich hatte meine Freunde damals im kirchlichen Kreis. Es war bekannt und gab ein Gefühl von Gemeinsamkeit. Die böse Welt machte uns zu Gottes auserwähltem Volk. Spot und Verachtung - die ich vielleicht selbst hervorrief - gehörten zu dieser Position der Gläubigen. Bach nannte das: Duld ich schon hier Spott und Hohn, dennoch bleibst du auch im Leide, Jesu, meine Freude.

ERWACHSENHEIT

Während meiner Schulzeit hab ich mich ständig angepasst; blieb zur Kirche gehen, aber der Zweifel schlug zu. Sexualität erwachte, ich fang an die Zeitung mehr bewusst zu lesen, politisches Interesse erwachte; ich entdeckte, dass außerhalb des reformierten Rahmens meiner Eltern andere gute Personen und Ideen waren, die Schule fiel mir manchmal schwer. Das große Problem für mich war, dass es nicht möglich war, darüber zu reden oder zu diskutieren. Für mich sicherlich eine sehr negative Seite meiner christlichen Erziehung. Es hat möglich etwas zu tun mit dem gläsernen Haus was ein Pfarrerhaus ist, mit dem orthodoxen Glaubenssystem selbst und aber jetzt denke ich hauptsächlich mit dem traumatisierten Charakter meines Vaters. Das zeigen von Zweifel war denke ich zu risikovoll, nicht nur für seine Rolle als Pfarrer, aber auch für ihn persönlich. Er sich hat in seinem Leben sehr eingesetzt für klare Ziele: studierte als einziges Kind in der Familie, Gefängniszeit, Pastorat in Konzentrationslager. Das alles habe ich mir erst viel später realisiert.

Fragen und Ansätze zur Diskussion wurden beschworen mit Texten und Sprüchen. Und meine Mutter bat mich, meinen Vater nicht zu befragen oder zu attackieren, weil ihn das so unruhig machte. Übrigens war ich der einzige von den sieben Kindern, der versuchte ihn zu befragen. Die anderen taten es aus Achtung oder Ehrfurcht nicht.

Ich und viele von meiner Generation suchten aktiv eine neue christliche Spiritualität, die uns inspirieren sollte und worin wir den christlichen Elan unserer Erziehung fortführen konnten.

Ich war in der Studentenzeit wieder im Katecheseunterricht aber konnte keine Konfirmation machen. Ich hatte das Gefühl, dass ich meinen Hals in die Schlinge stecken würde: als bekennender Christ sollte man viel machen und auch auf viel verzichten

(Neem mij leven. Laat het Heer.
oegewijd zijn aan uw eert,
Neem mijn handen, maak ze sterk,
dat toegewijd zijn aan uw werk).

Nimm mein Leben, laß es Herr
zu Deiner Ehre sein.
Nimm meine Hände, stärke sie,
damit sie Deinem Werke dienen.

Konfirmation zu machen, bedeutete für mich meine Seele zu verkaufen. Ja zu sagen zu einem System, was mich beschränkte. Ich wollte nicht mehr die Welt für Christ gewinnen, aber ich wollte die Welt kennen lernen! 1966 am Vorabend der Studenten Revolution, the roary sixties. Es war eine euphorische Epoche, woran ich aktiv teilgenommen habe, wodurch ich mich sehr inspiriert gefühlt habe und wovon sehr genossen habe.

Ich wurde Mitglied des Marxisten Kreises der NCSV, und 1967 fingen meine Reisen nach Berlin an. Es war abenteuerlich und viele der Freunde und Familie betrachteten eine Reise hinter den eisernen Vorhang als gefährlich. Aber es war eine Bekanntschaft in Theorie und Praxis mit einer neuen sozialistischen Gesellschaft und mit Christen, die sich damit engagiert hatten. Auf katholischer und protestantischer Seite organisierten sich die Christlichen Radikalen. Wir versuchten Gerechtigkeit, Nächstenliebe praktisch an zu wenden. Der Nächste war nicht mehr das Kirchenmitglied, sondern der Arme der Dritten Welt. Das Erbe der kolonialen Vergangenheit versuchten wir politisch wieder gut zu machen durch die Befreiungsbewegungen in Afrika und Vietnam zu unterstützen. Die letzte große Anstrengung waren die kirchliche Friedensbewegung und die Aktionen gegen die Kreuzraketen. Es war großartig, aber der neue Elan verschwand mit den politischen Items. Es hat keinen neuen religiösen Elan hervorgebracht, höchstens moderne Engagierte, die oft ihre kirchliche Mitgliedschaft beendet haben.

HEUTE

Das sichere christliche Nest meiner Kindheit ist nicht mehr da, auch nicht das solide Bauwerk von Überzeugungen meiner Eltern.

Aber mein Leben ist geprägt durch meine christliche Erziehung. Ich denke jetzt milder über meine Eltern und kann letztlich ein Gefühl von Dankbarkeit ihnen gegenüber erfahren.

Ich fühle mich ein Erbe von einer wertvollen christlichen, reformierten Tradition und darin verbunden mit meinen Eltern, die GK Kirche, aber auch viel größer, die Europäische Geschichte.

Ich denke mal, die GK- Tradition worin ich aufgewachsen bin, war eine klare Reaktion auf den liberalen elitären Modernismus des 19. Jahrhunderts. Religion im liberalen Sinne war eine Sache von guten Absichten und Gefühlen. Mit solch einer Religionsvorstellung, wie heute New Age zum Beispiel, fühle ich mich noch nicht verwandt. Ich kann auch nicht leben mit der Idee von Gottesdienst als totale Übergabe, Unterwerfung an etwas Höheres. Ich denke, der wichtigste Unterschied zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert ist, dass wir jetzt in einer pluriformen Gesellschaft leben. Die Herausforderung ist natürlich, wie die christliche Tradition in heutiger Zeit eine Form bekommen kann.

  • Ich bin froh, dass es eine vom Staat unabhängige Kirche gibt, obwohl ich da selten komme.
     

  • Ich bin froh, dass es Leute gibt, die versuchen in diesen Kirchen mit einem modernen Lebensbewusstsein eine christliche Lebenshaltung zu bilden. Ich mache das nicht mit, aber erfahre die Gespräche die wir haben und die Arbeit die wir in unsere vierzigjährige internationale Gruppe leisten als einen solchen Versuch. Diese Gruppe ist für mich wie eine Gemeinde zu haben; sicher als wir unseren lieben Piet Gilhuis vor 2 ½ beerdigt haben. Und Gudrun hat das Gefühl mehrere Male bestätigt.
     

  • Ich bin beeindruckt von den traditionellen Christen - oft von Afrikanischer oder Surinamischer Herkunft - die einen konsequenten und disziplinierten Lebensstil haben, worin ich meine Mutter wieder erkenne und ihre/unsere alte Kirchengemeinde von damals.
     

  • Ich bin bewegt zu sehen, wie die Afrikanische Pfingstenkirche im Stande ist die gesellschaftlichen Randgruppen zu binden.
     

  • Ich kann neidisch sein auf die Begeisterung der Afrikanische Kirchen und Gospel Lieder, aber weiß auch vom beschränkten Charakter.

Aber die Welt für Christus zu gewinnen? Ich weiß nicht wie ich das tun soll; ich hätte gerne etwas von diesen christlichen Inspirationen an meine Kinder weitergegeben, aber das ist nicht gelungen. Ich hab es sie gefragt. Sie sagten: Gottesdienst ist etwas für die Ängstlichen, für wenn es Krieg gibt, sich Katastrophen vollziehen. Und das war gerade dasjenige worauf meine Eltern uns in ihrer christlichen Erziehung ihrer Kinder vorbereiten wollten, weil gerade Krieg ihr Leben stark bestimmt hatte. Meine Kinder sind aufgezogen und leben in einer Zeit van Frieden, Großzügigkeit, Wohlfahrt und unendlicher Informations- and Reiseangebote. Wie verhalten sie sich zu ihrer Angst, großen Verlusten und Tot? Ihre Trauer wird nicht mehr mit christlichen Worten und Formeln geäußert werden aber auch nicht verstickt werden.

Was mache ich jetzt? Ich grübele noch wie immer. Und in meiner Berufsarbeit an der Universität wird das noch geschätzt auch. Ich mache freiwillige Arbeit, die mir viel Spaß macht und die ich auch erfahre als einen Dienst an der Gesellschaft. Ich singe in einem Chor und kann ergriffen sein von Texten und Liedern. Glaube ist ein Verrat der Vernunft und der Ratio. Darum erwarte ich, dass ich erst nach meiner Pensionierung ein echter Gläubige werden kann.

Inhaltsverzeichnis


WAS HAT MEINE CHRISTLICHE ERZIEHUNG AN POSITIVEM UND NEGATIVEM GEBRACHT?

Von Martin Conradi

Ich bin aufgewachsen in einem Pfarrhaus in einer mitteldeutschen Kleinstadt. Meine Eltern lebten in der Welt aktiv unter inniglicher Durchdringung durch ihren christlichen Glauben, und sie richteten ihre Erziehung der Kinder nach christlichen Lehren aus, wie sie es verstanden. Mich mußte allerdings for-mal meine Mutter alleine aufziehen: mein Vater kam am Tage meiner Geburt zu Tode in seinem Frontkrieg. Meine Mutter schulte um von Pfarrfrau auf Katechetin mit entsprechendem pädagogi-schem Interesse. Die Erziehung an mir kann also für eine christliche gehalten werden. – Immerhin erkannte ich jetzt auch deutliche Parallelen zur Erklärung des Gnadauer Bildungswerkes zu "Christlicher Erziehung in einer pluralistischen Gesellschaft“, wie sie im Internet steht und wie sie mich für heute recht konservativ anmutet.

Meine Reflexion bezüglich meines Verhältnisses zum Christlichen Glauben

Einen vor der Welt bestehenden personalen Gott habe ich auch in der Vorschulzeit nicht erkannt, aber kindgemäß habe ich die Riten nachgeahmt und übernommen. Seit 10jährig war mir dann die Welt ohne personalen Gott als vorbestehendem Schöpfer klar. Aber die kirchliche/christliche Geisteswelt war mir im Wesentlichen angenehm vertraut und bot beste Möglichkeiten des Reflektierens – wenn auch für mich leider nur jene eines inneren Reflektierens: Primär nachteilig war mir die mangelnde Gesprächsmöglichkeit zu Religionsfragen. Ein Makel an mir bleibt dann, dass ich die Konfirmation wahrnahm und mich nicht zuvor erklärte. Ich weiß heute aber auch den Erfahrungswert zu schätzen, dass ich solche Mängel erlebt habe, und dass dies nun hilft zum Verstehen anderer Menschen in vergleichbaren Situationen mit Anschauungsproblemen religiös wie politisch wie interpersonell.

Immer mal wieder gab es für mich Anlässe, mein Religions-Credo zu überdenken. Ich besuchte Jungschar-Veranstaltungen, war ein Jahr aktiv in der Studentengemeinde Magdeburg, dann in den Ökumenischen Aufbaulagern. Dort habe ich von der Kanzel gepredigt und vor der Gemeinde laut gebetet mit der Gottes-Anrede "Herr“, ich habe Abendmahl eingesetzt und im Kreis daran teilgenommen. Ich habe mich später bewusst unter die Taufbestätigung gestellt im katholischen Osternacht-Gottesdienst, und ich habe Taufpatenschaften übernommen. Ich habe betrachtet, dass viele Menschen und eben auch Theologen mit Inbrunst im Gebet Gott anreden und das Glaubensbekenntnis sprechen. In Gedanken an meine Mutter glaube ich, dass viele dabei ein anderes Gegenüber haben als ich, in Gedanken an manche Theologen-Aussagen glaube ich aber auch, viele haben wohl ein vergleichliches Gegenüber wie ich.

Hier nun mein Credo:

Ich suche gern die Gemeinschaft der Heiligen, aller derer, die in heiligem Geist, und damit meine ich: im Heiligen Geist, in gemeinschaftlichem Bewusstsein (sowohl mit als natürlich auch ohne Schöpferglaube) zum Leben in der bewohnten Welt mitwirken, die also im Leben, Lieben und Arbeiten Gottgeistlichkeit die Mitte sein lassen (wie etwa ein Theologe Orientierungsglaube alternativ zu Schöpferglaube beschreibt); da kann ich alles in diese Transzendenz übertragen wissen, Ehrfurcht haben vor und Zuversicht aus übermenschlichem Wesenhaftigem / Geisteshaftigem (wenn auch aus der Menschheit kommend, so doch nicht mehr menschlich einzeln fassbar im Sinne kalkulierbar, sondern es ist eine eigene Größe: der aus Menschensicht unendliche Heilige Geist). - Ich neige dazu, Gott als >Erhöhte Geistigkeit< zu sehen, als "das Gott“, aus dem die Menschheit lebt.

Nun ja, ich komme nicht ab davon, dass ich damit unbestimmt einen nie sichtbaren reifen liebevollen alles sehenden und alles wissenden gerechten Mann, der unermesslich Gestaltungsmacht hat, diffus irgendwie im Himmel assoziiere mit Einflussausstrahlung überall hin. Ohne persönliche Metapher kein persönlicher Begriff.

Meine Ergebnisliste der erfahrenen christlichen Erziehung 

Ich führe hier meine subjektiven Erfahrungen auf. Deren Verwurzelung in den Eltern fand ich belegt in ihren Feldpostbriefen, die sie ein halbes Jahr bis zum Kriegstod meines Vaters am Tage meiner Geburt gewechselt hatten.

Allgemeine Grundsätze, wie ich sie von Wahrnehmungsbeginn an erlebt habe.

  •  Umfassende Liebe Gottes, aus der sich in Geborgenheit Hilfe und Vergebung ergibt; Gott ist Basis, wie ein Elixier für Liebe unter Menschen, also nicht Konkurrent zu Eros und Agape.
     

  • Grundsätzlich unendliches Gottvertrauen und darin ruhende herzliche Fröhlichkeit; Mutters Satz: “Gott macht keine Fehler“ zum Tod meines Vaters lässt reflektieren, warum es manchmal anders richtig ist, als man selbst dachte oder wollte.
     

  •  Sorgenfreiheit für das tägliche Leben in Zuversicht auf Gottes Wirken in/durch/für uns und in der und für die Welt.
     

  • "alles kommt, o Gott, von Dir“ – wir sind mit Allem Beschenkte, letztlich nur Sachwalter

Konkretes in Lebenshaltung und Lebenshilfen – während der Kindheit im Elternhaus

  • Du sollst den Feiertag heiligen
     

  • Passionszeit = Fastenzeit Enthaltsamkeit von Genüssen wie Kino und Süßigkeiten
    Karfreitag ist der höchste Feiertag
    (Enthaltsamkeit/Keuschheit in Sexualität hatte untergeordnete Bedeutung; da
    fehlte unserer Mutter Mitteilungsfähigkeit; "Ausschweifung“ wäre an sich schlecht).
     

  • Singen Ostersonntag im Hausflur als Freudengruß für die Nachbarn, Singen Weihnachten bei Alten und Sylvester-Neujahr aus unserem Fenster zur Straße hin
     

  • die Menschen sind vor Gott und damit vor anderen Menschen der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit pflichtschuldig
    konkret ist Offenheit mit Wahrhaftigkeit als Angebot zu Anteilnahme ein interpersoneller Wert
     

  • Soziales Engagement in der Welt als Wert – in Beruf und Alltag
    (bis hin zum Gebet: Komm, Herr, sei unser Gast …)
    und die Praxisübung der Kollektenbereitschaft
    sonntags 2 Groschen Taschengeld: 1 für Kollekte, 1 für beliebigen Verbrauch
     

  • prinzipielle Vorurteilsfreiheit im Konkreten – Gottes Wille ist der Maßstab (Fixbild-Freiheit; den relativen Glaubenschauvinismus meiner Mutter musste ich nicht übernehmen, er war nur ein Angebot)
    Probleme dürfen ihre Zeit ambivalent in der Schwebe bleiben, ihr Gegenstand kann sich entwickeln

Konkrete Lehren zu Lebenshaltung und Lebenshilfen – während der Schulzeit + frühe Jugend

  • 8. Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten. Das ist: Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht fälschlich belügen, verraten, afterreden oder bösen Leumund machen, sondern, (und das habe ich an meiner Mutter erlebt) (wir) sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren
     

  • Kainsgeschichte: Kain, der erste Mörder, wurde zwar verflucht und vertrieben, aber dann erhielt er auch sein Kainsmal, damit niemand ihn erschlüge; und er lebte, nachdem ihn sein Morden gereut hatte, fortan sozial fruchtbar. – Auf der einen Seite darf/soll ich als Menschenkind zwar Handlungen einschätzen und beurteilen, aber nicht die Handelnden endgültig richten. – Auf der anderen Seite kann ich, und kann jeder als fehlerbehafteter Mensch, auf Erbarmen/Vergebung/Fehlerlöschung und neue Chancen hoffen
     

  • Jona-Geschichte: mit der Sentenz gegen Rechthaberei, Eitelkeit und Strafgenugtuung
     

  • (theologische) Dogmatik kann offen sein: Ein Pate regte an, die Schöpfungsgeschichte nicht wortgenau begreifen zu wollen – das brachte Befreiung zu Offenheit/Öffentlichkeit des eigenen Denkens in Weltanschauung; von Mutter erbte ich John A. T. Robinson "Gott ist anders“, welche Inhalte sie aber nicht mit uns besprochen hatte – wir Kinder waren da schon aus dem Haus
     

Was habe ich davon übernommen und was möchte ich davon weitergeben?

Und siehe, in diesem Weltbild war alles gut – so empfinde ich, und also soll dies sich weiterentwickeln – in mir und in der Welt:

Meinen ersten Versuch, dies noch einmal zusammenzufassen, habe ich gestrichen: es klingt zu banal ideal.

Im zweiten Versuch komme ich wenigstens zu der Synthese: Wie die Materie (Erde, Wasser, Luft und Licht) ist eine ebenso essentielle Grundlage allen Lebens Sozialität, also proexistenzielle Nachbarschaftsliebe; aus ihr kommen wir und nur aus ihr kommt Befruchtung für eine Zukunft.

Gedanken zum Umgang mit Weltanschauungen und Interreligiosität sind hier nicht Thema.

Hier möchte ich noch zwei persönliche kritische Erfahrungsmomente schildern.

Das ist einmal das praktische Fehlen einer Infragestellung eines Gottesglaubens und damit verbunden die letztlich fehlende oder mir nicht greifbar herübergebrachte Darstellung des mütterlichen Gottesbildes oder das eines anderen Lebenslehrers. Natürlich ist ein Gottesbild immer ein Mystikum, ein passives und aktives persönliches Geheimnis, aber eben mit diesem Mystikum blieb ich allein. Oder anders herum: Meine Mutter konnte mich nicht im rechten Zeitraum dazu führen, mein Denken hierin zu formulieren und zu äußern. (Nur einer meiner pastörlichen Patenonkel hat dies einmal angedeutet aufgelöst, vielleicht, als ich 16 Jahre alt war.) – Sicherlich wäre ein Ausdiskutieren im Leben nicht möglich; aber es hätte doch ausdrücklich vereinbart werden können, dass es ein gutes Resultat ist, wenn zwei Personen bei konträren Schlüssen doch zu einander stehen bleiben.

Und ganz zum Schluss, quasi als Anhang, will ich noch dieses Feld nennen: Einerseits umgab mich seit der Kindheit eine gewisse verquickte Religionsbeseeltheit in diesem Sinne: Bei den Religionsrepräsentanten für mich (also Mutter, Pastoren, Gemeinde) empfand ich, dass sie als vermeintlich quasi himmlisch Vorauserhobene, zu besonders erkorener Gruppe gehörend erschienen, und dass hierzu irgendwie gehörte, dass christlicher Auftrag auch die Sorgfaltspflicht wäre, dass kein Schäfchen, also jeweils kein anderer, vom rechten Wege abkomme. "Jeder sorgt um jeden“ bis hin zu "Jeder passt auf jeden auf“. – Daraus, so schien mir, hat sich schließlich aber doch die falsche Tendenz zu einem handfesten Religions-Chauvinismus entwickelt. Konkret stand meine Mutter seit ihrer Jugend unter dem Einfluss von zwei geistlichen Mentorinnen, die aus vermeintlicher Sorgepflicht mit bedrückenden Himmelsstrafdrohungen dem Seelenfrieden meiner Mutter erheblich zusetzten. (Beide waren unserer Familie bis zum Ende liebevoll zugeneigt.) Und so hat meine Mutter davon etwas in ihr Wirken auf uns Kinder mit Familien weitergeleitet, insbesondere ihre geglaubte Seelennotwendigkeit der Sakramente Taufe und Trauung. Immerhin haben aber wir vier Kinder solche Haltung nie übernommen. Eher brachte die innere Auseinandersetzung damit zu Toleranz trotz sonstiger Loyalität gegenüber unserer zum Teil chauvinistischen Kirche. Und auch diese Befähigung zur prinzipiellen Vorurteilsfreiheit ist durch unsere Mutter gebahnt, indem sie Gottes Willen den Maßstab und alle Dinge seiner Liebe anvertraut sein ließ.

Inhaltsverzeichnis

Grafitto an einer Mauer der Uni Amsterdam

NICHT REFERIERT

Anfängliche Gedanken zum Umgang mit Weltanschauungen

In der Berliner evangelischen Kirchenzeitung vom 7. Oktober 2008 kann auf der Titelseite nun nach 100.000 Jahren endlich konstatiert werden: das Problem der Vereinbarkeit von (religiösem) Glauben und Wissen in einem einheitlichen Geistessystem glauben manche jetzt gelöst. Diese Grundfrage ist aber nicht mein Thema. Sondern Zweierlei Praxisfragen bewegen mich:

  • Wieso ist Religiosität beim Menschen und Wozu? Ist sie nützlich?

  •  Wie leben Menschen unterschiedlicher Anschauungen mit- und füreinander?

Die gedankliche Erfassung der Welt bleibt natürlich eine schwierige und immer nur annähernd mögliche Sache; und ich will nicht ins Paradies zurück, wo sie verboten war.

Über die materielle Beschreibung hinaus gehören zur kontextualen Darstellung nun einmal auch seelische, emotionale, soziologische, ethnomythologische (evtl. gar mystologische), interdependentiale, konventionale usw. gewichtete Faktorenangaben und -kritiken. Die notwendige Auswahl wird immer unvollkommen bleiben – eine Sachlage wird immer nur aspektiv umgrenzt dargestellt werden müssen. Auch rationale Zusammenhänge, ihr Wesentliches, sind oft erst faßbar von externaler Warte aus, womöglich aus der Transzendenz heraus. Wir brauchen irrationale Darstellungen, Märchen, haben Dharma, Gott und Ähnliches, um nicht einer "Trägheit des Denkens“ zu erliegen, nicht einfältig festgefahren immer schon Gewusstes fälschlich illusionär auf neue Situationen zu übertragen. (Im iNet gibt es andersartige Bezüge zu diesem Stichwort, ich kenne es aber von K. Platonows "Unterhaltsamer Psychologie“, Urania, 1978/82 und analog durch Sparschuhs "Schwarze Dame“.) Eine Einlassung auf Gott (den, die oder das Gott) macht dies notwendige Heraustreten aus der einfach sichtbaren Situation möglich, öffnet einen Weg zur Fähigkeit für eine unverzichtbare kopernikanische Wende.

Bei sachter Anfrage zum Selbstverständnis in der Weltanschauung kommt gelegentlich schon mal die Antwort: Ich will nicht umdenken müssen, ich komme mit dem mir alt überlieferten Gottesglauben (jeweils meinem Bild davon, das zu machen doch einst verboten wurde) so gut zurecht, wird gesagt. Das ist dann auch in Ordnung. Das hat offenbar auch der Dalai Lama für das Beste gehalten, als er Konversionswilligen abriet: Bleibe jeder in der Kultur, in der er aufgewachsen ist, und richte sich nach den dort tradierten ethischen Verhaltensrichtlinien.

Wir hatten in unserem ÖJD-Seniorenkreis bereits 2002 die Küng'schen synoptischen Darstellungen zum "Weltethos“ vorgestellt bekommen. Aus der christlichen Theologie haben sich wohl erstmals 1963 in Bestseller-Qualität Aufbruchgedanken verbreitet zur Versöhnung der Theologie mit der realen Welt durch die Schrift von John A. T. Robinsons "Honest to God“ ("Gott ist anders“ bzw. "Aufrichtig vor Gott“); inzwischen gibt es laiengerechte Publikationen von John Shelby Spong, in deutsch z. B. 2004 - Was sich im Christentum ändern muss: ein Bischof nimmt Stellung ISBN 3-491-72481-3. Er verehrt einen Mann als Vorbild, weil der aus der Kirche austrat, weil deren Gott ihm zu klein für sich und die Welt sei.

 Nachdem eine Weltkirchenkonferenz (1948 Amsterdam?) schon proklamiert hatte, in wenigen Jahrzehnten bestimme die christliche Religion die ganze Welt, ist nun ihre Weltpräsenz rückläufig, und eine "Theologie der Religionen“ wird dringlich, wie WOLFGANG RAUPACH-RUDNICK, Beauftragter für christlich-jüdischen Dialog, sie Juli 2007 in ONLINE-EXTRA Nr. 52 darstellt (nach Vortrag 2006).

Einen völlig anderen Ansatz zum Nachdenken über Gott unter den Menschen sehe ich in der praktischen Untersuchung über Gottesbilder bei den Menschen. Von einem Informationstext in der Wochenzeitung "die kirche“ vom 31. 08. 2008 hier den Vorspanntext: "Anna-Katharina Szagun, bis 2005 Professorin für Religionspädagogik an der Universität Rostock, begleitete 55 Kinder über viele Jahre und befragte sie zu ihrem Gottesbild. Die meisten Kinder stammen aus konfessionslosen Familien. Neben Gesprächen gaben vor allem Collagen und Zeichnungen, die die Kinder anfertigten, Auskunft über ihre Beziehung zu Gott. Anna-Katharina Szagun sagt, man kann Kindern nur glaubhaft von Gott erzählen, wenn man seine eigene religiöse Biografie aufarbeitet.“

Weiter bin ich bislang nicht. Ich würde gern mit anderen gemeinsam weiter darüber nachdenken.

Sozialismus ist für mich eine Widerstandsbewegung gegen die Zerstörung der Liebe in der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Paul Tillich

Link

  • Einführung in das Buch von John Shelby Spong: Warum der alte Glaube neu geboren werden muss 
    Rezension

Inhaltsverzeichnis


Was hat meine christliche Erziehung an Positivem und Negativem gebracht? Was habe ich davon übernommen und was möchte ich weitergeben?

Von Klaus Pank

Entsprechend gutbürgerlicher Norm durchlief ich eine normale christliche Erziehung. Obwohl meine Eltern vor dem Krieg aus der Kirche ausgetreten sind, meine Mutter später wieder eintrat, wurde ich mit 12 Jahren gemeinsam mit den Brüdern getauft,

  • besuchte oder schwänzte den Religions- und Konfirmandenunterricht,
  • nahm trotz den Anfängen der Jugendweihe an der Konfirmation teil,
  • ging in den Jugendsingkreis und zum Posaunenchor,
  • fühlte mich in der Studentengemeinde von Anbeginn wohl und
  • fand Zugang zu den ökumenischen Aufbaulagern,
  • schließlich heirateten wir kirchlich.

Das war alles völlig normal außer:

  • den politischen antichristlichen Spannungen gegenüber der Jungen Gemeinde nach dem 17. Juni 1953,
  • den Diskussionen um die Jugendweihe und später
  • die allgemeine Einstufung der Kirchenzugehörigkeit als Opposition gegenüber dem Staat.

Aus letzterem Grund konnte ich wiederum normalerweise mit sympathischen Reaktionen von z. B. Kontaktpersonen im Berufsleben rechnen. Nach der Wende ist dies auffallend nicht mehr so.

  • In der eigenen Familie übernahm ich die Gewohnheiten der Eltern.
  • Tischgebet („nur Kaffee gibt der liebe Gott umsonst"),
  • Sonntagsgottesdienst (bereits eine moralische Verpflichtung, weil der Chor jeden Gottesdienst mitgestaltet),

  • Taufe der Kinder,
  • deren Teilnahme an christlicher Unterweisung,
  • Konfirmation,
  • Befürwortung der kirchlichen Trauung.

Diesen Lebensweg betrachtete ich jederzeit dankbar als für meine persön-liche und die unserer Kinder positive Entwicklung im Kreise Gleichgesinnter zur Erlangung ethischer Werte ohne größeres Gefährdungspotential gesellschaftlicher Entgleisungen. Dabei ließ ich mich eher treiben im Mitläufertum ohne besonderes Auffallen. Wortformulierungen waren nie meine Stärke. Somit fiel es mir immer schwer meinen Standpunkt auszudrücken, Meinungsabweichungen zum Ausdruck zu bringen. Ich ziehe mich in mein Schneckenhaus zurück, aber: mir imponieren Menschen, die in klaren Worten Ansichten darlegen können.

Gott als Gegenüber in Normal- wie in Notsituationen spreche ich nur für mich persönlich an, das muss jeder für sich finden. Diesbezüglich habe ich nichts an meine Kinder weitergegeben und spreche kaum mit meiner Frau Sigrid darüber. Durch meine Eltern erfuhr ich von der Mazdaznan-Lehre, daher konnte ich mich vom Kirchendogmatismus entfernten.

Mit Hochachtung bin ich anderen dankbar, dass sie christliche Unterweisung durchführen.

Ich bin dankbar, dass es immer einen Vorbereitungskreis für unsere Treffen gab!

Redebeitrag zur ÖJD-Konferenz 2008
Inhaltsverzeichnis

Gesichtspunkte - Glaube und Gesellschaftliche Situation - zum Thema "Wandlungen“ aus unserem Archivmaterial

Erinnerung und Aktualität  - Hintergrund und Vertiefung von Gesprächen

Von Gisa Baaske

Giselher Hickel hat auf der Jubiläumstagung zur Gründung der Gossner Mission im Januar 2005 ein Kurzreferat zum Arbeitsfeld Ökumenischer Jugenddienst (ÖJD) gehalten, zu den Gesichtspunkten: Damals und Heute.

1.  Arbeitsfeld Ökumenischer Jugenddienst Damals (Giselher)

"Nach dem II. Weltkrieg gab es so etwas wie einen Aufbruch und eine Erneuerung der christlichen Jugendbewegung aus der ersten Jahrhunderthälfte, Fahrten und Lager waren im Schwange. Doch die eigentliche Aktualität dieser Form von Jugendbewegung kam aus Impulsen der ökumenischen Bewegung, seit 1948 in Gestalt des Weltrates der Kirchen.“...... 

"Ökumenische Ideen waren in 50/ 60er Jahren keineswegs überall willkommen. Der Faschismus wirkte noch in den Köpfen. Kalter Krieg setzte der Toleranz Grenzen. Grenzen sollten aber die Jugenddienste überschreiten: Länder und Blockgrenzen, Kirchen und Konfessionsgrenzen, vor allem die Grenze zwischen Kirche und Welt und, als Konsequenz daraus, die Grenze zwischen Christen und Sozialisten. Dies war nicht nur ein intellektuelles, und auch nicht nur ein geistliches Geschehen. Man wollte etwas tun, innerhalb und außerhalb der Kirche, zusammen mit Gemeinden und zusammen mit dem Nationalen Aufbauwerk. Man wollte Gesellschaft gestalten und verändern, nicht nur beobachten, nicht abwarten und überwintern. Öffnung für die Ökumene, das ist Öffnung für die Welt, und damit auch Öffnung für unbequeme Fragen: War heute noch richtig, was als kirchliches Dogma galt? Gab es eine Antwort auf den Hunger der Welt, auf koloniale und neokoloniale Ausbeutung von Menschen und Völkern? Mussten Christen nichtdie auf den kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen basierende weltweite Gewaltherrschaft kritisieren? Welche Kräfte in der eigenen Gesellschaft suchten ernsthaft nach Alternativen? Wo war Solidarität am Platze, wo Abgrenzung geboten?“.....

Solche Fragen waren umstritten. Vor allem war umstritten, welche "....Konsequenzen wir aus den weltweiten Problemen für unsere Position in der eigenen Gesellschaft gezogen haben.“

2.  Gemeinde in der sich wandelnden Welt

War Thema des Ostertreffens 1960. Die Diskussionsergebnisse aus Gruppe 1 trage ich vor. Das sind 2 Thesen und die Antworten der Gruppe darauf:

These I: Unsere Welt ist größer und anders geworden. Wir haben einen weiteren Horizont, aber um so weniger verstehen wir. Unser Verstehen und Wissen wird oberflächlich, dadurch werden wir unsicher in Beurteilung und Handlung. 

Antwort: Wir wollen uns durch die Fülle des Geschehens und der Aufgaben nicht in eine Resignation treiben lassen. Wir sollten vielmehr versuchen, mit unseren Kräften die kleinen und konkreten Lebensaufgaben zu bewältigen. Das geschieht in unserer Familie, in unserem Haus, in unserem Beruf, in unserer Stadt. Es geschieht

  •  als Einzelner

  •  in der Gemeinschaft mit anderen

  •  innerhalb einer Organisation.

These II: In der heutigen Gesellschaft wird der Mensch nach seinen Leistungen beurteilt. Dadurch werden die menschlichen Beziehungen unmenschlich. Die Angst um seine Existenz zwingt den Menschen zur Selbstbehauptung um jeden Preis.

Antwort: Wir müssen versuchen, diese Selbstbehauptung in ein gutes Selbstvertrauen umzugestalten. Das geschieht, indem wir Gottes umfassende Liebe und Sinngebung auch für das ärmste Leben verkündigen. Das geschieht, indem wir ernst nehmen, wie der andere sein kleines Leben und seine Aufgaben bewältigt:

  •  in mitmenschlicher Beziehung

  •  in der Familie

  •  am Arbeitsplatz.

3.  Aus einem Brief von Dietrich vom September 1961 (nach dem Mauerbau)

"...Die Zeit der Rundbriefe ist jetzt vorbei. Uns alle beschäftigt die Frage, was wir nun zu tun haben. Es ist deutlich, dass unsere Gemeinschaft auf die Probe gestellt wird. Sie kann an den äußeren Schwierigkeiten zerbrechen, dann haben wir es nicht anders verdient.....“ "Es wird an uns, an jedem einzelnen liegen, die Gemeinschaft untereinander festzuhalten. Es wird sich zeigen, ob es uns um die Sache ging. Unsere Aufgabe, die beschäftigt uns, die wir jetzt und für die Zukunft haben.

Wir werden neu zu durchdenken haben, was es für uns als Christen bedeutet, dass Jesus Christus als unser Herr mit uns in dieser Welt unterwegs ist. Wir sind von neuem gefragt, ob wir bereit sind mit ihm zu gehen und ihm und der Welt in unserer Situation zu dienen.

Was wir brauchen ist das brüderliche Gespräch, in dem wir nach unserem Glauben, unserer Hoffnung und unserem Tun gefragt werden; das uns hilft die Situation und die Zeichen der Zeit richtig zu verstehen und darauf Rede und Tat zu wagen.“

Ein Hinweis

In der Zeit vom Ostertreffen 1962 – 1963 war, wie Briefe aus dieser Zeit ahnen lassen, gar nicht so sicher, dass wir bis heute als große Gruppe zusammen bleiben. 1962, die Erfahrungen an der Grenze waren zermürbend und zeitaufwendig und es stand in der Luft, zukünftig parallele Treffen durchzuführen und nur täglich drei bis vier Botschafter von West nach Ost zu schicken. Ein gemeinsames inhaltliches Arbeiten wäre dann wohl sehr schwer, wen nicht unmöglich geworden. Irgendwann gab es dann bei den Westlern einen inneren Solidaritätsbeschluss, dass sie in die DDR kommen würden, solange die Mauer steht.

4.  Unser Glaube heute, war Thema des Ostertreffens 1963

Die holländische Gruppe schreibt in einem Brief unter anderem:

"Wie ihr wisst, hat sich unser Kreis in den vergangenen Monaten Gedanken darüber gemacht, was christlicher Glaube in dieser Zeit für uns bedeutet. Die Veranlassung dazu war ein bei uns aufgetretenes Unbehagen über das, was man gewöhnlich als christlichen Glauben bezeichnet,“....“sowie ein Verlangen nach der wahren, "lebendigen“ Bedeutung des Evangeliums.“

"......Aber was ist Glaube? Es scheint, als ob es etwas ist, was nicht unbedingt feststeht, nicht objektiv gültig ist; der Glaube ist veränderlich. Das spürt man schon in der Bibel. An wie viel Stellen wird nicht ausdrücklich gesagt: "Den Alten wurde gesagt....Ich aber sage Euch....“ Damit wird nicht das A.T. ungültig erklärt, sondern es ist ein Hinweis darauf, dass der Glaube in jeder Zeit anders ist, dass er sich entwickelt. Die ganze Bibel ist eine Zusammenstellung von Berichten darüber, wie die Verfasser in ihrer Zeit den Glauben erlbten " ... "Um unseren Glauben lebendig zu gestalten, müssen wir mit unserer Zeit gut vertraut sein.“ ..... "Vielleicht müssten wir sagen Gott, der Mut zum Leben gibt statt Gott, Schöpfer Himmels und der Erden, Weil dadurch deutlich wird, dass der Glaube in Gott bedeutet: nicht mutlos und negativ dem Leben gegenüber zu stehen, sich nicht mit dem Freund – Feind – Denkschema abfinden u.a., alles Dinge, die in unserer Zeit hochaktuell sind.“

Pfarrer Marquardt geht in seinem Referat "Unser Glaube heute“ von dem Problem aus: Wer ist Gott, wo ist Gott, was meinen wir, wenn wir sagen, es gibt Gott. Gott ist kein Gegenstand unserer Vorstellung mehr. Die Gedanken Marquardt`s zum Fürbittengebet möchte ich vortragen:

"Die einzige Art und Weise, in der wir heute unseren Glauben formen und formulieren können, ist das Fürbittengebet:

  1. Im Gebet wird Gott zu meinem Gegenüber.
     
  2. Das Gebet als Fürbittengebet verbindet mich nicht nur mit Gott, sondern gleichzeitig mit den anderen Menschen, weil das Fürbittengebet ökumenisch ist, über Grenzen hinweggeht.
     
  3. Das Fürbittengebet ist deswegen Grundform meines Glaubens heute, weil es alle Menschen einschließt. Im Fürbittengebet ist Apartheid nicht mehr möglich. In der Fürbitte sind wir solidarisch mit den "Gottlosen“.
     
  4. Ein Fürbittengebet muss ich jeweils neu formulieren, denn ich kann nicht die alten traditionellen Formulierungen anwenden, sondern muss selber mit meiner eigenen Sprache sagen, was ich meine. Das macht es mir möglich, rationell aufzuklären, auszusagen, festzustellen, was ich heute für die Menschen, für die Gemeinschaft will. Das Fürbittengebet ermöglicht mir die Anwendung meines Verstandes.
     
  5. Im Gebet zu Gott für meine Brüder spreche ich nur aus, wofür ich selbst bereit bin mich einzusetzen. Es gibt dann auch keine Differenz zwischen mir und meinem Wort, mir und meinen Gedanken“

5.  Arbeitsfeld ökumenischer Jugenddienst Heute?

(weiter aus dem oben genannten Referat von Giselher Hickel zum Jubiläum der Gossner Mission 2005)

"Dietrich Gutsch und wir als ÖJD........waren in den 60er und 70er Jahren weiter als nach der Kehrtwende von 1989. Wir waren näher ander Ökumene. Wir waren näher an denen, in denen Jesus uns heute begegnet....... Die...Frage ist: Lassen wir die Einsichten und Positionen der Ökumenischen Bewegung heute an uns heran? Sind wir bereit, uns ihnen zu öffnen? ...... Sind wir heute bereit, Gemeinde im Widerstand zu werden und damit Kirche Jesu Christi zu bleiben – eine sich zu ihm "bekennende“ Kirche?

Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen damals und heute:

Damals ging es darum, in Rede und Praxis Zeugnis davon abzulegen, dass Gott auch in der als gottlos diffamierten Gesellschaft präsent und am Werk war.

Heute geht es darum, in Rede und Praxis zu bezeugen, das Gott in der sich selbst als christlich deklarierten Gesellschaft ein Fremder ist.

Damals ging es darum, in die Gesellschaft einzuwandern.

Heute geht es darum, sich aus der Komplizenschaft mit den die Gesellschaft prägenden Kräften zu lösen.
Damals ging es um kritische Solidarität.

Heute geht es um Widerstand, der (im Sinne von Barmen und Accra) bereit ist, nicht nur zu bezeugen, was wir glauben, sondern der es auch wagt zu sagen: Wir verwerfen...

Damals ging es darum, Grenzen zu überschreiten.

Heute geht es darum, einer grenzenlosen Deregulierung Einhalt zu gebieten. .....

Das entscheidende Kriterium, unser Verhältnis zur Gesellschaft zu bestimmen, damals wie heute, sind die Elenden, und zwar ökumenisch – weltweit. Wann immer wir als Gemeinde in einer Gesellschaft leben, die Armut, Ausbeutung und Elend produziert, kann das nicht unsere Gesellschaft sein. .....“

6.  Wohin?

Ich denke, wir können immer noch ein wenig Salz und Pfeffer sein, auch wenn unser persönliches Aufgabenfeld langsam kleiner wird. Sollten wir beschließen, unsere Konferenzen zu beenden, entlassen aus der Gemeinschaft sind wir aber dennoch nicht.

Deshalb möchte ich zum Abschluss noch einmal ein paar Worte von Giselher vorlesen, aus dem Referat, dass er auf der ÖJD – ade Tagung 1994 gehalten hat und danach ein Gebet von Dietrich, das zu seinen Gedanken zu 1. Petrus 4, 1 – 11 gehört, aus: "Halt uns bei festem Glauben.“

Giselher: "Lasst uns nicht Abschied nehmen von jener zugleich biblischen und politischen Utopie der einen messianischen Gemeinde Jesu, der einen Gesellschaft, in der alle Platz haben und es nicht Sieger noch Besiegte gibt, der einen Welt, in der "Gerechtigkeit und Frieden einander küssen.“ Lasst uns nicht Abschied nehmen von der ökumenischen Vision, die uns einmal zusammengeführt hat.“

Dietrich: "Herr Jesus Christus, unsere Gegenwart mit den Freuden, Aufgaben und Problemen nimmt uns so in Anspruch, dass wir die Zukunft, Dein Kommen, aus dem Blick verlieren. Damit wird die Orientierung für unser Reden und Handeln schwierig. Lass uns den Zusammenhang von Morgen und Heute erkennen, um jetzt das Richtige und Hilfreiche zu tun. Amen.“

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Grußwort zum 50. Todestag von Bischof George Bell am 3. Oktober 2008

Von Wolfgang Huber

Die Evangelische Kirche in Deutschland erinnert sich in Dankbarkeit an Bischof George Bell, den Bischof von Chichester. Dieser große Ökumeniker, Freund Dietrich Bonhoeffer und Botschafter der Versöhnung starb vor fünfzig Jahren. Sein Engagement für den Frieden, seine Bereitschaft zum Neubeginn und seine unbeirrbare Freundschaft zu den Christen in Deutschland, auch in finsterster Zeit, verdienen Achtung und Dank.

"Ihre Arbeit wird in der Geschichte der deutschen Kirche nie vergessen werden“, schrieb Dietrich Bonhoeffer seinem 23 Jahre älteren väterlichen Freund im Jahr 1937. Das war nicht leicht dahingesagt; sondern diese Aussage hatte einen guten Grund. Kaum ein anderer Kirchenführer außerhalb Deutschlands hat die Geschicke der Kirchen und der Christen in Deutschland seit Beginn der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts so intensiv, freundschaftlich und zugleich kritisch begleitet wie George Bell. Er war ein Kämpfer für den Frieden und für die Wahrheit und hat sich nie gescheut, seine Überzeugungen mit der Autorität seines Amtes und seiner Person nachdrücklich zu vertreten, auch im politischen Raum.

Stets achtete er darauf, dass die Kirche nicht bei sich selbst verharrt, sondern die Botschaft von der Versöhnung in den gesellschaftlichen und politischen Raum hineinträgt. So half er den aus Deutschland nach England geflohenen Opfern des Hitler-Regimes und eröffnete ihnen neue berufliche Perspektiven. Auf seine Initiative wurde die "Christian Fellowship in Wartime“ gegründet. In der "Times“ veröffentlichte Bell regelmäßig Artikel über die politische und kirchliche Situation in Deutschland, schon von 1933 an gut informiert durch Dietrich Bonhoeffer und später durch dessen Schwager Gerhard Leibholz, der wegen seiner jüdischen Herkunft mit seiner Familie in England Zuflucht suchte.

Besonders als Vorsitzender des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum ("Life and Work“) unterstützte Bell die Bekennende Kirche und warb für ihre Anerkennung in der Ökumene.

Entschieden verurteilte George Bell die Flächenbombardements deutscher Städte, weil sie strategisch sinnlos seien und vor allem für unschuldige Menschen Leiden oder Tod bedeuteten. Die deutsche Widerstandsbewegung fand in ihm einen mutigen Unterstützer. Bei einem konspirativen Treffen in Schweden 1941 übergab ihm Dietrich Bonhoeffer die Bitte des deutschen Widerstands an die britische Regierung um Rückendeckung. Bells Eintreten für das "andere Deutschland“, insbesondere auch im House of Lords, trug ihm in Kirche und Öffentlichkeit seines Landes manche Kritik ein; im Rückblick haben wir Grund, uns seiner Haltung in großer Dankbarkeit zu erinnern.

Zur Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg trug George Bell entscheidend bei, indem er den deutschen Kirchen den Weg zurück in die Ökumene ebnete. Bischof Bell war einer der ersten, die Deutschland wieder besuchten. In einem bewegenden Gottesdienst predigte in der stark zerstörten Marienkirche in Berlin und war tief bewegt von dem Elend der Flüchtlinge, die er z. B. auf den hoffnungslos überfüllten Bahnsteigen des Lehrter Bahnhofs in Berlin antraf. Mit allem Nachdruck setzte er sich für humanitäre Hilfe ein: Christian Aid (ursprünglich "Christian Reconstruction in Europe“), die große englische Hilfsorganisation, entstand unter seiner Beteiligung.

Noch in seiner Abschiedsrede vor dem Oberhaus im Januar 1958, neun Monate vor seinem Tod, plädierte Bell leidenschaftlich für die Menschenrechte in der DDR. Er wusste genau, wie dort mit der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit umgegangen wurde. So hat es einen guten Sinn, wenn wir gerade auch am Tag der Deutschen Einheit seiner gedenken.

Angesichts seiner großen Verdienste ist es nicht verwunderlich, dass George Bell nach dem Krieg zu den in Deutschland bekanntesten und beliebtesten westlichen Kirchenmännern gehörte. Fünfzig Jahre nach seinem Tod wollen wir die Erinnerung an diesen Botschafter der Versöhnung und den Dank für seinen Dienst am Frieden erneuern.

Die letzten Worte Dietrich Bonhoeffers vor seinem Tod, die uns durch seinen Mitgefangenen Payne Best überliefert sind, waren ein Gruß an George Bell. "Sagen Sie ihm, dass dies für mich das Ende ist, aber auch der Anfang. Mit ihm glaube ich an unsere universale christliche Bruderschaft, die alle nationalen Interessen übersteigt.“

Bischof Bell hielt im Juli 1945 in der Holy Trinity Church in London einen Gedenkgottesdienst für Dietrich Bonhoeffer, der durch die BBC übertragen wurde. Erst dadurch erhielt die Familie Bonhoeffer die Gewissheit, dass Dietrich Bonhoeffer den Krieg nicht überlebt hatte.

Gerade durch die tiefe Freundschaft mit Dietrich Bonhoeffer ist George Bell auf das Innigste mit der Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland verbunden. Deshalb grüßen wir unsere Schwesterkirche in England in tiefer Dankbarkeit für ihren großen Sohn, den Bischof von Chichester und ökumenischen Vordenker George Bell.

EKD am 03.10.2008

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Die dänischen Mohammed-Karikaturen, Verlauf und Sachinhalt

Von Walter Dalland  und Britta Lissner 

Unsere Absicht mit diesem Beitrag ist, eine kurze Darstellung von den Ereignissen bezüglich der Ausgabe der zwölf Karikaturen von dem Propheten Muhammed zu bringen, darunter von den wesentlichsten Reaktionen und vom Inhalt der Reaktionen zu sprechen, um zu einer Debatte über die eigentlichen Sachfragen zu kommen: das Verhältnis zwischen der Meinungsfreiheit auf der einen Seite und dem Respekt für andere Religionen auf der anderen Seite - und das Verhältnis zwischen den verschiedenen Religionen in einer multikulturellen Welt.

Hintergrund und Kontext

Dänemark war bis zu den 1980er Jahren ein überwiegend homogenes Volk, obwohl es immer eine gewisse Einwanderung gegeben hat. Aber in den letzten 20 - 25 Jahren haben wir eine für uns größere Menge Flüchtlinge und Einwanderer empfangen, die aus Kulturen stammen, die fremder für uns als je vorher sind – das heißt aus Iran, Vietnam, Somalia, Palästina, und Irak, Tamiler aus Sri Lanka, Muslimer aus Bosnien und andere Gruppen aus dem zerspaltenen früheren Jugoslawien. Wo es auf die türkischen "Gastarbeiter" in den 70ger Jahren wenige Reaktionen gab, ist es nun anders geworden. Obwohl der Stand der dänischen Wirtschaft in dieser Periode - den letzten 20 Jahren - besser und besser geworden ist, der Wohlstand größer als je, und die Arbeitslosigkeit immer weniger wurde und jetzt ca.2,4 % ist. Heute ist der Zahl der nicht dänischen Einwohner 6 %, davon sind nur 3 % aus nicht westlichen Ländern. Ein bescheidener Anteil im Vergleich zu vielen anderen Ländern.

Warum ist es schwieriger geworden? Schwer zu sagen. Wir sind es nicht gewöhnt, uns mit der Integration der Fremden zu arbeiten und zu leben. Der soziale Druck dieser Aufgabe fällt oft auf die weniger gut Gestellten und mehr sozial Belasteten unter uns. Eine Tatsache, dass die mehr toleranten, besser gestellten Bürger meistens vergessen. Dazu kommt, dass sich in Dänemark die Beziehungen zwischen der muslimischen Minderheit und der dänischen Mehrheit in den letzten Jahren auf Grund einer sehr restriktiven Einwanderungspolitik und einer scharf geführten Ausländerdebatte zunehmend verschlechtert haben. Dieses gilt insbesondere seit 2001 unter der Regierung von Anders Fogh Rasmussen, die aus der rechtsliberalen Partei Venstre und der Konservativen Volkspartei besteht, und die mit der Stütze oder Duldung der nationalkonservativen Dänischen Volkspartei regiert. So bezeichneten beispielsweise Abgeordnete der dänischen Volkspartei den Islam als "Krebsgeschwür“ und "Terrorbewegung“. Diese rechtsorientierte Partei hat sich mit einer fremdensfeindlichen Haltung tüchtig promoviert und eine Debatte ausgelöst, die gar nicht schön ist.

Der Anlass

Die Karikaturen wurden vom Kulturchef der Zeitung Jyllandsposten an die Zeichner in Auftrag gegeben. Nach Angaben der Redaktion wollte man prüfen, wie viel Selbstzensur sich die Künstler mit Blick auf den Islam auferlegen würden. Zuvor hatte der dänische Kinderbuchautor Kåre Bluitgen keinen Zeichner für sein Buch "Der Koran und das Leben des Propheten Mohammed“ ("Koranen og profeten Muhammeds liv“,) gefunden, der mit Namen daran mitwirken wollte. Das Buch ist jetzt neben dem Autor von einem anonymen Kollaboratör illustriert worden. 40 dänische Karikaturisten wurden angesprochen, wovon sich zwölf bereit erklärten, etwas beizutragen; drei davon waren Zeichner der Jyllands-Posten.

In den Zeichnungen wurde Mohammed unter anderem dargestellt, indem er einen Turban in Form einer Bombe mit brennender Lunte auf dem Kopf trug. Unter den zwölf Karikaturen gibt es allerdings auch einige, die den Propheten nicht explizit bildlich darstellen.

"Lächerlichmachung"

Außer einer Kampagne gegen Selbstzensur hatte der Kulturredaktör einen zweiten Zweck: Er schrieb: "Die moderne säkulare Gesellschaft wird von einigen Muslimen abgelehnt. Sie fordern eine Sonderstellung, wenn sie auf eine besondere Rücksichtsnahme auf ihre eigenen religiösen Gefühle beharren. Das ist unvereinbar mit der weltlichen Demokratie und der Redefreiheit, die voraussetzen, dass man bereit sein muss, Hohn, Spott und Lächerlichmachung ausgesetzt zu sein". Das müssten sie aber lernen, meinte er sowie manche anderen.

Reaktionen in Dänemark

Drei Wochen nach Veröffentlichung, am 19. Oktober 2005, baten elf Botschafter islamischer Staaten, die eine halbe Milliarde Muslimer vertreten, den dänischen Premierminister Anders Fogh Rasmussen um ein Treffen. Sie wollten mit ihm nicht nur über die Karikaturen reden, sondern sich zu drei anderen antiislamischen Äußerungen in der Öffentlichkeit und auch zur islamfeindlichen Stimmung im Allgemeinen erörtern. Die Botschafter forderten ihn auf, im Rahmen der Gesetze des Landes alle möglichen Schritte zu ergreifen ("take all responsible to task under the law of the land“) "in the interests of interfaith harmony, better integration and for Denmarks overall relations with the Muslim world". (um Harmonie zwischen den Religionen, bessere Integration und die gute Relation Dänemarks mit der muslimischen Welt im Allgemeinen zu fördern).

Der Premierminister lehnte aber das angetragte Treffen mit der Begründung der Pressefreiheit in Dänemark ab, er könne über die Forderungen der Botschafter nicht diskutieren. Man hat es von Regierungsseite so beschrieben, als wollten die Botschafter, dass der Premierminister gesetzlich Jyllandsposten vor Gericht einklagen solle. Nach der Meinung einer Gruppe von 22 ehemaligen dänischen Botschafter war das ein großer diplomatischer Fehler, die islamischen Botschafter überhaupt nicht begegnen zu wollen – gegen alle gewöhnliche diplomatische Spielregeln. Vielleicht wären die späteren gewaltsamen Reaktionen dann nicht stattgefunden.

Am 27. Oktober 2005 erstatteten elf Vertreter dänischer islamischer Organisationen auf Grund des Blasphemie-Paragraphen § 140 im dänischen Strafgesetzbuch Strafanzeige gegen Jyllands-Posten. Die Sprecherin der Anzeigeerstatter Asmaa Abdol-Hamid erklärte: "Wir meinen, dass es die Absicht der Zeitung war, zu verhöhnen und zu spotten.“

Es ging ihnen demnach weniger um die Zeichnungen selbst, sondern um den redaktionellen Zusammenhang. Hier die Übersetzung der fraglichen Passage mit der Zwischenüberschrift "Latterliggørelsen“ ("Die Lächerlichmachung“):

Der dänische Blasphemie-Paragraph lautet:

"§ 140. Derjenige, der öffentlich die Glaubenslehre oder Gottesverehrung irgendeiner legal in diesem Land bestehenden Religionsgemeinschaft verspottet oder verhöhnt, wird zu einer Geldstrafe oder Haftstrafe bis zu vier Monaten verurteilt.[“

Am 6. Januar 2006 stellte die Staatsanwaltschaft in Viborg das Verfahren mit der Begründung ein, dass keine Hinweise auf eine Straftat nach dänischem Recht vorlägen. Diese Entscheidung wird vom Direktor der dänischen Staatsanwaltschaft am 15. März 2006 bestätigt und detailliert mit Bezug auf die Karikaturen begründet. Persönlich finde ich diese Entscheidung merkwürdig und falsch: der Zweck den Muslimen Spott und Verhöhnung zu dulden lehren wollen wurde ja explizit formuliert .

Die letzte Verurteilung aufgrund des § 140 wurde in Dänemark 1938 gegen eine Gruppe dänischer Nationalsozialisten wegen Antisemitismus ausgesprochen.

Dossier der dänischen Imame und Eskalation 

Da die Einwände der Muslimen in Dänemark nichts bewirkten, reisten zwei dänische Imamen, Ahmad Abu Laban und Akhmad Akkari, im November und Dezember 2005 nach Ägypten und dem Libanon mit einem von ihnen angefertigten 42-seitigen Dossier, welches Vertreter der Arabischen Liga sowie muslimischen Klerikern und Akademikern überreicht wurde. Neben den Zeitungsartikeln wurden auch drei zusätzliche Abbildungen aufgeführt. Diese wurden als besonders beleidigend empfunden, waren von der Zeitung aber weder in Auftrag gegeben noch veröffentlicht worden. Bei der Berichterstattung in der arabischen Presse wurde teilweise auf diese neuen Zeichnungen Bezug genommen. Diese Handlung wurde von manchen Dänen als Landesverrat angesehen und rief viel Zorn auf.

Am 31. Januar entschuldigte sich der Chefredakteur der Jyllandsposten dafür, dass die Zeitung die Gefühle vieler Muslime verletzt habe. Er wollte sich aber nicht für die Veröffentlichung der Bilder entschuldigen. Diese Entschuldigung des Chefredakteurs wurde von verschiedenen islamischen Vereinigungen Dänemarks als nicht weitgehend genug zurückgewiesen.

Reaktionen in anderen Ländern

In weiten Teilen der islamischen Welt sind Abbildungen von Allah, Mohammed und anderen Propheten in menschlicher Gestalt verboten. Das in der Debatte herangezogene Bilderverbot in der islamischen Welt wurde jedoch nicht immer strikt ausgelegt. Zahlreiche bildliche Darstellungen sind belegt (mærkeligt udtryk). Nachdem die ägyptische Tageszeitung Al Fager bereits am 17. Oktober 2005 einige der Karikaturen, darunter die des Propheten mit der Bombe im Turban, abgedruckt hatte, war es noch zu keinen besonderen Reaktionen gekommen.

Liberale Kritiker wiesen darauf hin, dass die Mohammed-Karikaturen im Vergleich zu den in arabischen Medien regelmäßig erscheinenden antisemitischen Witzen und Papstkarikaturen harmlos gewesen seien.

Erst nach der obenerwähnten Reise der beiden Imamen und auf Anfragen von Journalisten, und nachdem die christliche norwegische Zeitung Magazinet die Karikaturen am 10. Januar 2006 nachdruckte, kam es zu weltweiten Protesten empörter Muslime, die diese Karikaturen als Blasphemie empfanden.


"Doppelbödigkeit der westlichen Politik muss ein Ende finden"

Der Theologe Hans Küng sieht eine Mitverantwortung des Westens im Streit um die Karikaturen des Propheten Mohammed. Im Interview mit DW-WORLD fordert er die westliche Welt zur Besinnung auf.

DW-WORLD: In vielen arabischen Ländern halten die gewalttätigen Proteste gegen die Mohammed-Karikaturen an. In diesem Zusammenhang ist wieder verstärkt von Samuel Huntingtons Konzept vom "Kampf der Kulturen" die Rede. Hat sich seine These nun bestätigt?

Hans Küng: Nein, diese These ist und bleibt falsch. Die Kulturen an sich führen keine Kriege. Aber eine falsche Politik kann die These wirklich werden lassen, kann sie zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung machen. Wenn der Westen weiter eine Politik verfolgt, die die muslimischen Ressentiments fördert, dann kommt es zu einer gefährlichen Eskalation.

Wollen Sie damit andeuten, dass der Westen für die Eskalation der Gewalt mitverantwortlich ist?

Ich will zunächst sagen, dass ich diese Gewaltausbrüche verurteile und dass ich die ausfälligen Bemerkungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad völlig inakzeptabel finde. Aber es wäre nun dringend notwendig, im Westen zu einer Selbstbesinnung zu kommen und zu akzeptieren, dass viele Fehler gemacht wurden.

Was hat man falsch gemacht?

Statt auf Polizeiaktionen zu setzen, führt man in Afghanistan einen vermeidbaren Krieg. Im Irak haben wir es mit einem völkerrechtswidrigen und moralisch unhaltbaren Krieg zu tun, in Tschetschenien baut man weiter auf ein Unterdrückungsregime und seit Jahrzehnten zögert man die Gründung eines lebensfähigen zusammenhängenden Palästinenserstaates hinaus. Wenn man das alles sieht, dann darf man sich doch nicht wundern, dass sich heute in der muslimischen Welt unendlich viel Frustration, Zorn und Wut aufgestaut hat und dass das jederzeit explodieren kann.

Der Auslöser der aktuellen Gewaltausbrüche waren verschiedene Karikaturen vom Propheten Mohammed. Sind die Zeichner zu weit gegangen?

Ich will hier keine Pauschalkritik an den Medien äußern. Es gibt sehr gute Kommentare zum Thema, viele sind oft auch selbstkritisch. Aber ich muss schon darauf aufmerksam machen, dass die Pressefreiheit auch Presseverantwortung einschließt. Ich habe für den InterAction Council früherer Staats- und Regierungschefs unter der Führung des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt eine Erklärung der Pflichten für die Presse ausgearbeitet. Und da steht im Paragraph 14: "Die Freiheit der Medien bringt eine besondere Verantwortung für genaue und wahrheitsgemäße Berichterstattung mit sich. Sensationsberichte, welche die menschliche Person oder die Würde erniedrigen, müssen stets vermieden werden". Damals haben verschiedene Pressevereinigungen gegen diese Erklärung protestiert. Heute zeigt sich, dass es dringend notwendig ist, dass man mit der Pressefreiheit auch die Presseverantwortung betont.

Haben die Karikaturzeichner also ihre Presseverantwortung nicht wahrgenommen?

Sie haben mehrere Tabus auf einmal verletzt. Der Islam ist gegen religiöse Menschendarstellungen und will den Propheten nicht abgebildet haben, um auch jeglichen Götzendienst zu vermeiden. Wenn man nun diesen Propheten in Form von Karikaturen mit terroristischen Zeichen und mit modernen Waffen in Verbindung bringt, dann ist man da zu weit gegangen. Wenn strafrechtlich vorgegangen werden kann, gegen die Verleumdung einzelner Personen oder Organisationen, zum Beispiel gegen Holocaust-Leugner, dann geht es nicht an, dass man religiöse Symbole beliebig missbrauchen kann. Das gilt nicht nur für den Propheten Mohammed, sondern auch für Jesus Christus. Ich habe mich oft darüber geärgert, mit welchem Leichtsinn und welcher Unverschämtheit Jesus von Nazareth bedacht wurde. Das geht schlicht zu weit und da wäre Besinnung dringend nötig.

Wie sollte der Westen mit radikal-islamistischen Gruppen umgehen, zum Beispiel Hamas? Trotz ihres Wahlsiegs wollen die USA und Israel nicht mit Hamas sprechen.

Man kann nicht einerseits demokratische Wahlen fordern und sich danach darüber beklagen, dass die Mehrheit diejenigen bekommen, die man sich nicht gewünscht hat. Das gilt auch für den Irak. Man muss das zumindest zur Kenntnis nehmen und sollte nicht von vorneherein sagen: "Mit denen reden wir nicht".

Also sollte man mit Hamas verhandeln?

Mit Hamas wird man verhandeln können, wie man schließlich auch mit Arafat verhandeln konnte. Da sollte man sich zunächst mit negativen Statements zurückhalten und erst einmal abwarten. Zunächst sollte man herausfinden, mit wem haben wir es hier zu tun und welche Ziele verfolgt diese Gruppe. Schließt man von vornherein Verhandlungen aus, dann hat man eine ganz schlechte Ausgangsposition, denn früher oder später muss man doch mit ihnen reden.

Was wäre jetzt in der aktuellen aufgeheizten Situation in der muslimischen Welt von Nöten?

Vor allem Ruhe und Überlegung. Es ist zu fragen nach den Wurzeln dieser Gewaltausbrüche. Am dringendsten muss aber das Palästina-Problem gelöst werden.

Der katholische Theologe und Kirchenkritiker Hans Küng hat sich als Vordenker des Dialogs zwischen den Religionen und als Gründer des Projekts Weltethos einen Namen gemacht. Der Vatikan hatte dem Schweizer 1979 die Lehrerlaubnis entzogen, da dieser die Unfehlbarkeit des Papstes in Zweifel gezogen hatte. Im vergangenen Herbst wurde der 77-jährige Küng von Papst Benedikt XVI. zu einem Gespräch empfangen.
Das Interview führte Steffen Leidel
Deutsche Welle vom 07.02.2006 http://www.dw-world.de/popups/popup_printcontent/0,,1894702,00.html

In über 50 Ländern haben die Zeitungen darüber geschrieben .Die vielen Reaktionen über die ganze Welt kennt Ihr wahrscheinlich von Eure Presse besonders die mit Gewalt verbundenen. Es gab auch friedliche muslimische Demonstrationen. Aber einer detaillierten Auflistung auf der Website "Cartoon Body Count: Death by Drawing“ zufolge, sind in Zusammenhang mit dem Karikaturenstreit bis zum 22. Februar 2006 139 Menschen getötet und 823 verletzt worden.

Viele Kräfte - westliche und muslimische - haben fleissig gearbeitet um diese Krise zu de-eskalieren, was im gewissem Masse gelungen ist. Im Anfang dieses Jahre führte eine Wiederaufdrückung der Karikaturen (für uns aus gesehen total unnotwendig) in Verbindung mit der Verhaftung drei Leute in Dänemark wegen ihre Pläne den Zeichner Kurt Westergaard (der die Zeichnung mit der Bombe im Turban Muhammeds zeichnete) zu mördern zu neuen Unruhe und Anschläge, die nach einer Weile ausklangen.

Zum Schluss: Die Karikaturen führten weltweit zu einer Diskussion über die Religions-, Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit. Und das sind die Themen, die noch bei uns bleiben und bleiben sollen. Wie ist das Verhältnis zwischen der Meinungsfreiheit und dem Respekt für andere Religionen ? Welche Ausforderungen auf dem Gebiet der Relationen zwischen den Weltreligionen und Andersgläubigen liegen hier vor ?

Gross Väter See September 2008

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Euphorie und Enttäuschung nach der Wende in Ost und West

Liebe Freunde,
heute gibt Deutschlandradio ein Wort zum Tag in Deutschland, das mich noch einmal erinnert, was einiges nachzubesprechen blieb zum Vortrag im Zentrum unserer Tagung in Groß Väter unter >Euphorie und Resignation<, zu dem es ja doch kein ordentliches Nachgespräch nach einer Pause mit dem Referenten hat geben können; auch haben wir weder Manuskript noch Thesen an der Hand. Was blieb? Es gab ja viele hochlobende und (weniger?) viele bedauernde Reaktionen.

Im Spiegeln von >Euphorie und Resignation<, verquickend und auf sachliche Ebenen auflösend, so hatte ich Jürgen Rennert kennen und lieben gelernt, als wir in unseren Staatsuniformen als Bausoldaten bei unserem Verweigern von Belohnungen aufrecht und Faust vorstreckend ausriefen "Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik!" Nun leben wir aktiv "Ich diene der Bundesrepublik Deutschland!" und suchen ihr Bestes - natürlich seit eh und je begrenzt durch unsere Globalisierung.

In herzlicher Verbundenheit mit Euch in aller Welt

Euer Martin

Mein Land ist mir zerfallen

Von Jürgen Rennert

Gegen die offiziellen Sprachregelungen des real existierenden Sozialismus hatte der Ost-Berliner Lyriker Jürgen Rennert (geb. 1943) schon früh das Motto einer ökologisch-kritischen Naturlyrik formuliert: "Es stirbt das Land an seinen Zwecken." In den Tagen des politischen Umbruchs 1989/90 schrieb er dann ein Requiem auf das Land, mit dem er sich nur in widerwilliger, gespaltener Liebe identifizieren konnte. In diesem Gedicht stößt man wie in vielen lyrischen Texten der späten DDR auf die patriotisch wirkende Fügung "Mein Land". Bei allen Ambivalenzen bezeugt das besitzanzeigende Fürwort in "Mein Land" zumindest eine partielle Verbundenheit mit der politisch kollabierten DDR.

Mein Land ist mir zerfallen.
Sein' Macht ist abgetan.
Ich hebe, gegen allen
Verstand, zu klagen an.
 
Mein Land ist mir gewesen,
Was ich trotz seiner bin:
Ein welterfahrnes Wesen,
Mit einem Spalt darin.
 
Mein Land hat mich verzogen,
Und gehe doch nicht krumm.
Und hat mich was belogen,
Und bin doch gar nicht dumm.
 
Mein Land hat mich mit Wider-
Willn an die Brust gepresst.
Und kam am Ende nieder
Mit mir, der es nicht lässt.
 
Mein Land trägt meine Züge,
Die Züge tragen mich.
Ich bin die große Lüge
Des Landes. (Wir meint: ich)

Das Gedicht ist am 14. Januar 1990 entstanden, als sich bereits abzeichnete, dass die DDR den Beitritt zur Bundesrepublik vollziehen würde. Bei aller Erleichterung über das Ende einer fragwürdigen Staatsmacht, die ihre Untertanen zur Anpassung und zur Lüge zwingt, enthält der Text doch auch die Klage über den Untergang dieses Gemeinwesens, dessen Charakter-"Züge" mit den in ihm lebenden Individuen verwachsen sind.

Deutschland Radio vom 03.10.2008
Verlorene Züge. Gedichte 1985-1997, Lyrikedition 2000 /Buchmedia GmbH, München 2000; © Jürgen Rennert) dort: MEIN LAND IST MIR ZERFALLEN

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Denkanstöße zum Thema "Unser Beitrag zur Rettung der Welt im Prozess der Globalisierung"

Von Walter Hiller

I.

Klimawandel - Gefahr für den Frieden

Die Erde erwärmt sich, das ist offensichtlich. Der Klimawandel wird im besten Falle unsere Welt von Grand auf verändern, im schlimmsten Falle wird er zu ihrem Untergang führen Erwärmt sich unser durch Treibhausgase ohnehin schon überhitzter Planet nur um ein oder zwei Grad mehr, könnten weite Teile der Erde verdorren. Diese apokalyptische Vision für die kommenden Jahrzehnte wird heute nicht nur von Umweltschützern geteilt. Wissenschaftler, Politiker und selbst das im Allgemeinen vorsichtigere Militär sehen im Klimawandel eine Bedrohung für den Weltfrieden.

Überblick

Der im Februar 2007 erschienene Bericht der Intergovernemental Panel on Climate Change (IPCC) geht mit einer neunzigprozentigen Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es sich bei dem gegenwärtigen Klimawandel um ein Ergebnis menschlicher Aktivitäten handelt, das im wesentlichen durch die stetigen Emissionen so genannter Treibhausgase seit der Industrialisierung verursacht ist. Die Erwärmung des Klimasystems insgesamt lässt sich an steigender Luft- und Ozeantemperaturen, am Schmelzen von Gletschern und Dauerfrostböden und an steigendem Meeresspiegel ablesen.

Seit 1850 werden die Jahresdurchschnittstemperaturen gemessen. Die elf wärmsten Jahre seither fallen in die Zeitspanne von 1995  - 2006. Die Temperatur der Ozeane hat sich bis in Tiefen von 3000 m erhöht.

Beobachtete Folgen des Klimawandels sind:

  • Verschiebung von Regenzonen und Regenhäufigkeiten

  • Fortschreitende Wüstenbildung

Das vermehrte Auftreten extremer Wetterereignisse wie Hitzeperioden, Stürme, starker Regen
etc.

Bei gleichbleibenden Emissionen sagt das IPCC einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 0,2 Grad Celsius je Dekade voraus. Die unterschiedlichen Szenarien, die für verschiedene Emissionsmengen bzw. -zuwachse gerechnet wurden, ergeben eine Untergrenze von 1,1 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts und einen oberen Wert von 6,4 Grad. Der Anstieg der Meeresspiegel wird zwischen 18 und 59 cm liegen. Die Zukunft bringt ein weiteres Abschmelzen der Eisschilde, der Gletscher und ein Auftauen der Dauerfrostböden mit sich, Taifune und Hurrikans treten häufiger und an ungewohnten Stellen auf. Die Regenwahrscheinlichkeit wird nach Norden zu- und nach Süden abnehmen. Dies alles hat Folgen für die Tier- und Pflanzenwelt und damit auch für die Ernährungs- und Überlebenschancen von Menschen. IPCC veröffentlichte dazu die zu erwartenden sozialen Folgen und prognostiziert für Afrika, dass bereits im Jahr 2020 zwischen 75 und 250 Mio. Menschen kein ausreichendes Trinkwasser haben werden. Die Landwirtschaft wird ebenfalls unter ausbleibenden Regenfällen und absinkendem bzw. verschwindendem Grundwasser leiden. Die Lage der Fischerei sieht nicht besser aus.

Im asiatischen Raum treten ebenfalls erhebliche Trinkwasserprobleme auf, hier wird zudem mit starken Umweltverschmutzungen, Überschwemmungen und Lawinenabgängen durch das Abschmelzen der Himalaja Gletscher gerechnet. Vom Trinkwassermangel könnten bis zum Jahr 2050 mehr als eine Mrd. Menschen betroffen sein.

Südamerika ist von sinkenden Grundwasserspiegeln und Wüstenbildung betroffen. Überflutungsgefahren betreffen die Küstenregionen genau so wie in allen anderen Teilen der Welt. Die Bewältigungs- und Kompensationsmöglichkeiten sind je nach betroffenem Land unterschiedlich.

In Europa, USA, Australien sind die sozialen Folgen nicht so dramatisch. Sie sind hier vor allem indirekter Art hinsichtlich des Drucks auf die Grenzen der veränderten Sicherheitslage.(Migration)

Insgesamt zeigt sich eine globale Ungleichverteilung der sozialen und ökonomischen Folgen der Klimaveränderung. Die damit einhergehende Ungerechtigkeit sowohl in geografischer wie generationeller Hinsicht birgt mittelfristig gravierende Konfliktpotenziale.

Zwei Grad plus

Klimaforscher vertreten die Auffassung, dass die sozialen und ökonomischen Folgen des Klimawandels dann vielleicht noch beherrschbar sind, wenn die Erwärmung bei einer Steigerung von plus 2 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit abgebremst werden, das sind etwa 1,6 Grad mehr als jetzt. Bis zum Ende der letzten Kaltzeit befanden sich 600 Mrd. t Kohlendioxid in der Atmosphäre. Das ist der Wert, der bis zur industriellen Revolution in etwa konstant blieb. Dieser Wert ist seither auf 800 Mrd. t angestiegen und bei einer weiteren Steigerung liegt die tolerierbare Belastung bei max. 85o Mrd. t.

Gegenwärtig kommen pro Jahr etwa 4 Mrd. t dazu, ohne die Steigerungsraten, die durch die nachholende Industrialisierung der Schwellenländer verursacht wird. Danach ist der Wert von 850 Mrd. t in etwa 10 Jahren erreicht. Ein Abbremsen der Erwärmung auf 2 Grad plus ist nur dann realistisch, wenn die weltweiten Emissionen in etwa 5 Jahren ihren Höchstwert erreicht haben, in den folgenden 50 Jahren um mindestens die Hälfte absinken und danach weiter im Abwärtstrend bleiben.

Eindringlich hat im vergangenen Jahr auf der Konferenz in Bali der UN-Klimarat (IPCC) letzte Zweifel beseitigt, dass die Welt vor dramatischen Umwälzungen steht, wenn die Zwei-Grad-Erwärmungsgrenze nicht gehalten wird. Dazu müssen die Treibhausgas-Emissionen bis 2050 global um mindestens die Hälfte und in den Industrieländern um 80 Prozent sinken. Das bedeutet: Mit ein bisschen mehr Energieeffizienz hier und einigen Windrädern da ist das nicht zu schaffen. Hier geht es um eine neue industrielle Revolution: Das Ende des fossilen Zeitalters!

Soziale Folgen für die Menschheit

Der Klimawandel wird zu einer Häufung sozialer Katastrophen führen (New Orleans). Er gefährdet die Überlebensbedingungen von Menschen durch Mangel an Trinkwasser, Rückgang von Nahrungsmittelproduktion und erhöhten Gesundheitsrisiken. Ein beträchtlicher Teil der Weltbevölkerung wird immer mehr Schwierigkeiten haben, denn zunehmende Wüstenbildungen, Bodenversalzungen und Bodenerosionen schränken die Überlebenschancen in manchen Gebieten genauso ein wie die Übersäuerung der Ozeane, die Überfischung, die Vergiftung der Flüsse und das Verlanden von Seen. All dies sind übrigens keine Naturkatastrophen, als die zugrunde liegenden Prozesse von Menschen gemacht sind. Daraus resultieren innerstaatliche Gewaltkonflikte, Bürgerkriege, Völkermorde, Migration. Die Folgen dieser Entwicklung sind Konflikte zwischen jenen, die dieselben zu knappen Ressourcen nachfragen, die unbewohnbar gewordene Regionen verlassen müssen und dort zu siedeln versuchen, wo andere schon sind. Bis zum Jahr 2050 könnten dadurch, wie Berechnungen ergeben, 80 - 400 Millionen Klimaflüchtlinge zu erwarten sein.

Was tun?

Angesichts dieser Fakten steht die Menschheit vor Herausforderungen wie sie noch nie in der Geschichte der Menschheit gegeben waren. Dabei geht es um die Frage unserer Lebensart, unseres Lebensstils, um eingeübte Gewohnheiten und Verhaltensweisen. Würden wir mit Egoismus und Zynismus an die Beantwortung dieser Fragen gehen, wäre die Antwort: Was schert uns dieser Teil der Menschheit im Süden unseres Planeten, sollen sie doch sehen, wie sie zurecht kommen. Dieses Denken könnte uns dazu verleiten, weiter zu machen wie üblich, mit der Folge: Wir akzeptieren ein weiteres Wachstum der Wirtschaft, was die fortgesetzte Nutzung importierter fossiler Energien und anderer Rohstoffe erfordert. Diese Strategie nimmt in Kauf, dass Autobenzin zur Versorgungssicherheit Biotreibstoffe beigemischt werden, um die Frist zu strecken, in der noch Erdöl verfügbar ist. Diese Strategie baut darauf, dass Regenwälder vernichtet werden, um Anbauflächen für Ölpflanzen zu gewinnen, was bereits in Asien und Südamerika geschieht, mit der Folge gewalttätiger Landnahme und der Vertreibung ortsansässiger Bevölkerung. Weitermachen wie üblich setzt auch die wirtschafts- und außenpolitische Strategien voraus, zur Versorgungssicherheit Abkommen und Verträge mit Staaten zu schließen, in denen weder Menschenrechte geachtet noch Umweltschutzstandards eingehalten werden.

Es ist davon auszugehen, dass in den begünstigten Ländern, wie Europa und den USA eine andere Strategie als Weitermachen wie üblich nicht gewählt wird. Warum sollten sie auch, denn: Wir sind die Gewinner. Das Klima wird milder. Die nördlichen Gebiete Amerikas und Asiens werden besser bewohnbar. Die Landwirtschaft wird einfacher und gegen den steigenden Meeresspiegel bauen wir Deiche.

Was wirklich getan werden müsste

Aus Gründen der Generationengerechtigkeit oder der Überlebensrationalität der menschlichen Gattung, sind drei Handlungsebenen zu bedenken, um die Verhältnisse zum Besseren zu wenden. Die erste und beliebteste ist die Individualisierung des Problems und seiner Bewältigung. So gibt es eine Reihe von Vorschlägen oder Tipps zur Rettung der Welt, z.B. Sparlampen zu benutzen, Geschirrspüler erst anstellen, wenn er voll ist, Fahrgemeinschaften bilden, bei Elektrogeräten stand-by zu vermeiden u.a. Derlei Tipps, verbunden mit der Suggestion, die Welt zu retten, stehen in einer grotesken Relation zur Dimension des Problems, weil dem Problem mit Veränderungen auf der Verhaltensebene nicht beizukommen ist. Wenn jährlich durch die erdölfördernde Industrie 150-170 Mrd. Kubikmeter Erdgas abgefackelt werden - soviel, wie die Industrienationen Deutschland und Italien zusammen im Jahr verbrauchen - dann wird individuelles Sparverhalten so gut wie wirkungslos. Oder betrachten wir dazu die Emissionssteigerungen der Schwellenländer China, Indien, SA, Mexiko und Brasilien. Im Jahr 2004 hatte China Gesamtemissionen von 5253 Millionen t und Indien von 1609 Mio. t. Seit 1990 hatten beide eine Steigerung von 48 bzw. 5o Prozent.

Die zweite Handlungsebene ist die staatliche. Die Berichte der IPCC haben dazu geführt, dass in vielen Ländern Klimaschutzprogramme beschlossen wurden zur Energieeinsparung um die C02-Emissionen zu senken. Neben Maßnahmen wie Wärmeisolierung von Gebäuden, Verwendung von Energiesparlampen, Geschwindigkeitsbegrenzung für Straßenfahrzeuge, Förderung von regenerativen Energieträgern (Wind, Wasser, Sonne) und andere, sind ebenfalls ein wichtiger Beitrag. Jedoch sind nationale Lösungen hinsichtlich ihrer Wirkung beschränkt, aber dennoch hilfreich: Innovative Strategien einzelner kollektiver Akteure verändern die Verhältnisse wenigstens graduell und die Rolle des Vorreiters ist inspirativ. Auch hier ist die psychologische Wirkung wie im Fall der individuellen Verhaltensänderungen erheblich. Gleichwohl sollte die systematische Begrenztheit solcher Strategien gesehen werden. Zur Klimawende können nationale Lösungen nicht führen, weil ihr quantitativer Einfluss zu gering bleibt.

Bleibt die zwischenstaatliche Ebene, auf der die Komplexität am größten und der Kontrollverlust am deutlichsten ist. Es gibt keine suprastaatliche Organisation, die souveräne Staaten veranlassen könnte, weniger Treibhausgase zu emittieren. Dasselbe gilt für die Verschmutzung der Flüsse, den Bau von Staudämmen, das Abholzen von Wäldern, den Bau von Atomkraftwerken. Auch gibt es kein zwischenstaatliches Gewaltmonopol, das die staatliche Souveränität etwa bei innerstaatlichen Umsiedlungen und Vertreibungen, Enteignungen und Landnahme oder bei Verletzung der Menschenrechte, auch rücksichtslose Umweltpolitik etc. sanktionieren könnte. Es existiert zwar eine innerstaatliche, aber keine zwischenstaatliche Gewaltenteilung. Allein der Völkerbund bietet erste Ansätze zu suprastaatlichen Regulierungen, mit denen verantwortliche Akteure für Massaker, Völkermorde etc. vor internationale Gerichtshöfe gestellt werden können. Gäbe es dagegen eine Weltregierung, dann müsste sie handeln und uns haftbar machen. Denn es ist klar, dass wir schuld sind, denn wir, die Industriestaaten haben den Klimawandel verursacht.

Gegenwärtig allerdings sind internationale Vereinbarungen im Umweltbereich auf Selbstverpflichtungen beschränkt, deren Verletzung von außen kaum sanktionierbar ist. Deshalb ist es illusionär zu glauben, dass bis zum Jahr 2020 das für eine Abbremsung der Erwärmung nötige Niveau an Emissionsreduzierungen erreicht werden kann. Das bedeutet, dass die Erwärmung auch über die noch für kontrollierbar gehaltenen zwei Grad plus gegenüber dem heutigen Level hinaus fortschreiten wird, was dazu führt: Das Weltklima kippt!

Überlegungen für Lösungsansätze

Das Problem der Klimaerwärmung ist durch bedenkenlosen Einsatz von Technik entstanden, weshalb jeder Versuch, es durch weiteren, nun aber besseren Technikeinsatz zu beheben, Teil des Problems und nicht der Lösung ist. Deshalb ist es notwendig, darüber nachzudenken, wie ein Ausweg aus der Krise möglich wird. Nur eine illusionslose Betrachtung ermöglicht es, aus der tödlichen Logik der Sachzwänge auszusteigen, wie sie sich etwa in der falschen Alternative wieder zeigt: Ob man nun aus Gründen des Klimaschutzes auf verbesserte Kohlekraftwerke oder lieber auf Atomkraft setzt. Das sind deshalb falsche Alternativen, weil beide Energietechnologien auf begrenzte Ressourcen bauen und beide sich hinsichtlich ihrer Folgen als unüberschaubar erwiesen haben. Eine falsche Alternative besteht auch in der Frage, ob man die zahlreicher werdenden Umwelt- und Klimaflüchtlinge in Drittändern zwischenlagert oder im Meer ertrinken lassen soll. Schließlich haben die Schengenländer vereinbart, dass man sie nicht haben will.

Suchen wir darüber hinaus einen Weg jenseits falscher Alternativen und scheinbarer Sachzwänge sollten wir das gesamte Problem des Klimawandels als ein kulturelles definieren und wir bekämen sogleich eine andere Sicht auf die Dinge. Uns muss bewusst werden, was die wahre Ursache für diese Situation ist, in der die Menschheit sämtliche das Klima regulierende Faktoren durcheinander bringt. Wir müssen fragen, was wahre Entwicklung für die Menschheit sein kann. Wenn Fortschritt nur die Fortschreibung dessen ist, was in den vergangenen 50 oder 100 Jahren gelaufen ist, dann mag das ja ganz gut gewesen sein für einen kleinen Teil der Menschheit im Norden, aber es war katastrophal für die anderen 80 Prozent und fiir die ganze Schöpfung. Somit stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten des zukünftigen Überlebens und die Gestaltung der eigenen Gesellschaft und Lebenswelt. Kann eine Kultur langfristig erfolgreich sein, wenn sie auf der systematischen Aufzehrung von Ressourcen gründet? Kann sie überleben, wenn sie den systematischen Ausschluss von Folgegenerationen in Kauf nimmt? Kann eine solche Kultur modellbildend für jene sein, die sie für ihren eigenen Fortbestand gewinnen muss? Ist es irrrational, wenn eine solche Kultur von außen als exklusiv und räuberisch betrachtet und deshalb abgelehnt wird?

Wie man und wie wir selbst in der Gesellschaft, deren Teil man ist, in Zukunft leben möchten, ist in der Tat die zentrale Frage. Sie zwingt in der Auseinandersetzung damit, wer zu dieser Gesellschaft zählt, wie Partizipation gestaltet werden soll, wie materielle und immaterielle Güter wie Einkommen und Bildung verteilt werden sollen etc. Wir brauchen eine öffentliche Debatte darüber, wie wir uns versündigen an der ganzen Welt und besonders an den Ländern der dritten Welt, weil unsere Art, im Wohlstand zu leben auf Kosten der anderen geht: auf Kosten der Natur, der Dritten Welt, der Zukunft.

II.

Frieden und Globalisierung

Globalisierung in einem friedensorientierten Sinne müsste in einem System geschehen, in dem beide Geschlechter, die drei Generationen, die zeitgleich auf der Welt leben, alle Rassen, alle Klassen wie auch die Menschen aller ungefähr 200 Staaten oder Nationen tatsächlich gemeinsam ein Leben in Würde führen können. (Prof. Galtung)

Heute erleben wir eine Globalisierung, die allein von Männern betrieben wird. Im engeren Sinne sind es wiederum die Weißen und die Oberschicht, vor allem die wirtschaftliche Oberschicht. Diese wiederum erhält Unterstützung durch die militärische und politische Klasse. Das hat keine Zukunft, weil es zunehmend zu struktureller Gewalt kommen wird. Tatsache ist: 125 000 Menschen sterben heute Tag für Tag - 25 000 weil sie verhungern und 100 000 weil sie an Krankheiten leiden, die nicht geheilt werden können, weil sie kein Geld haben. In einem kapitalistischen System wird ja praktisch alles kapitalisiert, alles wird zu Geld und Kapital gemacht, auch mit Hilfe des Staatsapparates. Wer also über kein Geld verfügt, fallt aus dem System der Globalisierung heraus.

Globale Gerechtigkeit ist machbar

Eine globale Durchsetzung von Gerechtigkeitsansprüchen wird in naher Zukunft kaum möglich sein. Denn die entscheidenden Akteure der Weltpolitik sind keine Individuen, sondern Nationalstaaten. Und diese betreiben Politik vornehmlich im Sinne der Machtmehrung oder -erhaltung. Das vorhandene Völkerrecht und die existierenden globalen Institutionen sind demgegenüber ausgebildet und kaum in der Lage, globale Gerechtigkeit gegen das Streben nationaler Staaten zu fördern. Unabhängig davon sind aber die ersten Schritte auf dem Weg zu einer gerechten globalen Ordnung getan. Internationales Recht, Menschenrechtspolitik und das System der Vereinten Nationen haben bedeutende Fortschritte erzielen können. Noch ist viel zu tun..

Das Weltvolk wächst rasant

In Zukunft wird vor allem die Bevölkerung der weltweit 5o ärmsten Länder wachsen. Für das Jahr 2050 sagen die UN 9,2 Mrd. (mittlere Variante) Menschen voraus. Das bedeutet einen Zuwachs von 2,5 Mrd. Menschen - heute sind es 6,7 Mrd. Das Bevölkerungswachstum findet ausschließlich in den Entwicklungsländern statt. Dort wird die Bevölkerung in den nächsten 42 Jahren von 5,4 auf 7,9 Mrd. Menschen anwachsen. In den Industriestaaten bleibt die Bevölkerungszahl bei etwa 1,2 Mrd. nahezu konstant. Europa wird alt und seine Bevölkerung schrumpft. Weltweit wird sich die Anzahl der Personen im Alter von über 60 Jahren bis 2o50 von 673 Mio. auf 2 Mrd. verdreifachen. In den Industrieländern wird der Anteil der über 60-jährigen von 20 auf 33 Prozent im Jahr 2050 steigen. Auf jedes Kind kommen dann mehr als zwei Personen über sechzig. Europa wird bis 2050 um 67 Mio. Menschen schrumpfen. Schon heute kennen 28 Industrienationen auf Grund niedriger Geburtenraten einen Bevölkerungsrückgang nur durch die Aufnahme von Migranten verhindern, Auch Deutschland gehört mit jährlich 130 000 Einwohnern zu dieser Gruppe.

Der Hunger in der Welt

Derzeit hungern 854 Millionen Menschen, davon 206 Mio. In Afrika. Bei 854 Mio. hungernden Menschen ist der Frieden global bedroht und dabei stellt sich die Frage:: Was tut und was macht die Weltgemeinschaft dagegen? Schon 1974 gelobte die Welternährungskonferenz den Hunger binnen 10 Jahren zu bannen. Der Folgegipfel 1996 war schon kleinlauter und proklamierte die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren. Ein Versprechen, das im Jahr 2000 als Millenniumsziel der UN festgeschrieben wurde. Doch auch damit wird es wohl nichts werden. Im Kampf gegen den Hunger sind die UN bislang grandios gescheitert, obwohl sie den Anspruch auf eine angemessene Ernährung als Menschenrecht im Sozialpakt verankert haben.

Finanzielle Hilfen, die das Überleben sichern, sind immer, an jedem Ort, zu jeder Zeit wichtig, sie schaffen aber den Hunger nicht aus der Welt. Ernährungssicherheit für alle ist nur mit einem mutigen Politikwechsel zu erreichen. So lange reiche Länder, wie die USA und die EU ihre Agrarsubventionen gegen Kritiker armer Staaten verteidigen und neoliberale Konzepte des freiem Welthandels, der Privatisierung und einer Export-Landwirtschaft aufrecht erhalten werden, ändert sich nichts. Eine Politik, von der in den vergangenen drei Jahrzehnten nur die Industrieländer und Agrarmultis profitiert haben, die heute die globale Produktion und den Handel mit Rohstoffen dominieren. Verloren haben die Armen der Welt, die auf Drängen von Internationalem Währungsfonds, Welthandelsorganisationen und Weltbank, Zölle und andere Handelsschranken für Doping-Exporte aus dem Norden abbauen mussten. Es ist der wahre Skandal, dass die Industrieländer mit hochsubventionierten Agrar-Exporten die regionalen und lokalen Märkte ruinieren. Millionen Kleinbauern haben keine Chance mehr. Wer den Welthunger erfolgreich bekämpfen will, muss diese Abhängigkeit kappen und mit vollen Händen in die nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft in armen Staaten investieren.

Markt und Freihandel werden die Menschen auch in Zukunft nicht satt machen. Wir brauchen gerechte Strukturen, einen fairen Handel und eine starke Institution, die global für einen Ausgleich der Interessen sorgt und den Kampf gegen den Hunger strategisch angeht.

Tödlicher Mangel

Alle 15 Sekunden stirbt ein Kind auf der Welt, weil es unzureichend mit sauberem Wasser versorgt ist. Aus dem selben Grund verlieren jährlich sechs Millionen Menschen ihr Augenlicht.

Zur Jahrtausendwende war ein sechstel der Weltbevölkerung, das sind rund 1,1 Mrd. Menschen, ohne Zugang zu sauberem Wasser; 2,4 Mrd. Frauen und Männern fehlten sanitäre Einrichtungen.

Die Folgen der Unterversorgung sind erschreckend. Durchschnittlich vier Mrd. Fälle von Durchfallerkrankungen lassen jedes Jahr 2,2 Mio. Menschen sterben. Die meisten Opfer sind Kinder, die jünger sind als fünf Jahre. "Das ist ein Kind alle 15 Sekunden", rechnet die Weltgesundheitsorganisation vor. Fünfzehn Prozent aller toten Kinder in Entwicklungsländer seien an Wassermangel gestorben.

Das Lebensmittel Nr. 1 fehlt am meisten in Afrika und Asien. Zwei von fünf Afrikanern sind betroffen. Eine besonders gebeutelte Region ist südlich der Sahara. Dreiundvierzig Prozent der Bevölkerung müsse dort nach Berechnungen des Kinderhilfswerkes der UN ohne sauberes Trinkwasser auskommen. Jedes 5. Kind stirbt vor seinem fünften Lebensjahr. In Asien leben 2/3 der Menschen, die ohne sauberes Wasser und 4/5 derjenigen, die ohne sanitäre Anlagen auskommen müssen. Probleme gibt es nicht nur in Wüsten und sonstigen Trockengebieten. Wasser überall, aber keinen Tropfen zu trinken, so formuliert es die Weltgesundheitsorganisation. Denn selbst Städte, durch die Flüsse täglich riesige Wassermengen transportieren, haben zu leiden, weil das Wasser verschmutzt ist.

Kriege und bewaffnete Konflikte

Not, Elend, Hunger, Krankheit sind für Millionen Menschen tägliche Realität. Dagegen werden von den Industrienationen täglich 200 Dollar pro Kopf der Weltbevölkerung für Waffen und Kriegsgerät ausgegeben.

Nach 1945 sind weltweit mehr als 200 Kriege geführt worden Die Mehrzahl davon waren Bürgerkriege postkolonialen oder revolutionären Charakters; nur etwa ein Viertel entsprach dem klassischen Typ des zwischenstaatlichen Krieges.

Zur Zeit finden weltweit über 40 Konflikte statt. Diese sind Teil der globalisierten Welt. Wir finden sie in Europa ebenso wie in der ehemaligen Sowjetunion, in Asien, Afrika und Lateinamerika. Für das 21. Jahrhundert wird außerdem mit einer erheblichen Zunahme von Umweltkonflikten zu rechnen sein. Diese werden durch die Verschiebung von bewohnbaren Zonen, in der Wanderung von Anbauzonen, im Vorrücken von Wüsten und Verknappungen von Wasser auf der einen und Überflutungen auf der anderen Seite entstehen. Dadurch sind die bestehenden Balancen des geomacht- und ressourcenpolitischen Spannungsfeldes berührt. Deshalb ist davon auszugehen, dass in Folge des Klimawandels ein Konfliktpotenzial entstehen und es in vielen Fällen zu gewaltsamen Lösungen kommen wird, wie das bereits heute der Fall ist.
Der Traum vom Weltfrieden 1989 ist geplatzt.

Es gibt bis heute eine tief sitzende Enttäuschung über den Gang der Dinge seit der Gezeitenwende von 1989, als die friedliche Revolution in Mittel- und Osteuropa zum Ende der bipolaren Welt führte, in der ein perverses Gleichgewicht des Schreckens für eine prekäre Stabilität sorgte. Damals ging die Hoffnung auf ein Zeitalter des ewigen Friedens um, in dem Krieg^als Mittel der Politik verschwindet.

Mit den Kriegen auf dem Balkan (Jugoslawien), den Kriegen im Irak wurden wir eines besseren belehrt, und dazu kam der 11. September. Dadurch erfolgte in der öffentlichen Wahrnehmung eine Wende, wobei durch die drei meist beschworenen Bedrohungen die friedenspolitischen Perspektiven verstellt wurden. Transnationaler Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Zerfall von Staatlichkeit rückten ins Visier der internationalen Sicherheitsstrategen, weil man meinte, ihnen vor allem militärisch begegnen zu können. Sie sind jedoch nur ein Teil der heutigen globalen Bedrohungen. Will man wirkungsvolle Friedensstrategien entwickeln, muss der Blick geöffnet werden für alle Gefährdungen, die das Leben und Wohlergehen der Menschen bedrohen: Hunger und Armut, wirtschaftliche Ungleichheit und politische Ungerechtigkeit, konfliktverschärfende Gewaltökonomien, gewaltsame Vertreibungen, Epidemien, Ressourcenknappheit, sowie die vielfaltigen ökologischen Gefahrdungen, insbesondere der Klimawandel.

Die leidvollen Erfahrungen Alt-Europas

In Europa haben die Erfahrungen zweier Weltkriege den Krieg als Mittel der Politik diskreditiert. Dies begünstigte zusammen mit der äußeren Bedrohung im Ost-West-Konflikt und dem Machtverlust der Nationalstaaten im Globalisierungsprozess die europäische Einigung. Sie zielte darauf, durch ökonomische und politische Integration nationale Feindschaften und Rivalitäten zu überwinden und die wirtschaftliche Entwicklung zu fordern. Die so entstandene europäische Integration gilt mit Recht als erfolgreiches Friedensprojekt und prägt die europäische Einstellung zur militärischen Gewalt.

Nun mussten wir in den vergangenen Jahren, insbesondere im Rahmen der Diskussion über den Verfassungsentwurf zur Kenntnis nehmen, dass sich die EU auf das umstrittene Terrain der außen- und sicherheitspolitischen Strategiebildung begeben hat. Dabei wurde nach vielen Kompromissen eine Bedrohungsanalyse erstellt, die mit ihrer Akzentuierung von Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Staatszerfall und Kriminalität zu eng ist, um den komplexen Herausforderungen der Globalisierung und den verschiedenen Sicherheitsbedrohungen, wie sie etwa der Millenniumsreport der UN beschreibt, gerecht zu werden. So wird Sicherheit von der EU in einem eng militärischen Sinne als Voraussetzung für Entwicklung definiert, während die umgekehrte Blickrichtung, die soziale, ökonomische und rechtliche Entwicklungsfaktoren zum Ausgangspunkt für Sicherheit, unterbelichtet bleibt. Auch die Logik dieser Analyse verwischt zudem die klare Trennung zwischen zivilen und militärischen Instrumenten in der Krisenprävention. Vielmehr findet de facto eine Prioritätensetzung zugunsten Militärischer Ressourcen und Kapazitäten statt. So fehlt auch eine eindeutige Aussage, militärische Interventionen als Ultima Ratio zu betrachten. Diese Politik ist Fakt, auch ohne Verfassung oder was daraus noch wird und zeigt sich auch an der Beschaffung von Waffen. So beläuft sich das jährliche Budget in den Verteidigungshaushalten der EU-Mitgliedsländer zusammengenommen auf ungefähr 20 Mrd. Euro.
Ohne Krisenprävention kein stabiler Frieden.

Strukturelle Konfliktursachen abzubauen ist der langfristig wirksamste Beitrag zur Verbesserung globaler Sicherheit. Dies macht weder militärische Maßnahmen als Ultima Ratio in akuten Notlagen überflüssig, noch die notwendige Vorsorge obsolet, um terroristische Bedrohungen abzuwehren und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu unterbinden. Eine umfassende Friedensstrategie aber orientiert sich an Sicherheit und Wohlergehen aller Menschen und leitet zum Handeln an, bevor Ordnungen zerfallen, Faustrecht, Selbstjustiz und Vergeltung die Oberhand gewinnen oder Menschen ihrer fundamentalen Lebensgrundlagen beraubt werden. Mehr denn je ist es heute an der Zeit, eine solche Umorientierung für eine internationale Friedenspolitik voranzutreiben.

Das neue Wettrüsten

Der Stillstand in den internationalen Abrüstungsverhandlungen ist schwerwiegend. Dagegen boomt die Rüstungsindustrie: Die weltweiten Militärausgaben haben 2007 eine neue Rekordhöhe erreicht. Das Militär verschlingt 2,5 Prozent des globalen Sozialprodukts. Erstmals lagen 2007 die Pro-Kopf-Ausgaben der Weltbevölkerung für Rüstungsgüter über 200 Dollar. Dieses Bild zeichnet das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri. Zum Vergleich: Für die Verwirklichung der von den UN ausgegebenen Millenniumsziele zur Halbierung der Armut, wären jährlich ca. 2 Dollar pro Erdenbürger nötig. Der globale Rüstungsaufwand wird auf 1339 Millionen Dollar (858 Milliarden Euro) beziffert. Das ist eine Steigerung um 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Gegenüber 1998, als man noch an eine "Friedensdividende" nach dem Ende des kalten Krieges glaubte, ist es sogar eine Steigerung um 45 Prozent. Mit einem Anteil von 45 Prozent stehen die USA für fast die Hälfte der globalisierten Militärausgaben.

Rüstungsausgaben 2007 in Milliarden Dollar

USA 547,0, Großbritannien 59,8, China 58,4, Japan 44,0 und Deutschland 28,4 (2008 =29,45)

Waffenhandel - ein gutes Geschäft

 Wert der Waffenexporte 2007 in Millionen Dollar. USA 7454, Russland 4588, Deutschland 3395, Frankreich 2590, Niederlande 1355, Großbritannien 1151

Verheerende Wirkungen

Gemessen am Ausmaß der weltweiten Armut ist die Konzentration auf nationale militärische Sicherheit falsch und nicht vertretbar. Doch wird insbesondere die Regierung der USA von ihrem Hauptaugenmerk auf militärische Bereitschaft nicht ablassen. Insgesamt hat sich die Sichtweise der sicherheitspolitischen Ziele und Prioritäten in der Weltöffentlichkeit verändert und diese Sichtweise wird insbesondere auf die menschliche Entwicklung, die menschliche Sicherheit und den Kampf gegen die Armut verheerende Auswirkungen haben. Allein die Bemühungen um angemessene und nachhaltige Lebensverhältnisse für die mehr als eine Milliarde Menschen in der Welt werden zu kurz kommen. In den 30 OECD-Mitgliedstaaten belief sich die Summe der Militärausgaben auf 891 Milliarden US-Dollar während für Entwicklungshilfe lediglich 104 Milliarden US-Dollar ausgegeben wurden. Diese Zahlen spiegeln die Prioritäten derjenigen wider, die an den Schalthebeln der Macht sitzen. Diese Schwerpunktsetzung ist falsch, denn sie gibt - auf Kosten der Sicherheit eines größeren Teils der Menschheit - einem sehr eng gesetzten Begriff von nationaler Sicherheit den Vorrang.

Asien meldet sich zurück - der Aufstieg Indiens und Chinas

Der Umbruch in der Weltordnung von 1989 wurde flankiert durch eine große, bis heute anhaltende Debatte über den Prozess der Globalisierung. In ihrem Zentrum steht die Analyse der Beschleunigung grenzüberschreitender ökonomischer, aber auch politischer, sozialer und kultureller Prozesse im Verlauf der vergangenen Dekaden.

Der 11. September 2001 markiert eine weitere wesentliche Landmarke der internationalen Entwicklung nach dem Fall der Mauer. Er symbolisiert, dass der Zusammenbruch von Staaten und Gesellschaften grenzüberschreitende Gewaltprozesse nicht-staatlicher Gruppen und die Herausbildung transnationaler Terrorbewegungen genauso zur Globalisierung gehören, wie die Internationalisierung der Finanzmärkte. Für diese Entwicklung hat bisher die Politik keine wirkungsvollen Antworten gefunden.

China und Indien betrieben in den vergangenen Jahren eine merkantüistische Politik, mit dem Ziel, die Industrialisierung durch Export zu fördern und die allmähliche Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft selbst zu steuern und damit haben sie sich bis heute nicht den westlichen Kriterien der Globalisierung unterworfen. Mit diesem grundlegenden Wandel gewinnt Asien innerhalb der globalen Finanz- und Weltwirtschaft die zentrale Stellung zurück, die der Region vor dem Zeitalter der Kolonialisierung und der europäischen industriellen Revolution zukam. China und Indien waren damals die beiden zentralen Regionen der Weltwirtschaft. Die rasche Integration der beiden asiatischen Giganten in der Weltwirtschaft beschleunigt die Globalisierung noch einmal enorm und wird die globalen Machtverhältnisse in den kommenden zwei, drei Dekaden signifikant verändern. Machtverschiebungen in Richtung Asien deuten sich an, ein System "turbulenter Multipolarität" entsteht, an dessen Endpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit die gültige Dominanz des Westens in der Welt an ihr Ende gerät. Dabei erhebt sich die Frage, in wie weit die USA und der Westen diese Machtverschiebung akzeptieren oder aber ein Konflikt unvermeidlich wird."

Am Ende dürfte aber eine Neuordnung des globalen Machtgefüges internationaler Ordnung stehen. Neben den Interessen der OECD-Welt werden auch die Gestaltungsansprüche der "Asian Drivers of global Change" und weiterer asiatischer Länder stehen. Diese neue Machtkonstellation könnte jedoch auch eine fragmentierte, durch ungezügelten Machtwettbewerb charakterisierte, instabilere und konfliktreichere Weltordnung sein.

Im Zusammenhang dieser globalen Machtverschiebung entscheidet sich auch die Zukunft des Weltklimas. Misslingt der Versuch, die globale Erwärmung durch eine wirksame weltweite Klimapolitik auf zwei Grad Celsius zu begrenzen und setzt sich der "Business as usual Trend" der Emittierung von Treibhausgasen fort, dürfte die globale Erwärmung gegen Ende des 21. Jahrhunderts irgendwo zwischen 3,5 und 6 Grad liegen. Klimaforscher warnen, dass ab einer Erwärmung von um die 4 Grad "Kipp Punkte" im globalen Ökosystem erreicht werden könnten, die die Wahrscheinlichkeit des Kollaps kompletter Naturraumsysteme erhöhen.

Wolfsburg am 11. 09.2008 

Ethik im Zeitalter der Technik

Von Prof. Dr. rer. nat. Noller

Zusammenfassung in Thesenform

  1. Der hemmungslose Einsatz unserer übermächtigen Technik hat weltweite Umweltzerstörung zur Folge.

  2. Unser Wirtschaftssystem (freie Marktwirtschaft genannt) fordert und fördert diesen hemmungslosen Einsatz und ist darum ethisch nicht vertretbar.

  3. Unser Wirtschaftssystem ist nicht in der Lage, allen Menschen Wohlstand zu bringen. Es verfehlt damit die Erfüllung seiner Verheißung. Es macht zwar die Reichen reicher, zugleich aber die Armen ärmer.

  4. Unsere Wirtschaft ist somit nicht nur ökologisch, sondern auch sozial unverträglich. Sie zerstört ihre eigenen Grundlagen.

  5. Der Zerstörung kann nicht durch eine als umweltfreundlich bezeichnete Technik begegnet werden, zumindest nicht, solange diese dann ebenso hemmungslos eingesetzt wird.

  6. Soll die vielfältige Zerstörung aufgehalten werden, so bedarf es einer tiefgreifenden Änderung von Einstellungen und Verhaltensweisen. Von grundlegender Bedeutung ist das ethische Gebot eines äußerst behutsamen Einsatzes der Technik.

  7. Die heutige Wirtschaft ist eine "Megamaschine", die unserer Erde jährlich steigende Mengen an Ressourcen entreißt und diese letztendlich in Berge von Müll und unzählige Schadstoffe in Luft, Wasser und Erde umwandelt. Permanentes Wirtschaftswachstum ist darum ein grundsätzlich verkehrtes Ziel.

  8. Die - heute so bejubelte- Globalisierung bedeutet vermehrten internationalen Wettbewerb im globalen Zerstörungswerk.

  9. Mindestforderung an eine sozial verträgliche Wirtschaft muß sein, die zum Leben unbedingten Güter allen Menschen verfügbar zu machen, ohne die Würde des Menschen zu verletzen. Darüber hinaus kann grundsätzlich nur so viel an Gütern verfügbar sein, wie ökologisch tragbar ist. Verschwendung ist unverantwortbar.

  10. Überleben aller muss Vorrang haben vor einem immer besseren Leben für wenige.

  11. Unsere Wirtschaft erhebt den Anspruch, unsere Welt immer weiter noch zu vervollkommnen, indem sie der unübersehbaren Menge an Gütern immer noch weitere hinzufügt. Besser wäre eine Orientierung an dem Satz von Saint-Exupery:" Eine Sache ist nicht dann vollkommen, wenn man ihr nichts mehr hinzufügen kann, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann." Erst innerhalb einer solchen Orientierung könnte Behutsamkeit, vielleicht die höchste und wichtigste der Tugenden, in einer Welt voll von übermächtiger Technik zu einem erstrebenswerten Ideal werden.

  12. Von den Mächten , die uns zu hemmungslosem Einsatz der Technik animieren und uns blind machen gegen die weltweite Zerstörung der Schöpfung, ist die Werbung eine der stärksten und zugleich der am wenigsten wahrgenommenen. Sie spiegelt uns eine heile Welt vor, die durch Technik ständig weiter vervollkommnet wird und in der wir unbesorgt verschwenden können. Die Werbung zu zügeln, ist darum eine hohe ethische Forderung.

Uracher Seminarist 1936/37, 1969-1989 Vorstand des Instituts für Physikalische Chemie der Technischen Universität Wien. Das Folgende zitiert aus dem Schlusswort des Buches " Umweltethik" (Wien 2001)

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