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His Grace und die drei Gebete

Der Besuch Erzbischof Michael Ramseys in der Deutschen Demokratischen Republik im Mai 1974

Von John Arnold

Der Originaltitel der Michael Ramsey Memorial Lecture 1999 im St Mary´ College, University of Durham, lautet: Snow White and the Three Prayers: The Visit of Archbishop Michael Ramsey to the German Dernocratic Republic, May 1974. Als Sonderdruck veröffentlicht vom St Mary's College.
Übersetzung aus dem Englischen und Bearbeitung von Klaus Kremkau 
Im Rahmen des Seniorentreffens in Hirschluch hat John Arnold am 2. Mai 2002 abends folgenden Bericht vorgetragen:

Einleitung

John Arnold 2002Heute vor 25 Jahren, am 27. Mai 1974, und zu dieser Nachmittagsstunde hatte ich die Ehre, neben Michael Ramsey zu stehen und ihm zuzusehen, wie er sich in ein Besucherbuch mit und Michael Cantuar eintrug und dann in Grossbuchstaben hinzufügte: CHRIST IS RISEN. Wir hatten den Tag in Weimar zugebracht, der Stadt Goethes und Schillers, Mozarts und Liszts, der Stadt Gropius und des Bauhauses, eines gescheiterten Anlaufes zur Demokratie in den 1920ern, der Stadt, in der die Peter- und Paulskirche steht, an der Herder Nachfolger Klopstocks als Pfarrer wurde und Wort und Sakrament an dem edlen Altar des Lukas Cranach verwaltete. Wir befanden uns im Herzen Deutschlands, dem "Land der Dichter und Denker", im lutherischen Thüringen, dem Kernland der Reformation. Aber wir hatten nun die Stadt in der Ebene verlassen und waren den Hang hinauf auf den Kamm des Berges in den Buchenwald gelangt, welcher der Örtlichkeit den Namen gab, der eine so unrühmliche Bedeutung bekommen sollte. Wir passierten das Tor des Konzentrationslagers mit seiner hintersinnigen Inschrift "Jedem das Seine" und vernahmen ein Geräusch wie das tausendfach verstärkte Summen der Bienen. Wir blickten über den Abhang des Berges und sahen übende russische Panzer vom Typ TK34. Plötzlich überfiel uns ein Frösteln, wie ich es anderswo nur in Babi Yar verspürt habe, dem Steinbruch bei Kiew, wo die ukrainischen Juden hingeschlachtet worden sind. Canon Michael Moore, der ökumenische Referent des Erzbischofs, der mit uns war, erinnerte sich, dass er dasselbe Frösteln in Hadamar verspürt hatte, auf dem Gelände des Vernichtungslagers bei Limburg. Manchmal ist das Böse buchstäblich greifbar. Wir waren innerhalb einer kurzen Zeitspanne vom Paradies in das verlorene Paradies gelangt. Es gab dort nicht viel zu sehen, aber das gab nur noch mehr Raum für die historische Imagination. Wir mussten uns jedoch auf die Gegenwart konzentrieren; denn dies war von der Situation her der sensibelste Augenblick während des Besuches des Erzbischofs in der Deutschen Demokratischen Republik vom 24. bis 29. Mai 1974, hier in Anwesenheit von Vertretern von Kirche und Staat sowie der staatlich kontrollierten Medien. Erst kürzlich hatte unsere eigene Regierung die Existenz der Deutschen Demokratischen Republik überhaupt anerkannt; dass die Kirche innerhalb dieses Staates weiterhin existieren konnte, stand auf der Kippe; die Kunst, das Andenken der Toten und des Leidens um politischer Vorteile willen zu manipulieren wurde in erbitterter Rivalität mit der Bundesrepublik perfektioniert. Jedes Wort, jede Geste, jede Silbe zählte, wenn die zeitgenössischen Pharisäer und Sadduzäer an ihn ihre Fragen richteten, um ihn in seinen Antworten zu fangen.

Wir betraten die Zelle Paul Schneiders, des lutherischen Pastors, der für seine Mitgefangenen Kirchenlieder gesungen und gepredigt hatte, und man zeigte uns den Auspeitschungsblock, auf dem er vor ihnen für seinen leidensbereiten Einsatz geschlagen worden war als Vorbereitung seiner Hinrichtung. In einer Kultur, die in dreifacher Hinsicht eine Kultur des Wortes war: deutsch, protestantisch und marxistisch-leninistisch, in der jede Gelegenheit nach langen, gewichtigen Äußerungen voller Inhalt, Analyse, Rhetorik, frommer und weltlicher Predigt und Moralisieren verlangte, wurde nun vom Erzbischof ein Wort erwartet. Der Erzbischof verharrte in der für ihn typischen Art eine Weile in Schweigen, und dann sprach er ein Gebet, in dem er die Seelen der jüdischen, christlichen und auch sozialistischen Blutzeugen der ewigen Barmherzigkeit Gottes anempfahl und für ein Ende des Hasses im Gottesreich des Friedens und der Liebe flehte. Dies war die zweite von drei Gelegenheiten während einer überfrachteten Reiseroute, bei denen der Erzbischof das, was gesagt werden musste, von aktuellen Anliegen weg in ein Gebet zu unserem himmlischen Vater wendete. Bischof Schönherr, der Bischof von Ostberlin und Brandenburg und primus inter pares der ostdeutschen Bischöfe, nannte dies später den "Besuch der drei Gebete".

Als wir zu unseren Autos zurückgingen, fragte der Reporter einer ostdeutschen Nachrichten-Agentur den Erzbischof nach seiner Meinung zu der Gedenkstätte. Er erhielt zur Antwort, dass es gut und richtig sei der Toten zu gedenken, aber dass es dabei nicht bleiben dürfe. Der Kreuzigung folge die Auferstehung; den Toten werde das ewige Leben zuteil, und die Lebenden müssten für eine bessere Zukunft arbeiten. Das wurde dann so gedruckt: Das Gedenken an die Toten ist gut, und die Lebenden müssen für eine bessere Zukunft arbeiten.

Ich denke, Sie erkennen in dieser kleinen Begebenheit Michael Ramsey wieder: Zu aller erst als einen Mann des Gebetes, zweitens als jemanden, der das Wesentliche des Evangeliums in kurzen, einprägsamen Formulierungen zum Ausdruck zu bringen vermochte, drittens als jemanden, hinter dessen massiver Erscheinung, seinem schneeweißen Haar und seiner körperlichen Schwerfälligkeit sich eine rasche Auffassungsgabe, politischer Sinn und Gedankenschnelle verbargen. Früher am Tag war er in Weimar von einem Rundfunkreporter gefragt worden, was die Briten über "unsere kulturellen Schätze" wüssten. Ohne Zögern kam die Antwort in das Mikrophon: "Nicht genug. Kultureller Austausch ist nötig, mehr Besuche zwischen unserem Land und Ihrem; wir müssen einander besser kennen lernen." Und das in einem Land, das vom Westen hermetisch abgeriegelt war und aus dem Bürger unter Lebensgefahr flüchteten!

Was hatte uns zu diesem Zeitpunkt an diesen Ort geführt; was war der Hintergrund unseres Besuches?

Der Hintergrund

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg unterschied sich die Lage der Kirche in Ostdeutschland in mehrfacher Hinsicht von der der Kirchen in anderen "kommunistisch beherrschten Ländern", um die damals gängige amerikanische Terminologie zu gebrauchen.

Zum ersten war es - abgesehen von der damals wieder in die Sowjetunion eingegliederten kleinen Region Lettland und Estland - das einzige Gebiet, in dem die Mehrheit der Christen protestantisch war und wo die Volkskirchen das Recht und die Pflicht beanspruchten, für die Bevölkerung und die gesellschaftliche Ordnung einzustehen und nötigenfalls auch für sie zu sprechen. Die orthodoxe Option, die sich weiter im Osten später als so erfolgreich erweisen sollte, nämlich im Gottesdienst zu leben, war schlicht nicht gegeben; noch waren es die aus der Zugehörigkeit zu einer großen internationalen Gemeinschaft erwachsende Kraft und das Selbstvertrauen, die den römisch-katholischen Hierarchien Polens und in geringerem Masse der Tschechoslowakei und Ungarns zu Gebote standen. Die Ostdeutschen mussten notgedrungen ihren Standpunkt mit Hilfe ihrer historischen Glaubensbekenntnisse vertreten, jetzt auch einschließlich des Barmer Bekenntnisses von 1934, und auf dem gelesenen, gehörten und gepredigten Wort Gottes. Ihre Anführer waren geprägt durch die Bekennende Kirche unter der Leitung und durch das Beispiel und die Lehre von Martin Niemöller und besonders Dietrich Bonhoeffer. Allen war deutlich bewusst die Mitverantwortung der Kirchen für die Katastrophe des Dritten Reiches durch ihre Unfähigkeit und mangelnde Bereitschaft zu einem prophetischen Amt. Eine kleine aber tapfere Minderheit von Christen war damals zusammen mit Mitgliedern der kommunistischen und sozialistischen Parteien inhaftiert. So gab es, zweitens, einige gemeinsame Interessen und wenigstens am Anfang gegenseitigen Respekt zwischen den kirchlichen und staatlichen Führern in der Sowjetischen Besatzungszone, die sich auf dem Wege befand, die Deutsche Demokratische Republik zu werden. Auf der Ebene der Theologie einerseits und der Ideologie andererseits gab es jedoch niemals eine Gemeinsamkeit der Interessen, nichts von der Art Synkretismus zwischen Christentum und Faschismus, der den Ruf der sogenannten Deutschen Christen im Dritten Reich ruinierte. Allmählich zogen sich beide Seiten in eine Art Grabenkrieg zwischen einem außergewöhnlich gebildeten und wortgewandten Christentum einerseits und einer außerordentlich strengen und rücksichtslosen Ausprägung des Marxismus-Leninismus andererseits zurück. Die Sozialistische Einheitspartei der Deutschen Demokratischen Republik versuchte erklärtermaßen, innerhalb eines Jahrzehnts das zu erreichen, wozu die Sowjetunion mehr als ein halbes Jahrhundert gebraucht hatte. Es ist wohlbekannt, dass Marx nicht beabsichtigte, seine Ideologie in dem zurückgebliebenen Agrarland Russland zur Anwendung zu bringen, sondern in den fortgeschrittenen Proletariaten Nordenglands, des Ruhrgebietes und Sachsens, wo sie schließlich - allerdings in ihrer stalinistischen Form - sich häuslich niederlassen konnte und wo sie im Herbst 1989 in Leipzig und Dresden ihre niederschmetterndste und doch friedlich verlaufende Niederlage erlitt.

Drittens wurde die Kirche in einer Gesellschaft, die gekennzeichnet war durch den Zwang zu strenger Konformität, die einzige öffentliche Körperschaft, die nicht direkt durch den Staat kontrolliert oder gemäss des Marxismus-Leninismus tätig war. So wurde sie nolens-volens zu einem Zeichen des Widerspruchs und zu einer lebendigen Widerlegung des totalitären Ideologieanspruches. Solange die Kirche Bestand hatte, konnte niemand gänzlich und uneingeschränkt an den Absolutheitsanspruch des Marxismus-Leninismus glauben. Später, besonders in den 80er Jahren, gewährte die Kirche den Raum - im direkten und im übertragenen Sinne - für die Diskussion öffentlicher Fragen wie Krieg und Frieden, Pazifismus, soziale Gerechtigkeit und Ökologie sowie für die Erziehung eines ganzen Volkes in den Techniken des passiven Widerstandes und der Praxis der Demokratie, die im Herbst 1989 friedlich triumphierten.

Aber in seltsamer Ironie waren die 70er Jahre durch die Anpassung beider Seiten an den Verzug der parousia und die Übernahme einer hinausgeschobenen Eschatologie charakterisiert.

Der Staat, der sich wie in der Sowjetunion bald an die Vertagung des Verschwindens des Staates auf unbestimmte Zeit gewöhnte, wurde sich bewusst, dass er sich ebenso mit der Vertagung des Verschwindens der Religion auf unbestimmte Zeit arrangieren musste. (Lenin selbst hatte übrigens 1918 der russischen Orthodoxie 70 Jahre zum Aussterben gegeben. Ironischerweise sah dann das Jahr 1988 die 1000-Jahrfeier der Taufe der Rus´ unter Fürst Wladimir im Jahre 988 n.Chr. und in der Periode des Glasnost die Rückkehr der Russischen Orthodoxen Kirche in das öffentliche Leben der Nation.) Im Gegensatz dazu waren die deutschen Marxisten nicht dazu bereit, den dialektischen Prozess seinen Fortgang nehmen zu lassen. Sobald die sowjetische Besatzungsmacht in den frühen 50er Jahren aufgehört hatte, einen mäßigenden Einfluss auf die Religionspolitik auszuüben, entschied sich Walter Ulbricht, dem Rad der Geschichte in die Speichen zu greifen. Er leitete eine Periode offener Verfolgung ein, die sich speziell gegen die Jugendarbeit der Kirche richtete. Diese Phase dauerte nicht lange, aber sie hinterließ tiefe Narben und bittere Erinnerungen. Druck auf junge Leute wurde zu einer Dauererscheinung des Lebens in Ostdeutschland, verschärft seit 1955 durch die Einführung der praktisch obligatorischen Jugendweihe als weltliche Alternative oder zumindest Ergänzung zur Konfirmation. Im Grossen und Ganzen war die Partei bereit, der Kirche die sogenannten unproduktiven Teile der Gesellschaft - kleine Kinder, die Alten und die Rentner - zu überlassen. Nur allzu gerne übergab sie der Kirche die Geisteskranken, die für ihre Wirtschaft ohne Nutzen waren und für die ihre materialistische Anthropologie keinen Platz hatte. Allein die diakonischen Einrichtungen des deutschen Protestantismus erfüllten die edelsten humanitären Hoffnungen des Sozialismus. Unterdessen wurde der stärkste Druck in Schule und Universität ausgeübt, in den Streitkräften und am Arbeitsplatz, und dies in einem Ausmaß, dass die Leute nicht selten voller Sehnsucht dem Alter und dem Ruhestand entgegen sahen mit der Möglichkeit eines geruhsameren Lebens und der Möglichkeit, in den Westen auszureisen.

Einige von ihnen sahen natürlich auch zurück; aber weitaus mehr Menschen sahen seitwärts auf die demokratischen Institutionen und die florierende Wirtschaft in Westdeutschland, wo in den allermeisten Fällen ihre Familienmitglieder, Verwandten, Freunde, Geliebten und früheren Nachbarn lebten. Viele Jahre hindurch rechneten sie damit, dass die Sowjetische Besatzungszone eine vorübergehende Erscheinung sein würde, der ein Friedensvertrag und ein vereintes Deutschland folgten. Auch diese parousia zog sich hin bis 1990; aber in den 70er Jahren schien den meisten Beobachtern die neu entstandene Deutsche Demokratische Republik zumindest eine halbwegs dauerhafte Erscheinung der europäischen Szene zu sein. Unter anderem um die 17 Millionen Bürger aus dem Schwebezustand praktischer Staatenlosigkeit zu befreien, erkannten das Vereinigte Königreich und die anderen westlichen Länder im Jahre 1974 die DDR de iure an und ermöglichten damit übrigens den Besuch des Erzbischofs.

Die überwältigende Mehrheit der Ostdeutschen schien im inneren Exil zu leben, physisch im Osten, aber mit dem Herzen, ihrem Denken und ihren Wünschen im Westen. Sie waren durch die perfekteste jemals ausgedachte Grenze abgeschnitten; diese verlief von der Gegend um Lübeck zum westlichsten Teil der Grenze Böhmens, kreiste seit August 1961 Berlin ein und trennte es in zwei Teile, wobei sie mitten auf dem Fahrdamm entlang und sogar durch Häuser verlief und in einem Falle eine Kirche vom eigenen Friedhof trennte. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung konnte westdeutsches Fernsehen empfangen. So kam zu der Klaustrophobie der nationalen Einkerkerung die Schizophrenie, den Arbeitstag in sozialistischen Fabriken und kollektiven landwirtschaftlichen Betrieben zu verbringen und sich abends vor dem Fernseher in den Sessel fallen zu lassen, um durch ein magisches Fenster sowohl die vergleichsweise objektiven wenn auch nicht ungefärbten westlichen Nachrichtensendungen zu sehen, als auch in die Phantasiewelten von Dallas & Co. einzutreten, synchronisiert in Bühnendeutsch und damit doppelt fehl am Platze. Es war eine ungesunde Situation; aber zumindest waren die ostdeutschen Bürger außergewöhnlich gut informiert und besaßen eine von den Propagandisten beiderseits der Mauer gelieferte Synopse aller Gegenwartsfragen.

Der Staat zwang seine Bürger zu bleiben, obwohl viele lieber geflohen wären. Die Kirche gab ihnen Unterstützung und gab ihnen eine Begründung dafür mit dem Zitat aus dem Brief Jeremias an die im Exil Lebenden: "Seid um das Wohl der Städte besorgt, in die ich euch verbannt habe, und betet für sie! Denn wenn es ihnen gut geht, dann geht es euch auch gut" (Jer. 29,7). Sie lieferte auch eine Kritik der Zeitgeschichte und eine Interpretation der nationalen Niederlage und der Teilung des Landes als Vollzug des Gerichtes Gottes. Im Jahre 1967 definierte sich eine Synodalversammlung in Fürstenwalde als "Kirche im Sozialismus", also weder als eine Kirche des Sozialismus, noch als eine Kirche gegen den Sozialismus und erst recht nicht als eine Kirche neben dem Sozialismus. Die Kirche war und sie blieb bis zum Ende eine Kirche im Sozialismus, die in Wort und Tat ständig zu verstehen trachtete, was dies bedeutete und damit einen Beitrag für unser Verständnis des rechten Verhältnisses zwischen Kirche und Staat und den jeweiligen Ansprüchen Caesars und Gottes leistete. Im Nachhinein kann man diese Formel sowohl für ihre Doppeldeutigkeit als auch dafür kritisieren, dass sie missverständlich war und davon ausging, dass das ostdeutsche politische System tatsächlich ein sozialistisches war. Sie lag irgendwo auf der Skala zwischen offener Gegnerschaft und opportunistischer Unterstützung und man mag annehmen, dass sie eher ein wenig zur Anpassung tendierte. Aber heute und auf dieser Seite der Nordsee kann man das leicht sagen.

Bis 1969 war die Kirche zumindest nominell Teil einer einzigen föderalen Evangelischen Kirche in Deutschland gewesen. Aber sie war nicht länger imstande, als ein solcher zu handeln, und so wurde in diesem Jahr ein getrennter Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gebildet mit einer Bestimmung in seiner Verfassung, wonach dieser eine besondere Gemeinschaft mit der Kirche in Westdeutschland aufrecht erhielt. Im Jahre 1972 wurde Westberlin von der historischen Landeskirche von Berlin-Brandenburg getrennt und in die westdeutsche Kirche eingegliedert.

Von da an gab es eine ostdeutsche christliche protestantische Kirche in einer ostdeutschen atheistischen sozialistischen Republik - und dies hatten die Reformatoren mit ihrer hohen Meinung von christlichen Fürsten sicher nicht im Sinn mit dem Grundsatz cujus regio, ejus religio beim Augsburger Religionsfrieden 1555. Was macht man, wenn die Mächtigen in einer bestimmten regio jede Form von religio zurückweisen? Das ist ein Problem des 20. Jahrhunderts, das im 16. Jahrhundert nicht voraussehbar war. Zwei Dinge bewahrten die Kirche vor der Isolation. Erstens benötigte der Staat dringend harte Währung; deshalb war er bereit über die riesige finanzielle Unterstützung vonseiten der wohlhabenden westdeutschen Kirche hinwegzusehen, die bis zu 30 Prozent des kirchlichen Haushaltes ausmachte. Zweitens war der Embryo-Staat selber verzweifelt isoliert, gemieden und nicht anerkannt vom Westen, verachtet und ungeliebt innerhalb der Gemeinschaft sowjetischer Satellitenstaaten, die alle in der Folge, der deutschen Aggression und Grausamkeit im 2. Weltkrieg gelitten hatten. Die Kirche war eine seiner wenigen Instrumente der Verbindung mit der weiteren Welt. Und obwohl sie "umschränkt, gepfercht, umpfählt" (Shakespeare, Macbeth, 3. Aufzug 4. Szene) waren, genossen Kirchenvertreter doch faktisch gewisse Privilegien hinsichtlich Auslandsreisen und der Teilnahme an internationalen Konferenzen und anderen Ereignissen, nicht zuletzt weil sie die einzigen Leute waren, bei denen man sich darauf verlassen konnte, dass sie zurückkehrten. Drittens war die ökumenische Bewegung für den ostdeutschen Protestantismus, was der Vatikan für die römisch-katholische Kirche in Zentral- und Mitteleuropa war: er spielte eine besondere Rolle und erfreute sich besonderer Aufmerksamkeit im Weltkirchenrat, der Konferenz Europäischer Kirchen, dem Lutherischen Weltbund und dem Reformierten Weltbund.

Aus offenkundigen Gründen waren besonders wichtig die Beziehungen zu den britischen Kirchen - westlich aber nicht westdeutsch, in Ländern auf den selben Breitengraden auf der selben Stufe der Industrialisierung und eben auch der Säkularisierung, die sich ähnlichen Problemen der Mission und Evangelisation gegenübersehen und die - ein großer Segen - vergleichsweise arm sind.

Der Britische Kirchenrat war an Ostdeutschland besonders interessiert, speziell durch seinen Beraterausschuss für Ost-West-Beziehungen, dessen Vorsitzender zu sein ich die Ehre hatte, und dessen Sekretär Canon Paul Oestreicher war. Im Anfang war die Arbeit das Verdienst einer kleinen Gruppe von Quäkern um Richard Ullmann mit ihrem Engagement für Frieden und Versöhnung sowie der Initiativen einmal Bischof George Bells und dann Bischof Leslie Hunters beim Wiederaufbau Deutschlands und der Rehabilitierung der deutschen Kirchen nach dem Kriege. Im Jahre 1969 ging eine starke und ranghohe Delegation nach Ostdeutschland. Im Frühjahr 1974 hatten wir das Buch Discretion and Valour - Religious conditions in Russia and Eastern Europe fertiggestellt, verfasst von Trevor Beeson auf der Basis von Forschungen und der Analyse einer Expertengruppe. Es wurde der Öffentlichkeit vorgestellt als die erste verlässliche Untersuchung irgendwo zwischen apokalyptischen Horrorgeschichten über unaufhörliche Verfolgung und gleichermaßen unglaubwürdigen glatten Versicherungen offizieller Publikationen wie des Journal of the Moscow Patriarchate und der Veranstaltungen der Christlichen Friedenskonferenz. Als das Buch im Herbst veröffentlicht wurde, enthielt das Vorwort den Satz: "Wir akzeptieren es nicht, dass die einzige authentische Form des Christentums die im Untergrund ist"; und das Kapitel über die Deutsche Demokratische Republik half ein gutes Stück, diese Aussage zu untermauern.

Der Besuch

Schließlich wurde klar, dass ein persönlicher Besuch des Erzbischofs von Canterbury der ostdeutschen Kirche zum damaligen Zeitpunkt am besten helfen würde. Auch Frau Ramsey kam mit, und der Erzbischof nahm mit sich nicht so sehr eine Delegation als vielmehr ein Gefolge sehr viel jüngerer Gehilfen, seinen Pressesekretär John Miles, seinen persönlichen Kaplan John Kirkham, seinen ökumenischen Referenten Michael Moore, sowie Paul Oestreicher und mich angeblich als Experten, aber ebenso als Verbindungsleute zum Britischen Kirchenrat. Aber niemand konnte bezweifeln, dass Erzbischof Michael das Haupt und der Leiter der Gruppe war und alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Reise sollte protokollarisch einen "patriarchalen" Charakter haben.

In Anbetracht der delikaten internationalen Situation und der Gefahr einer verfälschten Darstellung war der Besuch sorgfältig vorbereitet worden. Zunächst hatten die Behörden der DDR auf dem Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat bestanden und es abgelehnt, außer der erforderlichen Genehmigung der Visen irgend etwas damit zu tun zu haben; sie wünschten offensichtlich, die Bedeutung des Besuches herunterzuspielen. Kurz vor dem festgesetzten Zeitpunkt wurde ihnen jedoch der Rang eines Erzbischofs von Canterbury im Establishment bewusst. In Überschätzung seiner Bedeutung als "zweiter Mann im Staat" versuchten sie vergeblich, einen Staatsbesuch daraus zu machen; sie boten sogar die Unterbringung in dem großzügig ausgestatteten Schloss an, das für offizielle Besucher reserviert war. Wir waren nicht die Leute, in diese Elefantenfalle zu laufen, sondern bestanden darauf, dass dies ein Besuch von Kirche zu Kirche sei und dass wir bereits zugestimmt hatten, die Gastlichkeit des Hospizes oder kircheneigenen Hotels in der Albrechtstrasse zu akzeptieren. Die erforderlichen Höflichkeitsformen würden freilich beachtet, bestimmte Besuche absolviert und Treffen verabredet werden, besonders mit Herrn Willi Stoph, dem Vorsitzenden des Staatsrates und de facto Staatsoberhaupt.

Berlin

Zuerst traf der Erzbischof jedoch mit den deutschen Bischöfen zusammen - einer höchst eindrucksvollen Gruppe: Schönherr aus Berlin, Fränkel aus Görlitz, Krusche aus Magdeburg, Hempel aus Sachsen, Thimme in Vertretung von Rathke aus Mecklenburg, Gienke aus Greifswald und Bracklein aus Thüringen. Es ist fraglich, ob irgendein anderer ganzer Episkopat in der Christenheit ihnen gleich gewesen sein könnte an Frömmigkeit, Gelehrsamkeit, discretion and valour, was natürlich bedeutete, dass wenigstens für einige von ihnen in der Tat "der bessere Teil der Tapferkeit die Vorsicht" (Shakespeare, Heinrich IV., 1. Teil, 5. Aufzug, 4. Szene) war.

Als wir spät am Abend zurückkehrten, erwartete uns ein kleines Fiasko. Im Badezimmer des Erzbischofs war es mit den überalterten Leitungen zu Ende gegangen, und dieses war derart dramatisch unter Wasser gesetzt worden, dass die Hauptwasserleitung hatte abgestellt werden müssen. Die Hotelbediensteten, die so übereifrig darum bemüht gewesen waren, dass alles seinen ordentlichen Verlauf nahm, waren vor lauter Aufregung und Beflissenheit völlig durcheinander und brachten nichts zuwege. Der Erzbischof war überhaupt nicht ungehalten. Er setzte sich mit uns anderen auf ein bequemes Sofa im Foyer und schlug vor, dass wir alle a nice cup of tea trinken könnten. Unter der Begleitung geheimnisvoller Geräusche von irgendwoher warteten wir und warteten. Endlich tauchte ein verlegener Geschäftsführer auf mit einer Flasche besten Weines und einem Tablett mit Gläsern. "Es gibt kein Wasser", sagte er. "Darf es statt dessen Wein sein?" Die Augenbrauen des Erzbischofs gingen auf und ab, seine Schultern hoben und senkten sich. "Ja", sagte er, "ja, das gab's schon einmal, das gab's schon einmal. In Kana in Galiläa" - und damit entschärfte er eine kritische Situation mit Heiterkeit und Gelächter - und natürlich mit Bibelkenntnis.

Am nächsten Tage hielt er eine Vorlesung vor ausgewählten Zuhörern aus den theologischen Fakultäten der staatlichen Universität ? der alten Berliner Universität an der Schleiermacher, Harnack und so viele andere berühmte Männer gelehrt hatten ? und verschiedener kirchlicher Institutionen. Es war eines seiner kleinen Meisterstücke über "Gott, der Mensch und die Kirche", aber es zündete nicht wie einige spätere Äußerungen, wohl vor allem weil ausländische Besucher in Berlin weniger selten waren als in der Provinz.

Am Nachmittag statteten wir Kardinal Bengsch einen Höflichkeitsbesuch ab, dem Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche in Ostdeutschland und - durch geschickte Diplomatie des Vatikans - noch immer von ganz Berlin. Der Besuch war kein Erfolg, wir hatten das Empfinden, dass wir durch die Tür der Residenz in ein vorökumenisches Zeitalter geschritten waren. Römische Katholiken waren in diesem Teil Deutschlands historisch eine kleine Minderheit obwohl ihre Zahl nach dem Kriege durch Einwanderung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße zugenommen hatte. Der Kardinal hatte ein doppeltes Ziel: Die Verbindungslinien zum Vatikan offen zu halten und seine Herde zu bewahren. Er war nicht interessiert an der Kirche von England, was nicht überraschen konnte; aber er hatte auch kein Interesse an den deutschen protestantischen Kirchen, die sich in derselben Lage befanden, oder, noch überraschender, am polnischen oder tschechischen Katholizismus; nationale Animosität war stärker als kirchliche Gemeinschaft. Er war stolz darauf, gegen "Lumen Gentium" und "Gaudium et spes" beim II. Vatikanischen Konzil gestimmt zu haben und hegte keinerlei Absicht, den Geist des Konzils zu vermitteln oder gar dessen Dekrete auszuführen über das hinaus, was seine Pflicht war. Er überließ es uns, allein in die trostlose und wenig einladend wirkende St. Hedwigs-Kathedrale zu gehen, wo wir ein Gebet am Grabe Bernhard Lichtenbergs sprachen, des verehrungswürdigen Dompropstes, der in einem Konzentrationslager den Märtyrertod erlitt.

Ich erwähne diese unangenehme Episode, die heute undenkbar wäre, einfach als einen Hinweis darauf, wie weit die Beziehungen in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren vorangekommen sind, und als Hintergrund des ökumenischen Höhepunktes der Reise, der sich vier Tage später im Erfurter Dom ereignete. Die Politik des Kardinals Bengsch war bis in die allerletzten Monate der DDR hinein vorherrschend. Die katholische Kirche hielt sich zurück; sie beschützte ihre Leute und hielt sie zusammen; sie beteiligte sich nicht am öffentlichen Leben, sondern ließ die protestantische Mehrheitskirche ins Rennen gehen und die Schläge einstecken. Der Gegensatz nicht so sehr zum Protestantismus als vielmehr zum polnischen Katholizismus konnte kaum größer sein. Und wer konnte behaupten, dass diese Politik falsch war und nicht vielmehr nur eine andere. Die protestantische Kirche gab im Jahre 1989 ihr Leben hinein in die friedliche Transformation der Gesellschaft und bewahrte die Nation vor innerer Zwietracht, vielleicht sogar Europa vor einem Kriege; aber in diesem Prozess wurde sie schwer geschwächt und hat - vielleicht abgesehen von Teilen Sachsens und Thüringens - endgültig ihren Charakter als Volkskirche verloren in Gebieten, die heute die am meisten säkularisierten in Europa sind. Nur ganz zuletzt taten sich einige katholische Pfarrer, vor allem in Dresden, und viele katholische Laien mit den Protestanten in dem tapferen Versuch zusammen, den Staat zu reformieren; beide trugen so später dazu bei, ihn zu Fall zu bringen und stellten auch sicher, dass die Revolution unblutig verlief, als sie dann kam. Und unverhältnismäßig viele der neuen Führungskräfte, Parlamentsmitglieder und örtlich Verantwortliche, Bürgermeister, Schulleiter und andere Stützen der Gesellschaft kamen genau aus diesem katholischen Laientum, das jetzt die Art von Veränderungen in der Kirche einfordert, welche sie im Staat erlebt haben. Anstelle des Slogans "Wir sind das Volk" tritt um die Parole "Wir sind die Kirche".

Unsere nächste Station war die Stephanus-Stiftung, eine jener großen diakonischen Einrichtungen, mit denen der deutsche Protestantismus Pionierarbeit geleistet hat und die der sozialistische Staat nur zu gerne weiter arbeiten ließ. Hier wurde für die "nicht-produktiven" Mitglieder der Gesellschaft, die Minderbegabten, die Blinden und die Alten gesorgt; gewiss auf einem niedrigeren materiellen Niveau als im Westen, jedoch mit Liebe und menschlicher Zuwendung durch Diakone und Diakonissen, die ein wahrhaft diakonisches Amt versehen. Ihre Jahreskonferenz fand an diesem Nachmittag statt. Der Erzbischof wurde gebeten, ein Wort zu sagen - ein Grußwort. Er gab eine improvisierte, denkwürdige Darlegung, was es bedeutet Ihm zu dienen, dessen Dienst vollkommene Freiheit ist. Für einen Augenblick war alles gewichen, die alles durchdringende Öde des sozialistischen Alltags, der Schmerz christlicher Spaltungen, der Schrecken so vielen an einem Ort zusammenkommenden menschlichen Leides ? es war wie bei der Predigt des Stephanus, wir konnten den Himmel offen sehen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Eigenartig diese Begabung Michael Ramseys, der gelegentlich so unbeholfen war und keinen Ton herausbrachte, für diese erstaunlichen Enthüllungen, fast Theophanien.

Es war nicht das einzige Mal, dass dies während unseres Besuches geschah. Es ereignete sich nochmals ausgerechnet an dem selben Abend in dem unwahrscheinlichen Rahmen eines offiziellen Abendessens in der Residenz des Britischen Botschafters, der Gastgeber für die Gruppe des Erzbischofs und Gäste aus Kirche und Staat war, einschließlich Hans Seigewassers, des Staatssekretärs für Religiöse Angelegenheiten und Gerald Göttings, stellvertretendes Staatsoberhaupt und Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Union.

Das abendliche Spiel - denn das sollte es werden - wurde streng nach britischen Regeln gespielt, obwohl es für uns ein Auswärtsspiel war. Die Ostdeutschen waren gut geschult in der sowjetischen Etikette. Sie hatten lange Reden in der Tasche und waren auf häufige Trinksprüche für Frieden und Freundschaft vorbereitet. Für Derartiges gab es jedoch keine Gelegenheit. Statt dessen machte der Portwein die Runde, und eine konzentrierte und zielgerichtete Unterhaltung folgte, nachdem Mrs. Curtis Keeble, die Frau des Botschafters, die Damen veranlasst hatte, sich zurückzuziehen. Hier war der Erzbischof in seinem Element. Die Schlagfertigkeit und die wohlklingende Rhetorik kamen zum Vorschein, die für den jungen Vorsitzenden der Cambridge Union charakteristisch gewesen waren. Während er theologisch und spirituell manchmal den Eindruck vermittelte, ziemlich konservativ zu sein, so war er in der Politik und in öffentlichen Angelegenheiten ein Liberaler durch und durch. Mit vollendeter Höflichkeit aber hartnäckig drang er in die Vertreter des Staates wegen der Bürger- und Menschenrechte. Diese flüchteten sich in schmeichelhafte, halbwegs erinnerte Zitate aus den umständlichen Reden, die in ihren Hosentaschen schmorten. Herr Götting bemerkte, welche Ehre für sie der Besuch des Erzbischofs von Canterbury in der Deutschen Demokratischen Republik sei. "Ja, ja", erwiderte dieser, "ich bin ein alter Mann, und die Leute sagen mir Nettigkeiten, wo immer ich hingehe. Aber sie tun nicht, was ich ihnen sage. Zum Beispiel in Südafrika". Nur Michael Ramsey konnte diesen Vergleich ziehen und auf diese Weise implizite und mit einem kalkulierten faux pas ins Schwarze treffen.

Leipzig

Der nächste Tag war ein Sonntag, und nach guten, aber nicht besonders bemerkenswerten Gottesdiensten machten wir uns auf nach Leipzig und zur Sächsischen Kirche, die so viel wärmer und inbrünstiger in ihrer Frömmigkeit ist als die kahle und säkularisierte Hauptstadt. Der Abendgottesdienst fand in der Thomaskirche statt, wo Bach Kantor gewesen ist und wo die Orgel, auf der er spielte, noch immer in Gebrauch ist. Ramsey predigte in einer überfüllten Kirche über den Text "als die Traurigen, aber allezeit fröhlich". Dann folgte einer jener spontanen poesievollen Augenblicke, zu denen er in einzigartiger Weise fähig war. Während des Auszuges scherte die kleine Gruppe anglikanischer Geistlicher aus der Prozession aus und zog zum Grabmal Bachs. Eilig wurden für den Erzbischof Blumen herbeigeschafft, die er niederlegte, und er sprach das erste der drei Gebete, die den Besuch charakterisierten und typisch für ihn waren. Er dankte Gott für die musikalischen Gaben Bachs, die der ganzen Welt zum Preise und zur Ehre Gottes gegeben wurden und an denen alle frei und über die Mauern der Teilung und nationale Grenzen hinweg Anteil haben müssen. Ohne Ansprache oder Vortrag hatte er mit wenigen Worten sowohl ein zeitloses Thema als auch eine aktuelle Sorge aufgenommen und sie Gott im Gebet dargebracht. Neun Jahre später, 1983, beriefen der Dean von Canterbury und ich uns auf das, was während dieses Besuches zum kulturellen Austausch gesagt worden war, um Einreisevisa für die vereinigten Chöre von Canterbury und Rochester zur Teilnahme an den Feiern zum 500. Geburtstag Martin Luthers zu erlangen und in der Thomaskirche in Leipzig zu singen.

Eisenach

Nach weiteren Verpflichtungen in Leipzig reisten wir am Montag, dem 27. Mai 1974, nach Weimar und Buchenwald, dem Ort des zweiten Gebetes, und sodann nach einer Übernachtung in Erfurt nach Eisenach, wo Bach geboren wurde, Pachelbel Organist gewesen ist und Luther Chorknabe war. Zuerst ging es zum Kirchenamt der Thüringischen Kirche auf dem Pflugensberg und dann zur Wartburg, wo im Mittelalter die Minnesänger oder Troubadoure zuhause waren, dem Schauplatz von Wagners Oper Tannhäuser, der Heimstatt der Heiligen Elisabeth von Ungarn, dem Hauptquartier der Burschenschaften, die im frühen 19. Jahrhundert für Freiheit, Einheit und Demokratie gekämpft haben. Vor allem aber ist dies der Ort, zu dem Martin Luther gebracht worden ist nach seiner Entführung auf dem Heimweg von seinem einsamen Auftritt gegen Kirche und Reich in Worms und wo er die erste Übersetzung der Bibel aus dem Hebräischen und Griechischen in die deutsche Sprache angefertigt hat. Damit hat er zugleich das Deutsche wie nie zuvor als eine literarische und liturgische Sprache erschaffen. Wir betraten seine Stube und standen an seinem Schreibtisch. Was konnten wir sagen? Der Erzbischof erhob seine Stimme und betete: "Heiliger Gott, der du alle heiligen Schriften zu unserer Belehrung hast schreiben lassen: gib dass wir sie so hören, lesen, merken, lernen und verinnerlichen, dass wir durch Geduld und Tröstung deines heiligen Wortes die gesegnete Hoffnung des ewigen Lebens ergreifen und stets festhalten, die du uns in unserem Heiland Jesus Christus gegeben hast."

Dies war das dritte Gebet, kein freies Gebet, sondern diesmal eines aus dem Allgemeinen Gebetbuch der anglikanischen Kirche.

Sodann gelangten wir in einem mühelosen Übergang vom Erhabenen zum Lächerlichen, von einer freiwilligen Wallfahrt zu einem heiligen Ort zu einem obligatorischen Besuch bei einer Landwirtschaftskollektive in Berlstedt. Der chronische Devisenmangel bedeutete, dass in der DDR Südfrüchte eine Rarität und ein großer Luxus waren. Für uns war jedoch in der Kantine der Arbeiter ein üppiges Festessen zubereitet worden. Die Früchte sozialistischer Landwirtschaft, uns als "Thüringer Spezialitäten" vorgestellt, enthielten große Mengen blankgeputzter Orangen und Bananen. Dies war in der Tat ein Wirtschaftswunder, und für eine Weile diente uns der Begriff "Thüringer Spezialitäten" anstelle der geläufigeren "Potemkinschen Dörfer" zur Charakterisierung eitler und hohler Protzerei. Das Programm war zu lang und zu ausführlich, der Erzbischof war gelangweilt, müde und etwas gereizt. Wir stellten uns für einen Fototermin am Schweinestall auf, ließen die Kühe aus und kehrten nach Erfurt zurück; dort sollte uns der ökumenische Höhepunkt des Besuches erwarten.

Erfurt

Am Anfang des 16. Jahrhunderts, als Luther dort als Mönch im Augustinerkloster lebte, war Erfurt die viertgrößte Stadt im Heiligen Römischen Reich. Es bewahrt viel von seinem spätmittelalterlichen und Renaissance-Charme und ist Sitz eines römisch-katholischen Bischofs, die einzige Stadt in Ostdeutschland mit beträchtlicher römisch-katholischer Bevölkerung. Sie hat auch eine verhältnismäßig starke protestantische Präsenz und war zur Zeit unseres Besuches bemerkenswert für die Intensität und Konkretheit des ökumenischen Engagements gut zusammenpassender Partner mit Propst Heino Falke in führender Rolle auf protestantischer Seite.

Als Erzbischof Ramsey in Begleitung von zwei protestantischen Bischöfen auf die katholische Kathedrale zuging, kam ihm Bischof Aufderbeck entgegen, begrüßte ihn mit einer Ansprache in klangvollem Latein und geleitete ihn in den Gottesdienst; die Größe und die Begeisterung der Gemeinde waren beachtlich. Das Geschehen war derart in sich ganzheitlich und stimmig, wie es so in den bisherigen bilateralen anglikanisch-protestantischen und anglikanisch-katholischen Begegnungen nicht gewesen war. Am Schluss brach spontaner Applaus in der Kathedrale aus, der sich auf die Strassen und Plätze der Stadt hinaus ausbreitete - ein starker Kontrast zu den normalen mürrischen Menschenmengen, die an Besuchen von Würdenträgern anderer kommunistisch beherrschter Staaten teilzunehrnen gezwungen wurden.

Die Wärme und Zuneigung der Leute für ihren Bischof, verbunden mit ihrem Vertrauen in ihre protestantischen Partner und die Zusammenarbeit mit ihnen bildeten den Hintergrund für die ökumenischen Gespräche in der örtlichen Kirche, die wir am nächsten Tage führten. Über einhundert protestantische und katholische Studenten bereiteten dem Erzbischof einen stürmischen Empfang und hörten gebannt seinen Darlegungen über den gegenwärtigen Stand und die Zukunftsperspektiven der ökumenischen Bewegung zu. Dem folgte eine mehr informelle, aber intensivere Diskussion mit Mitgliedern der Fakultäten, die abgebrochen werden musste, als alle sich noch mehr wünschten. Darauf brausten wir in einer Wagenkolonne, für die der ganze Verkehr in der Stadt angehalten wurde, davon und wurden zum Flughafen gefahren. Dort erwartete uns das luxuriös ausgestattete Flugzeug des Präsidenten, um uns nach Berlin zu bringen.

Noch einmal Berlin

Dort brachte uns wieder eine Wagenkolonne, zudem mit großer Motorradeskorte, zu dem neuen Staatsratsgebäude und vor das Staatsoberhaupt, Herrn Stoph, zusammen mit den Herren Götting, Seigewasser und dem stellvertretenden Außenminister Herrn Nier. Wir saßen an einem runden Tisch in einem inneren Ring mit einem äußeren Ring von Mitarbeitern und Beamten. In der ostdeutschen Presse wurde danach nur das berichtet, was Herr Stoph sagte -  und auch das nur teilweise. Er war der Mann, der 1961 offiziell für den Bau der Berliner Mauer verantwortlich gewesen war. In ihm stand Michael Ramsey dem "real existierenden Sozialismus" von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Wenn man einmal die Theorie beiseite lässt, so war er die Inkarnation des stalinistischen Sozialismus, wie er tatsächlich in den 60er und 70er Jahren praktiziert wurde.

Herr Stoph hatte viel zu sagen, der Erzbischof wenig; aber er bestand immer wieder in seinen Fragen auf kulturellem Austausch und der Notwendigkeit für die Menschen, einander zu begegnen. Herr Stoph sprach erwartungsgemäß von der Notwendigkeit einer Beendigung des Kalten Krieges. "Ja", sagte der Erzbischof in einem seiner plötzlichen, unerwarteten Momente der Inspiration und mit einer unvergesslichen Formulierung. "Ja. Aber es hat keinen Sinn, den Kalten Krieg durch einen Kalten Frieden zu ersetzen. Wir brauchen einen Warmen Frieden, in dem die Menschen einander begegnen und einander kennenlernen können." Er hielt inne, und dann passierte etwas sehr Bemerkenswertes. Die versteckte und flüchtige Anspielung auf die Reisefreiheit muss eine Saite angeschlagen und einen neuralgischen Punkt des Gewissens berührt haben. Herr Stoph begann, ohne Manuskript über den Bau der Mauer zu reden und die Gründe, aus denen sie nötig war. Er redete und redete; er konnte nicht aufhören zu reden. Der Erzbischof saß ihm gegenüber, schweigend, regungslos, mit seinem weißen Haar wie der Schnee auf einem schlummernden Vulkan. Der Präsident fuhr noch immer fort, zwanzig oder vielleicht dreißig Minuten lang. Seine Berater und Kollegen ließen sichtbare Anzeichen von Verlegenheit erkennen. Endlich hielt er ein. Jedermann erwartete vom Erzbischof ein diplomatisches, beschwichtigendes, oder gar pastorales Wort. Aber er sagte nichts. Dies war nicht einfach ein negatives Schweigen, ein Nicht-Aussprechen von Wörtern. Es war ein positives Schweigen, ein Tun, eine Handlung wie das Schweigen Christi vor Pilatus. Er tat etwas, was die Welt nicht verstehen konnte, was aber wir verstanden, die wir Priester und Pastoren waren. Er hatte gerade eine Beichte gehört; aber diese Beichte hatte vollständig aus einer Selbstrechtfertigung bestanden. Es war eine apologia pro vita sua. Und weil es keine Reue gab, keine Trauer über die Sünde, keine Absicht, sein Leben m ändern, hatte der Erzbischof eines der schwersten Dinge getan, was ein Priester jemals zu tun bekommt, nämlich die Absolution zu verweigern. Es war ein außergewöhnlicher Augenblick,

in dem die Zeit stille stand. Es war wie bei Ambrosius und Theodosius oder bei einem jener Wendepunkte in der Geschichte, wenn die geistliche Macht weltlicher Macht über einen Tisch hinweg von Angesicht zu Angesicht konfrontiert ist. Im Lande der Rechtfertigung aus Glauben allein hatte die Selbstrechtfertigung das vorletzte Wort gehabt. Das letzte aber heißt: "Mene mene tekel u-parsin" - gewogen und zu leicht gefunden. Gott hat die Tage deiner Herrschaft gezählt und ihr ein Ende gemacht" (Daniel 5,25?28).

Irgendwie wurde das Schweigen gebrochen, die Atmosphäre veränderte sich, und wir kehrten auf die Ebene der Diskussion und Diplomatie zurück. Aber niemand, der bei diesem vielsagenden Schweigen anwesend war, wird es jemals vergessen, dieses Echo des Schreies des Mose vor Pharao: "Lass mein Volk ziehen".

Epilog

Bald war es soweit, dass wir nach Westberlin hinüberwechselten - so einfach für uns mit unseren britischen Pässen und Visa, so nahezu unmöglich für 17 Millionen Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Als ein außerordentliches Zugeständnis wurde den Fahrern gestattet, uns über Checkpoint Charlie zu dem Dienstgebäude der Westberliner Kirche in der Jebensstrasse hinter dem Bahnhof Zoologischer Garten zu fahren. Sie waren in Hochstimmung wegen der Aussicht ein Tabu zu brechen und sicher, dass sie den Weg kennen würden. Statt dessen fuhren sie geradewegs in das unbeleuchtete und auf dem Stadtplan nicht eingezeichnete Niemandsland, das einst das Herz einer großen Hauptstadt gewesen war. Oberkirchenrat Walter Pabst, der leitende Kirchenbeamte in unserer Begleitung, stieg aus und fragte - offenbar irgendwie sich im Ausland wähnend ? einen Fußgänger in der Nähe: "Sprechen Sie Deutsch?" Uns kamen die Tränen. Nach all den Höhen und Tiefen, den erhabenen Augenblicken und den Frustrationen während jener unvergesslichen Tage war es dieser kleine Augenblick tragikomischer, chaplinesker, jämmerlicher Farce, welcher die Ungeheuerlichkeit, die Hybris, die Bosheit aufgezwungener Trennung enthüllte. Kein Wunder, dass der von Michael Rarnsey so geliebte Epheserbrief, der Eckstein seiner Ekklesiologie, unsere Erlösung mit dem Begriff des Einreisens einer trennenden Mauer beschreibt.

St Marys College, Durham Mai 1999 
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