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Seniorenmitarbeitertreffen der Ev. Jugend Göttingen Süd in Bursfelde

2001

In der Zeit vom 28. bis 30. November 2001 haben sich einige ehemalige Mitarbeiter des Kirchenkreises Göttingen-Süd im Kloster Bursfelde getroffen.

2003

In der Zeit vom 24. bis 26. Februar fand im Kloster Bursfelde ein zweites Treffen der ehemaligen Mitarbeiter statt. Im Mittelpunkt stand das Wiedersehen mit Berichten, die Besichtigung der Wohnung von Anita und Heinz Strothmann in Gimte, ein Vortrag der Landesbischöfin Dr. Käßmann zum Thema "Gewalt überwinden" in der Blasius-Kirche in Hann. Münden, die Diskussion der unzureichenden theologischen Fundierung des Vortrages.

Am Ende wurde ein Artikel "Über die Entheiligung der klassischen Familie im rot-grünen Zeitalter" verteilt, der leider nicht mehr diskutiert werden konnte.

Inhaltsverzeichnis


Wir werden älter

Inhalt

Inhaltsverzeichnis


Produktion und Reproduktion

Über die Entheiligung der klassischen Familie im rot-grünen Zeitalter

Von Professor Dr. Norbert Bolz

Die Achtundsechziger sind unser Schicksal. Als Kinder haben sie die ersten Früchte des Wirtschaftswunders genossen; als Jugendliche faszinierten sie Politik und Medien durch ihre "Studentenrevolte"; als Erwachsene halten sie die Professoren- und Chefredakteursposten unserer Republik besetzt. Heute stellen sie die Regierung und garantieren sich selbst eine luxuriöse Rente, für die alle künftigen Generationen bluten müssen.

Bekanntlich ist die Bewegung der Achtundsechziger nahtlos in den Feminismus übergegangen, und was beide verknüpft hat, ist der Angriff auf die bürgerliche Familie. All das war so erfolgreich, dass sich seither kein ernst zu nehmender Konservatismus mehr formiert hat. Sehen wir näher zu.

Eine erwerbstätige Frau ist unserer Gesellschaft mehr wert als eine Hausfrau und Mutter. Die CDU hat bei der letzten Bundestagswahl die Quittung dafür bekommen, dass sie diese neue, familienpolitisch korrekte Wertehierarchie noch nicht begriffen hat. Höchste Wertschätzung genießt das berufstätige Paar mit ganztägig betreutem Kind. Dann folgt die alleinerziehende, berufstätige Mutter; sie ist die eigentliche Heldin des rot-grünen Alltags. Nun die Singles und die Dinks (double income, no kids). Am unteren Ende der Werteskala rangiert die klassische Familie mit arbeitendem Ehemann und Mutter/Hausfrau. Ihr gilt nur noch der Spott der neuen Kulturrevolutionäre, die die Lufthoheit über den Kinderbetten längst erobert haben.

Im Ernst wird auch heute niemand bestreiten, dass Hausfrauen und Mütter Arbeit verrichten. Aber der Arbeit der Hausfrau fehlt die vertragsmäßige Freiwilligkeit; sie ist keine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt - und wird deshalb nicht anerkannt. Statt dessen sieht sich die traditionelle Mutter und Hausfrau mit einer Fülle hochmoderner Unterscheidungen umstellt, die ihr heiliges Familiengefühl antiquiert erscheinen lassen. Vor allem ist sie ständig mit Frauen konfrontiert, die sich für Produktion, also Karriere, und gegen Reproduktion, also Kinder, entschieden haben. Hinzu kommt eine subtile Regierungspropaganda, die Frauen, die "nur" Mütter und Hausfrauen sind, ein schlechtes Gewissen verpaßt.

Die Dinks der Nachbarschaft machen uns mit der Unterscheidung Ehe-Kinder vertraut. Natürlich gab es schon immer kinderlose Ehen, aber erst heute wird die natürliche Assoziation zwischen Ehe und Kindern systematisch gebrochen. Mit ähnlichen Brüchen sind wir ja längst vertraut. Seit es die Pille gibt, ist Sex ohne Kinder selbstverständlich. Umgekehrt konfrontiert uns die Medizintechnik mit der Möglichkeit, Kinder ohne Sex zu haben. Da kann es nicht überraschen, dass in kulturrevolutionären Kreisen Schwangerschaft zunehmend als Behinderung behandelt wird.

Kulturanthropologen und Soziologen wenden daher den gesellschaftlichen Folgen der Anti-Baby-Pille immer stärkere Beachtung zu. Frauen kontrollierten schon immer die Reproduktion; erst die Pille aber hat sie zu den wahren Türhütern der Natur gemacht. Gerade deshalb verweigern Männer zunehmend die Verantwortung. Das wiederum führt zu einer drastisch sinkenden Geburtenrate. Der Kindermangel destabilisiert die Ehen - und schon sind wir in der ultramodernen Welt der alleinerziehenden Mütter.

Nun, ganz allein sind sie nicht. Wir haben es heute nämlich mit einem neuen Dreieck zu tun: das Kind, die alleinerziehende Mutter - und Vater Staat.

Man kann die Tragödie der Familie durch einen einfachen, sich selbst verstärkenden Kreislauf beschreiben: Frauen arbeiten (und wir können es hier dahingestellt sein lassen, warum). Deshalb werden Kinder teurer, denn sie kosten nun wertvolle Arbeitszeit. Folglich werden weniger Kinder geboren - und damit schrumpft das "gemeinsame Kapital" der Eheleute. Daraus folgt nun, dass Scheidungen leichter werden; und deshalb werden immer mehr Ehen geschieden. Damit schließt sich der Kreis. Denn Frauen müssen jetzt arbeiten, weil sie sich nicht mehr auf die Ressourcen der Männer verlassen können.

Da kann es nicht überraschen, dass Scheidungen längst ihr negatives Vorzeichen verloren haben. Die Scheidungsrate ist nämlich ein Maß für die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen. Aber auch hier hat Vater Staat seine Hände im Spiel. Frauen müssen nämlich auch deshalb arbeiten, weil die Abkehr vom Verschuldensprinzip Scheidungen erleichtert. Die Wirkungen, die dieses veränderte Rechtsbewusstsein in der Gesellschaft entfaltet, kann man gar nicht hoch genug veranschlagen. Entscheidend ist nämlich, dass auch bei der Wahl des Partners das Bewusstsein dafür wächst, dass es so, aber auch anders sein könnte - nichts anderes meint das rot- grüne Urwort "Lebensabschnittspartner". Und das heißt eben: es wächst die Zahl der Scheidungen.

Auch diese Zunahme der Scheidungen mündet in einen sich selbst verstärkenden Kreislauf: Geschiedene heiraten Geschiedene, und eine hohe Scheidungsrate macht Scheidungen attraktiver. Man muß kein Sozialpsychologe sein, um die gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung zu verstehen. Je leichter es ist, sich scheiden zu lassen, um so geringer ist für jeden der Partner der Anreiz, die Liebe zu nähren und zu pflegen.

Und schließlich Vater Staat zum dritten. Frauen arbeiten, weil die staatliche Förderung von Kinderbetreuung es billiger macht, die eigenen Kinder betreuen zu lassen. Damit sind wir bei der gegenwärtigen Politik, beim neuen Kulturkampf um die Kinder. Als hätte die DDR einen späten ideologischen Sieg errungen, predigt Rot-Grün heute ganz selbstverständlich die Verstaatlichung der Kinder. Denn Kinderkrippen, Kinderbetreuung in öffentlichen Einrichtungen und Ganztagsschulen sind nicht als Hilfe für notleidende Eltern, sondern als neue familienpolitische Norm gedacht.

Die Schule wird zum Kinderbetreuungszentrum, in dem die Kinder nicht primär lernen sollen, sondern "betreut" und "integriert" werden. Die Schule der Zukunft ist einerseits Schmelztiegel für Einwanderer und Asylanten, andererseits Dienstleister für eine Art Auslagerung und Abtretung des Familiären. Die Sorge um und die Aufmerksamkeit für das Kind werden gleichsam gemietet. Mit anderen Worten, das Familiäre wird heute zur Angelegenheit formaler Organisationen. Dem entspricht dann präzise die soap opera im Fernsehen, die uns allabendlich die Familie als ready-made bietet.

Bekanntlich hat jede Emanzipation ihren Preis. Den Preis für die Emanzipation der Frauen zahlen die Kinder. Deshalb werden diese zum Mittelpunkt staatlicher Sorge. Nun war es bisher so, dass Kinder, wenn sie in die Schule kamen, die erste Erfahrung von Systemdifferenzierung gemacht haben - hier die Familie, dort die Schule. Heute ist es anders: Kinder, die zu Hause "Familie" gar nicht mehr erfahren, bekommen die Schule als eine synthetische Familie der Wohltätigkeit verabreicht. Dort predigt man den Kindern den Wert der Beziehung an sich, anstatt dass sie den Wert konkreter Bezugspersonen erfahren. Entsprechend verstehen sich die Pädagogen nicht mehr als Vorbilder, sondern als Beziehungsarbeiter. Und abends, zu Hause, treffen die Kinder dann auf moderne Eltern, die sich ihnen anpassen, anstatt sie zu erziehen.

Nur Narren können glauben, es gäbe einen Weg zurück. Rot-Grün hat die klassische Familie endgültig entheiligt, und diese Entwicklung ist nicht mehr umkehrbar. Was könnte man also Menschen raten, die gegen den Strom schwimmen und eine klassische Familie gründen wollen? Und was könnte man einer Partei raten, die auf den Gedanken, die Familie sei das Grundelement der Gesellschaft, nicht verzichten kann oder will?

Gerade wenn man einsieht, dass der Feminismus als Kreuzzug gegen die Familie triumphal erfolgreich war, kann man auch erkennen, dass er heute in eine Sackgasse geraten ist, weil er sich überdehnt hat - frau hat sich zu Tode gesiegt.

Könnte das die Chance für eine Wiederkehr des Familienlebens sein? Es ist durchaus denkbar, dass die Erfolgreichen des 21. Jahrhunderts das Familiäre als Quelle entdecken; Familienleben nicht als Idyll, sondern als kooperativer Konflikt; Familie als Ort der Konvergenz all der gesellschaftlichen Rollen, die man zu spielen hat.

Familien produzieren Gefühle, genauer, mit dem Ökonomen Gary Becker gesagt, sie produzieren die "family commodity". Kinder sind, um in diesem spröden Jargon der Wirtschaftswissenschaftler zu bleiben, dauerhafte Konsumgüter, die psychische Befriedigung verschaffen. Und sie machen fähig, in die Zukunft zu blicken und sie zu gestalten.

In diesem Bewußtsein könnten klassische Familien eigentlich den politischen Spieß umdrehen und sagen: Wer keine Kinder hat, hat auch kein existentielles Interesse an der Zukunft.

Der Verfasser lehrt Soziologie an der Technischen Universität Berlin

FAZ, 22.02.03

Inhaltsverzeichnis


Auf absterbendem Ast

Die Nation schrumpft.
Gibt es einen Zusammenhang von Kapitalismus und Geburtenrate?
Zur Ökonomie untergehender Gesellschaften

Von Manfred Sohn

In der "Zeit" läuft seit Wochen eine Serie über das "Land ohne Leute", in der erschüttert festgestellt wird, dass es wohl in hundert Jahren nur noch 25 Millionen Deutsche geben wird. (Die Zeit, 2.1.03) Das Handelsblatt schrieb in seiner Ausgabe zum Heiligen Abend 2002 gegen die "Kinderlücke" an, die viel schlimmer sei als die vielfach beklagte Gerechtigkeitslücke und "die größte Herausforderung der Politik" darstelle, weil "Deutschland weltweit zu den Ländern mit der schwächsten Bevölkerungsentwicklung gehört". (Handelsblatt, 23./24.12.02)

Im selben Blatt hatte Norbert Walter, "Chefvolkswirt der Deutschen Bank", unser Land "in der demographischen Falle" gefangen gesehen, aus der wir nur durch heftiges Werben um Einwanderer wieder herauskämen. (Handelsblatt, 14.8.02) Der "Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft" (GDV) empfiehlt auf seiner Homepage wärmstens ein vorletztes Jahr veröffentlichtes Buch von Professor Herwig Birg, den er als "einen der führenden deutschen Bevölkerungswissenschaftler" anpreist - was nicht schwer ist, weil es nur vier Lehrstühle in Deutschland zu diesem Thema gibt. Dieses Buch, voll mit Zahlen und Hinweisen, auf die wir noch zurückkommen, plädiert im Sinne der deutschen Versicherungswirtschaft, die Birg mit Gutachteraufträgen versorgt, energisch für eine stärker kapitalgedeckte Altersversorgung in Deutschland.

Aber es ist alles noch viel schlimmer. Tatsächlich sind die Schrumpfungserscheinungen der meisten westlichen Gesellschaften wohl Vorboten des Niedergangs. Nun ist die Linke bekanntlich stark darin, den baldigen Untergang des Kapitalismus zu prophezeien, doch der zähe Hund hat sich bislang an diese Vorhersagen nicht gehalten. Aber die Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung haben eine andere Qualität als schwarze Zeichen auf geduldigem Papier, ob es nun in roten oder blauen Buchdeckeln steckt. Kinder, die heute nicht geboren werden, werden in 20 bis 30 Jahren auch selbst keine haben können. Die Demographie - die Lehre von der Bevölkerungsbewegung einer Gesellschaft - hat eine hohe Prognosekraft, die bisher die Praxistests der Überprüfung im nachhinein in der Regel mit geringen Abweichungen bestanden hat. Das Wegmorden der Geburtsjahrgänge 1920-1928 im letzten Krieg zieht sich zum Beispiel wie ein Axthieb durch alle Bevölkerungsstatistiken in Russland, Polen Deutschland, Japan und anderswo und ist im Nachhinein durch keine noch so kluge politische Tat zu korrigieren. Ein Land, das dreißig Jahre lang keine Kinder hervorbrächte, ist hundert Jahre später entvölkert, egal, was die in ihm Lebenden in der Zwischenzeit zu Papier bringen. Eine Gesellschaft, in der die Hälfte der Menschen kinderlos bleibt und die andere Hälfte zwei Kinder hat, entgeht diesem Schicksal der Entmenschung ebenfalls nicht, nur etwas später.

Der deutsche Geburtenrückgang - und im restlichen Europa verhält es sich ähnlich - kommt nicht daher, dass die Paare überwiegend nur noch ein bis zwei statt wie früher zwei bis drei (oder mehr) Kinder haben. Er kommt daher, dass immer mehr Frauen - vor allem die gut ausgebildeten - sich ganz gegen Kinder entscheiden. Das sind ein Drittel von allen, und da sie zum Glück die Entscheidungsmacht über die Kinderfrage inzwischen erobert haben und diejenigen Frauen, die welche bekommen, beim alten Schnitt von zwei Kindern bleiben, rutscht die Gesamtdurchschnittskinderzahl in Deutschland eben auf unter 1,5 Kinder pro Frau. Dies ist im Kern das Ergebnis einer halben Emanzipation: Die Frauen haben sich dank Arbeiter- und Frauenbewegung aus ihrer früheren Rolle als Gebärmaschine befreit, die Bedingungen aber, die es ihnen oder aber ihren männlichen Partnern gestatten würden, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, existieren nicht - also bleiben sie im wachsenden Umfang eben kinderlos. Das ist die auf der Hand liegende Hauptursache der schrumpfenden Bevölkerung Deutschlands und Europas. 1)

Wir alle sind aufgewachsen in und geprägt von der Phase der sogenannten Bevölkerungsexplosion. Die heute Dreißig- bis Fünfzigjährigen haben in Schule und Ausstellungen diese Graphiken und Ziffern gesehen, die eindrucksvoll bewiesen, wie irgendwann der Planet aus den Nähten platzt. Wie so häufig aber erreichte uns diese Botschaft erst, als der Absender - also Demographen - schon wussten, dass sich die Kurve abflachen würde. Heute rechnet auch offiziell die UNO damit, dass die Weltbevölkerung spätestens mit Ende dieses Jahrhunderts beginnen wird, zu schrumpfen - und ab da mit beschleunigter Tendenz.

Aber - träge, wie wir alle sind - die öffentliche Debatte dreht sich eher um Bevölkerungsexplosion und ihre ökologischen und sonstigen Folgen als um die Probleme schrumpfender Gesellschaften. In Deutschland ist das noch extremer - weil mit Deutschland die Rassenideologie erinnert wird, nach welcher der faschistische Bevölkerungswissenschafter Friedrich Burgdörfer gefordert hat, dass die Deutschen eine Fortpflanzungspflicht hätten, um ihre "Rasse" durchzusetzen. Nun hat sich auch sein "Führer" ja nicht daran gehalten und dieser Wahn hat 1945 vorläufig ein Ende gefunden. Das Thema "Fruchtbarkeit" hat aber seitdem hierzulande einen braunen Beigeschmack, egal, wer es mit welchen Intentionen bearbeitet. Damit muss wohl auch jeder deutsche Linke leben.

Demographische Revolutionen

Auf drei Fragen soll im folgenden hingewiesen werden - in der Hoffnung, damit die Debatte um Bevölkerungspolitik auch von links zu beschleunigen. Kommen wird sie eh, weil sich die Folgen dieser Prozesse bereits in zehn bis zwanzig Jahren sehr spürbar im praktischen Leben der meisten jW-Leser bemerkbar machen werden:

  • Gibt es einen Zusammenhang von Kapitalismus und Geburtenrate?

  • Welche ökonomischen Folgen lösen rückgängige Geburtenraten aus?

  • Können politisch überhaupt wirkungsvoll und gleichzeitig humanistisch Maßnahmen zur Bevölkerungsstabilisierung ergriffen werden?

Über die Bevölkerungsentwicklung vergangener Jahrtausende wissen wir im einzelnen wenig. Wir wissen aber, dass die Menschheit sich in einem über hunderttausende von Jahren währenden Prozess von Afrika aus über den ganzen Erdball ausbreitete, in ihrer Population dann aber in den einmal besiedelten Gebieten über Jahrtausende hinweg praktisch stagnierte. Marxistisch gesprochen hat das mit dem unaufhebbaren Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und Entwicklung der Produktivkräfte zu tun. Die Aas- und Wildfrüchtesammler und Jäger, die damals die Erde bevölkerten, verhungerten schlicht, wenn ihre Gruppen eine bestimmte Größe überschritten hatten. Der erste große Bevölkerungsschub, gemessen an Menschen pro Fläche, ist erst in der Jungsteinzeit nachweisbar "und war das Ergebnis eines kolossalen Sprungs in der Entwicklung der Produktivkräfte: der Entstehung von Ackerbau und Viehzucht".2) Wenn das Wort "Revolution", die Umkehrung aller Verhältnisse innerhalb kürzester Zeit, jemals angemessen war, dann damals: Die Art und Weise der Aneignung des Lebens änderte sich grundlegend, die Wahrscheinlichkeit des Verhungerns nahm massiv ab, die Bevölkerung vermehrte sich über einige Jahrhunderte sprunghaft, Kulturen entstanden und mit ihnen Ausbeutung und Klassengesellschaft. In der gleichen Zeit hat Engels zufolge auch die Herausbildung der Gentilordnung stattgefunden, deren "erster Fortschritt der Organisation darin bestand, Eltern und Kinder vom gegenseitigen Geschlechtsverkehr auszuschließen, (...) der zweite in der Ausschließung von Schwester und Bruder". 3)

Dieser Fortschritt, diese erste demographische Revolution, trug die Menschheit in die Klassengesellschaft, hindurch durch Sklavenhalter- und Feudalformation. Beide vorindustriellen Gesellschaftsformen kamen aber über ein bestimmtes Produktionsniveau nicht hinaus und zogen insofern auch eine nicht natürlich, sondern gesellschaftlich bedingte Grenze hinsichtlich der weiteren Ausweitung der Bevölkerung, die durch diese beiden Formationen hindurch nur sehr langsam wuchs.

Die zweite demographische Revolution fällt daher nicht zufällig mit dem nächsten großen Sprung in der Produktivkraftentwicklung zusammen: dem Übergang zum Kapitalismus. Hinsichtlich der Überlebens- und Zeugungsfähigkeit der Nachkommen stellte die Gentilordnung einen, wenn man so will, großen medizinischen Fortschritt dar. Noch gewaltiger war der medizinische Fortschritt, der in seinen Anfängen noch vor der industriellen Revolution einsetzte, er senkte die Sterblichkeitsraten und führte so in den meisten Ländern Zentraleuropas zu einem stetigen Bevölkerungswachstum, ohne allerdings dort die Geburtenraten maßgeblich zu beeinflussen. 4)

In England aber ging dieser Trab in Galopp über - weil die sich dort schneller vollziehende Industrialisierung die Frage der Auswirkung der Kinderzahl auf die ökonomische Lage der Kindererzeuger auf den Kopf gestellt hatte. Vorher lebte die feudale Familie vom Bodenertrag. Eine zu große Kinderzahl minderte diesen Ertrag pro Kopf - weil er nicht beliebig auszudehnen war -, führte zur Gefahr einer Zerstückelung des Bodens und damit zur Gefahr des Verhungerns der ganzen Sippe, wenn sie zu viele Kinder in die Welt setzte. Und wer glaubt, Geburtenregelung wäre erst mit der Pille in die Welt gekommen, unterschätzt die alltägliche Pfiffigkeit unserer Vorvorfahren gewaltig.

Die Ernährung und Altersversorgung der Familien in Manchester und anderswo, die den Kapitalismus in Gang brachten, hing aber nicht mehr vom Boden ab, sondern vom Fabriklohn. Da die Webmaschinen kleine Hände und Körper brauchten, waren Kinder als Arbeitskräfte begehrt. Viele Kinder sicherten so - nach nur fünf bis zehn Durstjahren, in denen die Fabriken sie noch nicht vernutzen konnten - die Einkommenslage der Familie und darüber hinaus die karge Altersversorgung ihrer Erzeuger. Die medizinischen Möglichkeiten der damaligen Zeit sowie die industriellen Methoden der Landwirtschaft kombiniert mit der ökonomischen Peitsche des Frühkapitalismus jagten die Geburtenrate für rund hundert Jahre nach oben.

Schrumpfen: Sparta, Athen, Rom

Demjenigen, der Geschichtsbücher auf demographische Erkenntnisse hin durchwälzt, ergeht es wie einem Goldschürfer: Stunden- und tagelang gibt's nur Kieselsteine, bis endlich etwas glänzt. Aber es lohnt die Mühe dann eben doch.

Weil wir ja noch in der Vorgeschichte der Menschheit leben, sind viele Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge der frühen Vorgeschichte noch wenig erforscht. Auffallend aber ist: Der Niedergang vieler sogenannter großer überlieferter Kulturen und Reiche fällt offenbar immer mit einem Bevölkerungsrückgang zusammen. Jedenfalls habe ich selbst kein Beispiel gefunden, wo ein schnell wachsendes Reich oder eine schnell wachsende Gesellschaftsformation in dieser Phase untergeht. Häufig ist es so, dass sich noch vor dem Ende einer Kultur bzw. eines Staates Hinweise auf einen Rückgang der Bevölkerung finden. Dazu drei Beispiele.

Sparta, im 5. Jahrhundert v. u. Z. eine beherrschende Macht des Mittelmeers und einer der wenigen Staaten aus der damaligen Zeit, die eine Bevölkerungsstatistik führten, dankte nach der Zeit der Persischen Kriege ab mit einem der ältesten überlieferten Zeugnisse des Bevölkerungsniedergangs: "Am Ende der Persischen Kriege (479 v. u. Z.) gab es ungefähr 8000 Sparta-Vollbürger. Die Zahl fiel in den folgenden Jahrzehnten dramatisch ab, wahrscheinlich durch die fortgesetzten Kriege und die Erdbeben von 465/464 v. u. Z. Während der Schlacht von Leuctra (371 v. u. Z.) scheint die Zahl der männlichen Bürger Spartas auf rund 1500 gesunken zu sein." 5)

Über Rom gibt es ganze Serien von Aufsätzen über den Bevölkerungsrückgang, der bereits lange vor dem Zusammenbruch des Römischen Reiches einsetzte: "Es ist erwiesen, dass das Römische Reich im Jahr 235 deutliche Zeichen einer Verarmung aufwies - nicht nur an materiellen Reserven, sondern auch an Menschen." 6) - Wobei unter Historikern offenbar die Debatte andauert, was da Huhn und was Ei ist, ob also der Menschenmangel Ursache des Untergangs oder der beginnende Niedergang Ursache des Bevölkerungsrückgangs war. Einerlei, unbestritten ist offenbar: Niedergang und Bevölkerungsrückgang fallen zeitlich in eins.

Dasselbe Bild, derselbe Streit über Ursachen und Folgen auch in unserer Geschichte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, also im Feudalismus gut hundert Jahre vor seinem Abdanken gegenüber dem beginnenden Kapitalismus, betrug der Bevölkerungsrückgang in Deutschland je nach Region zwischen fünf und 70 Prozent, gemessen an der Kopfzahl des Jahres 1600. Übrigens: Am massivsten war der Rückgang in den noch im 16. Jahrhundert prosperienden Regionen in der Pfalz und in Mecklenburg-Vorpommern. Insbesondere die Ostseeregion, einer der vormals blühendsten Landstriche Deutschlands, hat sich, bis heute nicht von diesem Aderlass erholt. Natürlich hat dieser massive Rückgang mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tun. Aber vermutlich nicht nur. Die Jahrzehnte davor und danach sind ebenfalls von wirtschaftlicher Stagnation und dumpfer Stimmung gekennzeichnet. 7)

Ist es nicht ein bisschen schrill, unseren heutigen Geburtenrückgang mit diesen Niedergangserscheinungen in eine Reihe zu stellen? Besteht nicht ein Riesenunterschied zwischen dem Elend ausgepresster römischer Sklaven oder Harzer Bauern und dem heutigen Leben edel gekleideter, zweimal im Jahr verreisender DINKs (Double Income, No Kids)? Gemach - wer Kinder hat, weiß, dass sie lieber zweiter Klasse drei Wochen mit ihren Eltern in den Solling fahren, als einen Zehntagesurlaub mit handy- und laptopbestücktem Vater auf Teneriffa zu erleiden.

Für die Frage der Reproduktionskraft einer Kultur ist entscheidend, ob die Schaffung neuen Lebens mit der Gestaltung des vorhandenen in Widerspruch gerät oder nicht. In beiden demographischen Revolutionen wiesen beide Hauptaspekte des Lebens - Erhalt des eigenen und Schaffung neuen Lebens - in dieselbe Richtung. Anders als die Jagd braucht der Ackerbau beständige Menschenkraft. Eine Sippe mit vielen Kindern ist als jagende Nomadengruppe auf der riskanten Seite, ein Hirten- und Ackerbaustamm aber braucht (bis zu einer bestimmten Grenze) möglichst viele neue Hände. Und, wie wir gesehen haben, mag das Leben kinderreicher Familien im Manchester von 1850 schwer gewesen sein. Aber die, die Kinder hatten, hatten Hoffnung. Die, die keine hatten, hatten im Alter (also ab 40) den schnellen Tod vor Augen.

Während also im Frühkapitalismus Lebenserhalt und Lebensproduktion sich ökonomisch bedingten, stehen sie heute im Widerspruch. Deshalb ist das eben Spätkapitalismus und deshalb geht er gerade in die Binsen, auch wenn er sich dafür vielleicht noch ein paar Jahrzehnte Zeit lässt.

Verfassung gegen Kinder

Beschrieben hat das kürzlich jemand, dem wir alles unterstellen können, nur nicht, ein Marxist oder auch nur ein Linker zu sein: der bereits erwähnte, von den Versicherungsunternehmern zum Kronzeugen ihrer Lebensversicherungsverkaufskampagnen gemachte Professor Birg aus Bielefeld. Auf der Suche nach den Gründen der von ihm penibel ausgerechneten, für die nahe Zukunft praktisch unvermeidbaren Entvölkerung Deutschlands schreibt er etwas, das ein längeres Zitat lohnt:

"Gesellschaften, in denen das konkurrenzorientierte Handlungsprinzip alle anderen Prinzipien in den Hintergrund drängt, (...) nehmen es nicht nur hin, sondern sie fördern es, dass die Gesetze der Arbeitswelt die übrigen Lebensbereiche dominieren. Die Überordnung des Ziels der Maximierung des Wohlstands über alle anderen Zwecke, dem sich in unserer Demokratie alle politischen Parteien verpflichtet haben, bedeutet, dass das Ziel der maximalen Produktivitätssteigerung mit dem Mittel der permanenten Umstrukturierung der Volkswirtschaft innerhalb des marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens Vorrang hat, wobei die sich daraus ergebenden Folgen für die Entwicklung der Familien in Kauf genommen werden. Die sich aus der fortwährenden Umstrukturierung ergebende Dynamik wirkt sich auf den Arbeitsmärkten in ständigen Arbeitsplatzumbesetzungen aus. So wird z.B. in Deutschland pro Jahr jeder vierte Arbeitsplatz durch zwischenbetrieblichen Arbeitsplatzwechsel neu besetzt. Bei der millionenfachen neuen Zuordnung von Arbeitskräften zu Arbeitsplätzen, die in der Hochkonjunktur stets besonders intensiv ist, verlangt das konkurrenzorientierte Handlungsprinzip (...) von den Arbeitskräften biographische Anpassungsleistungen in Form von Tätigkeitswechseln, Ortswechseln und Berufswechseln, die oft nur erbracht werden können, wenn geplante Partnerbindungen, Eheschließungen und Kindgeburten aufgeschoben oder die entsprechenden Lebensziele gar nicht erst angestrebt werden. Die wirtschaftlichen Tugenden der Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Mobilität, auf denen unser wirtschaftlicher Wohlstand beruht, stehen den für die Gründung von Familien wichtigen Tugenden und den Zielen der biographischen Planungssicherheit und Voraussicht diametral entgegen, weil sie langfristige Bindung an Menschen erschweren und die Übernahme einer meist lebenslangen Verantwortung für den Lebenspartner und für Kinder oft ganz ausschließen.

Zur Sicherung des für die volkswirtschaftliche Produktivitätssteigerung unabdingbaren, permanenten Strukturwandels haben sich die Bundesrepublik Deutschland und nach ihrem Vorbild auch die übrigen Staaten der Europäischen Union eine Art zweite Verfassung gegeben - das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen -, das die eigentliche Magna Charta der modernen Wirtschaftsgesellschaft bildet. Das Gesetz ist seiner Zielsetzung nach primär gegen Wettbewerbsbeschränkungen gerichtet und hat eine segensreiche Wirkung, aber wegen seiner Nebenwirkungen könnte es auch als eine Art Antifamiliengesetz bezeichnet werden, gegen dessen destruktive Auswirkungen mit den gesetzgeberischen Maßnahmen der Familienpolitik nicht viel auszurichten ist." 8)

Immer tiefer ins demographische Loch

Wer im Loch sitzt, sagt ein englisches Sprichwort, sollte wenigstens aufhören, zu graben. Aber in einer Zeit, die auch noch stolz darauf ist, immer schnelllebiger zu sein, gelten alte Weisheiten immer weniger. Für diese Missachtung rächen sie sich.

Die Krise hat die Hirne der Herrschenden inzwischen erreicht - das beweisen die immer schriller werdenden Rentendebatten. Das hat die gute Seite, dass von diesem 25-Millionen-Völkchen, das Deutschland vermutlich Ende dieses Jahrhunderts noch ist, wohl keine wirkliche Gefahr mehr für die Welt ausgehen wird. Die da oben wissen, dass ihnen die Grundlage ihrer Kraft - wir hier unten - schwindet. Weil sie aber nichts Grundlegendes ändern wollen, suchen sie vor allem zwei Auswege: Expansion und Intensivierung.

Zuwanderung hilft nur kurzzeitig

Da der Expansionsversuch durch Armeen nach Versuch I im Jahre 1914ff und Versuch II im Jahre 1939ff ziemlich daneben gegangen ist, sollen jetzt die nötigen Arbeitskräfte systematisch ins Land gesaugt werden. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, im Handesblatt: "Neue Ansätze brauchen wir auch bei der Zuwanderung. Hier müssen wir wegkommen vom statischen Denken. Wer Zuwanderung mit kurzsichtigem Blick auf die aktuellen Arbeitslosenzahlen zum Tabu erklärt, versagt vor der Zukunft. Auf die Zeit zunehmender Arbeitskräfteknappheit müssen wir uns jetzt vorbereiten. Dazu gehört, dass sich Deutschland um jene Regionen kümmert, aus denen künftig Arbeitskräfte zuwandern könnten. Das sind - anders als die aufgeregte Debatte im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung vermuten lässt - nicht Polen, Tschechien oder andere mittelosteuropäischen Staaten, die selbst zu wenige Kinder haben. Sondern es geht um die bevölkerungsreichen Nachbarregionen Europas, um Nordafrika und den Nahen Osten. Warum senden wir nicht schon heute Lehrer dorthin, um potentiellen Zuwanderern von morgen, also jungen Menschen dort, unsere Sprache und unsere Kultur näher zu bringen?" (Handelsblatt, 14.8.02) Pech für den Chefvolkswirt, dass seine amerikanische Freunde gerade dabei sind, diese arabische Arbeitskräftereserve deutschen Kapitals gründlich zu verbrennen.

Gegen diese Variante sprechen weitere gewichtige Gründe. Der Bielefelder Demographieprofessor Herwig Birg weist in seinen Untersuchungen gründlich belegt darauf hin, dass die Anwerbung junger Arbeitskräfte aus dem Ausland statistisch wenig am deutschen Alterungsdilemma ändert. Denn zum einen werden überwiegend keine Babys, sondern bereits 20- bis 30jährige geworben, die - das zeigen die Erfahrungen mit türkischen Arbeitskräften - nach ihrer Arbeitsphase weitgehend im neuen Land bleiben und, so sagt die Statistik, im Schnitt sogar älter werden als ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen. Vor allem gleichen sich die Zugewanderten in ihrem Reproduktionsverhalten zügig an die hiesigen Bedingungen an, zeugen also selbst nur eine Generation lang mehr Kinder als die Alteingesessenen. Resümee: "Die demographische Alterung ist bis zur Jahrhundertmitte infolge des eingetretenen Geburtenrückgangs im vorangegangenen Jahrhundert, der in den nächsten Jahrzehnten unausweichlich weitere Geburtenrückgänge nach sich ziehen wird, weder mit Familienpolitik noch durch die Einwanderung Jüngerer aus dem Ausland zu verhindern. Die demographische Alterung der Gesellschaft kann bis 2050 durch demographische Maßnahmen nur noch gemildert, aber nicht mehr aufgehalten werden." 9)

Schließlich ist es eine Milchmädchenrechnung des Chefvolkswirts zu glauben, mit Roh-Arbeitskräften sei es getan. Je höherentwickelt eine Gesellschaft ist, desto mehr Zeit und Geld muss in die nachwachsenden Generationen zunächst investiert werden, bevor sie in der Lage sind, den überkommenen Produktionsapparat zu übernehmen und weiterzuentwickeln. Die Produktivität hat eben die Schattenseite, dass eine relativ immer größere Zahl von Arbeitsplätzen nicht nur die souveräne Beherrschung der heimischen Sprache, sondern auch grundlegende wissenschaftliche Fertigkeiten verlangt, die eine immer längere Schul- und Ausbildungszeit erfordern. Dies ist - neben und vor Fremdenfeindlichkeit - der rationale Kern, warum Arbeitslosenquoten in allen kapitalistischen Ländern bei Eingewanderten immer deutlich höher liegen als bei Einheimischen. Integration kostet einen Haufen Geld und Zeit.

Und schließlich: Der erfolgreiche Kapitalexport vor allem der letzten fünf Jahrzehnte hat eben auch das Konkurrenzprinzip in allen Winkeln der Erde zur Magna Charta sozialer Strukturen werden lassen und die Geburtenrate rund um den Globus nach unten gedrückt. Sie lag im Zeitraum 1995 bis 2000 im Weltdurchschnitt schon bei 2,82 Kindern pro Frau und wird nach Trendberechnungen der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen innerhalb der nächsten vier Jahrzehnte weltweit unter den Schnitt von 2,1 sinken, bei dem langfristig die Bevölkerung einer Gesellschaft stabil bleibt. Bevor der Kapitalismus also die ökologische Basis seiner Existenz untergräbt, bringt er seine andere Hauptquelle, die menschliche Arbeitskraft, zum Versiegen.

Bleibt nur die Intensivierung?

Bleibt also nur die Intensivierung, die noch effektivere Ausbeutung der vorhandenen qualifizierten Arbeitskräfte. Als Traditionsreste vergangener Kämpfe gibt es nach wie vor einige Schutzzäune um die menschliche Arbeitskraft, beispielsweise das Verbot, mehr als zehn Stunden am Tag zu arbeiten, festgelegt im Arbeitszeitgesetz. Aber kaum ein Gesetz wird in Deutschland mehr verletzt als dieses. Der Ruf nach Flexibilisierung der Arbeit, dem jetzt Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement folgen will, wird tatsächlich die Verfügbarkeit jüngerer, gut ausgebildeter Kräfte weiter steigern. Damit wird der oben skizzierte Widerspruch zu den Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um die Ruhe zu schaffen, in der Kinder nur entstehen und gedeihen können, sich weiter verschärfen. Also werden in naher Zukunft nicht nur 30, sondern vielleicht 40 Prozent aller Frauen kinderlos bleiben, weil sie entweder zu Recht keine Lust haben, ewig zwischen fordernder Firma und fordernden Kinder zerrieben zu werden oder weil sie keinen Mann finden, der in der Lage ist, mit einem auf lange Arbeitstage und Samstagarbeit drängenden Chef im Nacken auch noch Familienlasten zu übernehmen. Und je intensiver die Arbeitslast wird, desto weniger Kinder gibt's.

Verschärft wird dieser Arbeitsdruck durch den schon angelaufenen Umbau der Altenversorgung. Sie wird seit Riester vom Umlageverfahren auf Kapitaldeckung umgestellt, dadurch jedoch weder sicherer noch besser. Darauf deutet praktisch die Enron-Affäre hin, und theoretisch wurde dies hinreichend und quasi offiziell dargelegt von der Weltbankkonferenz im September 1999, die mit den "Mythen über die sozialen Sicherungssysteme" aufgeräumt hat.

Wer aber seine Altersversorgung nicht mehr - privat oder gesellschaftlich organisiert - durch Jüngere gewährleistet weiß, sondern darauf verwiesen wird, dass er selbst in seiner aktiven Phase so viel Kapital aufhäufen muss, dass damit, höhere Produktivität vorausgesetzt, auch mit geringem Arbeitseinsatz der dann wenigen Jüngeren seine eigene Versorgung im Alter gewährleistet werden kann, muss natürlich erheblich intensiver und angestrengter arbeiten als derjenige, der weiß, dass ihn seine oder andere Kinder später versorgen werden. Der politisch schon beschlossene Aufbau eines riesigen Kapitalstocks für die Versorgung der jetzt Heranwachsenden wird diese also noch stärker als je zuvor in die Knochenmühle der Konkurrenzwirtschaft treiben - woher da noch die Zeit für Familie und Kinder kommen soll, weiß inzwischen nicht einmal der Papst.

Demographische Konterrevolution

Die ökonomischen Folgen dieses Prozesses können noch eine Weile kompensiert werden. Wenn die Produktivität schneller wächst als die Bevölkerung schrumpft, bleibt der Lebensstandard rechnerisch erhalten. Aber bei schrumpfender - und das heißt eben auch alternder - Gesellschaft wird die Produktivität nicht dauerhaft wachsen. Kunio Nakamura, Chef der Matsushita Electric, hat wohl recht, wenn er mutmaßt: "Der wichtigste Grund für die Krise in Japan ist die älter werdende Gesellschaft mit weniger Kindern." (Handelsblatt, 4.11.02) Weniger Kinder bedeuten nicht nur weniger Nachfrage. Sie bedeuten auch weniger Produktivitätszuwachs. In der Geschichtswissenschaft oder der Philosophie können die besten Leistungen - wie die Linken Hans Heinz Holz oder Kurt Pätzold ja beweisen - noch in den 70ern abgeliefert werden. Aber die Durchbrüche im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich sind fast ausnahmslos von Gehirnen erarbeitet worden, die zwanzig oder dreißig Jahre alt waren. Nichts spricht dafür, dass sich das in naher Zukunft ändert. Also ist es kein Zufall, dass die Gesellschaften, die dauerhaft die weltweit niedrigsten Geburtenraten haben - Japan, Italien, Deutschland - auch diejenigen sind, die auf den Kurs ökonomischer Dauerstagnation einschwenken.

Sie werden auf Sicht ausdünnen und verarmen. Das Ausdünnen wird, darauf deuten die japanischen Erfahrungen hin, nicht gleichmäßig geschehen, sondern zum Zusammenbruch der Versorgungsstruktur in einigen Landstrichen führen, die sich dann komplett entvölkern, wodurch die dort lebenden Menschen - meist Alte - gezwungen werden, bei Strafe des frühen Todes in die Zentren zu ziehen, die an Zahl eine Weile lang sogar noch zunehmen werden. Also wird sich auch Deutschland auf der Fläche, beginnend in MeckPom, Wendland, Bayrischem Wald und anderswo ausdünnen, während die Alten sich mit den Jungen in Berlin, Hamburg und München weiter um Wohnraum balgen.

Alles sieht danach aus, dass unsere Gesellschaft nach zwei demographischen Revolutionen nunmehr in der Sackgasse einer demographischen Konterrevolution steckt. Es wäre tröstlich, wenn das ein deutsches oder auch nur europäisches Problem wäre. Aber es ist, so sagen die Zahlen, ein zunehmend globales Problem, eine heraufziehende demographische Krise auf dem ganzen Erdball.

Gegen diesen Trend wird es Versuche der modernen Alchimisten geben, die mit dem "Projekt Unsterblichkeit" versuchen, gegen Natur und Wissenschaft anzuforschen: "Warum aber das Leben zwangsläufig endlich ist, weiß die Forschung immer noch nicht. Sind Leben und Tod doch so untrennbar verwoben, dass der Kampf gegen den Verfall nur zu einem Pyrrhussieg führen kann? Keineswegs, lautet die hoffnungsfrohe Antwort der Altersforscher, die Evolution verlange gar nicht, dass wir sterben..." 10)

Solche bizarren Vorschläge mal außen vor gelassen, zeigt ein Blick zurück in untergegangene Gesellschaftsformationen, dass im Nachhinein die Lösung der scheinbaren Ausweglosigkeit meist verblüffend einfach ist. Die Sklavenhaltergesellschaft hatte sich verrannt in Strukturen, in denen diejenigen, die die Arbeitslast trugen, erst eingefangen und zu sprechendem Vieh gemacht wurden, dann aber selbst keine Kinder mehr hervorbrachten und so zu immer ausgedehnteren Menschenjagden zwangen. Als diese Expansionsquelle Roms nach der Eroberung Englands in der Stille des Atlantik, nach der Beherrschung der afrikanischen Küste in den Wüsten Afrikas und im Norden in den weitgehend leeren Wäldern Germaniens verebbte, zerfaulte dieses System, weil es seine eigenen Grundlagen untergraben hatte, wurde ersetzt durch ein System, dem das Eigentum eines Menschen an einem anderen Menschen systemfremd war.

Und so selbstverständlich wie uns heute im Kapitalismus die doppelte Freiheit der Menschen ist - frei von Produktionsmitteln (außer ein paar Fabrikbesitzern), frei aber auch in der eigenen Bewegung dorthin, wo Arbeit ist - so unvorstellbar war dieser Gedanke einer Freiheit von Scholle und eigenen Werkzeugen für die feudale Gesellschaft.

Sozialismus oder Barbarei

Ähnlich unvorstellbar wird es der kommenden Gesellschaft, die wieder wächst und dann - in der dritten demographischen Revolution - die Geburtenrate stabil bei 2,1 Menschen pro Menschenpaar hält, sein, dass die Menschen in der Schlussphase des Kapitalismus die beste Zeit ihres Lebens, die einzige, in der der Mensch fruchtbar ist - zwischen 15 und 45 - dafür verplempert haben, tonnenschwere Energieumwandlungsmaschinen auf vier Rädern zu bauen und darin, piepende Sprechapparate am Ohr durch die Gegend zu rasen, statt sich in dieser Blütezeit ihrer Jahre dem wichtigsten und wertvollsten zu widmen, das es für jedes Lebewesen gibt: dem neuen Leben.

Eine solche Gesellschaft kann aber in ihrem Zentrum nicht mehr das haben, was Birg Konkurrenzprinzip und die Marxisten auf der ganzen Welt Profitprinzip nennen. Ohne dieses Profitprinzip ist alles puppeneinfach. Es wird ein "Lebensphasenmodell" geben, in dem jede und jeder, die und der es möchte, in der Zeit, in der Menschen Kinder bekommen können, bei voller Gewährleistung eines würdigen und voll in die Gesellschaft integrierten Lebens gänzlich von jeder Arbeitspflicht freigestellt werden - wobei das dann bestehende Netz von Kindereinrichtungen es jedem ermöglichen wird, sich dort, wo es passt, ohne schlechtes Gewissen den Kindern gegenüber an Arbeit und Kultur zu beteiligen. Da die Lebenserwartung deutlich länger und die Arbeit selbst deutlich weniger hektisch wird, weil sie nicht mehr profitorientiert ist, funktioniert das auch deshalb, weil dann eben Menschen nach den 15 bis 20 Jahren, die sie vor allem ihren Kindern widmen, weitere zwei Jahrzehnte mitarbeiten können, ohne die Angst zu haben, als altes Eisen aussortiert zu werden.

Dass so etwas geht, hat in Ansätzen die Vorform dieser künftigen Gesellschaft schon bewiesen. Als in Westdeutschland der Anteil der zeitlebens kinderlos bleibenden Frauen, der für den Jahrgang 1940 bei 10,6 Prozent gelegen hatte, bis zum Jahrgang 1955 auf 21,9 Prozent gestiegen war, war er in der DDR für den gleichen Geburtsjahrgang auf sieben Prozent gesunken. Das waren die Geburtsjahrgänge, die voll in den Genuss der verschiedenen Maßnahmen der DDR-Familienpolitik gekommen waren - bevor auch sie bei den Versuchen, in der Produktion auf Westniveau zu kommen, nach und nach abgebaut wurden und sich folglich die Zahl der kinderlos gebliebenen Frauen mit einer gewissen Verzögerung ebenfalls an das Westniveau annäherte. Aus diesen vier Jahrzehnten des ersten, rohen Sozialismusversuches ist die Erkenntnis geblieben, dass es für heutige Gesellschaften möglich ist, den Rhythmus der Wirtschaft dem Rhythmus des Lebens anzupassen statt umgekehrt.

Scheitert ein neuer Durchbruch zu einer sozialistischen Gesellschaft, die das Reproduktionsproblem löst, wird es dennoch wahrscheinlich nicht zu einem stillen Wegsterben der Menschheit kommen. Den letzten, der das Licht ausmacht, wird es nicht geben.

Menschliche Geschichte lief die letzten 10 000 Jahre häufig nach dem Muster "Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück". Nach Rom kam lange Zeit Zerfall, bevor der Feudalismus blühte. Die Zeit vor der kapitalistischen Blüte in Deutschland war ein zweihundert Jahre langer dumpfer Winter von 1648 bis 1848. Der Kapitalismus von heute ist zwar ein Weltsystem, aber kein einheitliches. In den USA wächst die kapitalistische Gesellschaft auch in der heutigen Zeit. Das gelingt zum einen, weil ihre Macht stärker als die Europas oder gar Japans Arbeitskräfte von außen ins Land saugt. Aber auch ihre Einheimischen haben höhere Geburtenraten als die hierzulande oder unter der Sonne Nippons. Dies hat, den Zahlen nach zu urteilen, mit der Religiosität zu tun, die - so ist zu vermuten - der vollen Durchsetzung des Konkurrenzprinzips im Alltagsleben eine Bremse setzt. Die selben Teile des weißen und auch schwarzen Amerika, in denen die Kirche besonders stark ist, zeigen auch stärkere Geburtenraten. Es gibt also innerhalb des kapitalistischen Systems durchaus Spielräume zur Steigerung der Geburtenrate. Aber es sind Spielräume ganz rechts: Das fruchtbare einheimische Amerika ist das Amerika der fanatischen Segnung von Waffen, die zum Irak geschickt werden, das Amerika, in denen Darwins Lehre an den Schulen nicht unterrichtet wird, weil sie der Bibel widerspricht, das Amerika, in denen der Mann arbeitet und die Frau sich um die Kinder kümmert und das Amerika, in denen trotz Bundesgerichtsurteil Frauen, die abtreiben, verfolgt und verfemt sind. Wenn die Diskussionen um das "alte Europa" schriller werden, wird dieser Leuchtturm der Reaktion in allen Lebensbereichen noch mehr blenden.

Das Demographieproblem ist kein Problem für Spinner oder Träumer. Ohne Veränderung der jetzigen Strukturen dieser Gesellschaft führt es mit mathematischer Sicherheit in gesellschaftliches Siechtum. Es öffnet gleichzeitig in aller Schärfe zwei Türen: Eine zurück in einen reaktionär-religiösen Kapitalismus und eine nach vorn für einen zweiten großen Anlauf zum Sozialismus, der Leben und Arbeit vereinbar macht.

Literatur

  1. Ausführlicher ist dieser Zusammenhang von Frauenemanzipation und Kinderlosigkeit dargelegt in einer dreiteiligen Serie in der jW vom 8. bis 11. Juni 2001 

  2. A.G. Visnevskij: Die demographische Revolution. In: Demographie - Einführung in die marxistische Bevölkerungswissenschaft, Frankfurt/M. 1980, S. 41 

  3. Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 44 

  4. detaillierte Zahlen dazu in Visnevskij, a. a. O., S. 49 

  5. Lesly Adkins und Roy A. Adkins: Ancient Greece: A Handbook, Gloucestershire 1998, S. 29 

  6. A. E. R. Boak: Manpower Shortage and the Fall of the Roman Empire, hier zitiert nach Karl Christ (Hg.): Der Untergang des Römischen Reiches, Darmstadt 1970 

  7. Jürgen Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Band 2, Köln 1981, S. 59 

  8. Herwig Birg: Die demographische Zeitenwende - Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München 2001, S. 57f 

  9. Herwig Birg: Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. München 2001, S. 183 

  10. Ulrich Bahnsen, Das Projekt Unsterblichkeit, Die Zeit, 23. Januar 2003, S. 23

Junge Welt 17. und 18.02.03

Inhaltsverzeichnis

Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung in den alten und neuen Bundesländern

Die vier Grafiken sind entnommen aus: Herwig Birg "Auswirkungen und Kosten der Zuwanderung", Gutachten im Auftrag des Bayrischen Staatsministerium des Inneren von Dezember 2001, Seite 45 

Inhaltsverzeichnis 

 

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