Das Thema Gewalt wird allerorts
diskutiert, von den Parlamenten bis in private Runden. Gewalt wird von
Kriminologen, Psychologen und Soziologen untersucht. Zwei Fragen stehen im
Mittelpunkt. Erstens: »Wo kommt sie her?«; zweitens: »Wie kann sie verhindert
werden?« Aber die Frage, »Wessen Gewalt ist gemeint?«, wird selten reflektiert.
Es müsste doch auffallen, dass es sich um die Gewalt der Anderen handelt, die
Gewalt der Hooligans, der Serben und Kosovaren, der Hutu und Tutsi, der
Terroristen in aller Welt. Es sind doch vorwiegend andere Menschen unter anderen
Verhältnissen, die Gewalt ausüben, die man dann mit den Attributen der
Entrüstung belegt: »primitiv«, »roh«, »sinnlos«. Die Diskutierenden und
Forschenden sind über solche Taten anscheinend erhaben. Aber ist nicht
vielleicht die Gewalt der Anderen unser aller, der Menschen Gewalt? Auf diese
Frage wird selten eingegangen. Im Rückblick auf die schlimmsten Formen der
Gewalt, nach Auschwitz, formuliert Imre Kertész:
-
Wir können und wollen und
wagen es einfach nicht, uns mit der brutalen Tatsache zu
konfrontieren, dass jener Tiefpunkt der Existenz, auf den der Mensch
in unserem Jahrhundert zurückgefallen ist, nicht nur die eigenartige
und befremdliche – »unbegreifliche« – Geschichte von ein oder zwei
Generationen darstellt, sondern zugleich eine generelle Möglichkeit
des Menschen, das heißt eine in einer gegebenen Konstellation auch
unsere eigene Möglichkeit einschließende Erfahrungsnorm. (Kertész
1999, S. 21)
Wenn Kertész von einer
»generellen Möglichkeit des Menschen« spricht, verändert er den
Blickwinkel. Dann handelt es sich nicht um die Gewalt der Anderen,
sondern um Gewalt, wie sie immer unter Menschen vorkommen kann. Er
überschreitet die Barriere, die dadurch gegeben ist, dass wir uns
dagegen sperren – wie er sagt –, »uns mit der »brutalen Tatsache« der
Gewalt »zu konfrontieren«.
1. Zu René
Girard
Es ist ein Autor völlig anderer
Herkunft und Art, der die »generelle Möglichkeit«, von der Kertész
spricht, zum Thema langjähriger Untersuchungen gemacht hat, der
Verfasser der Schriften: »Das Heilige und die Gewalt« und »Ausstoßung
und Verfolgung«, René Girard, dessen Erörterungen in den Diskussionen
und Untersuchungen bis heute nicht die Berücksichtigung gefunden haben,
die sie verdienen. Dies lässt sich jedoch seinerseits gut erklären.
Zuerst seien deswegen einige Anmerkungen zum Autor gemacht, bevor sein
gesellschaftsanalytischer Beitrag zur Analyse fundamentaler sozialer
Vorgänge dargestellt wird.
Der 1923 in Avignon geborene
Girard, der in den vergangenen Jahrzehnten bis vor kurzem in
Stanford/Kalifornien gelehrt hat, gehört nicht zur Gruppe der
Wissenschaftler, die sich primär mit dem Thema Gewalt beschäftigen. Er
ist zuallererst Literaturwissenschaftler, der sich in seiner ersten
Schrift mit den bekannten Schriftstellern des 19. Jahrhunderts
beschäftigt – und in einer seiner letzen Publikationen mit Shakespeare.
Aber in diesem Fach lässt er sich schlecht einordnen: keine
stilkritischen Analysen, keine Dekonstruktion, keine Rezeptionsästhetik.
Für ihn bedeutet Literatur in erster Linie Aussagen von Menschen über
Menschen, das heißt aber, es sind Selbstauslegungen des Menschlichen.
Literatur ist für ihn gewissermaßen empirisches Material, aus dem er
herausliest, worin die conditio humana besteht beziehungsweise wie sie
beschaffen ist.
Von den Romanen des 19.
Jahrhunderts, die Gegenstand seiner ersten Untersuchungen sind, geht er
zurück in die Geschichte, nicht nur bis zu den klassischen Texten der
Griechen, sondern zu den Texten, die uns als verschriftete
Überlieferungen durch Ethnologen bekannt gemacht worden sind, den Mythen
und den mit ihnen bekannt gewordenen Riten. Es ist diese Weite des
Feldes seiner Erkundungen, die dazu geführt hat, dass er die
Arbeitsteilung der Wissenschaften überschreitet und deswegen die
Fachkundigen zu überfordern scheint. Es ist auch nicht zu übersehen, wie
ernst er sie einerseits nimmt, wie hart aber auch sein Urteil ist, wenn
sie das nicht in den Quellen erkennen, was seinem Urteil nach zu
erkennen ist.
In diesen Auseinandersetzungen
wird eines deutlich: Er liest diese Texte anders, als es üblich ist. Mag
sein, dass ihn seine erste Ausbildung an der Hochschule für Archivare
gelehrt hat, nicht nur die Texte im buchstäblichen Sinn zu entziffern,
sondern auch im übertragenen: Er liest nicht nur, was sie aussagen,
sondern er liest auch, was sie nicht aussagen, was sie unter Umständen
verschweigen. Entgegen der weit verbreiteten Tendenz, frühe Dokumente
der Menschheit so wörtlich als möglich zu nehmen und damit die Fremdheit
anderer Kulturen zu bestätigen, erlaubt sich Girard, den Sinn der
Überlieferung so zu verstehen, als könnten es auch unsere Texte sein.
Hinsichtlich der Mythen kommt dieses Verstehen einer Entschlüsselung
gleich, wie sie bei der Aufdeckung von Zusammenhängen im historisch
bekannten Zeitraum längst üblich ist. Er verweist dabei vor allem auf
den folgenden Zusammenhang:
-
Die erste
wissenschaftliche Revolution findet im Abendland etwa gleichzeitig
mit dem endgültigen Verzicht auf (die) Hexenjagd statt. … Zwischen
Wissenschaft und Ende der Hexenjagd besteht ein enger Zusammenhang …
Es geht darum, ein Entschlüsselungsverfahren auf Texte anzuwenden,
bei denen bisher niemand an eine solche Anwendung gedacht hat. …
(Girard 1992a, S. 142f.)
Das hat ihm heftigen Widerspruch
seitens der Fachwissenschaftler eingebracht, darf aber aufgrund dieses
Ansatzes nicht verwundern. Er beharrt darauf: Das Menschliche ist das
Menschliche in einem kulturübergreifenden Sinn. Und gerade deshalb sind
die Erzählungen anderer Kulturen nicht unverständlich. Die Vorstellungen
und Handlungen anderer Kulturen können keine fundamental andere
Rationalität ausdrücken als unsere eigenen. Darin besteht die
Herausforderung, der wir bei Girard begegnen.
Nun kommt noch ein drittes
Element hinzu, was die Aufnahme seiner Theorie bei einigen willkommen
macht, bei vielen anderen aber zu Ablehnung führt: Im Laufe seiner
Arbeit ist er nicht nur den Weg vom Alltäglichen – in den Romanen des
letzten Jahrhunderts – bis zum Religiösen aller Kulturen gegangen,
sondern er hat die Texte der jüdisch-christlichen Tradition in seine
Untersuchungen einbezogen und damit den üblichen Abstand zwischen den
theologischen und allen anderen Überlieferungen nicht gelten lassen. So
nimmt es nicht wunder, dass ein katholischer Theologe, Raymund Schwager,
ihn als erster im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat und seitdem
manche Theologen sich gerne in ihrem Verständnis wesentlicher Züge des
Christentums auf den Laientheologen Girard berufen. Eben dies aber macht
ihn modernen Intellektuellen verdächtig, deren Selbstverständnis von
Nietzsches »Gott ist tot« geprägt ist.
Es liegt aber noch ein anderes
Erschwernis nahe, das, was Girard zur Diskussion beitragen könnte, auf-
und ernst zu nehmen. Er breitet vor dem Leser keine große, systematisch
konstruierte Theorie aus, sondern er arbeitet am Material, wobei sich
erst allmählich herausschält, was man als seine Botschaft ansehen kann.
Dieser Weg ist mühsam, nicht nur durch die Verarbeitung einer schier
unübersehbaren Menge unterschiedlichster Texte aus unterschiedlichsten
Kulturen und Epochen, sondern auch durch die ständige Auseinandersetzung
im wissenschaftlichen Feld. Dieses Verfahren hat aber den Vorteil des
Angebots, seine Argumentation nachzuvollziehen; das kann freilich an
dieser Stelle nur hinsichtlich der wichtigsten Gedankenzüge geschehen.
2.
Alltagsgewalt, Rache und heilige Gewalt
Nun zur Sache, zu dem Thema, das
seit seiner zweiten größeren Arbeit 1972 bis zur letzten, die in Paris
erschienen ist, den roten Faden seiner Arbeiten bildet: der Gewalt.
Girard setzt nicht bei den fürchterlichen Vorgängen ein, von denen
Kertész und andere ausgehen, auch nicht bei den erschreckenden
Terrorakten der Neonazis und der gewalttätigen Fundamentalisten, deren
Taten die öffentliche Diskussion beschäftigen. Sondern er greift zuerst
zurück auf Erzählungen, wie sie vor allem von Ethnologen aufgezeichnet
sind, einerseits aus dem Bereich der Gesellschaften, die man herkömmlich
als ›primitive Gesellschaften‹ bezeichnet, ohne dass damit etwas
herabsetzendes gemeint ist, andererseits aus der Antike, deren
kulturelle Bedeutung bis in unsere Tage nicht zu leugnen ist. Das
bedeutet aber: Er stellt keine ontologische Differenz zu den jeweiligen
Kulturen und zu grundlegenden sozialen Vorgängen in den Mittelpunkt
seiner Textauslegung. Was dort gilt, könnte überall gelten. Das Problem
ist nicht die Gewalt, sondern wie Gesellschaften mit Gewalt umgehen.
Gerade das zeichnet ihn als einen soziologisch denkenden
Literaturwissenschaftler aus.
Die alltäglichen individuellen
Gewalttaten, wie sie in jeder Gesellschaft vorkommen, sind Verletzung
und Mord. Wo Gewalt am Werk ist, da fließt Blut. Aggressive Gewalt wird
von ihm nicht problematisiert. Worauf es ankommt, ist die Folge von
Gewaltakten. Sie ist überall die gleiche: die Gegengewalt als Antwort,
die Rache; Blutvergießen gegen Blutvergießen.
-
Die einzig befriedigende
Rache angesichts vergossenen Blutes besteht darin, das Blut des
Täters fließen zu lassen. Es gibt keinen eindeutigen Unterschied
zwischen dem Akt, den die Rache bestraft, und der Rache selbst.
Rache ist Vergeltung und ruft nach neuen Vergeltungsmaßnahmen.
(1992a, S. 142f.)
Das hat jedoch folgende
Konsequenz:
-
Die Rache stellt also
einen unendlichen … Prozeß dar. Wann immer sie an einem beliebigen
Punkt innerhalb der Gesellschaft auftaucht, neigt sie dazu, sich
auszubreiten und die gesamte Gesellschaft zu erfassen. Sie droht
eine wahre Kettenreaktion auszulösen … Mit der Häufung der
Vergeltungsmaßnahmen wird die Existenz der Gesellschaft insgesamt
aufs Spiel gesetzt. (Ebd.)
Wir fühlen uns in unserer Sphäre
der neuzeitlichen Gesellschaft gegen eine solche Kette der Gewalt
gefeit. Unsere Gesellschaft hat Mittel und Wege, dem Tatbestand
physischer Gewalt durch strafrechtliche Verfahren zu begegnen.
-
Das Gerichtswesen wendet
die von der Rache ausgehende Bedrohung ab. Es hebt die Rache nicht
auf; vielmehr begrenzt es sie auf eine einzige Vergeltungsmaßnahme,
die von einer auf ihrem Gebiet souveränen und kompetenten Instanz
ausgeübt wird. Die Entscheide der gerichtlichen Autorität behaupten
sich immer als das ›letzte Wort‹ der Rache. (1992, S. 29)
Wie aber kann eine Gesellschaft,
die das Gerichtswesen in unserem Sinn nicht kennt, dem Teufelskreis von
Gewalt und Rache entrinnen? Er findet die Spur nahe bei der alltäglichen
Gewalt, in einem besonderen, rituell geformten Akt: dem Opfer bzw. der
Opferung. Als erstes fällt ihm auf:
-
Die ungestillte Gewalt
sucht und findet auch immer ein Ersatzopfer. Anstatt auf jenes
Geschöpf, das die Wut des Gewalttätigen entfacht, richtet sich der
Zorn nun plötzlich auf ein anderes Geschöpf, das diesen nur deshalb
auf sich zieht, weil es verletzlich ist und sich in Reichweite
befindet. (1992, S. 11)
Von dieser menschlich
verständlichen Reaktion ist es nur ein kleiner Schritt
-
zu der Frage, ob das
Ritualopfer nicht auf einer ähnlichen Stellvertretung beruht. (Ebd.)
Man könnte Ritualopfer aus
moderner Sicht den alltäglichen Racheakten gleichsetzen. Gewalt ist doch
gleich Gewalt. Aber das wäre zu einfach. Denn gerade die
Stellvertretung, in der sich die Rache oft nicht auf einen Menschen,
sondern auf ein Tier konzentriert, bekommt im Ritualopfer einen
besonderen Sinn:
-
Die Gesellschaft bemüht
sich, eine Gewalt, die ihre eigenen, um jeden Preis zu schützenden
Mitglieder treffen könnte, auf ein relativ wertfreies,
»opferfähiges« Opfer zu wenden. (1992, S. 13)
Girard betrachtet also die
rituelle Opferung nicht aus mythologisierender Perspektive, sondern in
ihrer gesellschaftlichen Funktion:
-
Das Opfer tritt nicht an
die Stelle dieses oder jenes besonders bedrohten Individuums …,
sondern es tritt an die Stelle aller Mitglieder der Gesellschaft und
wird zugleich … von allen ihren Mitgliedern dargebracht. Das Opfer
schützt die ganze Gesellschaft vor ihrer eigenen Gewalt … In erster
Linie beansprucht das Opfer …, Zwistigkeiten und Rivalitäten,
Eifersucht und Streitigkeiten zwischen einander nahestehenden
Personen auszuräumen, es verstärkt den sozialen Zusammenhang. (1992,
S. 18f.)
Die Gewalt wird durch Gewalt
beendet. Diese muss aber eine besondere Gewalt sein, somit eine Gewalt,
die nicht in den Teufelskreis von Gewalt und Rache, von Gewalt und
Gegengewalt verstrickt ist. Der Ritus, den die Gesellschaft zur
Begrenzung der Gewalt einsetzt, ist ein religiöser Akt. An die Stelle
der alltäglichen Gewalt tritt die heilige Gewalt.
Es ist völlig ungewohnt für uns,
das Heilige nicht im Bezug auf religiöse Gefühle, auf das sogenannte
Numinose, schon gar nicht auf Wunder zu verstehen, sondern als die
Qualität eines gesellschaftlichen Prozesses. Und doch ist gerade dieses
Verständnis plausibel. Der alltägliche Gewaltakt hat einen Täter, und
die Vergeltung gilt eben diesem Täter. Ein Akt der Gewaltbegrenzung
bedarf aber eines Täters, der von der Vergeltung ausgenommen ist. Also
muss seine Tat überalltäglich begründet sein: Das ist die heilige
Gewalt. Sie ist eine Handlung des nicht-involvierten Dritten, eine
Handlung, die über den Rächenden steht.
In dieser Lesart der Berichte aus
Jahrhunderten wird das Heilige als heilige Gewalt zu einer
gesellschaftlichen Notwendigkeit. Die Menschen würden sich, so lange das
Gesetz gilt, dass Gewalt Vergeltung nach sich zieht, gegenseitig
vernichten, wenn keine heilige Gewalt dem Einhalt gebieten würde.
Gesellschaft erfährt ihren Gehalt über das Heilige – und damit, so lange
die Religion als Institution des Heiligen angesehen wird, stehen
Gesellschaft und Religion in unauflösbarer Verbindung. Mit dieser Sicht
steht Girard in der Nachfolge des französischen Soziologen Emile
Durkheim.
-
Die Gesellschaft sei eins,
behauptet Durkheim, und ihre Einheit sei zu allererst religiös … Es
geht nicht darum, das Religiöse im Sozialen aufzulösen oder das
Soziale im Religiösen zu verdünnen. Durkheim hat geahnt, dass die
Menschen für das, was sie auf der Ebene der Kultur sind, einem im
Religiösen verankerten erzieherischen Prinzip verpflichtet sind.
(1992, S. 453)
Während Durkheim Religion in
einer engen Entsprechung zu den Ordnungsvorstellungen, dem Weltbild der
Gesellschaft sieht, bindet im Unterschied dazu Girard Gesellschaft an
Religion, weniger hinsichtlich der Ordnungsvorstellungen, sondern
vielmehr hinsichtlich der gesellschaftlichen Akte: Was die Gesellschaft
durch legitimierte Vertreter vollzieht, sind überindividuelle, religiöse
Akte.
Der Vergleich zu unserer heutigen
Gesellschaft ist ohne wertenden Akzent möglich. Die staatliche Gewalt,
in der unser Rechtswesen verankert ist, gilt als legitim, als Gewalt,
die überparteilich wirkt und die damit – wie das Heilige – dem Bereich
der Vergeltung enthoben ist. In historischer Sicht lässt sich nicht
übersehen, dass die staatliche Gewalt aus der heiligen Gewalt
hervorgegangen ist. Das ist auch der Grund dafür, warum dann, wenn heute
von Gewalt die Rede ist, die staatliche Gewalt gerade nicht
berücksichtigt wird. Wenn heute normalerweise Gewalt diskutiert wird,
dann diejenige, die eben nicht als legitim angesehen werden kann.
3. Krise und
Sündenbock
Das Opfer soll die Rache beenden.
Was aber, wenn es dadurch nicht gelingt, die Rache zu bändigen? Dann ist
die Gesellschaft in ihrem Bestand gefährdet; sie gerät in die Krise. Der
Krisenzustand bringt eine andere, kollektive Form der Gewalt zutage,
einen der kollektiven Bewältigung eigenen Mechanismus. Um dessen
weitgreifende Bedeutung zu ermessen, ist zunächst das Krisenverständnis,
wie Girard es aus den Texten liest, auszuführen.
Für die Mitglieder einer
Gesellschaft ist von fundamentaler Bedeutung, dass das Zusammenleben im
Sinn von Stabilität über größere Zeiträume hinweg gesichert erscheint.
Gesellschaft ist stets arbeitsteilig und hierarchisch, vertikal und
horizontal differenziert. In ihr hat jeder seinen Platz. Solange sich
die Menschen an die Ordnung halten, ist die Gesellschaft weitgehend
stabil und vermittelt das Gefühl der Sicherheit. Wird die Ordnung aber
nicht eingehalten, dann sind Stabilität und Sicherheit gefährdet. Wenn
man als Krise all diejenigen Zustände versteht, in denen den Beteiligten
der Bestand des gemeinsamen Lebens nicht gesichert erscheint, dann tritt
neben die Gewalt die Gefährdung der Ordnung als Ursache hinzu. Ein Blick
in die Geschichte genügt, um festzustellen, dass jede Aufhebung
gesellschaftlicher Ordnung, jeder politische Umbruch von den Betroffenen
als Krise erlebt wird.
Girard findet bei Shakespeare
eine Rede des Odysseus, der die Situation der Griechen vor Troja dadurch
gefährdet sieht, dass, wie es in etwas freier Übersetzung heißt: »die
Abstände nicht eingehalten werden«, das heißt aber: dass die
Differenzen, welche die Ordnung gewährleisten, zur Unkenntlichkeit
verwischt werden. Dann, so Odysseus bei Shakespeare, verliert das Heer
seine Kraft. Man muss sich nur eine solche Entdifferenzierung in etwas
größerem Ausmaß vorstellen, um zu folgendem Schluss zu kommen:
-
Die Krise stürzt die
Menschen in eine permanente Auseinandersetzung, die sie jedes
unterscheidenden Merkmals, jeder Identität beraubt. … Nichts und
niemand wird verschont; kohärente Absichten und rationale
Aktivitäten gibt es nicht mehr. Zusammenschlüsse jeglicher Art lösen
sich auf oder werden zutiefst erschüttert, alle materiellen Werte
verkümmern. (1992, S. 80f.)
Zum ersten Krisensymptom, der
ungehemmten Gewalt, und dem zweiten, der Entdifferenzierung der Ordnung,
kommt in der alten Welt noch ein drittes hinzu. In diesen Gesellschaften
wird das Geschehen der Natur noch nicht als vom gesellschaftlichen
Geschehen grundsätzlich getrennt erlebt. Es sind vor allem beunruhigende
Naturereignisse, die nicht wie in neuzeitlichem Verständnis vorwiegend
als von Menschen unabhängig angesehen werden, wie z.B. andauernde
Unwetter, die Missernten und Hungersnot oder Seuchen zur Folge haben.
Somit wird in diesen Gesellschaften das Wohlergehen – auch das durch die
Natur garantierte – als etwas angesehen, das vom Verhalten der Menschen
abhängig sei. Es ist in der griechischen Antike die Strafe der Götter,
wenn die Pest ausbricht, und es wird als die Strafe Gottes angesehen,
wenn Hiob durch Missernte und Viehkrankheit ins Unglück gerät.
Die bis dahin anerkannte heilige
Gewalt erreicht aber nicht mehr die ›Verantwortlichen‹, lassen sich doch
in einer solchen Krise die Täter, die sie verursacht haben, nicht mehr
zur Rechenschaft ziehen. Es hilft auch nicht mehr der rituelle Akt, in
dem ein Unschuldiger als Stellvertreter des Schuldigen geopfert wird,
denn in der Folge der Entdifferenzierung verlieren auch die legitimen
Instanzen des Opferritus ihre Autorität.
Aus den großen Krisen, die uns
überliefert sind, von der Pest in Theben, die eine wichtige Stelle in
der Ödipus-Geschichte einnimmt, bis zu den grausamen Ereignissen unserer
jüngsten Zeit, wählt Girard als Beispiel seiner Analyse einen Bericht
über die mittelalterliche Judenverfolgung. Im 14. Jahrhundert berichtet
der französische Dichter Guillaume de Machaut folgendes:
-
Am Himmel stehen Zeichen.
Es hagelt Steine, und die Menschen werden von ihnen erschlagen.
Ganze Städte werden vom Blitz zerstört. In jener Stadt, in der
Guillaume wohnt … sterben viele Menschen. Einige dieser Todesfälle
werden der Bosheit der Juden und ihrer Komplizen unter den Christen
zugeschrieben. Was taten diese Leute, um der einheimischen
Bevölkerung so schwere Verluste zuzufügen? Sie vergifteten Bäche und
Trinkwasserquellen. Daraufhin setzte die himmlische Gerechtigkeit
diesen Menschen dadurch ein Ende, dass sie der Bevölkerung die
Urheber dieser Taten kundtat; in der Folge wurden alle Missetäter
massakriert. Und dennoch nahm das Sterben kein Ende … bis endlich
jener Frühlingstag anbrach, an dem Guillaume Musik in den Straßen
hörte und das Lachen von Männern und Frauen vernahm. (1992a, S. 7f.)
Dass sich solche Verfolgungen
ereignet haben, ist genugsam bekannt. Aber dass eine solche Epidemie
durch menschliches Handeln verursacht sein soll, verursacht von einem
Gift, bezüglich dessen Girard feststellt, dass das 14. Jahrhundert keine
entsprechende Substanz gekannt hat? Ganz offensichtlich übernimmt der
Dichter eine herrschende Meinung, die in der Krisenzeit die Verursacher
der Epidemie finden muss: Es ist die »immer schon« verdächtige Gruppe
der Juden.
-
Das lächerlichste Indiz,
die geringste Verdächtigung wird sich mit unglaublicher
Geschwindigkeit vom einen zum anderen verbreiten und sich beinahe
unverzüglich in einen unwiderlegbaren Beweis verwandeln. (1992, S.
121)
So sehr es auch den damals
bekannten Vernunftgründen hätte widersprechen müssen, dass diese Gruppe
über das unbekannte Gift verfügte und damit die Gewässer verseuchen
könnte: Ihre Schuld wird behauptet. Indem Guillaume die Schuldzuweisung
auf göttlichen Hinweis zurückführt, geht es nicht mehr um Vernunft,
sondern um Glaube. Er und seine Zeitgenossen glauben an die Schuld der
Juden.
-
Der feste Glauben aller
erheischt zu seiner Bestätigung nichts anderes als nur die
unwiderstehliche Einmütigkeit der eigenen Unvernunft. (Ebd.)
Was aber, so müssen wir vermuten,
hat stattgefunden? In kritischer Distanz, im Verfahren der
Entschlüsselung stellt Girard folgendes fest: Analog dem
stellvertretenden Opfer im anerkannten Ritus sucht sich die Mehrheit,
gewissermaßen naturwüchsig, ein Opfer, gegen das sich die Rache richtet.
-
Eine Gemeinschaft, die in
Gewalt verstrickt ist oder vom Unheil bedrängt wird, dem sie nicht
Herr werden kann, stürzt sich oft blindlings in die Jagd auf den
»Sündenbock«. Instinktiv wird nach einem rasch wirkenden
gewalttätigen Mittel gegen die unerträgliche Gewalt gesucht. Die
Menschen wollen sich davon überzeugen, dass ihr Unglück von einem
einzigen Verantwortlichen kommt, dessen man sich leicht entledigen
kann. (Ebd.)
Wer ist dieses Opfer? Es ist
immer eine Minderheit.
-
Ethnische und religiöse
Minderheiten neigen dazu, die Mehrheiten gegen sich zu polarisieren.
Es handelt sich um ein Kriterium der Opferselektion, das zwar in
jeder Gesellschaft verschieden ausgeprägt, im Prinzip jedoch
kulturübergreifend ist. (1992, S. 30)
Diesen Vorgang, den Girard im
Vergleich des Berichtes aus dem Mittelalter mit vielen anderen
historischen und mythologischen Vorgängen als universalen Mechanismus
charakterisiert, faßt er unter dem Typus des ›Sündenbock‹ zusammen.
Diese Kennzeichnung ist uns aus weniger dramatischen, alltäglichen
Vorfällen in unserer eigenen Gesellschaft geläufig; sie stammt aus der
Erzählung des Alten Testaments, die in einem rituellen Vorgang die
unerkannten Sünden der jüdischen Stämme symbolisch auf einen Bock lädt
und diesen in die Wüste schickt.
Die Struktur dieses Vorgangs ist
einfach: Erstens gibt es etwas Beunruhigendes, ein Unheil, eine Krise,
für die ein Verantwortlicher nicht zu finden ist. Zweitens wird ein
Mensch oder eine Gruppe gefunden, dem oder der man die Schuld zuweist in
dem Glauben, sie seien die Schuldigen, ohne dass dies aber einer
gründlichen Prüfung standhalten würde. Drittens werden die so zum Opfer
gemachten verfolgt und vernichtet. Und viertens: Daran anschließend
tritt nicht nur wieder Friede ein, der Frühling und das Lachen und
Singen, die Guillaume de Machaut am Ende erwähnt, sondern, was noch
wichtiger ist: Die Gesellschaft, so vom vermeintlichen Urheber der Krise
befreit, ist in ihrem Bestand gestärkt. Im Rückblick auf die einfache
Gewaltbegrenzung durch die religiös legitimierte Gewalt wird deutlich:
Ebenso wie der Vollstrecker der religiösen Gewalt der Vergeltung
enthoben ist, da er ja im Namen des Heiligen handelt, ist die Mehrheit,
die eine Minderheit verfolgt, der Vergeltung enthoben. Was alle getan
haben, hat keiner getan. Und ebenso wie bei allen Gewaltakten das
Heilige dem Profanen sehr nahe ist, rückt der Sündenbock-Mechanismus das
Kollektiv in die Nähe des Heiligen.
4. Die
Gründungsgewalt
Während das Verhältnis des
Heiligen zur Gewalt auch für heutiges Denken plausibel ist, wenn man an
die Stelle des Heiligen die übergeordnete Gewalt, das Dritte setzt, und
der Sündenbock-Mechanismus in seiner Grundstruktur ohne große Mühe
verständlich gemacht werden kann, tritt nun bei Girard ein dritter
Komplex im Verhältnis des Heiligen zur Gewalt auf, der zwar auch eine
Logik hat, der aber unserem Denken und Lebensgefühl fremd ist. Es ist
die ›Gründungsgewalt‹.
Was sich in den verschiedenen
rituellen Sündenbock-Inszenierungen andeutet, denen hier im einzelnen
nicht nachgegangen werden kann, geht in vielen mythischen Erzählungen
bis in die Anfänge. Es handelt sich um Antworten auf die Frage, wie denn
die bestehende Ordnung entstanden ist. Ob von Göttern erzählt wird oder
von Menschen: Es sind Gewaltakte, Morde, die am Anfang der jetzt
geltenden Ordnung stehen. Sigmund Freud hatte in »Totem und Tabu« die
umstrittene These vom Vatermord aufgestellt. Für Girard ist dies weniger
wahrscheinlich als ein Brudermord, wie ihn das Alte Testament von Kain
und Abel erzählt und wie es die römische Sage von Romulus und Remus
berichtet. Während Kains Tat zwar eine Schuld bleibt, dieser aber von
Gott vor Racheakten geschützt wird, wird der Mord an Remus
gerechtfertigt. Dieser Rechtfertigungsspur folgt Girard durch viele
Mythen und entdeckt dabei eine verbreitete Argumentationsform. Indem
eine Geschichte erzählt wird, wird nicht das erzählt, was sich wirklich
abgespielt hat, sondern Schuldzuweisung als Rechtfertigung bekommt die
Bedeutung der Verharmlosung. Etwas, was sonst als Verbrechen gilt, wird
zur Heldentat umbenannt. Oder es findet ein entlastendes
Ablenkungsmanöver statt, indem die Ursache für ein Geschehen woanders
gesucht wird als dort, wo sie gesucht werden müsste. Die Nachfahren
sollen nicht wissen, was eigentlich geschehen ist. Die bestehende
Ordnung, die bestehenden Rituale und Sitten bekommen auf diese Weise
das, was wir Legitimation nennen: Sie werden unantastbar.
Für den heutigen Menschen ist die
These des Gründungsmordes, der Gründungsgewalt nicht so leicht
nachzuvollziehen oder gar zu akzeptieren. Die Annahme »Keine stabile
Gesellschaft ohne Mord?« muss naheliegenderweise ›von uns‹ abgewehrt
werden. Aber gibt es andere plausible Erklärungen des Anfangs
gesellschaftlicher Ordnung? Die heutigen sozialwissenschaftlichen
Theorien spielen z.B. mit dem aus den Naturwissenschaften geborgten
Modell der Chaostheorie. Sie mag für die Natur gelten, wie es auch die
Bibel andeutet: Erst war das Tohuwabohu, die undifferenzierte Materie,
die dann vom Schöpfer gestaltet wurde. Ist aber die Erklärung von
gesellschaftlicher Systembildung als ein gewissermaßen friedlicher
Wachstumsprozess aus einem Undifferenzierten heraus eine plausible
Annahme? Girard entgeht einer solchen Verharmlosung. Mit ihm kann man
einerseits akzeptieren, dass vor der legitimen Ordnung ein chaotischer
Zustand herrscht, aber der Übergang gestaltet sich, wenn man die Mythen
und Riten gelten lässt, gewaltsam. Das bedeutet nicht Rechtfertigung der
Gewalt, aber Einsicht in das Schicksal, dem die Menschen nicht entkommen
sind.
5. Die biblische
Wende
Es bleibt also die Frage: Wie
gelingt es Girard, die Tatsache der Gewalt, mit der sich in der
Gründungsgewalt erst Gesellschaft konstituiert und im
Sündenbock-Mechanismus fortlaufend rekonstituiert, offen zu legen, ohne
dass damit einer heutigen Rechtfertigung von Verfolgung und Gewalt die
Tore geöffnet werden? Girard entdeckt in den Schriften des Alten und
besonders des Neuen Testaments etwas, das die anderen Quellen nicht
zeigen. Es taucht nämlich eine Sicht auf, mit der die sonst gültige
Schuldverstrickung und Schuldzuweisung, die unumgängliche Opferung zur
Behebung der Krise aufgehoben ist. Dies beginnt zum Beispiel mit der
Geschichte von Hiob, der er eine eigene Schrift gewidmet hat. Hiob gerät
in eine schwere Krise, in großes Unglück. Seine Freunde reden auf ihn
ein: Er müsse doch gesündigt haben, sonst wäre dieses Unglück nicht über
ihn gekommen. Sie vertreten ihm gegenüber das gültige Verständnis von
Wohlergehen und Ordnung. Aber Hiob weigert sich zu büßen. Und wie
reagiert Gott? Er stellt sich nicht auf die Seite der Anklagenden,
sondern auf die Seite Hiobs, dem er doch wieder Wohlergehen zukommen
lässt. So dunkel textkritisch gesehen diese Erzählung auch ist: Es gibt
keinen Grund, die hier vorliegende Aufhebung traditionellen
Schulddenkens zu übersehen.
Diese Aufhebung wird aber
unwiderruflich deutlich in der uns überlieferten Geschichte Jesu. Was
mit seiner Verurteilung geschehen ist, scheint zunächst nahtlos in das
Muster des Sündenbocks zu fallen. Soll er Schuld haben an den
grassierenden Unruhen, die von den römischen Machthabern gefürchtet
werden? Die Juden machen sich von einem Verdacht frei, indem sie ihm
symbolisch die Schuld zuschieben. Denn er ist ja als Wanderprediger
ohnehin verdächtig. Merkwürdigerweise vertritt aber Jesus Thesen, die
mit Gewaltanwendung nicht das geringste zu tun haben. Ist das
Todesurteil gerechtfertigt? Der Fall Jesu wäre ein Fall unter vielen,
wenn nicht eines geschehen wäre: Die Erzählung weist einen Zug auf, der
allen anderen mythischen Erzählungen fehlt.
Indem Girard diese Erzählung
beispielsweise mit der Erzählung der Judenverfolgung im Mittelalter
vergleicht, wird folgender Unterschied deutlich: Die klassischen
Verfolgungsgeschichten, die Mythen, erzählen die Geschichte aus der
Sicht der Täter, die das Geschehene rechtfertigen. Sie lassen den
Verdacht, dass es sich um eine Schuldzuweisung handelt, niemals
aufkommen. Die Passionsgeschichte erzählt die Verfolgung aber aus der
Sicht des Opfers, aus der Identifikation mit dem Opfer. Solange man die
Sicht der Opfer nicht berücksichtigt, kann nicht erkannt werden, dass es
sich um den Sündenbock-Mechanismus handelt.
An dieser Stelle ist zweierlei zu
unterscheiden. Das eine ist die religiöse Überzeugung von Girard, das
andere ist die Logik kultureller Zusammenhänge, die er durch seine
gründlichen, die Oberflächen der Darstellungen durchbrechenden Arbeiten
nahegelegt hat.
6. Désir und
Méconnaissance als anthropologische Kategorien
Die enthüllenden Untersuchungen
werden in ihrer Plausibilität verstärkt, wenn man von Girards
bekannteren Arbeiten zur Gewalt und dem Heiligen zu seinen fast in
Vergessenheit geratenen ersten Arbeiten zurückgeht, in denen diese
Themen noch nicht vorkommen und deren Material nicht aus frühester Zeit,
sondern aus dem 19. Jahrhundert stammt, wie z.B. sein Buch ›Mensonge
romantique et verité romanes-que‹, das kürzlich erst unter dem Titel
›Figuren des Begehrens‹ auf deutsch erschienen ist. Hier erarbeitet
Girard ein anthropologisches Konzept, aufgrund dessen die Vorgänge von
Gewalt und Gewaltbegrenzung, wie sie aus der Geschichte überliefert
werden, an Verständlichkeit gewinnen. Denn noch ist offen, wieso es zu
individuellen Gewaltakten kommt, mit anderen Worten: Warum setzt die von
uns erwartete Vernunft aus? Ebenso ist offen, wieso intelligente
Personen wie Guillaume de Machaut und andere den kollektiven Glauben der
angeblichen Schuld der Juden genauso übernehmen wie weniger
intelligente.
Die erste Grundthese besagt:
Girard versteht die Antriebe menschlichen Verhaltens nicht in der Weise
Sigmund Freuds aus der Sicht der Triebe und der Triebschicksale, sondern
er hat eine von dem Biologischen unabhängige, soziologische Erklärung
der Verhaltensmotivation. Er erklärt sie durch das désir, ein Begehren,
das frei von allen moralischen Wertungen zu verstehen ist. Begehren
heißt, dass der lebende Mensch nicht anders sein Leben vollzieht, als
dass er auf etwas aus ist. Keine Situation ist abgeschlossen. Unabhängig
von äußeren Umständen vollzieht sich das Leben in einem ›Darüber-hinaus-Gehen‹.
Und dieses désir ist in seinen konkreten Zielen nicht von innen her
bestimmt. Es ist nicht auf bestimmte Ziele oder Objekte festgelegt.
Das Begehren, das nicht
einprogrammierten Zielen folgt, ist prinzipiell am Anderen orientiert.
Das heißt, es ist mimetisch. Dasjenige, wonach der Mensch strebt, sein
Begehren, wird wesentlich durch die Nachahmung bestimmt.
-
Bei den menschlichen
Verhaltensweisen gibt es nichts oder fast nichts, was nicht erlernt
wäre, und jedes Lernen beruht auf Nachahmung. Würden die Menschen
plötzlich aufhören, andere nachzuahmen, wäre es um sämtliche
Kulturformen geschehen. (1983, S. 18)
Der Andere, an dem sich die
Nachahmung orientiert, ist das Vorbild, das zum Modell der eigenen
Bestrebungen wird. In dieser Hinsicht steht Girard in einer Linie mit
Gabriel Tarde, einem der Begründer der Sozialpsychologie, der in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Prinzip der Imitation als gesellschaftsbildenden Faktor hervorhebt, und dem Philosophen und
Soziologen Arnold Gehlen, der im Gegensatz zu Tarde die Instabilität
herausstellt, die mit dem mimetischen Charakter verbunden ist. Er steht
aber auch in unmittelbarer Nähe zu Sigmund Freud, in dessen Psychologie
Imitation und Identifikation eine zentrale Bedeutung haben. Aus der
Sicht Girards aber hat der Gebrauch des Wortes ›Nachahmung‹, so wie ihn
etwa Tarde verwendet, eher eine verharmlosende Bedeutung. Deswegen zieht
er die Ausdrücke ›Mimesis‹ und ›mimetisch‹ vor. Denn in der Mimesis ist
nicht nur die Nachahmung des Verhaltens, wie etwa in der Sozialisation
des Menschen, enthalten, sondern auch eine Besonderheit, die er
›Aneignungsmimesis‹ nennt und die als wesentliche Konfliktursache
anzusehen ist.
-
… in der Moderne wurde der
Gebrauch des Ausdrucks auf die Nachahmungsmodalitäten beschränkt,
die keine Konflikte heraufzubeschwören drohen…. Dies ist nicht
einfach ein ›Irrtum‹ oder ein ›Übersehen‹, sondern eine Art von
Unterdrückung des mimetischen Konflikts selbst. In dieser
Unterdrückung liegt etwas Grundlegendes für sämtliche menschliche
Kulturen, selbst für die unsrige. (1983, S. 28)
Es zählt also vor allem die
konfliktgenerierende Tendenz des Mimetischen: Nachahmer und Vorbild
können zu Rivalen werden. Rivalität ist ein zentraler Begriff bei
Girard. Einem Vorbild zu folgen stärkt den Zusammenhang zwischen dem
Modell und dem Nachahmenden, aber dieser Zusammenhang schlägt in dem
Augenblick um, in dem der Nachahmende das Objekt begehrt, das das
Vorbild besitzt oder selbst begehrt. Ob es sich nun um die Geliebte des
Freundes oder die Anerkennung des Lehrers, um greifbare oder ideelle
Objekte handelt: Das Objekt des Anderen in Besitz nehmen zu wollen
bedeutet Rivalität.
In diesem Verhältnis entwickelt
sich das, was Girard das »trianguläre Begehren« nennt. Dieser Ausdruck
erinnert an Freuds »Ödipus-Konflikt«. Man könnte sagen: Das trianguläre
Begehren bei Girard ist der generelle Rahmen, innerhalb dessen die
Freudsche Konstellation einen Sonderfall darstellt. Girard findet das
›Trianguläre‹ zuerst in der vergleichenden Analyse von Cervantes Don
Quichote und Flauberts und Stendhals Romanen, z.B.:
-
Ein Eitler begehrt ein
Objekt dann, wenn er überzeugt ist, dass dieses Objekt bereits von
einem Dritten, der ein gewisses Ansehen genießt, begehrt wird. In
dieser Konstellation ist der Mittler ein Rivale. (1999, S. 16)
Und dieses trianguläre Begehren
ist nicht eine Ausnahmesituation unter Menschen, sondern mit der
sozialen Existenz des Menschen unauflöslich verbunden. Mimesis stärkt
einerseits den sozialen Zusammenhalt, andererseits macht sie die
Menschen zu rivalisierenden Gegnern. Keine Gesellschaft kann diese
fundamentale Struktur aufheben. Aus der literarischen Rekonstuktion der
conditio humana wird, ohne dass Girard dies selbst realisiert,
Gesellschaftsanalyse. Möglich und erfolgreich im gesellschaftlichen
Leben ist lediglich die Eingrenzung oder Entschärfung der unerwünschten,
destruktiven Folgen von Rivalität. Es ist also die Natur des mimetischen
Begehrens, aus der heraus sich zwischen Menschen als sozialen Wesen
einerseits Gewaltakte ergeben, andererseits die Differenzen der
gesellschaftlichen Ordnung immer wieder missachtet werden.
Girard verwendet zweitens noch
einen weiteren Begriff, dessen fundamentale Bedeutung sich erst
allmählich bei der Lektüre erschließt. Er taucht in den ersten Arbeiten
auf und wird bei den späteren Analysen unersetzlich. Es ist die ›Méconnaissance‹.
Dieses Wort ist nicht leicht zu übersetzen. Wörtlich würde ›Verkennung‹
passen. An manchen Stellen wäre ›Täuschung‹ oder ›Selbsttäuschung‹ die
angemessene Übersetzung, ohne dass damit eine abwertende Einschätzung
verbunden wäre. An anderen Stellen wird der Sachverhalt verständlich,
wenn man sich klar macht, dass es sich um ein ›Nicht-wissen-wollen‹ oder
ein ›Nicht-wahrhaben-wollen‹ handelt. Von einem Vorgang zu behaupten, er
geschähe in Méconnaissance, setzt allerdings die Möglichkeit voraus, an
Stelle der Verkennung die Kenntnis, an Stelle des ›Nicht-wissen-wollens‹
ein Wissen‚ an Stelle des ›Nicht-wahrhaben-wollens‹ die Wahrheit zu
setzen.
-
Die Wirklichkeit
entspringt der Illusion und verleiht dieser eine trügerische
Gewissheit. (1999, S. 109)
So im Blick auf eine Figur bei
Stendhal. Und bei Proust findet Girard
-
Die Fakten … dringen in
jene Welt, in der unsere Überzeugungen herrschen, nicht ein. Die
Fakten haben die Überzeugungen nicht hervorgebracht und werden sie
auch nicht zerstören. Augen und Ohren verschließen sich, sobald
Gesundheit und Integrität des persönlichen Universums auf dem Spiel
stehen. (1999, S. 204)
Wenn es nur um den Sinn alter
Mythen und früher Riten ginge, dann könnte man ein System
rekonstruieren, aus dem sich eine gewisse Rationalität der Vorgänge und
Handlungen ergibt. Wenn man aber wie Girard vorgeht und von Erzählungen
aus historisch gut erforschten Epochen, ja sogar aus jüngster
Vergangenheit ausgehend, beginnt, Schlüsse über die Verfassung des
gesellschaftlichen Lebens zu ziehen, die dann in die Geschichte weiter
zurück verfolgt werden, dann zeigt die Méconnaissance einen gemeinsamen
Zug individuellen und kollektiven, naturwüchsig-alltäglichen sowie
rituellen Verhaltens. Ob es sich um die Beurteilung des eigenen
Verhaltens oder die Bewertung einer Krisenlage, um die Vernichtung von
Gegnern oder die Opferung eines Schuldigen handelt: Méconnaissance ist
eine Entlastung. Indem andere zu Verursachern der eigenen Lage erklärt
werden, wie in dem Bericht von Guillaume de Machaut, oder auch umgekehrt
der Einzelne Handlungen als seine eigene Sache ansieht, die seine Sache
nicht sind, wie in dem Beispiel Prousts: Die Entlastung ist immer eine
Rechtfertigung. Es scheint so, als gäbe es ein universales Muster von
Schuld und Verfehlung, dem ein Einzelner oder ein Volk auf diese Weise
zu entkommen sucht. Es ist ungewohnt, den uns alltäglichen Vorgang, in
dem einem anderen die Schuld zugeschoben wird, auf die Entstehung
umfassender religiöser Vorstellungen zu übertragen. Girard scheut diesen
Vergleich gerade nicht.
Es ist nicht ganz eindeutig, wie
es dabei mit dem Bewusstsein beziehungsweise dem Unbewussten steht.
›Unbewusst‹ wird bei Girard häufig mit Akten der Verkennung verbunden,
ohne dass er sich dabei auf Freuds Begriff des Unbewussten bezieht. Man
kann nicht annehmen, dass die Überzeugung von der Schuld eines anderen
grundsätzlich dem entspricht, was wir ›Verleumdung‹ nennen. Das wäre
eine willentliche Falschaussage. Es ist überzeugend, dass die Fälle der
Verkennung, die Girard benennt, nicht willentlich geschehen sind. Denn
Schuldabwehr ist gleichzeitig Angstabwehr, und die Geschwindigkeit, mit
der etwas, das wir als Fehlurteil bezeichnen würden, sich verbreitet,
wenn damit nur die Unsicherheit und das mögliche Schuldgefühl abgewehrt
werden, spricht für das Unbewusste dieser Handlungen.
Aber es ist sicher nicht
auszuschließen, dass sich wissentliches Fehlurteil und unbewusste Abwehr
gelegentlich miteinander vermengen. Im einfachsten Fall hält der Rivale
sein Begehren für ein persönliches, ihm eigenes Begehren und leugnet
damit, dass er es sich imitativ angeeignet hat. Im Gegenteil, er nimmt
eine Verkehrung vor: Er erklärt den Anderen zum Imitator seines
Begehrens. Das heißt aber: Er verkennt gerade dadurch sein eigenes
Begehren. Auf einer nächsten Stufe wendet sich die rächende Gewalt nicht
gegen den Übeltäter, sondern gegen einen anderen Menschen. Sie verkennt
die Situation, täuscht sich in ihrer Wut. Die Situation wird derart
anders definiert; es gilt jetzt: wenn nur der Racheakt vollzogen werden
kann. Daraus folgt dann die Stellvertretung und der Sündenbock. Denn,
kommt es zu kollektiven Aktionen in der Weise der skizzierten
Judenverfolgung im Mittelalter, dann ist dies ein eklatanter Vorgang der
Méconnaissance. Man fragt nicht lange nach einer vernünftigen Erklärung,
ja, man bescheidet sich auch nicht mit dem Unerklärbaren, wenn man nur
einen stellvertretenden Schuldigen finden kann. Wer auch immer auf die
Idee gekommen ist, den Juden Schuld zuzuweisen: Die befreiende Antwort
breitet sich mimetisch aus, eben auch bei denen, die in der Lage wären,
einem solchen »Schuldspruch« gegenüber Skepsis zu äußern.
Es kann also nicht darüber
hinweggesehen werden, dass es sich in allen Erzählungen und Riten, die
mit Opferung zu tun haben, um Rechtfertigungen mit sozialen Funktionen
handelt. Es sind die Täter, die berichten, es sind die Institutionen,
welche den Vollzug von Riten überwachen: Immer geht es um das, was wir
heute Selbstbehauptung nennen. Und folglich: Eine solche »Behauptung«
kann nicht Unrecht sein.
Der englische Ethnologe James
Frazer, der in einem Band seines umfassenden Werks »The Golden Bough«
viele Berichte über solche Prozeduren gesammelt hatte, konnte die
Stellvertretung nur als einen Ausdruck ›primitiven‹, des Logischen
unfähigen Denkens abwerten. Heute würde man sie schlicht für
›irrational‹ erklären. Für Girard gilt dagegen: Sie sind weder ›logisch
unfähig‹ noch ›irrational‹. Man muss, wenn man ihm folgt, annehmen, dass
die Méconnaissance die spezifische Funktion der Entlastung hat. Diese
Entlastung hat eine soziale Funktion, die nicht nur für ›primitive‹
Gesellschaften typisch ist.
7. Gewalt in
der Gegenwart
Es ist die Brücke zwischen der
anthropologischen Grundlegung von Rivalität und Méconnaissance
einerseits und den historischen Strukturen der rituellen Gründungsgewalt
andererseits, die die Bedeutung der Argumente Girards für die heutigen
Probleme der Gewalt offenkundig werden lässt. Der Sündenbock-Mechanismus
ist allenthalben am Werk, auch wenn es dabei nicht blutig zugeht. Dabei
kommt es nicht darauf an, ob eine Person sich etwas hat zu Schulden
kommen lassen und sie dafür zu bestrafen sei. Sündenbock-Aktionen
zeichnen sich erstens dadurch aus, dass die Strafe nicht von einer
übergeordneten Position aus verhängt wird, sondern als Vergeltung von
einer betroffenen Mehrheit. Zweitens ist hervorzuheben: Während die
Akteure der Überzeugung sind zu strafen, erkennen die Außenstehenden,
diejenigen, die selbst nicht betroffen sind, leicht, dass es sich nicht
um Strafe, sondern um eine symbolische Opferung handelt. Denn mit dem
Sündenbock soll ein Missstand getilgt und eine kritische Situation
abgewendet werden. Wenn dies geschieht, dann bedeutet dies, dass die
Täter die Situation verkennen, dass sie nicht in der Lage sind oder sich
die Mühe machen, das, was nicht in Ordnung ist, zu durchschauen. Wie
sehr Krise und Sündenbock-Mechanismus zusammenhängen, hat die
erschreckende Geschichte des Nationalsozialismus gezeigt: Die Verfolgung
und Vernichtung der europäischen Juden und anderen von den Nazis als
»Volksfeinde« bezeichneten Menschen sollte das deutsche Volk aus der
Krise befreien.
Wo heute in aller Welt Gewalt
auftaucht, handelt es sich um gesellschaftliche Situationen, in denen
eine dritte, über den Parteien stehende Gewalt nicht vorhanden ist, und
gleichzeitig um Rivalitäten des Macht- und Geltungsanspruchs, so z.B.
zwischen Hutu und Tutsi, zwischen Kosovaren und Serben. Aber es handelt
sich auch um Krisensituationen, in denen nach einem Schuldigen gesucht
wird. Terrorismus entsteht nicht ihn befriedeten Situationen. Islamische
Terroristen interpretieren die Entwicklung als Gefährdung ihrer
Identität und reagieren aggressiv auf die Gefährder ihrer Identität. Wir
können nicht ausschließen, dass die westliche Modernisierung die
traditionelle Identität tatsächlich gefährdet. Aber es ist allzu
eindeutig, dass die Opfer ihrer Terrorakte nichts anderes als eben
Stellvertreter sind.
Wie erklären wir uns die Neonazis
und Hooligans in unserer Gesellschaft? Was drücken sie anderes aus, als
dass die Ordnung unserer Gesellschaft, verstanden als Einordnung, nicht
glückt? Gewiss, andere passen sich den Umständen auf friedlichere Weise
an oder machen sich durch Drogenkonsum selbst zum Opfer. Sie aber
verkennen die Situation, wähnen die Schuldigen, und sie verfolgen sie
durch Gewalt an Personen oder durch symbolische Gewaltakte. Die
vermisste Zugehörigkeit, das heißt die fehlende Ordnung, ist aber nicht
Sache der Gewalttätigen, es ist unsere Sache. Hier wird das von Girard
entwickelte Krisenverständnis wirksam, es verlangt aber nach einer
zeitgemäßen Interpretation.
Während für alle traditionellen
Gesellschaften die von ihren Mitgliedern erlebten Krisen gleichbedeutend
mit Unheil waren, findet in der Moderne eine Umwertung statt, wie es der
Historiker Reinhart Kosellek aufgezeigt hat. Alle Anführer von
Modernisierung, besonders alle Revolutionäre, nehmen auch von ihnen
herbeigeführte Krisen in Kauf, damit das Bessere, sei es »die Vernunft«,
sei es »der Sozialismus«, gewinnen kann. In der Folge stehen wir in
einem permanenten Umbruch, von dem immer nur einige profitieren, andere
aber an den Rand oder ins Aus geraten beziehungsweise gestoßen werden.
Es bedarf vielfach nicht der aktiven Opferung, denn wer nicht mitmacht,
hat sich gewissermaßen selbst ausgegrenzt.
Gewalt kann heute nur noch
begrenzt mit Rechtfertigung rechnen. Das ist ein wirklicher Fortschritt.
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… der Mensch nämlich und
das gigantische Anwachsen der Gewaltmittel haben der Gewalt die
Möglichkeit zum freien Verlauf verbaut, also jenes Spiel verdorben,
das einst die Wirksamkeit des Gründungsmechanismus und die
Verdrängung der Wahrheit sicherte. (1992, S. 352)
Wenn nun Gewaltaktionen – mit
Girard – nur als Sündenbock-Verfolgungen verstanden werden können und
als solche stets auf Krisen verweisen, kann man dann noch den Optimismus
gegenüber dem technischen und ökonomischen Fortschritt teilen, in dessen
Folge diese Krisen auftreten? Die Eingrenzung von Gewalt kann im Rahmen
des mit Girard erarbeiteten Verständnisses niemals ausreichen. Alle
entsprechenden Versuche müssen erfolglos bleiben, wenn nicht die
Eingrenzung der Krisen gelingt.
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