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Spurensuche

Wegbegleiter von Dietrich Gutsch trafen sich im Oktober 2001 in Berlin. Es ist eine Broschüre aus Anlass des 70. Geburtstages von Wolf Dietrich Gutsch entstanden:

Erinnerungen an Dietrich Gutsch 1931-1981
Leben – Arbeit – Vermächtnis

Herausgegeben von:

  •  Lodewijk Blok - Niederlande

  •  Giselher Hickel – Deutschland

April 2004

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Von Giselher Hickel

Wir sind etwas spät dran, indem wir jetzt mit einer Textsammlung an einen Menschen erinnern, der seit über zwanzig Jahren tot ist. Die Idee, die Erinnerung an Dietrich Gutsch auf diese Weise wach zu halten, kam bald nach seinem Tode ins Gespräch. Wir verdanken dieser ersten Initiative, dass Texte von ihm und über ihn gesammelt, von Tonbändern und schwer lesbaren Manuskripten abgeschrieben und aufbewahrt wurden. Vor allem Karin Salzwedel hat viel Kraft und Liebe auf diese mühevolle Arbeit, Trauerarbeit im besten Sinne nach Dietrichs frühem Tod, verwandt.

Giselher HickelDas Vorhaben wurde zunächst nicht realisiert. Schuld war vor allem das unbestimmte Gefühl, dass die Texte nur sehr unvollkommen wiedergaben, was Dietrich uns bedeutet hatte. Sein Reden, sein Auftreten, sein Beteiligtsein an Gesprächen, Denkprozessen und Verhaltensweisen war viel, viel mehr, als Geschriebenes zum Ausdruck bringen konnte. Hinzu kam, dass es für die meisten seiner Vorträge und Bibelarbeiten lediglich Notizen gab, Stichworte, die Erinnerungen nur bei denen wecken konnten, die ihm zugehört hatten. Später brachten die politischen Umwälzungen es mit sich, dass alles nicht mehr zu gelten schien. Ein Rechtfertigungsdruck wäre ins Spiel gekommen, dem wir uns nicht hätten entziehen können, dem wir uns aber nicht zu beugen gedachten.

Sich rundende Jahrzehnte bieten gelegentlich willkommenen Vorwand. Im Herbst 2001 hätten wir Dietrichs 70. Geburtstag gefeiert. Wir gedachten zugleich seines 20. Todestages. Wir luden zu einer Wochenendtagung ein. Freunde und Gefährtinnen trugen vor, was sie heute, rückblickend auf die Gestalt des einstigen Freundes, bewegte. Die Tagung weckte erneut und mit Nachdruck den Wunsch, Texte von, nun aber auch die Erinnerungen an Dietrich Gutsch einem größeren Kreis zugänglich zu machen.

Nach wie vor war es nicht einfach, Texte zu finden, die den Ansprüchen einer Drucklegung genügen. Die Notizen sind oft sperrig. Man merkt ihnen an, dass der Autor in den Vorträgen, denen sie zugrunde liegen, ziemlich frei gesprochen hat. Immer wieder finden sich zwischen ausformulierten Passagen Stichwortsammlungen, die keiner Ausführung bedurften. Hier war klar, was und wie es zu sagen war. Nicht also allein, dass die Aufzeichnungen nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, sie waren, so wie sie sind, nicht einmal durchgängig zum mündlichen Vortrag geeignet. Dennoch schien es uns wichtig, Gedanken von Dietrich nicht nur in der Spiegelung durch die Erinnerungen anderer festzuhalten, sondern wenigstens an einigen Stellen seiner eigenen Gedankenführung und Argumentationskette zu folgen.

Wenn wir heute Lesern zumuten, sich mit diesen Gedanken aus den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts auseinanderzusetzen, so bedarf das einer Rechtfertigung, die sich nicht allein auf den Hang beruft, Wertgehaltenes aufzubewahren. Die Frage ist, ob wir heute über das hinaus gelangt sind, wofür Dietrich gestritten hat, bzw. wogegen die ökumenische Bewegung in den 60er und 70er Jahren entschieden Front gemacht hat? Mit einer Mischung aus bewunderndem Erstaunen und zugleich schmerzlichem Bedauern stellt man beim Lesen immer wieder fest, wie aktuell seine Gedanken sind. Zwar gibt es Formulierungen, die wir so heute kaum noch benutzen würden. Zwar sind der Vietnamkrieg, das Apartheid-Regime und die Pinochet-Diktatur Geschichte. Ungültig, unwichtig oder gar unerträglich sind die wichtigsten Anliegen deshalb noch lange nicht.

Neben der Aktualität der Texte gibt es natürlich auch ein historisches Interesse, einen so profilierten Denker und Mitgestalter in den DDR-Kirchen wenigstens mit einigen Originaltexten vorzustellen. Es waren nicht sehr viele in den Kirchen jener Jahre, die wie Dietrich darauf bestanden, dass eine andere Welt möglich sei, anders als die Welt, die sich selbst als christlich-abendländisch und rechtstaatlich bezeichnete und selbstherrlich so verstand. Der Glaube an die Alternative war bei ihm nie und nimmer Anpassung, sondern er kam aus der Bekehrung durch das Evangelium, eine Bekehrung des Bekehrten hin zur Welt. Die wäre ohne die Ökumene, ohne die Wahrnehmung der Armut und des Leidens unter sozialem Unrecht nicht möglich gewesen. Eine Schlüsselgeschichte, die in Dietrichs Texten immer und immer wieder auftaucht, erzählt von einer bolivianischen Bäuerin, die beim Verteilen des Essens unter ihre Kinder das Jüngste übergeht. Auf die Frage eines Beobachters, warum sie so unmütterlich handle, antwortet sie, dieses Kind werde ohnehin als erstes sterben. Sie könne den anderen die Nahrung zu entziehen, die dem Säugling doch nicht das Leben retten könnte. Dieser Bericht muss Dietrich tief getroffen haben, und niemals hat er ihn aus dem Gedächtnis verloren. Wenn er davon sprach, kam gelegentlich der Begriff "Hass" ins Spiel.

Es gehörte viel Courage dazu, in unseren Kirchen in der DDR der 60er/70er Jahre den Glauben an die globale Alternative zu verteidigen und zwar nicht theoretisch, sondern indem man ihn in Beziehung setzte zur Realität der eigenen sozialistischen Gesellschaft. Man wurde theologisch und politisch zum Außenseiter. Darunter hat Dietrich viel mehr gelitten als er sich gewöhnlich hat anmerken lassen. Anderseits ermöglichte dieser Glaube den Dialog mit denjenigen Marxisten, denen es ebenfalls um Veränderung ging. Natürlich dachte Dietrich nicht so schlicht, dass er vorhandene sozialistische Strukturen per se für tauglich zur Rettung der Welt gehalten hätte. Solche Primitivität ist eine Erfindung hiesiger und heutiger ideologischer Propaganda. Sein tägliches Brot war es, solche "realsozialistischen" Strukturen anzunehmen und darin zu leben, um sie zu öffnen und zu verändern. Wozu sonst die ökumenischen Jugenddienste, wozu die Christliche Friedenskonferenz, wozu der Ökumenischen Jugendrat in Europa. Warum sonst hätten wir uns um Informationen jenseits engstirniger Linientreue gemüht, um ökumenische Kontakte gerungen, um Visa gekämpft? Strittig war die Arbeit in der eigenen Kirche, aber es gab auch mit dem Staatssekretariat für Kirchenfragen, mit dem Ministerium für Staatssicherheit, mit FDJ, Friedensrat, Solidaritätskomitee usw. zermürbende Kontroversen. Das sei ausdrücklich nicht gesagt, um nachträglich ein Blatt von dem Lorbeer des Widerstandes für ihn einzuheimsen. Dietrich stritt vor allem mit den anderen, nicht gegen sie. Das merkten sie, und die Besten achteten ihn deshalb in den Kirchen ebenso wie in den Behörden. Widerstand leistete Dietrich gegen die, die in Ost und in Westen zufrieden waren mit dem gegenwärtigen Zustand der Welt. Widerspruch meldete er immer dann an, wenn in den Kirchen so geredet oder so getan wurde, als sei der "christliche Westen" das Nonplusultra christlicher Gesellschaftsvorstellung. Widersprechen würde Dietrich heute, davon bin ich überzeugt, denen, die mit dem Sieg des Westens die sozialistische Idee als erledigt und jede Alternative zum Weltkapitalismus für undenkbar ansehen. Dabei geschieht doch heute nur das, wovor er gewarnt hat, und was er zu hindern helfen wollten.

Adressaten des Heftes sind nicht zuerst die unter uns, die sich erinnern wollen, sondern die es nicht aufgegeben haben, eine andere Welt zu suchen - seien sie nun Dietrichs Altersgenossen oder seien sie so jung wie seine Kinder und Enkel.

März 2004

Inhaltsverzeichnis


Ökumene nahe gebracht

Von Friedericke Schulze

Am 7. September 2001 wäre Dietrich Gutsch 70 geworden. Er gehörte zu der Generation, deren Denken und Handeln von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und dem Erschrecken über das Versagen eines Großteils der deutschen protestantischen Kirche gegenüber dem Faschismus und Krieg geprägt waren.

Bei einer Rüstzeit 1947 in Stuttgart hat er sich bewusst zu Jesus Christus bekannt, erst danach ließ er sich konfirmieren. Von 1949 bis 1953 hat er sich im Seminar für kirchlichen Dienst in Berlin zum Katecheten ausbilden lassen.

Von 1955 bis 1965 war er Mitarbeiter der Gossner-Mission in der DDR. Durch ihn sind damals viele junge Leute zu Gossner-Freunden geworden. Er hat Erkenntnisse und Einsichten der Gossner-Mission in die kirchliche Jugendarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR eingebracht.

Dietrich Gutsch organisierte Ökumenische Aufbaulager, in denen sich junge Leute aus Ost und West bei praktischer Arbeit, bei Bibelarbeiten und in der thematischen Auseinandersetzung kennen lernen konnten. Er baute Brücken während heißer Phasen des Kalten Krieges. Er brachte die Ökumene zu Christen und Nichtchristen in der DDR und zeigte der Ökumene, dass es in der DDR Christen gab, die sich an der Gestaltung ihrer Gesellschaft beteiligten.

Ökumene, Frieden, soziale Gerechtigkeit, Überwindung von Rassismus und Gewalt blieben seine Themen bis zu seinem frühen Tod am 9. März 1981. Als Referent für Ökumenische Aufbaulager und als Nationalkorrespondent der Jugendabteilung des ÖRK, als Gründungsmitglied des Ökumenischen Jugendrates in Europa und dessen Vorsitzender von 1972 bis 1978, als Leiter des Ökumenischen Jugenddienstes und Initiator des Arbeitsgemeinschaft Christlicher Jugend sowie des Ökumenischen Jugendrates in der DDR hat er vielen von uns, die wir damals in der kirchlichen Jugendarbeit engagiert waren, die Ökumene nahe gebracht, unseren Horizont erweitert und uns mit viel Humor über Durststrecken hinweggeholfen.

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Wie meine Geschichte mit Dietrich anfing

Von Eva Heinicke

Sommer 1958, Ökumenisches Aufbaulager Berlin-Weißensee. Hinter mir lagen Erfahrungen in und mit Junger Gemeinde, zwei Jahre kirchlicher Dienst als Sekretärin des Propstes zu Halle und Merseburg, die kirchliche Ausbildung und seit kurzer Zeit der Dienst als Gemeindehelferin in Merseburg. Kirche hatte ich bis dahin vorwiegend als Überwinterungsgemeinde erlebt - dieser Staat ist vom Teufel und kann nicht lange dauern; und Ökumene waren in der Hauptsache alte Männer, die schwarz aussahen, gebrochen Deutsch sprachen und fromme Weisheiten von sich gaben.

Es waren in diesem Jahr drei Aufbaulager geplant, neben Berlin-Weißensee je eines in Erfurt und Eisenach. Zu allen gab es angemeldete Teilnehmer aus Westeuropa, die Einreisevisa waren ordnungs- und fristgemäß beantragt worden, die Erteilung wurde aber sehr kurzfristig abgelehnt. Ein Pluspunkt für die Überwinterungsstrategen? War jetzt eine Absage mit bedauerlichem Achselzucken und leidendem Unterton angesagt? Natürlich nicht so bei Dietrich. "Es geht nicht gab’s nicht, jedenfalls nicht, solange nicht ein Ausweg gesucht und probiert worden war. Dietrich hatte also in Windeseile für die westlichen Teilnehmer ein Quartier und zwei Projekte in Westberlin organisiert: zuerst die Errichtung eines Kinderspielplatzes in einem Westberliner Flüchtlingslager, dann Hilfe beim Aufbau für den Katholikentag. Die östlichen Teilnehmer arbeiteten im Rahmen des Nationalen Aufbauwerkes (NAW) an der Gestaltung eines Parkes für Senioren am ehemaligen Wohnsitz Bertolt Brechts. Diese Projekte beschreiben die Gratwanderung der Mitarbeiter der Gossner-Mission in der DDR und später unsere als Ökumenischer Jugenddienst. Das staatliche Gegenüber für die Kirchen war damals noch das ZK der SED, der Verantwortliche ein alter Kommunist mit leidvoller Vergangenheit, die ihn unter anderem im Konzentrationslager mit Martin Niemöller zusammengeführt hatte. Ihm ist es, neben einigen anderen, zu verdanken, dass die Kirchenpolitik der DDR weder nach den Erfahrungen Walter Ulbrichts (d.h. Erfahrungen der Arbeiterbewegung mit den Kirchen am Anfang des Jahrhunderts), noch nach sowjetischen Muster gestaltet werden konnte.

Wir hatten 1958 Glück. Für Dietrichs praktisches und schnell entschlossenes Handeln war die Bürokratie der staatlichen Institutionen viel zu schwerfällig. Wenn denen rechtzeitig aufgegangen wäre, dass dieser Gutsch einen Arbeitseinsatz in einem Westberliner Flüchtlingslager organisiert hatte, in dem sich vorwiegend DDR-Flüchtlinge befanden - das hätte auch unser Freund im ZK nicht decken können, und es hätte nichts genutzt, wenn Dietrich beteuert hätte, dass es nur eine Notlösung war, keineswegs typisch für das, was wir suchten und wollten. Die Arbeit für den Katholikentag lag da schon näher, das wurde auch von der kirchlichen Obrigkeit gerade noch toleriert. Aber die Arbeit in Weißensee mit dem Nationalen Aufbauwerk - war das nicht die Institution, die Arbeiter, Studenten und Schüler zwang, "freiwillige" Enttrümmerungs- und Aufbauarbeit zu leisten, z.B. in der Berliner Stalinallee? Unsere praktische Arbeit in Weißensee blieb von all dem unberührt. Wir waren einbezogen in heftige Auseinandersetzungen zwischen den Senioren und dem Gartenamt um eine Pappel, die die einen erhalten und die anderen fällen wollten. Wir fällten sie schließlich, und das war sehr spannend. Unsere gemeinsame Freizeitgestaltung erforderte wechselseitiges Hin- und Herfahren, das ging damals noch völlig problemlos. Meine Erinnerungen galoppieren nicht nur, sie überschlagen sich gleichsam: Z.B. Mäuse- und Elefantenwitze von Bert erzählt. Wenn wir aufgehört hatten zu lachen, kam Lauris "Bitte, noch einmal!", denn er hatte Berts liebenswertes, holländisch eingefärbtes Deutsch nicht verstanden. So konnte es geschehen, dass ein oder zwei solcher Witze einen ganzen Abend füllten. Natürlich gab es auch andere und ernstere Gesprächsstoffe. Aber gibt es eine schönere Möglichkeit, etwas zu lernen über Sprache und Kommunikation als beim gemeinsamen Lachen? Dietrich hatte mit all dem so viel zu tun wie jeder von uns. Er war, nachdem er die hektische zusätzliche Organisation bewältigt hatte, unter uns. Dass er es gewesen war, der die Strukturen geschaffen hatte, in denen wir diese tollen Erfahrungen miteinander machen konnten, stand im Hintergrund.

Nach dem Lager bin ich mit viel Schwung und neuen Ideen in meinen Arbeitsalltag nach Merseburg zurückgekehrt. Anfang 1959 machte mir Dietrich bei einer Begegnung in Halle zwei Angebote: mit ihm zusammen die Leitung eines Aufbaulagers in Berlin zu übernehmen und zu überlegen, ob ich für die Arbeit nicht hauptamtlich zur Gossnermission kommen wollte. Das erste war schnell entschieden. Die zweite Entscheidung war schon schwieriger. Johannes Gossner war mir nicht völlig unbekannt. Was mich aber vor allem zu einem spontanen Ja trieb, war die Ökumene, die inzwischen erlebte Ökumene. Es wurde mir der Auf- und Ausbau eines selbständigen Arbeitsgebietes angeboten: Reisedienst in der Jungen Gemeinde und eine Art Nacharbeit mit den Lagerteilnehmern. Dafür war ich ausgebildet. Das zu bewältigen, traute ich mir zu. Die Weiterführung der Aufbaulagerarbeit sollte ich zusammen mit Dietrich tun.

In unserer späteren Zusammenarbeit haben wir oft miteinander gestritten, aber auch gesponnen und geträumt, und daraus sind unsere besten Ideen entstanden. Doch zum Streit noch einige Anmerkungen: Über politische Fragen haben wir nicht gestritten. Wir waren weder an ein Parteistatut noch an eine Ideologie gebunden. Aber unsere Gegenwart konfrontierte uns immer wieder mit Themen und Stichworten, die uns zwangen, zu analysieren, zu bewerten oder auch zu hinterfragen. Dabei habe ich von und mit Dietrich gelernt: Nicht Beobachtung des Heute allein führt zu einer Perspektive für das Morgen, sondern nur Beteiligung. Es war die Ökumene, die uns aus dem ganzen bewohnten Erdenkreis die Stichworte lieferte. Daraus entstand für uns die Verpflichtung zum Denken und Handeln, und die ökumenischen Begegnungen und Gespräche machten uns Mut und gaben uns Kraft, uns einzubringen. Dietrichs Aufgabe wurden immer mehr die ökumenischen Beziehungen der gesamten evangelischen Jugendarbeit in der DDR und die Verhandlungen dafür mit den staatlichen Stellen (insbesondere mit dem Staatssekretariat für Kirchenfragen). Der Ort für unser Beteiligtsein blieb unsere eigene Gesellschaft mit ihren verschiedenen Ebenen und Mechanismen.

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Dietrich

Von Antoinette Panhuis

In der ökumenischen Familie klingen Vornamen. Sie rufen immer wieder die Erinnerung wach an eine ganze Welt und eine ganze Geschichte. So ist es mit dem Namen "Dietrich" oder, wie es am Telefon stets kurz und kräftig klang: "Gutsch".

Meine Erinnerung an Dietrich ist allerdings nicht so sehr die an eine Stimme und Sprache, sondern an eine Person, eine Statur. Er sagte nicht so viel. Es war manchmal nur ein Munkeln, leicht nach vorn gebeugt mit einem Augenzwinkern, das humorvoll oder ironisch sein konnte. Dennoch gibt es einige Sätze, an die ich mich erinnere, einer davon, der sehr persönlich war, klingt mir noch immer im Ohr: "Du irrst dich" Seit 25 Jahren, immer wenn ich mich enthusiastisch auf etwas einlasse oder denke, dass eine Unterrichtsstunde glänzend verlaufen ist, höre ich Dietrich warnend sagen: "Du irrst dich".

Natürlich waren da die Witze in Hirschluch, spätabends wenn die Westbrüder‘ schlafen gegangen waren. Leider habe ich die meisten vergessen (neue habe ich seit der Wende nicht mehr gehört), nicht aber den Satz zum Abschied in früher Morgenstunde: "Schlaft schneller, Genossen!" "Schlaf schneller", sage ich mir heute noch manchmal, wenn ich das Licht wieder zu spät ausknipse. Das Wort ‘Genosse‘ war Freunden vorbehalten, nach Dietrichs Variante: "Brüder hat man, Genossen bekommt man".

Eine Bemerkung von Dietrich fiel mir ein, als ich in diesem Jahr zu Ostern im S-Bahnhof Tempelhof eine große Banknote wechseln musste, um einen Fahrschein (4 DM!) zu kaufen. Ich bekam einige 10-Mark-Scheine zurück, die kleiner waren als die, die ich von früher kannte. Plötzlich musste ich lachen. Die Dame am Schalter schaute mich lächelnd an, und ich musste ihr erklären: "Vor Jahren wurden in der DDR neue Banknoten ausgegeben, die viel kleiner waren als die Vorgänger, was ein Freund (also Dietrich) mit den Worten kommentierte: "Jetzt entspricht die Größe endlich ihrem Wert" Die Dame konnte mitlachen - sie war bestimmt eine Ossi.

Noch einmal zu den Osterferien dieses Jahres: Ich war auf dem Rückweg aus dem Norden Berlins von einem Besuch bei Professor Basserak, bei dem ich 1972 mit staatlicher Erlaubnis ein Semester "Oekumenika" gehört hatte (auch das war eine Idee von Dietrich; ich war der erste Westler an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Uni) - mit einer Bescheinigung für die Grenzbehörden, die den Vermerk trug: "Sie bringt gelegentlich Bücher mit, die sie wieder ausführt" (letzteres natürlich nur, wenn ein Beamter amtlich reagierte, und ich die Titel auf die Rückseite des winzigen Aus- und Einreise-Zettelchen schreiben musste. - Siehe ‘Bessier‘, Seite soundsoviel: "... eine belgische Studentin .." - das kann nur ich gewesen sein.)

Auf dem Rückweg also von ‘Väterchen Bassarak‘, zusammen mit Rudolf Weckerling ( - jetzt 90 Jahre alt und, mit seinen eigenen Worten: "unverschämt gesund", der mir 1973 in seinem neuen Ökumenisch-Missionarischen Institut in der Jebenstraße in Westberlin für das Büro des Europäischen Ökumenischen Jugendrates Unterkunft gegeben hatte - ) sollten wir noch zum Empfang für die Journalistin Marianne Regensburger, anlässlich ihres 80. Geburtstages. Wir stiegen in der Friedrichstraße aus, und, während Weckerling sich noch zu orientieren suchte, fragte ich: "Planckstraße 20? Na, dann folge mir! Da war doch der ÖJD!" Im Hof lag keine Braunkohle mehr. Der Geruch fehlte. Erinnerungen haben auch mit Geruch zu tun. Ich wollte wie üblich dreimal klingeln (das hieß: "ich-bin-es" oder auch "An-toi-nette"). Die Quäker sind noch da. Ansonsten ist es das Büro des Institutes für "Kirche und Staat". Die möchten in staatlichen Archiven herausfinden, wie der DDR-Staat die Kirchen wertete. Alles ist jetzt schön weiß gepinselt. Weckerling stellte mich vor, übertrieben wie immer als "meine ökumenische Weltkirchenrat-Schwester aus Belgien". Ein Glas Wein wurde mir höflich noch im Korridor an der Tür angeboten, weil die Zimmer voller Leute waren.

Als ich der Gesellschaft an der Tür entrinnen kann, schlüpfe ich schüchtern nach hinten: Das Büro von Karin und den Mitarbeitern. Und dann wage ich es, nach links zu gehen. Hier ist es ruhig. Neue, einfache Möbel, aber genau dieselbe DDR-Konstellation wie damals in Dietrichs Büro: Schreibtisch quer vor dem Fenster und rechts am Eingang die Sitzecke, Bänke an der Wand und ein Sessel. Fast hätte ich‚ genauso wie damals, meine Sachen und Papiere auf die Bank geworfen und mich daneben - und Dietrich würde sich in den Sessel setzen. Ich fange an zu weinen. Ich habe keine Lust, die Tränen abzuwischen, weil es gut tut, einfach weinen zu können.

Zurück bei den anderen erzählte ich Weckerling kurz, wie es mir ergangen war, und er erklärte es dem Gastgeber. Reaktion: Ein herablassendes "Ach ja, der Gutsch ...". Ich sank in der Achtung. Aber um nett zu sein, fügte er hinzu: "Sie haben also geholfen, die Mauer porös zu machen".

Ja, das war die Absicht - nicht die, dass sie fallen würde. Aber Gottes Wege sind krumm. Er hat einen krummen Stock, und wir müssen einen aufrechten Gang versuchen Das zum Dank an Gollwitzer! Denn der Grund, dass ich mich 1970 nach dem Studium in Brüssel entschied, noch etwas in Berlin zu studieren, waren Golli und das Hendrik-Kraemer-Haus und vor allem: Über die Mauer gucken. (Was ich damals im wörtlichen Sinne nie gemacht habe; erst jetzt war ich in der Bornholmer Str.) Daraus wurde dann zweimal oder dreimal pro Woche ein Hindurchkriechen (eineinhalb Stunden Arbeit), um zu lernen, wie man in einer säkularen Welt Christ und Kirche sein kann. Fünf Jahre lang habe ich diese Lektion erlebt, und sie hat mich in meinem theologischen Denken in unserer "monde laique" bestätigt.

Aufarbeiten? Als ich mit unserem Belgischen Synodenvorsitzenden einmal auf einer Tagung des Belgisch-Deutschen Bruderrates in Königswusterhausen war, drehte der sich während eines Vortrags zu mir um und fragte leise: "Was heißt eigentlich ‘aufarbeiten‘? Ich erwiderte: "Das Wort gibt es nicht bei uns. Das gibt es nur in Deutschland."

Ich möchte nichts aufarbeiten. Die persönliche Erfahrung ist nicht zu vermitteln. Sie interessierte damals niemanden und heute schon gar nicht. Ich trage sie in mir eine als einen Reichtum. Nur ganz ab und zu kann ich davon meinen Studenten erzählen, und wenn ich erzähle, wird es jedes Mal eine fantastische Stunde - nein, Dietrich, da irre ich mich nicht! Die neue Generation fängt an, sich für "damals" zu interessieren.

Aufarbeiten kann man nur, indem man singt: "Vorwärts, und nicht vergessen!" Dann nimmt man alles mit, wovon man weise geworden ist. Nur in der Erzählung schafft man eine Vision. Ist das nicht auch die eigentliche Kraft der Bibel und Jesu, die Erzählung? Also, seien wir froh, dass wir diese Zeit mit Dietrich erlebt haben. Dieses Erbe steckt tief in mir und in uns. Davon erfüllt und bereichert können wir vorwärts gehen in Liebe auf den anderen zu, in aufrechtem Gang. Das ist jetzt die Aufgabe.

Antoinette Panhuis, 1970 - 1975 in Berlin, EYCE/EYS Sekretärin 1972 - 1975

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Curriculum Vitae Wolf-Dietrich Gutsch

  • 07.09.1931 In Berlin geboren

  • 1937 - 1949 Schulbesuch in Berlin / Göhrsdorf / Königs Wusterhausen / Berlin

  • 1945 Vater im Krieg vermisst

  • 1946 Teilnahme an einer Rüstzeit in Stuttgart – Entscheidung für Jesus Christus
    Ehrenamtlicher Mitarbeiter in der kirchlichen Jugendarbeit
    - Aufbau von Jungscharkreisen in Karlshorst
    - Ökumenische Zusammenarbeit mit Gruppen der Römisch-Katholischen Kirche
    1947 Konfirmation

  • 1949 1950 Ausbildung im Seminar für kirchlichen Dienst in Berlin – Weiβensee

  • 1950 Katechetisches Praktikum in Berlin - Oberschöneweide

  • 1951 1953 Fortsetzung der Ausbildung im Seminar für kirchlichen Dienst Berlin – Zehlendorf

  • 1953 Eheschließung mit Charlotte geb. Pobloth

  • 1953 - 1955 Katechet beim Erziehungsausschuss in Berlin – Lichtenberg

  • 1954 Sohn Thomas geboren

  • 1955 Mitarbeiter der Gossner Mission in der DDR für ökumenische Aufbaulager

  • Erstes ökumenisches Aufbaulager in Berlin – Karlshorst an der Kirche "Zur Frohen Botschaft"

  • 1956 Erstes ökumenisches Aufbaulager in der DDR in Zusammenarbeit mit der Jugendabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen und dem Nationalen Aufbauwerk

  • 1959 Sohn Christoph geboren

  • 1961 Jugenddelegierter bei der 3. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Neu Delhi

  • Teilnahme an der 1. Allchristlichen Friedensversammlung

  • Mitglied des Regionalausschusses der Christlichen Friedenskonferenz in der DDR (CFK)

  • 1965 Referent für Ökumenische Aufbaulager und Nationalkorrespondent zur Jugendabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen bei der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend in der DDR

  • 1966 Sohn Markus geboren

  • 1967 Jugenddelegierter an der 5. Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) in Pörtschach (Österreich)

  • 1968 Gründung des Ökumenischen Jugendrates in Europa (EYCE)

  • Mitglied des Exekutivkomitees

  • 1969 - 1975 Vorsitzender der Internationalen Jugendkommission der CFK

  • seit 1971 Leiter des Ökumenischen Jugenddienstes der Kommission Kirchliche Jugendarbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR

  • 1968 Gründung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Jugend in der DDR

  • Mitglied des Ökumenischen Jugendrates in der DDR

  • 1972 - 1978 Vorsitzender des Ökumenischen Jugendrates in Europa

  • 1974 Delegierter an der 7. Vollversammlung der KEK in Engelberg / Schweiz

  • seit 1975 Internationaler Sekretär der CFK

  • 07.03.1981 in Berlin verstorben

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Meditation

1. Petrus 4, 1 – 11

Von Dietrich Gutsch

Mir ist dieser Text lange sehr fremd geblieben. Das sind nicht meine Erfahrungen mit "der Welt", mit meinen Nachbarn, Freunden, Kollegen und auch nicht mit mir selbst. Darum kann ich die Urteile des Petrus nicht übernehmen. Sicher werden er und die christlichen Gemeinden, die diesen Brief in das Neue Testament aufnahmen, gute Gründe für ihre Sicht und die getroffenen Konsequenzen gehabt haben. Sie kann ich aber nicht übertragen auf meine Situation und meine Denkweise heute. Also wäre dieser Briefteil einfach zu übergehen?

Im Mittelpunkt steht der Satz "es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge" (V.7). Hat Petrus sich geirrt, denn dieses Ende kam ja nicht wie erwartet und erhofft? Weil auf diese bezweifelbare Aussage alle Ermahnungen bezogen sind, sollte sie von uns bedacht werden.

Gott hat der von ihm geliebten Welt – uns eingeschlossen – ein Ende gesetzt. Es wird nicht die Zerstörung aller Ordnung, sondern im Gegenteil die Errichtung einer ganz neuen Ordnung sein. Am Ende werden alle Dinge, die jetzt gesetzmäβig, unveränderbar und fest gefügt erscheinen, ihre Bedeutung verlieren. Dann wird Christus und seine neue Welt unüberhörbar: "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein" (Offenbarung 21,4); die Völker werden "ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieβe zu Sicheln machen, denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen" (Jes. 2,4). Dies ist das Ende, nicht der "Weltuntergang"! Wer von diesem Ende her denkt, wird sein Leben so gestalten, dass es diesem Ziel Gottes dient. Auf dieses Ziel hin mahnt Petrus die Gemeinde und uns heute: sachlich (nüchtern) zu beten, aber ohne Voreingenommenheit und Ressentiments, aber mit Wissen um die Probleme und ihre Ursache und mit engagierter Hoffnung; beten um Liebe, die Enttäuschungen und Widerstand aushält, die die Sünde bedeckt, um den anderen Menschen in der Gemeinschaft lebensfähig zu erhalten, die mit allen Gaben und Besitztümern den anderen dient. "Das Ende aller Dinge" ernst zu nehmen kann uns helfen, sachlich (nüchtern) in der Gegenwart auf die Zukunft und das Reich Gottes hin zu leben, zu denken und zu arbeiten.

Wir beten: Herr Jesus Christus, unsere Gegenwart mit den Freuden, Aufgaben und Problemen nimmt uns so in Anspruch, dass wir die Zukunft, Dein Kommen, aus dem Blick verlieren. Damit wird die Orientierung für unser Reden und Handeln schwierig. Lass uns den Zusammenhang von Morgen und Heute erkennen, um jetzt das Richtige und Hilfreiche zu tun. Amen.

In "Halt uns bei festem Glauben", Meditation zum 17. Juli 1980

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Meditation

1. Petrus 4, 12-19

Von Dietrich Gutsch

"... ich schäme mich manchmal fast, wie viel wir von unserem eigenen Leiden gesprochen haben. Nein, leiden muss etwas ganz anderes sein, eine ganz andere Dimension haben, als was ich bisher erlebt habe", schreibt Dietrich Bonhoeffer nach elf Monaten Haft aus dem Gefängnis an seinen Freund. Seine Bindung an das Evangelium und seine Erkenntnisse machten ihn zum politischen Gegner des deutschen Faschismus. Nach zweijähriger Leidenszeit in Gefängnis und Konzentrationslager wird er erhängt. Und er lehnt es ab, von seinem Leiden zu sprechen!

Auch Petrus schreibt hier nicht von schlechten persönlichen Erlebnissen. Er stellt die Erfahrungen der Gemeinde in unmittelbaren Zusammenhang mit ihrem Glauben an Christus. Sie sind weder außergewöhnlich noch gesucht. Glauben heißt, beteiligt sein am Kreuztragen, teilnehmen am Leiden Jesu. "Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir" (Matth. 16,24).

Die Evangelien zeigen uns Gott, der sich in Christus auf die Seite der Gedemütigten, der Missachteten und Geringsten gestellt hat. Er teilt ihr Leiden. Ihnen gilt das Heil. Der Glaubende wird aufgefordert, mit Christus für sie dazusein, mit ihm unter der Unordnung dieser Welt zu leiden. Dietrich Bonhoeffer hat uns darauf aufmerksam gemacht und in seiner Gefangenschaft durchgehalten, nicht auf uns selbst zu achten, sondern Gottes Leiden in der Welt ernst zu nehmen. Gerade jene, die das Leiden einbeziehen in ihr Leben, sind da für die anderen, die ungefragt leiden unter Unrecht und Angst, Verfolgung und Folter, unter Hunger und aufgezwungener Armut.

Mit Gott leiden kann zum Konflikt führen mit denen, die Leid verursachen oder verharmlosen. Dies sucht die Gemeinde nicht, aber sie kann sich auch nicht davor drücken..."

Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinem Leiden.
(Dietrich Bonhoeffer)

In "Halt uns bei festem Glauben", Meditation zum 18. Juli 1980

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Mein Bruder

Von Dr. Gerhard Gutsch

Liebe Freunde, im Namen der Familie Dietrich Gutsch, im Namen von Charlotte, im Namen der Mutter, der Brüder, im Namen der ganzen Familie Gutsch möchte ich Ihnen sehr herzlich danken für Ihre Anteilnahme, für die liebevolle Ausgestaltung des heutigen Tages in Wort und Tat, für Ihr Hier- und Dabeisein.

Nur wenige unter uns kennen Dietrich von Anfang an, von der Schule, von der ersten Jungschar hier in Karlshorst. Diese wenigen - und ich gehöre zu ihnen - erinnern sich gern zurück, weil es auch die eigene Kindheit und Jugend ist. Sein kirchliches Engagement fing 1947 damit an, dass Dietrich, noch fünfzehnjährig und gerade von einer Freizeit zurückgekehrt, auf sein Drängen hin die Erlaubnis unseres damaligen Gemeindepfarrers Völkel erhielt, in Karlshorst einen Jungscharkreis zu gründen. Damals stand der Gemeinde als Versammlungsort nur ein Kellerraum zur Verfügung, Lutherklause genannt. Dort hielt die Gemeinde Gottesdienste, Bibelstunden, Konfirmandenunterricht, Trauungen und Taufen ab. Der Raum war ausgelastet. In den Freistunden hing darin sogar die Wäsche des Pfarrers zum Trocknen. Für den anwachsenden Jugendkreis wurde der Raum bald zu eng, und unser Gesang wurde zu laut für die Hausbewohner. In der Erlösergemeinde, im jetzigen Kindergarten im Hönower Wiesenweg, erhielten wir Gastrecht. Das Gemeindehaus, in dem wir uns hier befinden, war damals noch vom Krieg zerstört. Unsere Kirche, in der wir heute versammelt waren, lag im sowjetischen Sperrgebiet von Karlshorst. Dietrich arbeitete sich leidenschaftlich in seine Rolle als Jugendleiter ein, nahm Kontakt auf zum Jungmännerwerk, leitete Bibelarbeiten und Andachten, verteilte Aufgaben an seinen Nachwuchs und, ich möchte sagen: Mitwuchs. Zum Nachwuchs gehörte ich. Dietrich organisierte Freizeiten, ganz besondere Höhepunkte unseres Kreises, obwohl wir die Rationen unserer Lebensmittelkarte, Brot, Butter, Kartoffeln neben Decke, Hemd und Hose von manchem Bahnhof schleppen mussten. Das Verhältnis war freundschaftlich. Wir waren alle bei der Sache. Was Dietrich sagte, hatte Gewicht und Stimme. Seine Haltung uns gegenüber war aufrichtig und verlässlich. Er erwarb das Vertrauen aller. So wuchsen wir zusammen auf mit jugendlichem Idealismus, in pietistischer Glaubenshaltung, mit Scheu vor weltlichen oder gar politischen Gedanken. Letzteres war wohl dem Einfluss damaliger Vorbilder zuzuschreiben.

Wir wurden älter. Durch die theologische Ausbildung, die Dietrich 1949 begann, kam es bei ihm zu einer Richtungsänderung in der Entwicklung. Er traf auf die Theologie von Bonhoeffer. Bonhoeffer faszinierte und bestimmte ihn. Uns, die wir andere berufliche Wege gingen, aber an unseren Jungscharerfahrungen und -überzeugungen festhielten, uns erschien es, als ob er eine Kehrtwende vollzöge, eine Abkehr von der bisher praktizierten Erweckungs- und Bekehrungstheologie, die auf die inneren Stimme und auf Gottes Eingebung gegründet war. Dietrich wollte uns mitziehen, hartnäckig und beharrlich. Wer mit Dietrich in Freundschaft verbunden war, erlebte es wie wir öfter, dass er Gedanken und Schritte unternahm, die uns herausforderten. Obwohl wir eigene Gedanken und Erfahrungen gesammelt hatten, war uns nicht unwichtig zu wissen, warum er dieses oder jenes so und nicht anders sagte oder tat.

Da waren seine Aufbaulager. Das erste fand 1955 hier in Karlshorst statt. Unsere Kirche, aus dem Sperrgebiet freigegeben, wurde enttrümmert und entrümpelt. Daran beteiligten sich junge Christen aus Holland, Schweden, Westdeutschland und der Schweiz in Gemeinschaft mit jungen Christen aus der DDR und Berlin - Jungen und Mädchen. Wir lernten damals ein Wort, für uns ein Fremdwort, kennen: Ökumene.

Diese Aktion in Karlshorst war in Ordnung. Christen halfen beim Aufbau einer Kirche. Aber was hörten wir später? Junge Christen vieler Länder arbeiteten in den Aufbaulagern für das Nationale Aufbauwerk! Wie konnte das sein? Christen ließen sich für den Aufbau staatlich gelenkter Einrichtungen einspannen und nahmen staatliche Auszeichnungen entgegen? Das Verhältnis von Staat und Kirche war gespannt. Ich erinnere daran, dass es für uns undenkbar war, dass ein Mitglied der Jungen Gemeinde auch ein Mitglied der FDJ (Freie Deutsche Jugend) sein konnte. Kam es zu einer Doppelmitgliedschaft, führte das zum Verweis. Intoleranz auch auf unserer Seite. Diese Kooperation der Aufbaulager mit dem staatlichen Aufbauwerk war für uns eine Provokation. Und wieder mussten wir umdenken. Wir mussten erkennen, dass Mitarbeiten auch bedeutet, Bedingungen zu beeinflussen und Gespräche zu führen, kleine, wichtige Schritte, die Spannungen verringern und Verständigung fördern können. Erfolg stellt sich aber nur ein, wenn die Bereitschaft besteht, sich in die Gedanken und Problemwelt des anderen hineinzuversetzen, sich auch den Kopf des anderen zu zerbrechen. Auf Privilegien beharren, den Standpunkt einnehmen: "Wir sind 2000 Jahre alt, und wer seid ihr?" - das waren für Dietrich arrogante und unchristliche Denkweisen. Wollte sich die Kirche als eine Kirche darstellen, die für andere da ist, musste sie sich mit gesellschaftlichen und politischen Problemen auseinandersetzen. Wer seine Gemeinde liebt, die tagtäglich mit politischen Fragen konfrontiert wird, muss teilnehmen.

Dietrich musste erfahren: Je mehr er auf dem Wege der Verständigung vorwärts ging, umso mehr musste er sich gegen diejenigen verteidigen, die ihm in den Rücken fielen. Er musste sich rechtfertigen, erklären, durchsetzen. Ein aufreibender, kräfte- und gesundheitszehrender Kampf.

Wichtige Ereignisse der Welt und der Geschichte fingen an, uns als Christen zu beschäftigen. Zweifel an bisher als sicher geltenden Standpunkten kamen auf: Krieg in Vietnam - ein Krieg gegen den Kommunismus? Wir sahen vor allem bitteres Leid in menschlichen Gesichtern. Krieg im Namen der Freiheit? Auf wessen Seite stand Gott? Welcher Gott war da im Spiel? Vielleicht der Gott, der Eisen wachsen ließ? War das unser Gott?

Martin Luther King: Schwarze kämpfen um soziale Gerechtigkeit und um menschliche Würde, leidvoll, gewaltlos. Ein Pfarrer erhält unsere Sympathie - ein Schwarzer.

Wir übernehmen einen Begriff: Solidarität. Warum nicht?

Alle sprechen von Frieden, von Gerechtigkeit. Wer meint es ehrlich?

Rassismus - Antirassismus; Kampf gegen Apartheid. Kirchliche Würdenträger stehen auf Seiten der Herabgewürdigten. Warum?

Aktionen entstehen: Brot für die Welt - und nicht nur Brot; Antirassismusprogramm - Nikaragua - El Salvador. Priester und Bischöfe stehen auf der Seite der Revolution. Was ist da los? Wer informiert uns?

Ich möchte rufen: Dietrich, schicke uns die INFORMATION! (monatlicher Rundbrief des Ökumenischen Jugenddienstes)

Kirche im Aufbruch. Welch eine Entwicklung, denke ich zurück an unsere Jungschar, unsere Kirche vor über dreißig Jahren! Für mich war Dietrich an dieser Entwicklung immer mit beteiligt, immer dabei und immer ganz vorn.

In Dietrichs Krankenzimmer hing ein Bild. Ein alter Meister stellte die Anbetung der heiligen drei Könige dar. Maria, wohlhabend gekleidet, mit dem Jesusknaben, der aussieht wie zur Audienz hergerichtet, wohlgelaunt im Schoß seiner Mutter. Vor ihm die Könige, kniend und stehend. Die Darstellung lässt keinen Zweifel: Die Herren besitzen Macht, Verbindungen, Einfluss, Reichtümer, und sie tragen symbolisch kostbaren Schmuck. Sie sind wohlgenährt und ausgeruht. Es fehlt ihnen offenbar an nichts. Doch das letzte wollten sie auch noch besitzen: die Gunst Gottes.

Ich stand vor dem Bild, ich blickte zu Dietrich, wir sahen uns an und dachten an dasselbe: an den Lobgesang der Maria. Über seinen Artikel über den Lobgesang hatten wir uns im August gestritten. Die Mächtigen wird er vom Thron stoßen. Dietrich wollte mir an diesem dramatischen Text klarmachen, dass Gott nicht gegen all und jeden Wohlverhalten und Wohlwollen übt, sondern dass er sehr parteiisch ist. Seine Liebe gilt nicht allen gleicher- maßen. Gott gibt den Mächtigen keine Audienz. Er lässt sich von ihnen nicht umbuhlen. Gott stößt soziale Ungerechtigkeit um. Christus ist Hoffnung und Freude für die Ärmsten der Armen, für die Rechtlosen, Verzweifelten, Hungernden und Ausgebeuteten. Zu diesen seinen geringsten Brüdern gehören wir nicht, so sehr wir uns auch arm, rechtlos, ausgebeutet gebärden. Diese Situation ist uns unbehaglich. Wir fühlen uns ausgeschlossen. Dietrich zog daraus die Konsequenz: Uns bleibt nur übrig, Gott zu loben und zu preisen dafür, dass er gerecht ist, weil er unsere armen Brüder liebt. Wir kennen die Geschichte vom verlorenen Sohn. Der Bruder des verlorenen Sohnes ärgert sich über seinen Vater. Er ist eifersüchtig, weil der Vater seinen zerschundenen Bruder so sehr liebt, dass er zu seiner Rückkehr ein Fest feiern will. Warum freut er sich nicht, einen Vater zu haben, der seinen Bruder liebt? Warum? Hat er keine Liebe, kein Erbarmen für seinen Bruder? Aufgewachsen im Elternhaus, versteht er doch den Vater nicht. Kirche - das sind für Dietrich Menschen auf der Seite Gottes, Gebende, kämpfend für andere, selbstlos, solidarisch.

Liebe Freunde, so schmerzvoll der Tod von Dietrich für uns alle ist, so sicher ist auch, dass Sie im Ökumenischen Jugenddienst, in der Christlichen Friedenskonferenz Ihre Arbeit nach besten Kräften fortsetzen müssen. Dietrich wird noch lange dabei sein, wenn auch stumm. Ich möchte Sie bitten, ihre Bemühungen und ihren Kampf fortzusetzen, mutiger zu bekennen, entschlossener aufzutreten, selbstbewusster, nicht hastig, nicht nervös, gewiss im Glauben. We shall overcome.

Ansprache zum Abschluss des Empfanges anlässlich der Beerdigung von Dietrich Gutsch, am 20.03.1981

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"Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch"

Joh. 20,21

Von Dietrich Gutsch

Der Zusammenhang, in dem diese beiden Sätze stehen, ist uns bekannt. Die Jünger hielten sich am Abend nach dem Sabbat hinter verschlossenen Türen auf. Nach dem Justizmord an Jesus von Nazareth, den eine verhetzte Volksmenge mit dem Ruf "Kreuzige! Kreuzige!" gefordert hatte, hielten sie sich versteckt. Möglicherweise suchte man in der Stadt nach Anhängern dieses Aufrührers. Vorsicht war geboten.

Maria Magdalena verbreitete unter den Jüngern die Nachricht, dass das Grab leer sei. Petrus konnte es bezeugen. Maria behauptete, den Herrn gesehen zu haben. Wer aber sollte einer Frau eine solch unglaubliche Geschichte glauben? Und warum sollte man ihr eigentlich glauben? Die Jünger hatten resigniert. Nicht einmal der Leichnam ihres Herrn war ihnen zur Erinnerungen an den gemeinsamen Weg geblieben. Man versteckte sich. Man musste erst wieder zu sich selbst finden. Es war noch nicht die Zeit, in der man zum Protest gegen Unrecht und Schläfrigkeit auf die Straße geht. Hinter verschlossenen Türen war mehr Sicherheit - aber auch sehr deutliche Resignation, Hoffnungslosigkeit.

Die Leute von damals haben mehr und mehr meine Sympathie, gerade in diesen Tagen. Machen wir uns Ostern nicht zu einfach, zu billig, zu oberflächlich? Christus ist auferstanden - Ostern der Sieg über den Tod, die Gesetzmäßigkeit, die Resignation. Diese gute Nachricht hat es schwer, sich heute noch Gehör zu verschaffen. In Vietnam wird ein Volk planmäßig vernichtet. Aller Protest, jedes Engagement gegen diesen Mord wird ignoriert und ist bisher ohne Erfolg. Macht und Tod haben immer noch das letzte und entscheidende Wort.

Die Saat der Gewalt geht auf - Martin Luther King und Rudi Dutschke stehen für die Getöteten und Verletzten, die gegen Diskriminierung und Menschenverachtung, gegen organisierte Verhetzung und stupide Meinungsmache gekämpft haben oder es noch tun. Die Gewalt zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen status quo hat das letzte Wort, bisher, und die Volksmassen auf ihrer Seite.

Die UNCTAD-Konferenz von Neu Delhi hat keinen wesentlichen Erfolg gehabt. Die Massenvernichtung von Menschen geht weiter. Man hat sich daran gewöhnt, dass Millionen Menschen verhungern. Es gibt kein Recht für die Ausgebeuteten und Unterdrückten - weil die Besitzenden an den Hebeln der Macht immer noch sicher sein können. Gute Pläne zur Änderung der unmenschlichen Situation können nicht verwirklicht werden, weil ein weltweiter, politisch aktiver Wille trotz des Einsatzes vieler nicht vorhanden ist.

Der Tod bekommt Recht. "Es hat doch keinen Sinn - wir können nichts ändern", das ist die Sprache des Todes. Angesichts unserer Situation bekommt die Sprache des Todes immer mehr Gewicht und ständig neuen Auftrieb. Der Rückzug aus dem Engagement hinter verschlossene Türen der eigenen Anständigkeit oder der Resignation ist verständlich. Mit Entrüstung oder Draufgängertum werden wir weder in uns selbst noch bei anderen diese begründete Hoffnungslosigkeit überspielen können.

Hier aber wird uns deutlich, dass Ostern nicht zu beschaulicher Ruhe und Besinnung, nicht zum Rückzug in das Versteck einlädt. Ostern mit der Botschaft von der Auferstehung steht gegen uns - gegen unsere Erfahrung, dass es sinnlos ist, gegen die etablierten Mächte anzukämpfen - gegen unsere Erfahrung mit uns selbst. Ostern steht gegen unser Bedürfnis nach einer gewissen Sicherheit und Ruhe. Ostern macht uns unsicher - aus dem Wissen um Tod und Sinnlosigkeit führt es zur Unsicherheit der Hoffnung.

Die Jünger hatten Recht mit dem Rückzug hinter die verschlossenen Türen - es war die letzte verzweifelte Sicherheit, die ihnen geblieben war. Christus aber holt sie da heraus. Hinter verschlossenen Türen, unter sich und eingeigelt werden sie nie erfahren, was mit der Auferstehung geschehen ist. Sie müssen heraus in die Unsicherheit - gesandt mit dem Auftrag, ohne die Gegenwart ihres Herrn. So nur können sie erkennen, was Auferstehung Christi bedeutet. Auferstehung ist nicht die logische Fortsetzung der Geschichte Jesu - sie ist nur als Tat Gottes zu verstehen und darum nur im Glauben zu erfassen. Jeder Beweis, jede Sicherheit fehlen. Es ist nur der Auftrag da: "Ich sende euch, wie auch ich gesandt worden bin". Zeichen und Begleitung dieses Auftrags sind missverständlich, ohnmächtig der Interpretation ausgeliefert: Die Worte der Bibel und die Tischgemeinschaft mit Brot und Wein.

Christus hat sein Werk in die Hände derer gelegt, die ihm glauben, die den Auftrag annehmen, seine Gesandten zu sein. Friede ist die Kraft ihrer Sendung. "Friede mit euch" - das heißt Ende der Angst. Die Herrschaft der Schuld ist gebrochen. Das alles haben wir hinter uns und mit uns.

Wir sind in diesen Tagen zusammen, um etwas deutlicher zu erkennen, was wir zu sagen und zu tun haben. Wir brauchen immer wieder, jeder an seinem Ort, die Beratung, das Gespräch und auch das Studium. Wir brauchen einander, um zu erfahren, was das heute für uns und unsere Welt heißt, dass Christus auferstanden ist und uns sendet, sein Werk zu tun. Nur so, immer wieder von vorn, gegen unsere Erfahrungen, immer als Entdeckung, erfahren wir, was Auferstehung Christi heißt. Nicht der Rückzug der Resignation auf eine sichere Position - sondern Angriff auf den status quo in Hoffnung.

Predigt im Tagungsgottesdienst, Ostertreffen 1968

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Die Verantwortung der Christen heute für die Welt

Von Dietrich Gutsch

Das Thema fragt nicht danach, ob Christen eine Mitverantwortung für das haben, was in der Welt geschieht und geschehen sollte. Darüber sollten wir also nicht mehr streiten. Vielmehr, Christus hat uns in seine Gemeinde gerufen und damit zugleich auch wieder zurück in unsere Umwelt geschickt. Wir leben unter dem Anspruch unseres Herrn: "Wer euch hört, der hört mich!" (Lk 10,16) Was machen wir mit dieser Verantwortung?

Es wäre Falschspiel, wenn wir uns vormachen würden, Antworten für heute und morgen bereits in der Tasche zu haben. Wir müssen uns schon gemeinsam in unseren Gemeinden und Jungen Gemeinden die Mühe machen, zu bedenken, was Christus heute sagt, was wir für ihn tun und sagen sollen. Dazu brauchen wir Sachkenntnis über die großen Probleme, um die es heute geht, dazu brauchen wir Kenntnis der Botschaft des Alten und des Neuen Testaments, dazu brauchen wir immer wieder das Gespräch miteinander, die verschiedenen Erkenntnisse, Meinungen und auch den Streit der Meinungen.

1.

Jugend ist nicht eine Frage nach dem Alter, sondern nach der Denk- und Lebensweise. Es ist erschreckend, wie Jugend sich oft missbrauchen lässt, gedankenlos oder gar begeistert die Phrasen und Parolen der älteren Generation zu wiederholen - in der Kirche ebenso wie in der Gesellschaft.

Wenn junge Menschen nach eigenen Antworten suchen, wenn sie die Älteren (auch die "jungen" Alten) zum Nachdenken provozieren, reagiert man meist in zwei Spielarten: (a) Man holt junge Leute in direkte Mitverantwortung (Betrieb, Synode, Gemeindeleitung) und zähmt sie damit bis ihre Denkweise sich der der Älteren angleicht. (b) Man hat das schillernde Wort vom "Generationenkonflikt" zu Hand. Das mag zutreffen, wenn junge Leute sich ihre eigene Welt neben der Gesellschaft, uninteressiert an jeder Veränderung, aufbauen. Das Schlagwort reicht aber zur Erklärung nicht aus, wenn Jugend sich auflehnt gegen eine von der älteren Generation geprägte, verunstaltete aber immer noch beherrschte Welt.

Denken wir anders? Wollen wir die Welt mit ihren ungerechten Verhältnissen wirklich ändern? Was tun wir dafür?

2.

Jährlich verhungern in der Welt 40 Millionen Menschen. Sie sterben, weil die Reichen reich bleiben wollen. Das Problem wird nicht durch Mitleid und milde Gaben beseitigt werden können. Wer wirklich helfen will, muss sich mit politischen Problemen beschäftigen. Es geht um die radikale Änderung der bestehenden Verhältnisse. Unsere Mitverantwortung könnte unter anderem darin bestehen:

a) Sich Wissen über die wirklichen Probleme aneignen, eine informierte Gruppe innerhalb der Gesellschaft zu bilden.

b) Bewusstsein wecken über unsere Mitverantwortung am Massenmord, unsere Mitmenschen wachrütteln.

c) Nachdenken über die Rolle des sozialistischen Lagers aus der Perspektive dieser weltweiten Problematik: Wo haben wir Verbündete? Wo können wir uns einer Macht verbünden, die Ungerechtigkeit einschränken und Ausbeutung beseitigen könnte? Wie müsste "Sozialismus" funktionieren, damit er diese Aufgabe erfüllen könnte?

d) Als Gemeinde Mitverantwortung gestalten. Doch in der Kirche kümmern wir uns um die Hungertoten nur, wenn der eigene Betrieb nicht gestört wird. Wir läuten weiter die Glocken und wollen attraktiv sein, wir diskutieren, ob man die Jugendweihe oder die Konfirmation oder auch beides über sich ergehen lässt, wie es mit dem Glauben und dem Atheismus sei usw. usw. Sicher, an all dem ist etwas dran - und doch ist alles so falsch!

Anmerkungen der Redaktion: Es folgen Stichworte, die im Manuskript nicht ausgeführt sind

  • Lenin: Wenn Deutsche den Bahnhof stürmen wollen, dann kaufen sie erst eine Bahnsteigkarte.

  • "Bürger, schont eure Grünflächen! Nicht den Rasen betreten!"

  • Kennzeichen des ordentlichen, gehorsamen, formierten Bürgers.

  • Junge Leute im Westen haben erkannt: Erst als wir den Rasen betraten und ihn zerstörten, waren wir dazu in der Lage, die Lüge über Vietnam zu zerstören, dass dort die Freiheit verteidigt würde.

  • Erst als sie den von der Ordnungsmacht vorgeschriebenen Weg für ihre Demonstration verließen, entlarvten sie die Freiheit, die ihnen brave Bürger zugestanden hatten, als Narrenfreiheit: Die Polizei knüppelte und sie fand den Beifall der Massen - auch der Christen.

  • Schweden: verdecktes Altarbild mit Aufschrift: Christus ist nicht hier, er verhungert in Indien; er wird in Vietnam mit Napalm verbrannt.

3.

Die Tagesordnung für das, was wir in der Gemeinde zu besprechen und zu verhandeln haben, wird von der Welt aufgestellt. Im internationalen Gespräch der Christen wird das immer deutlicher. Es wird auch sehr deutlich, dass wir kaum noch daran beteiligt sind, weil wir zu provinziell denken und reden. Man erwartet eigentlich nichts mehr von uns Christen in der DDR, nur noch die Geschichten und Klagen über Schwierigkeiten, die wir haben.

Auf die eigentlichen Fragen, tun wir uns schwer zu antworten:

  • Was tut ihr in Sachen Vietnam? Warum schweigen eure Kirchen? Warum helft ihr nicht uns, den amerikanischen Christen, nein zu sagen gegen diesen Krieg?

  • Was tut ihr in euren Kirchen und in eurer sozialistischen Gesellschaft gegen den Hunger?

  • Wir sind voll Misstrauen gegenüber den Kommunisten. Ihr lebt mit ihnen zusammen in einer Gesellschaft und seid trotzdem noch Christen! Was tut ihr für das Zusammenleben und für die Verständigung? Was tut ihr dafür, dass Marxisten und Christen auch anderswo in der Welt miteinander leben können? Was tut ihr für eine Verständigung zwischen Ost und West?

  • Wir haben kein Interesse an einem wiedervereinigten Deutschland. Wir haben mit einem zu großen Deutschland schlechte Erfahrungen gemacht. Wir möchten Frieden in Europa. Was tut ihr als Christen in der DDR dafür? Hättet ihr nicht eine besondere Aufgabe, für die Annäherung der beiden deutschen Staaten zu arbeiten? Was haltet ihr von der Frage der politischen Anerkennung der DDR? Warum können sich die westdeutschen Politiker mit ihrer Nichtanerkennung unter anderem immer darauf berufen, dass sie im Sinne der Kirchen und Christen in der DDR handelten?

Eine Bemerkung zum Schluss: Es geht mir nicht darum, in die Ferne zu den großen Problemen zu schweifen und die kleinen, aber doch wichtigen Alltagsfragen zu vergessen oder zu verschweigen. Es geht vielmehr darum, die kleinen Fragen in dem heute dringend notwendigen Zusammenhang zu sehen und zu verstehen.

Anmerkung der Redaktion: abschließende Stichworte nicht ausgeführt

Beispiel: Verfassungsdebatte - Mitgliedschaft in Organisationen, Parteien - ...  Jugendtag Babelsberg, 5. Mai 1968

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Aufgaben der christlichen Jugend verschiedener Kirchen und verschiedener Gesellschaftsstrukturen in Europa im Hinblick auf Einheit und Versöhnung

Von Dietrich Gutsch

"Wenn Wahrheit und Güte sich verbinden, dann können wir menschlich leben." (Französisches Chanson)

Ich möchte mit meinem Beitrag nicht als irgendein Repräsentant verstanden werden. Jeder von uns kann nur sagen, was und wie er heute denkt - in Offenheit und bereit zu hören und zu lernen. Jeder hat seinen eigenen, ihn prägenden Hintergrund, seine persönliche Biographie. Ich lebe in einer sozialistischen Gesellschaft, und ich habe Anteil an dem Versuch, neue Werte menschlichen Lebens zu ermöglichen, einzuüben, und sie theologisch zu reflektieren. Meine Arbeit in der Kirche und in der Gesellschaft haben mich zu intensiven Kontakten mit der ökumenischen Bewegung gebracht, speziell zum Ökumenischen Rat der Kirchen, der Christlichen Friedenskonferenz und dem Ökumenischen Jugendrat in Europa. Ich möchte Ihnen meine Erfahrungen damit beschreiben und zugleich meine Position zu dem gestellten Thema.

Und eine zweite Vorbemerkung zu unserer gegenseitigen Verständigung. Ich möchte gern wissen, was bei Ihnen wirklich gedacht wird und geschieht, wie Ihre Situation ist, welche Aufgaben Sie erkennen und was Sie praktizieren. Aber ich möchte auch erfahren, was andere Christen von mir, meiner Kirche, meiner Gesellschaft erhoffen und erwarten. Wo muss ich mich ändern, korrigieren, anders verständlich machen aufgrund der Anforderungen und Anfragen von Christen anderer Kirchen, Länder und Gesellschaftsordnungen? Darum kann mein Beitrag nur Einleitung in das gemeinsame, notwendige Gespräch sein. Mehr nicht. Also ein Beitrag zur gegenseitigen Verständigung, für Wahrheit und Güte. Mit ihrer Einladung zu dem heutigen Abend haben Sie selbst schon begonnen, Antwort auf das gestellte Thema zu geben.

1.

In der ökumenischen Bewegung ist bisher kaum bestritten, dass wir zur Gemeinschaft verpflichtet seien. Kirchen verstehen wir als einen Grenzen überschreitenden Organismus. Klassen-, Rassen- und Ländergrenzen sind keine wirklichen Grenzen für die Kirche Christi. "In Christus ist nicht Ost noch West .." singen wir. Die Gemeinschaft in Christus relativiert Grenzen. Wir werden eins, ohne allerdings in Uniformität zu fallen.

Diese fast traditionelle Überzeugung wird jetzt nicht nur erheblich in Zweifel gezogen, sondern ein Widerspruch wird zur Sprache gebracht: "Christus vereint und trennt". Nicht Konfessionen und Kulturen trennen, sondern der Gehorsam gegenüber Christus selbst trennt Christen voneinander. Es gibt keine Gemeinschaft zwischen Hungernden und Satten, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Christus bringt uns an die Seite der Gedemütigten, der Diskriminierten, der zu Unrecht Unterdrückten - und damit in Gegensatz zu allen, die dies verursachen. Weil Christen aufgrund ihrer eigenen Systemverflochtenheit sehr oft auf der falschen Seite stehen, stehen Christen gegen Christen. Nachfolge Jesu führt zu Trennungen.

Einige Beispiele für solche Konflikte:

  • Das Antirassismusprogramm: Der verbale Konsens in der ökumenischen Bewegung, dass Rassismus Sünde gegen den Geist Jesu Christi sei, ist in der Aktion zur Unterstützung von Befreiungsbewegungen nicht zu halten gewesen. Die Gemeinschaft droht, durch die Aktion zu zerbrechen.

  • Chile: Solidarität mit den jetzt Leidenden führt zur Bekämpfung der Befürworter der Militärjunta, darunter auch lutherische und katholische Christen. Wurmbrand feiert den Putsch als Sieg über die seelenverderbende Ausbreitung des Kommunismus. Ihm ist im Namen des Evangeliums abzusprechen, dass er sich für die Kirche Christi äußert. Er - und nicht nur er - verdreht das Evangelium zur antikommunistischen Ideologie und Phraseologie.

  • Schwarze Theologie: Afrikaner sagen uns: Uns trennt von euch Europäern die weiße Verpackung des Christseins und der frohen Botschaft. Wir sind von euch überfremdet worden. Die Gemeinschaft mit euch hindert uns, unsere Identität als schwarze Christen zu finden. Das ist nicht nur ein verbaler Protest, sondern er wird zunehmend radikaler und deutlicher.

Aber auch in meiner Kirche gibt es Konflikte. Wieder sind es nicht zuerst dogmatische Unterschiede. Diesbezüglich gibt es eine viel größere Toleranzbreite. Uns scheidet:

  • die Analyse unserer Gesellschaft und die damit gestellten Aufgaben;

  • das bewusste und deutliche Ja zum Sozialismus ohne Sorge um den Bestand der Kirche auf der einen Seite und auf der anderen Seite die kritische Distanz oder Ablehnung aufgrund von Vorentscheidungen oder schlechten persönlichen Erfahrungen;

  • die Frage, ob wir den 8. Mai feiern als Tag der Befreiung für uns Deutsche, Befreiung vom Zwang, unmenschlich zu denken und zu handeln, oder als Niederlage und Ende des deutschen Reiches, als Schande und verpasste Chance, als Unrecht gar, das uns angetan wurde.

Das sind, zugespitzt und vereinfacht, Konflikte, die wir in unseren Kirchen auszutragen haben. Sie werden hier Ihre eigenen Gegensätze haben, die für die Praxis Ihres Glaubens entscheidend sind.

Die Frage ist: Ist das Verbindende verpflichtender als das Trennende? Gibt es unter uns Trennungen um der Wahrheit des Evangeliums willen?

2.

Mit Paulus verstehen wir Gemeinde als Leib Christi. Christus hat sich mit Leib und Leben für unsere Versöhnung mit Gott und untereinander geopfert - das ist die Mitteilung an uns alle. Dieser gekreuzigte Christus lebt weiter als ein die Welt umfassender Leib. Kirche ist dieser Leib in der Liebe Jesu Christi.

Römer 12, 5:
So sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des anderen Glied.

1. Korinther 10, 16f:
Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist's: So sind wir viele ein Leib.

Galater 3, 28:
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib, denn ihr seid allzumal einer in Christus Jesus.

Die Unterschiede sind nicht mehr konstitutiv. Sie bleiben bestehen. Wichtig aber allein ist, was verbindet: Die Teilhabe am Leib.

Kirche ist Mitteilung Gottes an alle Menschen. Weil Gott universal ist, die ganze Welt meint, darf Kirche nicht partikularistisch sein. Sie ist offen für alle. Sie hat aufmerksam zu hören, was andere zu sagen haben. Was Nichtchristen sagen und tun, könnte genau das sein, was Gott will. Christen sind angewiesen auf das Denken und Tun aller Menschen. Nur so können sie lernen und Gottes Mitteilung weitergeben. Der Dialog gehört zu ihrem Wesen, weil sie um ihre Begrenzung wissen, weil Gott es nicht auf die Kirche, sondern auf die Welt abgesehen hat. Kirche ist Leib in der Liebe Christi - aber sie ist nicht identisch mit Christus. Christus selbst haben wir ja nie unmittelbar - immer nur vermittelt, eingefärbt in kulturelle, politische und gesellschaftliche Vorstellungen und Überzeugungen.

3.

Das Dilemma: Um uns mitzuteilen, benutzen wir Sprache und Kultur. Christlicher Glaube muss sich, so wie jede Religion, vergesellschaften, also Fleisch werden in Kulturen und Strukturen. Damit ist ein Substanzverlust gegeben. Die organisierte Kirche ist nicht identisch mit der Botschaft. Synoden oder Kirchenleitungen werden immer nur eine Durchschnittsmeinung formulieren können, die jede Radikalität umgeht. Deshalb braucht die Kirche, um ihrem Auftrag und ihrem Sinn gerecht zu werden, die Initiativgruppen, die Aktionsgruppen. Sie sind nicht "neben der Kirche", sondern sie sind Kirche. Im Konfliktfall spricht vieles zu Gunsten der Gruppen, weil sie die Botschaft viel klarer sagen und leben können. Synoden und Bischöfe sind immer nur Vertreter der Unterschiede, die zusammengehalten werden sollen. Nur selten kommt es zur Klarheit und Trennung, wie z.B. zwischen Bekennender Kirche und Deutschen Christen.

Wir brauchen den Konflikt, weil er hilft, nicht zu nivellieren und die notwendige Botschaft zu sagen. Im Konflikt lernen wir. Deshalb sollen wir ihm nicht, "um des Friedens willen" aus dem Wege gehen. Christen können nicht unabhängig von ihrer Geschichte und ihren gesellschaftlichen Bedingungen Christen sein. So ist der Konflikt von vornherein gegeben. Christen können im Streit ihr Christsein bewähren in der Art, wie sie miteinander umgehen. Sie werden sich trotz aller Gegensätze im Auge behalten müssen, einander mitteilen. Christus ist so zu verkündigen, dass er auch gegen andere Christen spricht. Das ist unser Problem in unseren Kirchen und in der ökumenischen Bewegung. Mit diesem Konflikt müssen wir leben. Ihn dürfen wir nicht umgehen. Gemeinschaft ist ein Weg und ein Ziel. Gemeinschaft ist kein statischer Zustand, in dem Christus zum Kitt zwischen den Gegensätzen wird.

Anmerkung Redaktion: In einem letzten Abschnitt dieses Vortrags hat Dietrich Gutsch den Ökumenischen Jugendrat in Europa vorgestellt als ein Beispiel dafür, wie unterschiedliche Positionen miteinander ins Gespräch und gemeinsam zum Handeln kommen können. Die Notizen sind hier allerdings sehr knapp und weitgehend unverständlich, sodass wir darauf verzichten mussten.

Wien, 23.04.1975

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Gottes gute Nachricht für die Armen

Meditation zum Lobgesang der Maria Lukas 1, 46 – 55

Von Dietrich Gutsch

"Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllet er mit Gütern und lässt die Reichen leer." Haben wir das nicht längst abgeschwächt und verharmlost zum "Lobgesang der Maria", weil wir uns anders nicht mehr mit ihr identifizieren können? Unsere soziale Stellung verhindert, Marias Protest zu verstehen oder gar zu übernehmen. Sie protestierte gegen die "geordnete" Unordnung in ihrer Welt - jene Einordnung in Satte und Hungernde, Unterdrücker und Unterdrückte. Nicht von Sinneswandel, sondern von Enteignung und Veränderung der Besitz- und Machtverhältnisse spricht sie. Arme verstehen Maria unmittelbar, erkennen hier ihre eigene Hoffnung. Reiche sind am Status quo interessiert, nicht an Veränderungen, die zu ihren Ungunsten ausgehen.

In der ökumenischen Gemeinschaft der Kirche Jesu Christi, zu der Arme und Reiche gehören, können wir lernen, die Bibel mit den Augen derer zu lesen, denen die Botschaft zuerst galt, der Armen. An ihrem Verständnis können wir entdecken, wie wir in unserem Zugang zur Bibel befangen sind durch unsere Geschichte, Kultur und unseren materiellen kirchlichen Reichtum.

Maria gehört zu den Armen ihres Volkes. Ihr Protest und ihre Hoffnung sind geprägt von ihrer eigenen ökonomisch-sozialen Situation. Auch wenn es keine zusammenhängende Darstellung der sozialen Verhältnisse in Palästina zur Zeit Jesu gibt - weil die Historiker vor allem die Geschichte der dünnen Oberschicht im Blick hatten - , ist doch ein genaues Bild zu gewinnen aus Urkunden, Inschriften und verstreuten Notizen in verschiedenen Quellen, einschließlich der synoptischen Evangelien.

Ein sehr großer Teil der Bevölkerung lebte an der Grenze des Existenzminimums. Die Armen waren oft bettelarm und auf Almosen angewiesen, darauf, dass ihnen etwas Essen oder Geld geschenkt wurde - z.B. Lk 16,19-31, der "arme Lazarus"; Mk 14,7: "Ihr habt allezeit Arme bei euch"; Mt 25,35f: "Ich bin hungrig, durstig, ein Fremdling, nackt, krank, gefangen gewesen". Die Sorge um das tägliche Leben war eine dauernde Beschäftigung: Mt 6,25-33: "Sorget nicht um euer Leben". Es gab Arbeitslosigkeit. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg wird erzählt, dass selbst in der Erntezeit noch am Nachmittag Arbeitslose auf dem Markt stehen und auf Beschäftigung und schmalen Verdienst warten - Mt 20,1-16. Wenn in der Erntezeit Arbeitslosigkeit die Regel war, wird man fragen müssen, wovon diese Menschen in der übrigen Zeit des Jahres gelebt haben.

Als Jesus zum ersten Mal an die Öffentlichkeit trat, öffnete er in der Synagoge das Buch Jesaja und las vor: "Der Herr hat mich gesandt, den Armen gute Nachricht zu predigen und die Unterdrückten in Freiheit zu setzen" (Lk 4,18). Lukas setzt wohl bewusst dieses Zitat an den Anfang aller Reden Jesu, weil darin mit wenigen Worten seine Botschaft und Sendung beschrieben ist. Mit dem Kommen Jesu werden die alten, aber lebendigen Hoffnungen erfüllt. Er ist die gute Nachricht für die Armen gegen ihre Not und die Verachtung, der sie ausgesetzt sind. Er ist das Zeichen der anbrechenden Herrschaft Gottes: "Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt" (Mt 11,5). Kernstück der Ankündigung des beginnenden Gottesreiches ist der Zuspruch Jesu: "Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer" (Lk 6,20). In scharfem Gegensatz dazu wird über die Reichen geurteilt: "Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme" (Mt 19,24-26). Vor den Wohlhabenden und Einflussreichen warnt Jesus (Mk 12,38-44). Der reiche Kornbauer, der sein Getreide hortet, um den Preis höher zu treiben - eine damals übliche Praxis, und der so auf Kosten der Armen lebt, hat nichts mehr davon: "Du Narr ..., so geht es dem, der Schätze sammelt und ist nicht reich für Gott" (Lk 12,20f).

Die Armen werden von Jesus selig genannt, nicht weil sie in Armut leben. Armut führt nicht zu Gott. Aber die Gottesherrschaft zielt auf die reale Veränderung der Besitz- und Machtverhältnisse. Damit die Armen und Unterdrückten befreit werden, sind sie die Menschen, an die Jesus sich wendet. Ihnen macht er in besonderer Weise das Angebot, sich in die Bewegung auf die Gottesherrschaft hin einbeziehen zu lassen. Er schließt die Reichen nicht grundsätzlich aus, aber er fordert, dass sie ihren Reichtum aufgeben oder zur Verfügung stellen, wenn sie mit ihm gehen wollen.

Maria nimmt in ihrem Lied Aussagen aus Gebeten ihres Volkes, den Psalmen, auf. Was sie hofft und in ihrem Kind kommen sieht, lebt als Sehnsucht und Hoffnung in ihrem Volk: Das Ende von Ausbeutung, Leid und Hunger (z.B. Jes 65,19-23), kein Krieg und keine Feindschaft (z.B. Micha 4, 1-4), ein neuer Himmel und eine neue Erde (Jes 65,17) und die sichtbare, von den Völkern angenommene Herrschaft Gottes (z.B. Jes 2,1-3). Mit der Geburt ihres Kindes wird eine neue Zeit beginnen, das Reich Gottes ist im Kommen.

Diese gute Nachricht ist zugleich Gericht. Ehe die Hungrigen satt und die Tränen der Leidenden abgewischt werden können, muss das Unrecht beseitigt, müssen seine Urheber und Verfechter überwunden sein. Gott "stößt die Gewaltigen vom Thron", er bittet sie nicht, und sie gehen wohl auch nicht freiwillig. Ist uns das bewusst, wenn wir beten: "Dein Reich komme"? Sind wir bereit, so gegen unsere eigenen Privilegien zu beten, die wir gegenüber zwei Milliarden Menschen in der Dritten Welt besitzen? Wir können die Worte Marias nicht nachsprechen und als unsere Hoffnung ausgeben. Dazu müssten wir die Situation in der sie formuliert wurden, und die sozialen Unterschiede - Klassenunterschiede - , die uns von Maria trennen, verleugnen. "Die Existenz ohne Hunger ist den Hungrigen versprochen, nicht den Überfressenen" (Dorothee Sölle).

Es wäre Heuchelei, in unserem kirchlichen Reichtum davon zu reden, dass wir "geistlich arm" seien, die Seligpreisung der Armen darum auch uns gelte und wir so teil hätten an der Hoffnung Marias. Wir können nicht vergessen oder verdrängen, dass unsere Welt für die Mehrheit ihrer Bewohner eine Hölle ist. Ihnen gilt die gute Nachricht Jesu.

Weil die biblischen Schriftsteller nicht an der Beschreibung eines leidfreien Zustandes der Welt - für alle und ewig gültig - interessiert sind, sondern am Trost für die Verfolgten und Unrecht Leidenden, können sich noch heute Menschen mit ihren Aussagen identifizieren, die Armen und Unterdrückten, wir privilegierten Christen eben nicht.

Mit Recht sind wir unsicher geworden, ob die Botschaft vom kommenden Reich Gottes uns gilt, ob sie eine gute Nachricht für uns sei, die wir weitersagen können. Sie gilt uns auf einem "Umweg", dann nämlich wenn wir sie nicht privatisieren und individualisieren zu unserem eigenen Heil, sondern wenn wir teilnehmen an den Hoffnungen und Kämpfen der Armen und Ausgebeuteten. Jesus Christus ist wohl für alle gestorben und will die Befreiung aller Menschen. Befreiung kann für uns nur heißen, uns an der Veränderung der Welt zu beteiligen für mehr Gerechtigkeit, mehr Menschlichkeit und Frieden. Dafür können wir unseren Reichtum an Häusern, Kirchen, Mitarbeitern, Tagungen, Autos ... einsetzen. Vielleicht verlieren wir dabei auch Privilegien. "Weil Gott das ganze Elend des Menschen aufheben will, tut die Kirche nichts Sachfremdes, wenn sie sich mitbeteiligt an der Beseitigung des politischen Elends der Menschen" (Bischof Dr. Krusche).

Christen in der Dritten Welt sprechen davon, dass Theologie ein Ausdruck des Kampfes der Armen und Unterdrückten sein muss und zugleich ein Werkzeug für diesen Kampf. Theologie ist ein Instrument, sie zu befähigen, Wandel herbeizuführen. So ist Theologie keine akademische Theologie; sie geht von der Praxis aus und führt in die Praxis zurück. Ihr Test ist, wie sie sich auswirkt, und nicht wie sie sich anhört. Darum fragen diese Christen, ob das Verständnis der Bibel in den europäischen Kirchen nicht geprägt ist von europäischen Kulturen, von Besitz, Reichtum und Macht, und sie fragen danach, ob sie nicht befreit werden muss aus diesen Gefangenschaften.

INFORMATION des Ökumenischen Jugenddienst, Nr. 4/1981

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Dietrich Gutsch, ein gläubiger Christ

Von Lodewijk Blok

Fragt mich bitte nicht, ob es auch ungläubige Christen gibt. Diese Überschrift habe ich gewählt, weil ich andeuten möchte, dass nach meiner Meinung für Dietrich der christliche Glaube Richtschnur im Denken und Arbeiten war.

Gewissermaßen sind wir alle Geisel der Vergangenheit, der Geschichte im persönlichen und auch im weiteren Sinne. Wenn wir uns befreien möchten, um als freie Menschen zu leben, sollten wir anfangen, die Vergangenheit aufzuklären, das heißt, einander klarzumachen, was wir damals - vor 30/40 Jahren - gedacht, getan und erwartet haben. Es wird uns nicht helfen, die Vergangenheit von unseren heutigen Erkenntnissen aus zu beurteilen bzw. zu verurteilen. Natürlich ist es unvermeidlich, dass mit der Zeit immer neue Fragen an die Vergangenheit auftauchen. Man kann sie registrieren und teilweise beantworten. Das ist aber etwas ganz anderes als die ständige Beurteilung der Vergangenheit von unserem heutigen Denken und Wissen aus. Das letzte führt zu Arroganz und Verneinung der Vergangenheit, auch der eigenen Vergangenheit. Was streben diejenigen an, die auf diese Weise so gern "abrechnen" möchten?

Auf den biblischen Spuren von Dietrich

Für diese Auseinandersetzung verwende ich Notizen, die Dietrich für kurze Betrachtungen oder Meditationen niederschrieb, die er z.B. im Rahmen einer Andacht vortrug. Solche Notizen in großer Zahl, meistens undatiert, sind im Umschlag seiner Bibel von Charlotte aufgefunden worden. Hier verwende ich Blätter, die mit einem Datum versehen sind.

Zuerst Aufzeichnungen vom 29. Juli 1949, also ziemlich kurz nach seiner Konfirmation 1948, mit der Überschrift "Christus Wozu?" und auch "Wer ist Christus und wozu?" Ich halte es für wahrscheinlich, dass diese Aufzeichnungen einer Einführung dienten, zum Beispiel bei einer Zusammenkunft der Jungen Gemeinde. Zum Thema sagt Dietrich: "Man kann dieses Wunder 'Jesus Christus' nicht beweisen. Ich will es auch nicht tun und mein Bruder auch nicht. Wir möchten nur kurz andeuten und sagen Wer und Was uns Christus wurde." Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die Bibelstellen Joh. 3, 16 (Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben) und Luk. 19,10. (Denn des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist). Dietrichs Kommentar: "Jesus selbst sagt: 'Ich bin der Sohn Gottes'. Dieses majestätische Wort mag genügen. Er ist der lebendige, auferstandene Herr. Er fordert Menschen, auch uns, in seine Nachfolge zu treten." Es folgt eine Passage mit einer unterstrichenen Überschrift: "Das Christentum ist keine Religion. Darum ist das Evangelium von Jesus keine Religion, sondern die Antwort Gottes auf alle Religionen, auf alles Suchen der Menschen, auf alles Fragen unseres Herzens."

Die Aufzeichnungen zum Thema schließen mit der Notiz: "Zeugnis: Wie ich Christus erlebte." Einige Male habe ich später gehört, wie Dietrich behauptete: "Ich bin nicht religiös, dafür fehlt mir die Antenne." Nie habe ich verstanden, was er damit meinte, und nie kam ich dazu, ihn darüber zu befragen. Und immer bin ich der Meinung geblieben, das Christentum sei eine Religion und Dietrich ein religiöser Mensch. Aus diesen Aufzeichnungen wage ich zu schließen: Dietrich zielte mit dieser Bemerkung auf die Einmaligkeit, die Einzigartigkeit des Christentums.

Für ein zweites Thema benutze ich zwei Blätter mit Aufzeichnungen Dietrichs vom 15. August 1955 zum Ersten Brief des Paulus an Timotheus 2, 1-4: So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen zuerst tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige, für alle Obrigkeit, auf dass wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn solches ist gut, dazu auch angenehm vor Gott unserm Heiland, welcher will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

Von Dietrichs Aufzeichnungen zu dieser Bibelstelle zitiere ich: "Für Christus gibt es keine Schranke zwischen Gottlosen und Frommen, zwischen christlichen und gottlosen Staatsführern ..... Die Fürbitte ist unabhängig von der politischen Lage. Die CDU bedarf genauso der Fürbitte wie die SED. Der Staat, die Obrigkeit dient Christus und damit seiner Gemeinde. Die Gemeinde bittet Gott um eine Obrigkeit, die die Gemeinde in Frieden leben lässt. Die Gemeinde kann nur in Frieden leben, wenn die Obrigkeit mit der Schwertgewalt eine äußere Gerechtigkeit herstellt. Die Obrigkeit schützt die Gemeinde. Wo sie der Gemeinde diesen Schutz versagt, stellt sie damit die Gemeinde umso sichtbarer in den Schutz ihres Herrn. Glauben wir das bei uns? Oder bitten wir um einen so genannten 'Rechtsstaat'?"

Für das dritte Thema gebrauche ich die Meditation von Dietrich, 'Gedanken zu 1. Petrus 4, 1-11', die am 17. Juli 1980 veröffentlicht wurde in Halt uns bei festen Glauben. Es handelt sich den Text, den wir am 20. Mai 1981, am Tage von Dietrichs Beerdigung erhalten haben. Dietrich schenkt in dieser Meditation folgenden Zeilen besondere Aufmerksamkeit: Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. So seid nun mäßig und nüchtern zum Gebet.

In diesem Text stehen für Dietrich die Zeit des Endes aller Dinge und die Gegenwart in einem verheißungsvollen Verhältnis. Das Ende aller Dinge bedeutet nicht die Zerstörung aller Ordnung, sondern die Errichtung einer ganz neuen Ordnung, wie zum Beispiel in Jesaja 2,4 angedeutet ist. Die Völker werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen.

Dietrichs Kommentar: "Wer von diesem Ende her denkt, wird sein Leben so gestalten, dass es diesem Ziel Gottes dient. Auf dieses Ziel hin mahnt Petrus die Gemeinde und uns heute, sachlich (nüchtern) zu beten, aber ohne Voreingenommenheit und Ressentiments, aber mit Wissen um die Probleme und ihre Ursachen und mit engagierter Hoffnung; beten um Liebe, die Enttäuschungen und Widerstand aushält. ..... Das Ende aller Dinge ernst zu nehmen und auf die Zukunft und das Reich Gottes hin zu leben, zu denken und zu arbeiten."

An dieser Stelle und zu dieser Zeit aus den hier vorgestellten biblischen Gedanken Dietrichs Schlussfolgerungen zu ziehen oder Entwicklungen zu registrieren, kommt mir unangebracht, weil überheblich und voreilig vor. Lasst uns vorerst die visionäre Vielfalt seiner Gedankenwelt zur Kenntnis nehmen. Hoffentlich wird sich noch mal die Möglichkeit ergeben, den geistigen Nachlass von Dietrich weiter und systematischer zu studieren.

Persönliche Bemerkungen zum Abschluss

Wahrscheinlich habe ich zuerst 1961 ein Ostertreffen in Berlin mitgemacht. Es war meine zweite Deutschlandreise, nachdem ich im Herbst 1960 an einer wissenschaftlichen Tagung von Historikern in Erfurt teilgenommen hatte. Es folgten August 1961 ein Ökumenisches Aufbaulager in Berlin, mehrere Ostertreffen und sehr viele Tagungen mit Historikern. Diese Begegnungen mit Deutschland, mit der deutschen Kultur, mit deutschen Christen und mit deutschen sozialistischen Kollegen in der DDR haben sich in meinem Leben als wichtig und bestimmend erwiesen. Sie haben mein Blickfeld erweitert und bereichert. Noch immer freue ich mich, dass dies alles ermöglicht wurde. Nebenbei sei erwähnt, wie ich mit Erstaunen feststellen musste, dass Tagungen mit internationaler Beteiligung in deutscher Sprache durchgeführt wurden.

Die Persönlichkeit und Arbeit von Dietrich Gutsch kennen zu lernen, war erfrischend und inspirierend. Wir lernten auf eindringliche Weise die Auffassung kennen, dass der christliche Glaube nicht an eine bestimmte politische Gesellschaftsordnung gebunden sei. In der Hitze des kalten Krieges war das ein auffallender, fast revolutionärer Standpunkt. Er erwies sich als ein fruchtbarer aber auch empfindlicher Ausgangspunkt.

Von Dietrich haben wir gelernt, in einer direkten Weise in nüchternem Glauben mit der biblischen Botschaft zu verkehren. Gesellschaftliche und politische Fragen blieben dabei nicht außer Sicht. Das war nicht immer leicht. Dietrich und andere wollten mit Christen aus West-Deutschland und anderen europäischen Staaten ausdrücklich im Gespräch bleiben. Und darin wollten sie ernst genommen werden.

Wir wurden vertraut gemacht mit Begriffen wie 'Proexistenz' und 'Suchet der Stadt bestes'. Vor allem hat der letzte Begriff mich beeindruckt. In der 'Babylonischen Gefangenschaft' (587 - 538) bekam ein Teil des israelitischen Volkes den Auftrag (Jeremia 29): Baut Häuser und siedelt, pflanzt Gärten und esst ihre Frucht ... mehrt euch dort.... Und fragt nach dem Frieden der Stadt, dahin ich euch verschleppen ließ, betet für sie zu mir, denn in ihrem Frieden wird Euch Frieden sein.

Erst vor kurzem ist mir aufgefallen, welche wichtige Rolle diese Worte auch in der späteren jüdischen Diaspora spielen. Ein Beispiel dafür ist bei Moses Mendelssohn in seiner Schrift, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1782), zu finden: "Und noch jetzt kann dem Hause Jakobs kein weiserer Rath erteilt werden, als eben dieser. Schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches ihr versetzt seid; aber haltet euch auch standhaft zu der Religion eurer Väter. Traget beider Lasten so gut ihr könnet!"

Obwohl ich seit 1965 nicht mehr direkt mit der Arbeit von Dietrich zu tun hatte, sind wir in Verbindung geblieben und haben die Möglichkeiten, einander zu treffen, genutzt. Es fehlte uns nie an Gesprächsstoff, den wir oft, aber nicht immer, in der Aktualität vorfanden. Was auch nicht fehlte, war gegenseitiges Vertrauen. Auf dieser Basis sprachen und diskutierten wir zum Beispiel über die deutsche Nationalität (1961), die Lage in Europa (Prag, August 1968), das Vermächtnis von Martin Luther und über Judentum.

Seit Jahren bin ich einen anderen Weg gegangen und bekenne mich nicht mehr zum christlichen Glauben. An die Freundschaft mit Dietrich Gutsch erinnere ich mich mit großer Dankbarkeit. Und zu bestimmten Zeiten und Ereignissen frage ich mich noch oft, was er dazu gemeint hätte.

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Bekehrung zur Welt

Vera Hanekamp-Kovács Sebestény

Wir sind hier zusammen eine bunte Gesellschaft, aus verschiedenen Ländern, Berufen, mit verschiedenem religiösen Hintergrund, politischen Überzeugungen, Männer und Frauen von verschiedenem Alter. Wir sind zusammen, weil wir alle Dietrich gekannt haben und durch ihn inspiriert wurden, und weil wir unsere Erinnerungen an ihn miteinander teilen möchten.

1965 habe ich Dietrich kennen gelernt in einem Aufbaulager in Dresden. Die politische Lage in Ungarn war damals noch ziemlich gespannt. Die Wunden der Revolution von 1956 waren noch nicht geheilt, der Terror, die Gewalt, die Vergeltungsmaßnahmen nach der Niederschlagung der Revolution noch nicht vergessen.

In der Kirche in Ungarn war eine deutliche Spaltung zwischen der Kirchenleitung und der Mehrheit der Pfarrer. Die Bischöfe und andere höhere Angestellte waren mit der kommunistischen Regierung gleichgeschaltet. Die Pfarrer hatten vor der eigenen kirchlichen Behörde ebensoviel Angst wie vor den kommunistischen Behörden. Die meisten "guten" Pfarrer versuchten, in der eigenen Gemeinde selbständig zu arbeiten und wollten so wenig wie möglich mit der Kirchenleitung zu tun haben. Die Ortsgemeinden waren autonom, introvertiert, und die gesellschaftlichen Probleme waren weit weg. Man sollte das so genannte "sterile Evangelium" verkündigen, das immer und überall gültig ist. Als das Wichtigste erschien stets das persönliche Verhältnis zu Gott im Sinne der Frage: "Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?" Das Ergebnis war eine pietistische, geschlossene, nach innen gerichtete Gemeinde.

Ich gehörte auch zu dieser eben beschriebenen Gruppe. Der Pietismus hat viele Jugendliche angesprochen. Er gab Sicherheit, Wärme, Vertrauen, Schutz, Zusammengehörigkeit und eine feste Haltung der feindlichen, atheistischen Ideologie gegenüber. Ich erwartete, in Dresden eine ebensolche Atmosphäre anzutreffen.

Meine Erwartungen waren aus verschiedenen Gründen hoch gespannt. Warum? Es war meine erste Auslandsreise. Noch nie hatte ich die Grenzen Ungarns überschritten. Die Grenze hatte damals in unseren Gedanken eine geradezu magische Bedeutung, die Grenze in den Westen zumal war verknüpft mit der Idee einer Mauer, eines eisernen Vorhanges.

Sehr spannend schien mir auch die Möglichkeit, Begegnungen und Gespräche mit Ausländern zu haben. An der theologischen Akademie in Budapest haben wir oft ausländische Gruppen gesehen, aber wir durften sie nie sprechen. Bei Vorlesungen saßen wir immer schon im Saal, wenn solch eine Gruppe mit einem Professor hereinkam und wir blieben, bis sie den Raum wieder verließen, ohne dass wir die Möglichkeit gehabt hatten, mit ihnen zu sprechen. Einmal ist es einem Studenten aus dem dritten Studienjahr, István Török, gelungen, einen westdeutschen Studenten im Korridor anzusprechen und ihn zu einem Gespräch in sein Zimmer einzuladen. Es kamen 10-12 ungarische Studenten zusammen und erzählten dem Gast von der "anderen Wahrheit", abweichend von der der Professoren. IstvánTörök wurde von der Akademie entfernt, die anderen Beteiligten haben einen Verweis bekommen. Zwei Jahre später konnte István Török verspätet sein Studium an der zweiten theologischen Akademie, in Debrecen, beenden.

Die Sensation meiner Reise hat mich ganz erfüllt. Der internationale Zug, die Grenze, die Fremdsprache und die Erwartung der Begegnungen mit Jugendlichen aus anderen Ländern. (Wenn ich heute unsere Kinder beobachte, wie sie ihre "Weltreisen" nach Amerika, China, Afrika etc. vorbereiten, muss ich über meine damalige Aufregung lachen. Es waren andere Zeiten - in jeder Hinsicht.)

Endlich bin ich in Berlin eingetroffen; mit einem großen Koffer, Sonnabend Nachmittag, ganz allein. Niemand verstand mich, und ich verstand auch niemanden. Endlich habe ich die Adresse von Ursula Grimm auf einen Zettel geschrieben und gebeten, die Antwort auch aufzuschreiben. So bin ich bei Ursel angekommen. Am nächsten Tag reiste ich weiter nach Dresden. Das Aufbaulager sollte beginnen.

Dietrich und Eva haben uns empfangen und über das Konzept der Aufbaulager gesprochen, etwa so: Ökumenische Aufbaulager, ihre Intention und Aufgabe, sind in vielen Ländern aller Kontinente bekannt. Seit vielen Jahrzehnten gibt es Aufbaulager säkularer Organisationen. Auf den Trümmern des zweiten Weltkrieges bekam diese Idee neues Leben, auch in kirchlichen Gruppen. Die Jugend der verschiedenen Kirchen und Denominationen übernahm 1948 diese Möglichkeit des Dienstes für andere. Mit der Beseitigung von Ruinen wollte sie zur Versöhnung der Völker beitragen und ein besseres Zusammenleben ermöglichen. In der Arbeit der Versöhnung der Völker ist zugleich die Versöhnung der Konfessionen und Kirchen eingeschlossen. So geht es von Anfang an um die Erneuerung der Kirchen und die Mitarbeit an den Aufgaben der Gesellschaft. Darum liegt hier der besondere Reiz für uns, als Jugend der verschiedenen Kirchen.

Dietrich: Ich bin nicht objektiver Beobachter 'der Jugend', sondern gehöre dazu. Wir sind nur eine relativ kleine Gruppe. Von Zahlen und attraktiver Organisation halten wir nicht viel, umso mehr von Verbindlichkeit und persönlichem Engagement. Statt in der Diskussion stecken zu bleiben, möchten wir Denken und Tun miteinander verbinden. Für uns gehört beides eng zusammen. Das eine muss das andere bestimmen. Wir wollen die Kirche nicht durch neue Methoden der Verkündigung aufschminken. Restaurierung, Wiederherstellung vergangener Positionen ist nicht unser Ziel. Christus stellt uns durch die Welt, in der wir leben, grundlegend in Frage. Erneuerung der Kirche kommt aus der Mitte des Evangeliums, und dabei zerbrechen unsere Traditionen und christlichen Grundsätze. Darum fragen wir nach dem Evangelium für unsere Zeit und Situation.

"Christus ist für die Welt - Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was eine Leben mit Christus ist, was es heißt, für andere dazusein." (Dietrich Bonhoeffer) Die Lager bieten uns die Möglichkeit, etwas vom Dasein für andere zu lernen und die von kirchlicher Betriebsamkeit, gepaart mit christlichem Individualismus, überwucherte neutestamentliche Begründung der Gemeinde Christi für unsere Zeit wieder zu finden. Sie sind der Ort, an dem wir für unser tägliches Leben in Gemeinde und Gesellschaft probieren und experimentieren. Entscheidend dabei ist, dass wir nicht unverbindlich theoretisieren, sondern dass ein gewisses Maß von persönlichem Einsatz hinzukommt. Die Probe auf das Gelernte und Erkannte wird später der Alltag sein.

Nach Dietrichs Meinung gehörten zur Arbeit im Aufbaulager gemeinsames Bibelstudium, Gebet und Fürbitte, das Nachdenken über unseren Weg und unsere Verantwortung, die intensive und kritische Beschäftigung mit der Geschichte und ihren Forderungen an uns.

Die Bibelarbeit habe ich mir ganz anders vorgestellt. Meiner Meinung nach war es gar keine Bibelarbeit! Es war Aberglaube, Ketzerei, Provokation! Dietrich ist immer ruhig und freundlich geblieben. Die Atmosphäre war locker, sogar humorvoll. Es gab keine hierarchischen Verhältnisse; jeder wurde mit Du angesprochen. Dietrich strahlte wohl eine natürliche Autorität aus, aber ohne Zwang. Allmählich wurde ich etwas unsicherer. Später fing ich an, darüber nachzudenken: Vielleicht ist es der Mühe wert .....

Ungefähr so weit war ich diese Woche mit meiner Betrachtung, als Bert mit einer alten Notiz von Dietrich zu mir kam. Ich wollte gerade versuchen, wiederzugeben, welche Gedanken für mich zu einer Offenbarung wurden. Es war schwierig für mich, die richtigen Worte und Ausdrücke zu finden, und auf einmal hatte ich den originalen Text von Dietrich zur Verfügung. Ich zitiere Dietrich:

"Weil Gott in allen großen Wandlungen, die in unserer Zeit geschehen, am Werk ist, können wir ihn nicht in die Vergangenheit verbannen. Darum genügen uns nicht zeitlose christliche Lebensregeln, sondern wir möchten vom Evangelium her wissen, was wir heute in der DDR und in Ungarn zu tun haben. Diese Frage nach dem weltlichen Engagement beschäftigt vielen Christen in der ganzen Welt, weil Jesus Christus nicht länger für den kirchlichen oder religiösen Sektor vereinnahmt werden darf. Besonders dringend und schwerwiegend ist dieses Problem für die Kirchen in den Ländern, in denen die bisherige Gesellschaftsordnung revolutionär umgestaltet wird. Wenn Leben und Lehre Jesu Christi für uns nicht in organisierter Langweile und bedeutungsloser Religiosität enden sollen, dann muss uns seine Wirklichkeit in unserer heutigen Situation treffen. In unserer kirchlichen Praxis und unserer Gemeindestruktur begegnen wir weithin traditionellen "christlichen" Grundsätzen und Lebensregeln, sie treffen aber nicht mehr unsere Wirklichkeit und haben kaum Gewicht für unsere Entscheidungen "in der Welt". Hier zeigt sich der theologisch zwar überwundene aber in der Praxis längst noch nicht verabschiedete Dualismus von "Kirche" und "Welt". So können wir Kirche nicht mehr statisch verstehen, sondern nur dynamisch, und darum auch das Institutionelle an ihr nur von der Aufgabe her. Durch das Zerbrechen alter Ordnungen in der neuen Fragestellung, die sich aus der neuen Situation ergibt, sind wir unsicher über unseren Weg. Darum ist die Versuchung groß, sich am Institutionellen festzuhalten. Dies aber bedeutet den geistlichen Tod unserer Kirchen und Gemeinden durch ungläubige Lethargie. Erneuerung der Gemeinde ist nicht Sache der Organisation, sondern des Lebens, ist nicht Frage nach dem "Wie" der Verkündigung, sondern nach dem Inhalt. "Christen sollten Spürhunde des lieben Gottes sein, die Nase am Boden, um zu schnuppern, wo der Herr hingegangen ist." (Horst Symanowski) Dabei werden wir vielleicht - oder sicher? - sehr ungewohnte und gefährliche Wege "hinter ihm her" gehen müssen, zu Menschen und Gruppen, an denen wir bisher bewusst vorbeigegangen sind. Möglicherweise erschrecken wir auch über die "Irrwege" oder darüber, dass der Weg nicht in der Kirche endet. Aber nur in dieser Bereitschaft, dem lebendigen Herrn zu folgen und ihn in seinem Tun unter den Menschen zu entdecken, kann die Erneuerung der Kirchen beginnen.

In der Arbeit eines Lagers erfahren wir, dass wir uns nicht von unserer gesellschaftlichen Bindung distanzieren können, ohne zugleich die Ganzheit des Evangeliums aufzugeben. Notwendigerweise ist darum die Gesellschaft, in der wir leben, mit ihren Belangen, Forderungen und Aufgaben das Thema unserer Lagergespräche. Wir können diesen Fragen nicht mehr ausweichen, da wir im Alltag vor Entscheidungen gestellt werden. Die Gemeinschaft eines Aufbaulagers arbeitet und lebt nicht abgeschlossen im kirchlichen Raum, sondern vielmehr in der Beziehung zu anderen Menschen auf der Baustelle und den täglichen Aufgaben der Umwelt. Sie will nicht der Fluchtort für die "Ferien von der Umwelt" sein, sondern uns helfen, unser Engagement zu entdecken und einzugehen. Dabei versuchen wir in der gemeinsamen Beratung und dem Bibelstudium die traditionellen Vorurteile gegenüber unserer Zeit zu überwinden und ihre technische und gesellschaftliche Entwicklung sachlich zu sehen und zu verstehen. In der kurzen Zeit eines Lagers kann ein solches Gespräch nur begonnen werden. Wir mögen Fehler begehen, aber wir vertrauen auf den Heiligen Geist."

Zurück in Ungarn habe ich sehr intensiv an deutschen Sprachkursen teilgenommen, weil Dietrich nicht bereit war, ungarisch zu lernen.

lm nächsten Jahr fuhr ich zum Ostertreffen nach Berlin. Ein Jahr später war ich Lagerleiterin in Niesky. In der Zwischenzeit hatten wir regelmäßig Gesprächskreise bei Jozsef Farkas, zusammen mit anderen Jugendlichen aus der Gemeinde von Farkas und Studenten anderer Universitäten. Beim Ostertreffen 1966 habe ich Bert kennen gelernt. Er hat mich eingeladen zu einem Lager in Holland, aber ich bekam keinen Pass für die Reise in den Westen.

Eines Tages im Herbst 1967 wurde ich von der Geheimpolizei angerufen. Am nächsten Tag müsse ich mich melden, aber niemand dürfe davon wissen. Natürlich habe ich es einem guten Freund erzählt, falls ich nicht zurückkäme. Das Verhör war unheimlich: Wer war im Aufbaulager? Worüber haben wir gesprochen? Was bin ich gefragt worden? Welche Aufgaben habe ich dort bekommen? Und so weiter. Die Aufbaulager seien nämlich ein Deckmantel und in Wirklichkeit eine Organisation des westdeutschen Geheimdienstes - behaupteten sie. Alle Teilnehmer waren deshalb potentielle Spione. Ein Pfarrer aus Budapest, Bálint Kovács, der auch zu unserem Kreis gehörte, sei ebenfalls verhaftet und habe alles bekannt, erzählten sie mir. Sein Geständnis und seine Unterschrift haben sie mir gezeigt. Ich müsse wissen, dass auf Spionage die Todesstrafe stehe. Nach drei Stunden ständigen Verhörs durfte ich nach Hause gehen, um darüber nachzudenken. Nach einigen Wochen wollten sie mich wieder verhören. Voll Angst wartete ich auf den nächsten Anruf, der nicht mehr kam. Nach einigen Wochen wurde Pfarrer Bálint Kovács auch freigelassen. War Dietrich also ein Agent des westdeutschen Spionagedienstes?

Seit 1968 bin ich mit Bert verheiratet und nach Holland übergesiedelt. Eine ganz andere politische Situation, eine andere "Umwelt". Ich wurde aktiv in der Friedensbewegung. War es eine andere Friedensbewegung als die in Osteuropa? Ende der achtziger Jahre bekam unsere holländische IKV-¬Gruppe kein Visum mehr für die DDR. In Ungarn hat 1968 mit dem so genannten "neuen Wirtschaftsmechanismus" auch eine neue Periode begonnen. Das bedeutete mehr Freiheit für Unternehmen, sowie im geistigen Leben. Ich war erstaunt, dass ein Film von Pasolini, der in Holland einige Wochen durch die Filmzensur verboten war, in Budapest in allen großen Kinos zu sehen war. Kádár hat in Ungarn im Laufe der Zeit den Gulasch-Kommunismus aufgebaut.

Dietrich haben wir nicht mehr so oft gesehen und gesprochen. Unsere "Umwelt" in Holland und auch in Ungarn war ganz anders. Wir waren nicht immer derselben Auffassung, aber das Vertrauen ist geblieben.

In den letzten Wochen habe ich oft an Dietrich gedacht. Was würde er nach dem 11. September sagen? Sicher etwas ganz anderes als die Regierungen, die Medien und die meisten Politiker. Jetzt erfahre ich wieder, was für einen großen Einfluss Dietrich noch immer auf mein Denken hat. Ohne Dietrich wäre mein Leben anders verlaufen.

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Konkret und verbindlich

Von Britta Lissner Nicholson

Meine erste Begegnung mit Dietrich Gutsch war an einem sehr frühen Sonntagmorgen im Jahre 1957, als ich mit dem Nachtzug von Kopenhagen um sechs Uhr auf dem Ostbahnhof ankam. Es war mein erster Besuch in Berlin, und ich war gespannt darauf, was zu erwarten wäre. Ich wurde von einem sehr netten und freundlichen jungen Mann mit einer Alpenmütze auf dem Kopf begrüßt. Dietrich lud mich fröhlich zu einer Fahrt auf seinem Motorrad ein und bald saß ich hinter ihm und fuhr durch eine damals immer noch stark verwüstete Stadt. Irgendwo (am Spittelmarkt?) kamen wir in einer Wohnung an, wo er mir ein Frühstück anbot und danach ein Bett, auf dem ich nach der Nachtfahrt einige Stunden Schlaf nachholen konnte. "Danach", sagte er, "wirst Du nach drei Stunden von jemandem geweckt werden, der mir ähnlich sieht, nur etwas dicker, und Du kannst mit ihm zum Aufbaulager fahren." So geschah es. Drei Stunden später stand Gerhard Fuchs da, auch mit Alpenmütze auf dem Kopf, und hinten auf seinem Motorrad fuhr ich also zum Aufbaulager.

So fing etwas an, was für mich ganz wesentlich wurde, die Erfahrung einer festen Zugehörigkeit und ein prägender Einfluss auf mein Leben. Die Kombination von Wagnis, Vertrauen und Lustigkeit war und blieb charakteristisch. Unsere Gemeinschaft wurde durch Dietrichs groβen Fleiß und dauerhafte Unermüdlichkeit geschaffen und erhalten - darunter unzählige Abholungen morgens früh von Ostbahnhof. Wesentlicher noch war die klare, starke Verbindung, die er zwischen Evangelium und Welt, zwischen Glauben und Handeln setzte. Der Sonntag wurde mit den übrigen Wochentagen verbunden, die zwei Reiche wurden zu einer Welt, wurden in unserem Leben zusammengeführt, und für mich bedeutete das die Überwindung einer schmerzlichen Spaltung in meinem Bewusstsein zwischen dem Individuum und der Sozialarbeiterin. Der bekannte Spruch des Weltkirchenrates "Mit der ganzen Kirche für die ganze Welt", der den tiefsten Sinn der ökumenischen Bewegung ausdrückt, war für Dietrich nicht nur ein schöner Gedanke, sondern eine leidenschaftliche Lebensorientierung, mit der er uns angezündet hat, eine Fackel, die er an uns weiterreichte. Die Welt war nicht mehr nur die Welt, sondern Gottes Welt. Eines Ostern hörten wir in der Predigt: So liebte Gott die Welt. Nicht die Kirche, sondern die Welt liebte er. Nach Johannes bedeutet das die von Gott abgewandte Welt, und gerade diese Botschaft war wesentlich für diejenigen, die in einer atheistischen Gesellschaft lebten, aber auch sehr bedeutsam für jemanden, der in dem säkularisierten Dänemark wohnte. Es bedeutete auch eine Welt, in der wir wie kleine Hunde seinen Fußstapfen nachschnuppern sollten (Symanowski). Manchmal verlieren wir die Spur oder den Mut, ihr zu folgen, manchmal zweifeln wir daran und trauern darüber. Aber nie wieder wurde das Evangelium eine Sache nur der persönlichen Erlösung und der individuellen Unsterblichkeit, sondern ein notwendiger und unausweichlicher Aufruf zu einem Engagement für ein Leben vor dem Tod für alle Menschen. Daraus entsprang die Vision, die durch Dietrich bald zu unserer eigenen geworden ist, die Vision der Kirche als Ort der kritischen Solidarität und der Selbstkritik.

Dietrich war durch und durch unsentimental. Er scheute die flotten Sprüche und Phrasen. Einmal erlebte ich, wie er seinen Sohn Christoph nach der Schule energisch ausfragte, was das mitgebrachte aktuelle Schlagwort: Wir stellen uns hinter Cuba! konkret bedeutete. Der kleine Christoph fand es schwer, auf die Fragen des Vaters zu antworten. Dietrich verlangte stets Sachlichkeit. "Dazu gehört Wissen", sagte er, "konkrete Information". Deshalb gab es auf allen unseren Tagungen Berichte, in denen aus persönlicher Erfahrung informiert wurde. Konkret und verbindlich zu sein, war immer ein Anliegen Dietrichs. Seitdem habe ich mich mit großen Worten manchmal schwer getan. Ich hatte Dietrichs Frage an Christoph im Ohr: Aber was heiβt das konkret und verbindlich?

Konkret und verbindlich führt manchmal zu unbequemen Positionen. Wenn man unbequeme, nicht angepasste Dinge sagt und tut, geht man trotz aller Freundschaft doch einen einsamen Weg. Und das hat seinen Preis, innerlich und äußerlich. Mein Mann erinnert sich an einen Abend unter vier Augen mit Dietrich bei einem seltenen Besuch in London. Da sprach Dietrich offenherzig davon, wie er unter dem Mangel an Vertrauen litt, den er in vielen kirchlichen Kreisen und Leitungsgremien erlebte. Er arbeitete bewusst in einem Grenzgebiet, hielt Türen auf eine Weise offen, die auch der organisierten Kirche zugute kam. Wieso werde seine Person und seine Integrität in Zweifel gezogen, weil er (mit evangelischer Freiheit) diese anderen notwendigen Aufgaben auf sich nehme? Das war eine seltene und kostbare persönliche Äußerung eines sensiblen Menschen, dessen Leben sonst von einem ungewöhnlichen Grad an Selbstentäußerung geprägt war und bei dem eigene Gefühle oft hinter der Aufgabe verborgen blieben. Diese Spannungen haben ihn die Gesundheit gekostet, und ich denke, es ist nicht zu viel gesagt, da er sein Leben für diese Aufgabe, auch für unsere Gruppe, gegeben hat.

Mitten drin war aber auch immer Humor dabei. Wir haben viel zusammen gelacht, und ich hoffe sehr, dass dieses gemeinsame Lachen auch ihm gut getan hat. Dabei war es ihm auch sehr wesentlich, da die schöne, lustige, lebhafte Gemeinschaft unseres Ostertreffens nicht zu einem Ziel an sich würde. Ich erinnere mich an eine Schlußandacht oder Abschiedsrede von Dietrich bei einem Ostertreffen. Er ging von der Episode der Verklärung Jesu auf dem Berg aus und gab uns eindringlich mit auf den Weg, dass die Jünger sich an dem schönen Erlebnis nicht festklammern sollten. Der Weg bergab ginge zurück in die Welt, in den Alltag. Dort sei die eigentliche Aufgabe, nämlich Salz und Licht für die Welt zu sein. Eva Richter hat mir gesagt, dass für sie das Wesentliche an Dietrichs Haltung darin bestanden hätte, jeweils die Situation, in der er sich gerade befand, anzunehmen und ernst zu nehmen.

Ein Beispiel dafür, wie Dietrich das verstand: Er sprach ab und zu darüber, dass man den Beamten der DDR menschlich und mit Respekt begegnen solle und dass man sie mit ihren selbst erklärten guten Absichten des Sozialismus beim Wort nehmen solle. Auf das Gute in den politischen Vorstellungen, zu denen sie sich ausdrücklich bekannten, komme es an, und man solle sich nicht irgendeinem Feindbild über diese Menschen unterwerfen.

Beim Nachdenken über unsere heutige Lage und über das, was Dietrich uns jetzt bedeuten könnte, habe ich folgendes gedacht:

Wir sollten unsere Politiker und Beamten auch heute auf ihre erklärten guten Absichten und Prinzipien festnageln, statt ihnen mit Apathie und Verachtung den Rücken zu kehren. Dies kann ganz verschieden aussehen, z.B. viele Leserbriefe schreiben, die geprägt sein müssen von Sachlichkeit, wie Dietrich sie forderte.

Genau wie wir damals den "eisernen Vorhang" durchquerten und uns mit den so genannten Feinden ins Gespräch wagten, um des Friedens und um der Menschheit willen, liegt die Aufgabe von heute darin, neue Vorhänge zu zerreißen, zum Beispiel das neue Feindbild, das in unseren Ländern in den Augen vieler jetzt den Muslimen anhaftet durch Begegnungen und Gespräche abzubauen. Überall dort, wo Menschen aus irgendwelchen Gründen von der Gesellschaft ausgestoßen und verteufelt werden, ist es, im Sinne von Dietrich, die Aufgabe, den Fußspuren Jesu nachzuschnuppern, die zu diesen Menschen führen und auch die Machthaber von heute bei ihren eigenen schönen Absichten zu behaften.

Wir sind zutiefst dankbar und werden es immer sein, Dietrich als guten Freund gekannt zu haben und von seinen Gedanken geprägt zu sein.

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Solidarisch – verantwortlich – frei

Von Günter Siebert

Ich habe an 5 Aufbaulagern teilgenommen. Zwei hatte Dietrich vermittelt: Magdeburg 1956 und Wiebelskirchen 1957. In Eisenach 1958, Dresden 1959 und Nicsky 1963 hatte er mich als Lagerleiter in die Pflicht genommen und eigene Verantwortung übertragen - eigentlich auferlegt.

Ich erinnere mich, als ich Ende August 1957 aus Wiebelskirchen zurückkam, war es aus mit Westreisen schlechthin und mit West-Freunden in künftigen Ost-Aufbaulagern. Nun stand die Frage, ob wir den Laden dichtmachen oder uns der neuen Lage stellen würden. Wir haben die Bibel befragt und miteinander diskutiert. Was kam raus? Es geht uns nicht um uns, nicht um unser Wohl, sondern "der Stadt Bestes" sollen wir suchen. Das war uns - jedenfalls mir - neu, hatte ich doch einen mehr oder weniger frommen Hintergrund. Das führte - ich denke an Eisenach 1958 - zu heftigen Debatten und vielleicht auch zu Entzugserscheinungen. Dietrich stand uns bei. Er wusste wohl um unsere Befindlichkeiten, was es damals hieß, abgenabelt zu sein, selbständig zu sein. Dass das schon der Beginn einer neuen großen Freiheit war, konnten wir nur ahnen.

Unvergessen das große Lagertreffen in Berlin 1958. Dietrich ließ nicht locker: Wer sind wir? Für wen sind wir da, für uns oder (auch) für andere? Worin bestand die Chance? Was waren die Konsequenzen? Einmischen, solidarisch und gleich sein, mittun wollten wir. Es riskieren, ohne die schützenden Kirchenmauern auszukommen - aber nicht etwa als "fünfte Kolonne", auch nicht als verkappte Missionare.

Es war 1959, Dietrich hatte die Dresdner Stadtoberen überzeugt; sie akzeptierten ihn und uns. Wir hatten endgültig Bodenberührung, und der Boden erwies sich als tragfähig. Immer noch ist mir gegenwärtig: Dietrich besucht uns bei der Arbeit und legt mit Hand an beim Bau von Wohnungen im Dresdner Zentrum. Präses Kreysig geht bei uns in die Schule für seine geplante "Aktion Sühnezeichen" und volontiert eine Woche lang. Die Stadtverwaltung besucht uns in unserer Unterkunft in der Versöhnungskirche und ist erstaunt, dass wir ganz normale Menschen sind. Wir sind "in der Welt" angekommen! Stellvertretend für das ganze ökumenische Aufbaulager Dresden 1959 erhalten Alice und ich die Silberne Aufbaunadel der Stadt Dresden.

Dietrich hat uns immer wieder auf seine Weise gesagt, was er erkannt hatte - freundlich und frei, nachdenklich und konsequent, oft überraschend. Er war nicht nur mein Lehrer, er war mein Trainer. So wurden immer mehr seine Anregungen zu meiner Erfahrung. Auf ihm konnte ich mich einlassen und verlassen. Er war mein Freund.

Konsequenzen waren unvermeidlich, spätestens nach meinem Dresden-Lager 1959. Aus war es mit unverbindlicher, folgenloser Betrachtung aus höherer Warte. Wollte ich dem treu sein, was Dietrich bei mir angestoßen hatte, blieb mir nur Handeln: vor Ort, konkret, verantwortlich. Ich stellte mich Ende der 50er Jahre der Rechtspflege als Laie zu Verfügung. Daraus wurden fast drei Jahrzehnte als Vorsitzender einer Konfliktkommission in einem Volkseigenem Betrieb (VEB) und etwa ebenso lange als Schöffe (letzteres bis Mitte der 90er Jahre). Das war nichts, womit man überwintern und sich raushalten konnte. Das war Verantwortung pur, aber auch Solidarität, Hoffnung, Gerechtigkeit, Freiheit. Nie bin ich in all den Jahren gebeten, gedrängt, genötigt, gezwungen, bedroht worden.

Ob das ein schwacher Abglanz der Freiheit war, die Dietrich uns vorgelebt und zu der er uns ermutigt hat? Manchmal denke ich, es war so. Ich gebe zu, ich habe mich nie nach Verantwortung gedrängt, aber immer wieder darin vorgefunden. "Wer, wenn nicht du ....!" Ohne Dietrichs Denkschule und lebendige Gemeinschaft der Freunde ging das nicht.

Das war auch später so, etwa 1989/1990, und das ist bis heute so. Einmischen - solidarisch, verantwortlich, frei. Das kostet was, ist unbequem. Das ist aber auch gar nicht kompliziert, sondern eine einzige große Freiheit.

Vielleicht ist mir in oder seit den intensiven Jahren mit Dietrich auch etwas abhanden gekommen: die fromme Sorge um mich. Jedem, der es hören will, sage ich: Der liebe Gott hält mich an einer langen, aber festen, wenn auch für andere unsichtbaren Leine. Macht euch deshalb keine Gedanken!

Sollte ich damals und heute das eine bewirkt oder das andere verhindert haben, dann beriefe ich mich auf Dietrich. Für die Leute sollte es allemal sein. Wenn Kategorien wie Gerechtigkeit, Freiheit, Verantwortung, Hoffnung und Zukunft eine Rolle gespielt haben sollten, wäre ich froh. Vielleicht auch Dietrich.

 

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