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Was heißt: Die Wahrheit sagen?

Von Dietrich Bonhoeffer

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Dieser Aufsatz entstand spätestens Anfang November 1943 in der Tegeler Zelle. In einem Brief vom 18. 11. 1943 heißt es: »Nebenbei schrieb ich einen Aufsatz über: »Was heißt die Wahrheit sagen?« WE 94.

Von dem Zeitpunkt unseres Lebens an, in dem wir der Sprache mächtig werden, lehrt man uns, dass unsere Worte wahr sein müssen. Was heißt das? Was heißt: »die Wahrheit sagen«? Was fordert es von uns?

Es ist klar-, dass es zunächst die Eltern sind, die mit der Forderung der Wahrhaftigkeit unser Verhältnis zu ihnen ordnen, und dementsprechend ist diese Forderung auch zunächst und - in dem von den Eltern gemeinten Sinne - auf diesen engsten Kreis der Familie bezogen und beschränkt. Es ist weiter zu beachten, dass das Verhältnis, das in dieser Forderung ausgesprochen ist, nicht einfach umkehrbar ist. Die Wahrhaftigkeit des Kindes gegenüber den Eltern ist wesensgemäß eine andere als die der Eltern gegenüber dem Kinde. Während das Leben des kleinen Kindes vor den Eltern aufgedeckt da liegt und das Wort des Kindes alles Verborgene und Heimliche offenbaren soll, kann davon im umgekehrten Verhältnis nicht die Rede sein. Der Anspruch der Eltern an das Kind ist also in Bezug auf die Wahrhaftigkeit ein anderer als der des Kindes an die Eltern.

Daraus geht bereits hervor, dass »die Wahrheit sagen« je nach dem Ort, an dem man sich befindet, etwas Verschiedenes bedeutet. Es müssen die jeweiligen Verhältnisse bedacht werden. Es muß die Frage gestellt werden, ob und in welcher Weise ein Mensch berechtigt ist, vom anderen die wahrheitsgemäße Rede zu verlangen. Wie das Wort zwischen Eltern und Kindern deren Wesen 'gemäß ein anderes ist als das zwischen Mann und Frau, zwischen Freund and Freund, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Obrigkeit und Untertan, zwischen Freund und Feind, ebenso ist die in diesen Worten enthaltene Wahrheit eine verschiedene.

Der sich sofort stellende Einwand, man schulde die wahrheitsgemäße Rede doch nicht diesem oder jenem, sondern allein Gott, ist richtig, sofern nur dabei nicht außer acht gelassen wird, dass eben Gott kein allgemeines Prinzip ist, sondern der Lebendige, der mich in ein lebendiges Leben gestellt hat und in ihm meinen Dienst fordert. Wer Gott sagt, darf die gegebene Welt, in der er lebt, nicht einfach durchstreichen; er spräche sonst nicht von dem Gott, der in Jesus Christus in die Welt einging, sondern von irgendeinem metaphysischen Götzen. Darum geht es ja gerade, wie ich die wahrheitsgemäße Rede, die ich Gott schulde, in meinem konkreten Leben mit seinen mannigfaltigen Verhältnissen zur Geltung bringe. Die Gott geschuldete Wahrhaftigkeitsgemäßheit unserer Worte muss in der Welt konkrete Gestalt annehmen. Unser Wort soll nicht prinzipiell, sondern konkret wahrheitsgemäß sein. Eine nicht konkrete Wahrheitsgemäßheit ist vor Gott gar nicht wahrheitsgemäß.

»Die Wahrheit sagen« ist also nicht nur eine Sache der Gesinnung, sondern auch der richtigen Erkenntnis und des ernsthaften Bedenkens der wirklichen Verhältnisse. Je mannigfaltiger die Lebensverhältnisse eines Menschen sind, desto verantwortlicher und schwerer wird es für ihn, »die Wahrheit zu sagen«. Das Kind, das nur in einer einzigen Lebensbeziehung, nämlich der zu seinen Eltern steht, hat noch nichts zu bedenken und abzuwägen. Aber schon der nächste Lebenskreis, in den es gestellt wird, die Schule, bringt die erste Schwierigkeit. Es ist pädagogisch daher von der größten Wichtigkeit, dass die Eltern auf irgendeine - hier nicht zu erörternde - Weise den Kindern die Verschiedenheit dieser Lebenskreise und seiner Verantwortlichkeiten verständlich machen.

Die Wahrheit sagen muss also gelernt werden. Das klingt für denjenigen gräulich, der meint, allein die Gesinnung müsse es machen, und wenn diese untadelig sei, sei alles andere ein Kinderspiel. Da es aber nun einmal so ist, dass das Ethische nicht von der Wirklichkeit gelöst werden kann, ist das immer bessere Erkennenlernen der Wirklichkeit ein notwendiger Bestandteil des ethischen Handelns. In der uns beschäftigenden Frage aber besteht das Handeln im Sprechen. Das Wirkliche soll in Worten ausgesprochen werden. Darin besteht die wahrheitsgemäße Rede. Damit ist aber unvermeidlich die Frage nach dem »Wie« der Worte gestellt. Es geht um das jeweils »rechte Wort«. Dieses zu finden, ist eine Sache langer, ernster und immer fortschreitender Bemühung auf Grund von Erfahrung und Erkenntnis des Wirklichen. Um zu sagen, wie eine Sache wirklich ist, d. h. um wahrheitsgemäß zu sprechen, maß sich der Blick und das Denken danach richten, wie das Wirkliche in Gott und durch Gott und zu Gott ist.

Es ist oberflächlich, dieses Problem der wahrheitsgemäßen Rede auf einzelne Konfliktsfälle zu beschränken. Jedes Wort, das ich überhaupt rede:, steht unter der Bestimmung, wahr zu sein; ganz abgesehen von der Wahrheitsgemäßheit seines Inhaltes, ist schon das in ihm ausgedrückte Verhältnis von mir zu einem anderen Menschen wahr oder unwahr. Ich kann schmeicheln, ich kann mich überheben oder ich kann heucheln, ohne eine materielle Unwahrheit auszusprechen, und mein Wort ist doch unwahr, weil ich die Wirklichkeit des Verhältnisses von Mann und Frau oder Vorgesetzten und Untergebenen etc. zerstöre und zersetze. Das einzelne Wort ist immer Teil eines Wirklichkeitsganzen, das im Wort zum Ausdruck kommen will. Je nach dem, zu wem ich spreche, von wem ich gefragt bin, worüber ich spreche, muss mein Wort, wenn es wahrheitsgemäß sein will, ein verschiedenes sein Das wahrheitsgemäße Wort ist nicht eine in sich konstante Größe, sondern ist so lebendig wie das Leben selbst. Wo es sich vom Leben und von der Beziehung zum konkreten anderen Menschen löst, wo die »Wahrheit gesagt wird« ohne Beachtung dessen, zu wem ich sie sage, dort hat sie nur den Schein, aber nicht das Wesen der Wahrheit.

Es ist der Zyniker, der unter dem Anspruch, überall und jederzeit und jedem Menschen in gleicher Weise »die Wahrheit zu sagen«, nur ein totes Götzenbild der Wahrheit zur Schau stellt. Indem er sich den Nimbus des Wahrheitsfanatikers gibt, der auf menschliche Schwachheiten keine Rücksicht nehmen kann, zerstört er die lebendige Wahrheit zwischen den Menschen. Er verletzt die Scham, entheiligt das Geheimnis, bricht das Vertrauen, verrät die Gemeinschaft, in der er lebt, und lächelt hochmütig über das Trümmerfeld, das er angerichtet hat, über die menschliche Schwäche, die »die Wahrheit nicht ertragen kann«. Er sagt, die Wahrheit sei zerstörerisch und. fordere ihre Opfer, und er fühlt sich wie ein Gott über den schwachen Kreaturen und weiß nicht, dass er dem Satan dient.

Es gibt eine Satanswahrheit. Ihr Wesen ist, dass sie unter dem Schein der Wahrheit alles leugnet, was wirklich ist. Sie lebt von dem Hass gegen das Wirkliche, gegen die Welt, die von Gott geschaffen und geliebt ist. Sie gibt sich den Anschein, als vollzöge sie das Gericht Gottes über den Sündenfall des Wirklichen. Aber Gottes Wahrheit richtet das Geschaffene aus Liebe, die Satanswahrheit richtet es aus Neid und Haß. Gottes Wahrheit ist Fleisch geworden in der Welt, ist lebendig im Wirklichen, die Satanswahrheit ist der Tod alles Wirklichen.

Der Begriff der lebendigen Wahrheit ist gefährlich und erweckt den Verdacht, die Wahrheit könne und dürfe der jeweiligen Situation angepasst werden, wobei sich dann der Begriff der Wahrheit gänzlich auflöst und Lüge und Wahrheit einander ununterscheidbar naherücken. Auch könnte das, was über das notwendige Erkennen des Wirklichen gesagt wird, dahin missverstanden werden, als sei von einer berechnenden oder pädagogischen Einstellung gegenüber dem anderen Menschen das Maß der Wahrheit abhängig, das ich ihm zu sagen bereit bin. Es ist wichtig, diese Gefahr im Auge zu behalten. Die Möglichkeit, ihr zu begegnen, kann jedoch in nichts anderem bestehen als eben in der aufmerksamen Erkenntnis der jeweiligen Inhalte und Grenzen, die das Wirkliche selbst der Aussage vorschreibt, um sie zu einer wahrheitsgemäßen zu machen. Niemals aber darf man um der Gefahren willen, die in dem Begriff der lebendigen Wahrheit liegen, diesen zugunsten des formalen, zynischen Wahrheitsbegriffes aufgeben.

Wir müssen versuchen, uns das anschaulich zu machen. Jedes Wort lebt und ist beheimatet in einem bestimmten Umkreis. Das Wort in der Familie ist ein anderes als das Wort im Büro oder in der Öffentlichkeit. Das Wort, das in der Wärme persönlicher Beziehung geboren ist, erfriert in der kalten Luft der Öffentlichkeit. Das Wort des Befehls, das aus dem öffentlichen Dienst kommt, würde in der Familie die Bande des Vertrauens zerschneiden. Jedes Wort soll seinen Ort haben und behalten. Es ist eine Folge des Überhandnehmens des öffentlichen Wortes in Zeitung und Rundfunk, dass Wesen und Grenzen der verschiedenen Worte nicht mehr klar empfunden werden, ja dass z. B. die Eigenart des persönlichen Wortes fast vernichtet wird. An die Stelle der echten Worte tritt das Geschwätz. Die Worte haben kein Gewicht mehr. Es wird zuviel geredet. Wenn aber die Grenzen der verschiedenen Worte sich verwischen, wenn die Worte wurzellos, heimatlos werden, dann verliert das Wort an Wahrheit, ja dann entsteht fast zwangsläufig die Lüge. Wenn die verschiedenen Ordnungen des Lebens sich nicht mehr gegenseitig achten, dann werden die Worte unwahr. Ein Beispiel: ein Kind wird von seinem Lehrer vor der Klasse gefragt, ob es wahr sei, dass sein Vater oft betrunken nach Hause komme. Es ist wahr, aber das Kind verneint es. Es ist durch die Frage des Lehrers in eine Situation gebracht, der es noch nicht gewachsen ist. Es empfindet nur, dass hier ein unberechtigter Einbruch in die Ordnung der Familie erfolgt, den es abwehren muss. Was in der Familie vorgeht, gehört nicht vor die Ohren der Schulklasse. Die Familie hat ihr eigenes Geheimnis, das sie zu wahren hat. Der Lehrer hat die Wirklichkeit dieser Ordnung missachtet. Das Kind müsste nun in seiner Antwort einen Weg finden, auf dem die Ordnung der Familie und der Schule in gleicher Weise gewahrt bliebe. Es kann das noch nicht, es fehlt ihm die Erfahrung, die Erkenntnis und die Fähigkeit des rechten Ausdrucks. Indem es die Frage des Lehrers einfach verneint, wird die Antwort zwar unwahr, aber sie gibt doch zugleich der Wahrheit Ausdruck, dass die Familie eine Ordnung sui generis ist, in die der Lehrer nicht berechtigt war, einzudringen. Man kann nun zwar die Antwort des Kindes eine Lüge nennen; trotzdem enthält diese Lüge mehr Wahrheit, d. h. sie ist der Wirklichkeit gemäßer, als wenn das Kind die Schwäche seines Vaters vor der Schulklasse preisgegeben hätte. Dem Maße seiner Erkenntnis nach hat das Kind richtig gehandelt. Die Schuld als Lüge fällt allein auf den Lehrer zurück. Ein erfahrener Mensch an der Stelle des Kindes hätte unter Zurechtweisung des Fragenden auch die formale Wahrheitswidrigkeit der Antwort vermeiden können und damit das »rechte Wort« in der Situation gefunden. Lügen von Kindern und von unerfahrenen Menschen überhaupt sind häufig darauf zurückzuführen, dass sie vor Situationen gestellt werden, die sie nicht zu übersehen vermögen. Es ist daher fraglich, ob es sinnvoll ist, den Begriff der Lüge, die als etwas schlechthin Verwerfliches verstanden wird und werden soll, so zu verallgemeinern und auszudehnen, dass er mit dem Begriff der formalen wahrheitswidrigen Aussage zusammenfällt. Ja, es zeigt sich schon hier, wie schwierig es ist, zu sagen, was Lüge eigentlich ist.

Die übliche Definition, dergemäß der bewusste Widerspruch zwischen Denken und Sagen Lüge sei, ist völlig unzulänglich. Hierunter würde z. B. der harmloseste Aprilscherz fallen. Der in der katholischen Moraltheologie begründete Begriff der »Scherzlüge« nimmt der Lüge das entscheidende Merkmal des Ernstes und der Bosheit (wie er umgekehrt dem Scherz das entscheidende Merkmal des unschuldigen Spiels und der Freiheit nimmt) und ist darum denkbar unglücklich. Der Scherz hat mit der Lüge gar nichts zu tun und darf nicht mit ihr auf einen Nenner gebracht werden. Sagt man nun, Lüge sei die bewusste Täuschung des andern zu dessen Schaden, so würde hierunter z. B. auch die notwendige Täuschung des Gegners im Kriege oder in analogen Situationen fallen. (Kant hat freilich erklärt, er sei zu stolz, um jemals eine Unwahrheit zu sagen, und hat allerdings zugleich unfreiwillig diesen Satz ad absurdum geführt, indem er erklärte, er würde sich selbst einem Verbrecher gegenüber, der einen bei ihm sich verborgen haltenden Freund suche, zu wahrheitsgemäßer Auskunft verpflichtet fühlen). Bezeichnet man ein derartiges Verhalten als Lüge, so empfängt die Lüge dadurch eine sittliche Weihe und Rechtfertigung, die ihrem Begriff in jeder Weise widerspricht. Daraus geht zunächst hervor, dass Lüge nicht formal durch den Widerspruch zwischen Denken und Sagen zu definieren, ist. Dieser Widerspruch ist nicht einmal ein notwendiger Bestandteil der Lüge. Es gibt ein in dieser Hinsicht durchaus korrektes, unanfechtbares Reden, das doch Lüge ist; so etwa, wenn ein notorischer Lügner zur Irreführung einmal »die Wahrheit« sagt, oder wenn unter dem Schein der Korrektheit die bewusste Zweideutigkeit schlummert oder die entscheidende Wahrheit bewusst verdeckt bleibt. Auch ein bewusstes Verschweigen kann Lüge sein, so wenig es andrerseits Lüge sein muss.

Diese Überlegungen führen zu der Erkenntnis, dass das Wesen der Lüge viel tiefer steckt als in dem Widerspruch zwischen Denken und Sagen. Man könnte sagen, der Mensch, der hinter dem Wort steht, macht dieses zur Lüge oder zur Wahrheit. Aber auch dies genügt nicht; denn Lüge ist etwas Objektives und muss dementsprechend bestimmt werden. Jesus bezeichnet den Satan als den »Vater der Lüge« (Joh 8,44). Lüge ist zuerst die Leugnung Gottes, wie er sich der Welt bezeugt hat. »Wer ist ein Lügner, wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist?« (1 Joh 2,22). Lüge ist Widerspruch gegen das Wort Gottes, wie er es in Christus gesprochen hat und in dem die Schöpfung beruht. Lüge ist demzufolge die Verneinung, Leugnung und wissentliche und willentliche Zerstörung der Wirklichkeit, wie sie von Gott geschaffen ist und in Gott besteht, und zwar soweit dies durch Worte und durch Schweigen geschieht. Unser Wort hat die Bestimmung, in der Einheit mit Gottes Wort das Wirkliche, wie es in Gott ist, auszusagen, und unser Schweigen soll das Zeichen sein für die Grenze, die dem Wort durch das Wirkliche, wie es in Gott ist, gezogen ist.

In dem Bemühen, das Wirkliche auszusagen, finden wir dieses nicht als ein einheitliches "Ganzes, sondern in einem Zustand der Zerrissenheit und des Widerspruchs mit sich selbst vor, der der Versöhnung und Heilung bedarf. Wir finden uns in verschiedenen Ordnungen des Wirklichen zugleich eingebettet, und unser Wort, das sich um Versöhnung und Heilung des Wirklichen bemüht, wird doch immer wieder in die bestehende Entzweiung und in den Widerspruch mit hineingerissen, und es kann doch seine Bestimmung, das Wirkliche, wie es in Gott ist, auszusagen, nur erfüllen, indem es sowohl den bestehenden Widerspruch als auch den Zusammenhang des Wirklichen in sich aufnimmt. Das menschliche Wort, wenn es wahr sein soll, darf ebenso wenig den Sündenfall verleugnen, wie das schöpferische und versöhnende Wort Gottes, in dem alle Entzweiung überwunden ist. Der Zyniker will sein Wort dadurch wahrmachen, dass er jeweils das Einzelne, das er zu erkennen glaubt, unter Nichtbeachtung des Wirklichkeitsganzen ausspricht, und gerade dadurch zerstört er das Wirkliche völlig und sein Wort wird, auch wenn es den oberflächlichen Schein der Richtigkeit hat, unwahr. »Alles, was da ist, das ist ferne und ist sehr tief; wer will's finden?« (Pred 7,24). Wie wird mein Wort wahr?

  1. Indem ich erkenne, wer mich zum Sprechen veranlasst und was mich zum Sprechen berechtigt.

  2. Indem ich den Ort erkenne, an dem ich stehe.

  3. Indem ich den Gegenstand, über den ich etwas aussage, in diesen Zusammenhang stelle.

In diesen Bestimmungen ist zunächst stillschweigend vorausgesetzt, dass das Sprechen überhaupt unter bestimmten Bedingungen steht; es begleitet nicht in fortwährendem Fluss den natürlichen Lebenslauf, sondern es hat seinen Ort, seine Zeit, seinen Auftrag, und damit seine Grenzen.

1. Wer oder was berechtigt mich oder veranlasst mich zum Sprechen? Wer ohne Berechtigung und ohne Veranlassung spricht, ist ein Schwätzer. Weil es in jedem Wort immer um die doppelte Beziehung zum anderen Menschen und zu einer Sache geht, darum muss diese Beziehung in jedem Worte ersichtlich sein; ein beziehungsloses Wort ist hohl; es enthält keine Wahrheit. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Denken und Sprechen. Das Denken hat an sich keine notwendige Beziehung auf den anderen Menschen, sondern nur auf eine Sache. Der Anspruch, auch sagen zu dürfen, was man denkt, ist an sich durchaus nicht berechtigt. Zum Sprechen gehört die Berechtigung und Veranlassung durch den anderen Menschen. Beispiel: Ich kann einen anderen in meinen Gedanken für dumm, für hässlich, für unfähig, für charakterlos, aber auch für klug oder charaktervoll halten. Etwas ganz anderes aber ist es, ob ich berechtigt bin und wodurch ich veranlasst bin, dies auszusprechen und wem gegenüber ich es ausspreche. Unzweifelhaft entsteht eine Berechtigung zum Sprechen aus einem Amt, das mir übertragen ist. Die Eltern können das Kind tadeln oder loben, hingegen ist das Kind den Eltern gegenüber zu keinem von beiden berechtigt. Ein ähnliches Verhältnis liegt zwischen Lehrer und Schüler vor, obwohl die Rechte des Lehrers den Kindern gegenüber begrenzter sind als die des Vaters. So wird sich der Lehrer dem Schüler gegenüber in Kritik und Lob an bestimmte einzelne Verfehlungen und Leistungen halten müssen, während zum Beispiel charakterliche Gesamturteile nicht dem Lehrer, sondern den Eltern zukommen. Die Berechtigung zum Sprechen liegt immer innerhalb der Grenzen des konkreten Amtes, das ich versehe. Werden diese Grenzen überschritten, so wird das Wort zudringlich, anmaßend und, ob tadelnd oder lobend, verletzend. Es gibt Menschen, die sich dazu berufen fühlen, jedem, der ihnen in den Weg kommt, »die Wahrheit zu sagen«, wie sie es ausdrücken.

Aus: Dietrich Bonhoeffer: "Ethik", Hrg.: Eberhard Bethge, München 1949
Anmerkung des Herausgebers: unabgeschlossen. Vergleiche dazu den Brief vom 5. Dezember 1943 WE, 114-116.
Ethik, 385-395

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