Quellenverzeichnis Links im Text führen nur zu informativen Anmerkungen im Quellenverzeichnis.
VORBEMERKUNG
Am 10. Oktober 2006 wurde
Kevin K. in der Wohnung seines Vaters tot aufgefunden. Auf Grund der
festgestellten zahlreichen Knochenbrüche an Armen und Beinen ist ein
natürlicher Tod unwahrscheinlich. Der Todeszeitpunkt steht zurzeit noch
nicht fest. Es ist denkbar, dass Kevin bereits Anfang Juli 2006 ums
Leben gekommen ist. Gegen den Vater hat das Amtsgericht Bremen auf
Antrag der Staatsanwaltschaft Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts
der Misshandlung Schutzbefohlener und des Totschlags erlassen. Wegen des
Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht ermittelt die
Staatsanwaltschaft gegen die beteiligten Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Amtes für Soziale Dienste. Frau Senatorin Röpke hat mit
ihrem Rücktritt die politische Verantwortung für das tragische Geschehen
übernommen. Die Bremische Bürgerschaft wird in ihrer Sitzung am
kommenden Donnerstag einen Untersuchungsausschuss zum "Fall Kevin"
einsetzen.
Der vorliegende Bericht, um den
mich Herr Bürgermeister Böhrnsen gebeten hat, dokumentiert das kurze
Leben von Kevin, die Situation seiner Eltern sowie das Tun aber auch das
Unterlassen der Verantwortlichen.
Dieser Bericht muss
notwendigerweise unvollständig bleiben. Warum der Einzelne so und nicht
anders gehandelt hat, ist allein durch die Auswertung von Akten nicht zu
klären. Hinzu kommt, dass diese Fragen auch Gegenstand der
staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen sind. Im letzten Teil des Berichts
wird versucht, die Zusammenhänge der Entwicklung zu bewerten. Er endet
mit der Frage, wie Kinder besser geschützt werden können. Wenn der
Bericht hierzu einen Beitrag leistet, hat er bereits seine Funktion
erfüllt.
Bürgermeister Böhrnsen hat mir den
Auftrag erteilt, eine Dokumentation über die Abläufe und Zusammenhänge im
Todesfall des Kindes Kevin K. zu erstellen, aus der sich ergibt, was, wann von
wem wie entschieden worden ist.
Die Darstellung beruht im Kern auf der
Auswertung der Akten des Amtes für Soziale Dienste, Sozialzentrum Gröpelingen /
Walle, Abteilung 450-SZ-04/21-4, Aktenzeichen 450-SZ-04/21 -4, Kevin K., geboren
23.01.04 sowie der Akte Amtsvormundschaft des Amtes für Soziale Dienste Bremen,
Kevin K., Geschäftszeichen B 165562
Ergänzend und zum Abgleich ausgewertete
Unterlagen werden dort, wo sie eingeführt werden, näher bezeichnet.
Auf die Befragung handelnder Personen
wurde nicht nur aus Zeitgründen sondern auch deswegen verzichtet, weil einige
davon Beschuldigte in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sind oder weil
disziplinarrechtliche Verfahren gegen sie eingeleitet sind und nicht damit
gerechnet werden kann, dass sie zu einer Aussage hier bereit sind.
Der Auftrag umfasst nicht die Frage, wie
Kevin zu Tode gekommen ist. Diese muss dem von der Staatsanwaltschaft Bremen
eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen den Vater überlassen bleiben.
In der folgenden Darstellung werden
bestimmte Personen öfters erwähnt werden. Es erscheint angebracht, einige
Angaben zu diesen Personen voranzustellen.
Kevin K. wurde als nicht-eheliches Kind am 23.
Januar 2004 in der Klinik Bremen-Nord geboren. Seine Mutter, Sandra K. war
Inhaberin der elterlichen Sorge. Nach deren Tod am 12. November 2005 übertrug
das Amtsgericht Bremen durch Beschluss vom 17. November 2005 (Aktenzeichen 61 F
3151/05) die elterliche Sorge auf einen Vormund und bestellte das Jugendamt
Bremen - Abteilung Amtsvormundschaft - zum Vormund. Die nach dem Tod der Mutter
rechtlich mögliche Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater lehnte das
Amtsgericht ab. Tatsächlich stand Kevin bis zu seinem Tod unter
Amtsvormundschaft. Das Datum seines Todes ist bislang nicht geklärt. Sein
Leichnam wurde am 10. Oktober 2006 gefunden, als Mitarbeiter des Amtes für
Soziale Dienste, versehen mit einem Herausgabe-Beschluss des Amtsgerichts –
Familiengericht -Bremen Kevin aus der Wohnung seines Vaters herausholen und in
Obhut nehmen wollten.
Die Mutter von Kevin war Sandra K., am 17.Oktober 1969
geboren. Sie hatte zwei vier und fünf Jahre ältere Schwestern und einen zwölf
Jahre jüngeren Halbbruder. Sie war sechs Jahre alt, als ihr Vater sich das Leben
nahm. Mit zwölf Jahren begann sie, Alkohol und wenig später auch Cannabis zu
konsumieren. Im Alter von 13 Jahren verließ sie das Haus der Mutter. An ihrem
14. Geburtstag nahm sie das erste Mal Heroin, das sie später über längere Zeit
täglich spritzte. Zur Beschaffung der Drogen beging sie immer wieder Straftaten,
wegen derer sie insgesamt etwa sieben Jahre in Haftanstalten verbrachte. Vom 22.
Dezember 1999 bis zum 20. November 2002 saß sie - u.a. auf Grund einer
Verurteilung wegen räuberischen Diebstahls - in der Justizvollzugsanstalt Bremen
ein. Zuletzt verurteilte das Amtsgericht Bremen sie am 21. September 2004 wegen
Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, deren Vollstreckung zur
Bewährung ausgesetzt wurde. Im Laufe der Zeit unternahm Frau K. mehrere
Therapieversuche zur Drogenentwöhnung. Sie war HIV-positiv. Bis zu ihrem Tod
wurde sie mit Methadon substituiert. Seit Oktober 2003 lebte sie mit Bernd Kk.
zusammen. Am 23. Januar 2004 brachte sie Kevin zur Welt. Am 29. Mai 2005 erlitt
sie eine Fehlgeburt. Am 12. November 2005 verstarb sie.
Der Vater von Kevin wird in den
Akten des Amtes für Soziale Dienste Bernd Kk., geboren am 15. Dezember
1964, geführt. Eine wirksame Anerkennung der Vaterschaft liegt nicht
vor. Eine Klage auf Feststellung der Vaterschaft hat der Amtsvormund
nicht erhoben. Da Herr Kk. mit der Mutter des Kindes nicht verheiratet
war, war und ist er nach bürgerlichem Recht nicht als der Vater des
Kindes anzusehen.
Eine im Zuge der Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft gegen Herrn Kk. wegen des Todes von Kevin erstellte
DNA-Analyse hat allerdings ergeben, dass Herr Kk. nicht der Vater des
Kindes sein kann.
Bernd Kk. hat einen Halbbruder.
Sein Vater war Alkoholiker und nahm sich 1977 das Leben. Bernd Kk. hat
mit 13 Jahren mit Drogen und Alkohol angefangen. Nach Abschluss der
Hauptschule und einer Dachdeckerlehre übte er verschiedene Tätigkeiten
aus. Er ist erheblich vorbestraft. Sein Bundeszentralregister-Auszug
weist 22 Eintragungen aus. Überwiegend handelt es sich um Verurteilungen
wegen Diebstahls, darunter Einbruchsdiebstahl und räuberischer
Diebstahl, aber auch wegen Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz,
wegen Körperverletzungsdelikten und wegen Widerstands gegen
Vollstreckungsbeamte. Bereits im Alter von 14 Jahren wurde er wegen
versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall zum ersten Mal zu
einem Jugendarrest verurteilt. Es folgten zahlreiche Verurteilungen zu
teilweise langjährigen Jugend- und Freiheitsstrafen. Insgesamt hat er
ca. 13 Jahre Haft verbüßt. Zuletzt ist er am 20. Dezember 2002 aus der
Strafhaft entlassen worden. Nach der Geburt von Kevin wurde er wie folgt
bestraft: Amtsgericht Bremen, Urteil vom 20. April 2005, Geldstrafe 110
Tagessätze wegen Diebstahls. Amtsgericht Bremen, Urteil vom 14. Juni
2005, 1 Jahr 6 Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen räuberischen
Diebstahls und Körperverletzung. Amtsgericht Oldenburg in Holstein,
Urteil vom 15. Juli 2005, Geldstrafe 90 Tagessätze Geldstrafe wegen
gefährlicher Körperverletzung. Amtsgericht Bremen, Urteil vom 20.
Dezember 2005, Geldstrafe 100 Tagessätze wegen Beleidigung in Tateinheit
mit Sachbeschädigung.
Bernd Kk. ist etwa seit 1995
betäubungsmittelabhängig. Bereits am 10. Mai 1983 verurteilte ihn das
Amtsgericht Holzminden wegen Erwerbs von Haschisch und anderer
Straftaten zu einer Jugendstrafe. Ein Urteil des Amtsgerichts
Wolfenbüttel erging am 5. November 1991 wegen vorsätzlichen Verstoßes
gegen das Betäubungsmittelgesetz. Bis heute hat er an fünf
Therapiemaßnahmen teilgenommen und insgesamt etwa 33 Monate in
Therapieeinrichtungen verbracht, letztlich aber ohne bleibenden Erfolg.
Herr Kk. befand sich von Mai 2003 bis zu seiner Inhaftierung am
10.Oktober 2006 im Methadon-Programm, betreut von einem Arzt in Bremen.
Um das Geschehen besser vermitteln zu
können, erscheint es angezeigt, zunächst einige Bemerkungen zur Organisation des
Amtes für Soziale Dienste und zu seinen Zuständigkeiten zu machen.
Das Amt für Soziale Dienste ist dem
Geschäftsbereich des Senators für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und
Soziales zugeordnet. Es wird von einem "Amtsleiter" - AL - geleitet.
Das Amt nimmt in der Stadtgemeinde
Bremen auch die Aufgaben des örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe als
Jugendamt wahr1
Die Betreuungsaufgaben des Amtes werden
dezentral in sechs, dem Amtsleiter organisatorisch unterstellten Sozialzentren,
wahrgenommen. Der Leitung des Sozialzentrums obliegt die Dienst- und
Fachaufsicht über alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums. Für Kevin
war das Sozialzentrum West, Gröpelingen / Walle zuständig. Innerhalb des
Sozialzentrums zuständig war der Sozialdienst Junge Menschen (SDJM), hier der
Sozialdienst Junge Menschen Gröpelingen. Er wird von einer Sachgebietsleiterin
geleitet.
Innerhalb des SDJM ist die einzelne
sozialpädagogische Fachkraft zuständig. Sie ist zuständig für die Sicherstellung
der auf den Einzelfall bezogenen Leistungen und nimmt ihre Aufgaben
verantwortlich im Rahmen des Fall - Managements wahr.2Aufgaben sind u.a. die
Einleitung, Steuerung und Begleitung von ambulanten und teilstationären
Maßnahmen sowie fremdplatzierende Hilfe in Einrichtungen der Kinder- und
Jugendhilfe.3Der für Kevin zuständige Mitarbeiter wird im folgenden als
"Sachbearbeiter" bezeichnet.
Die Kinder- und Jugendhilfe ist im
Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) geregelt.
Nach § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII soll
Jugendhilfe insbesondere Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl
schützen. Diesen Schutzauftrag konkretisiert § 8 a SGB VIII: Bei Anhaltspunkten
für die Gefährdung des Kindeswohls ist das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken
mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Das Jugendamt hat die zur Abwendung der
Gefährdung geeigneten und notwendigen Hilfen anzubieten und, soweit notwendig,
auf das Tätigwerden anderer Stellen (Familiengericht, Gesundheitshilfe, Polizei)
hinzuwirken. Bei dringender Gefahr ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind in
Obhut zu nehmen (§ 8 a Abs.3 Satz 2, § 42 SGB VIII). Die spezielle Regelung des
§ 8 a ist mit Wirkung vom 1. Oktober 2005 eingefügt worden.4Zuvor galt aber bereits Entsprechendes nach § 50 Abs. 3 SGB VIII.
Der Umgang mit Kindern substituierter
oder drogenabhängiger Eltern ist durch die Fachliche Weisung 01/2005 der
Amtsleitung des Amtes für Soziale Dienste (Stand 1. Februar 2005) geregelt. Nach
der Vorbemerkung der Fachlichen Weisung sind gefordert: Gezielte Absprachen, ein
verbindlicher Kooperationsrahmen und eine Regelung der Verantwortlichkeiten
zwischen den Hilfesystemen Drogenhilfe, Jugendhilfe und gesundheitlichem
Versorgungssystem unter besonderer Bedeutung der, ggf. auch parteilich, dem
Kindeswohl verpflichteten Jugendhilfe. Die Vorbemerkung betont auch, dass die
besondere Problemkonstellation dieses Personenkreises eine verbindliche
engmaschige Begleitung sowie eine Aufsicht und Kontrolle erfordert.
Die Fachliche Weisung sieht im Einzelnen
insbesondere vor:
Frühzeitige Hinweise auf das
Beratungs- und Unterstützungssystem der öffentlichen Jugendhilfe durch alle
in Betracht kommenden Stellen.
Kontaktaufnahme durch die
Familienhebamme und Fallberatung zur Hilfeplanung.
Verbindlich festzulegende Eckpunkte
der Hilfeplanung, insbesondere zur Mitwirkung der Betroffenen, zu
regelmäßigen Drogenkontrollen und zu unangemeldeten Hausbesuchen.
Fallsteuerung durch den
Sachbearbeiter des ambulanten Sozialdienstes Junge Menschen mit
Fallverantwortung des Sachbearbeiters.
Fallberatung zeitnah nach der Geburt
des Kindes zur Prüfung, ob das Kind bei der Mutter bleiben kann.
Festlegung der Rahmenbedingungen für
den Verbleib durch Kontrakt mit der Mutter mit Beschreibung der
Kontrollinstrumente und Auflagen.
Pflicht aller beteiligten Stellen,
bei dringender Gefahr für das Kindeswohl oder erheblicher Gefährdung das
Jugendamt zu informieren zur Einleitung von Sicherungsmaßnahmen.
Darüber hinaus gibt es seit 2003 eine am
27.03.2003 von dem Jugendhilfeausschuss beschlossene
Qualitätssicherungsvereinbarung und Handlungsleitfaden zur Anwendung fachlicher
Standards bei Kindeswohlgefährdung.
Der Handlungsansatz des Case-Management
(CM) ist für den Ambulanten Sozialdienst Junge Menschen durch die
Dienstanweisung 03/2003 des Amtes für Soziale Dienste geregelt.
Zentrale Aussagen der Dienstanweisung
sind:
Die Fallverantwortung des
Case-Managers.
Das Zusammenwirken mehrerer
Fachkräfte gemäß § 36 Abs. 2 SGB VIII. ("Weil auch die sozialpädagogischen
Fachkräfte (solche) mit eigener Biografie und Berufserfahrung sind, die
durch "ihre" Augen einen Fall jeweils anders sehen und beurteilen, müssen
sie sich der Kontrolle und Vergewisserung anderer aussetzen"
(Dienstanweisung 03/2003, Seite 4)).
Steuerung, Beobachtung und Kontrolle
der Hilfen und Helfer durch das CM.
Die Dienstanweisung 04/2001 regelt die
Leistungsgewährung in der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII. Sie enthält
insbesondere folgende Vorgaben:
Maßnahmebezogene Entscheidungen
trifft die fallführende sozialpädagogische Fachkraft.
Sie legt vor ihrer abschließenden
Entscheidung den Fall der Fallkonferenz (als Segment der Wochenkonferenz)
mit allen beteiligten Diensten vor.
In der "kollegialen Beratung" als
Segment der Wochenkonferenz (mit ca. 60 bis 90 Minuten Dauer pro Fall) sind
grundsätzlich alle Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch, in
denen familiengerichtliche Maßnahmen nicht auszuschließen sind, zu behandeln
(Anlage 3 der Dienstanweisung 04/2001).
Die Fachliche Weisung 01/2003 zu
Steuerungsmaßnahmen im Bereich Hilfen zur Erziehung, die ein haushaltskonformes
Verwaltungshandeln sicherstellen soll, enthält für zum Kinderschutz und zur
Abwehr einer Kindeswohlgefährdung erforderliche Sofortmaßnahmen ausdrückliche
Ausnahmen von den sonst bei neuen Maßnahmen einzuhaltenden Verfahrensschritten.
Der Amtsvormund ist nicht einem einzelnen Sozialzentrum
zugeordnet. Vielmehr werden die Amtsvormundschaften für das gesamte Gebiet der
Stadtgemeinde Bremen im Sozialzentrum 3 (Mitte / Östliche Vorstadt / Findorff)
bei dem Fachdienst Amtsvormundschaft / -pflegschaft konzentriert geführt. Der
Dienst war im hier maßgeblichen Zeitraum mit drei Mitarbeitern besetzt, die für
ca. 620 Mündel zuständig waren. Die mit der Führung der Vormundschaft betrauten
Mitarbeiter arbeiten mit den Sachbearbeitern der Sozialen Dienste vor Ort
zusammen.
Der Vormund hat nach § 1793 BGB die
Aufgabe, für die Person und das Vermögen des Mündels - das war das Kind Kevin -
zu sorgen und es zu vertreten. Für die Personensorge durch den Vormund gelten
nach § 1800 BGB die gleichen Rechte und Pflichten wie für die elterliche Sorge
(§§ 1631 bis 1633 BGB). Der Vormund führt die Vormundschaft selbständig.
Mitarbeiter eines Jugendamtes - dessen Aufgaben in der Stadtgemeinde Bremen das
Amt für Soziale Dienste wahrnimmt - denen die Führung der Vormundschaft nach §
55 Abs. 2 SGB VIII übertragen worden ist, sind Anweisungen nur insoweit
unterworfen, wie sie nicht den Belangen des Mündels zuwiderlaufen.
Die Zielsetzungen des Fachdienstes
Amtsvormundschaften/-pflegschaften ist im Fachkonzept des Amtes für Soziale
Dienste vom 15.04.2005 beschrieben. Mit der Einrichtung des Fachdienstes sollten
die Vermischung unterschiedlicher Rollen beim Ambulanten Sozialdienst (Soziale
Dienste für Kind und Familie einerseits und Sorgerechtsausübung für das Kind
andererseits) und damit mögliche Interessenkollisionen aufgehoben werden.
Das Fachkonzept formuliert
(zusammengefasst) insbesondere folgende Leitgedanken:
Aufbau einer in der Intensität am
Bedarf im Einzelfall orientierten personalen professionellen Beziehung zum
Mündel.
Aktive Mitwirkung an der
Hilfeplanung, Klärung der Handlungsbedarfe, verbindliches Zusammenwirken mit
dem Case-Management.
In der folgenden Darstellung werden die
handelnden Personen des Amtes anonymisiert mit ihren Funktionsbezeichnungen als
Amtsleiter, Sachgebietsleiterin, Sachbearbeiter, Amtsvormund etc. eingeführt und
bezeichnet. Dies gilt für andere Personen entsprechend.
Die mir in Kopie übergebene Akte des
Amtes für Soziale Dienste Bremen, Abteilung 450-SZ04/21-4, Aktenzeichen
450-SZ-04/21-4, (Sozialzentrum Gröpelingen / Walle) betreffend Kevin K., geboren
am 23. Januar 2004, besteht aus zwei Bänden. Band 1 ist teilweise blattiert bis
Blatt 168, danach nicht mehr. Insgesamt umfasst der Band 221 Blatt. Band 2 ist
nicht blattiert; er umfasst 93 Seiten.
Geburt, Aufenthalt im Klinikum Nord
Kevin kam am 23. Januar 2004 durch
Kaiserschnitt zur Welt. Es handelte sich um eine Frühgeburt nach der 36.
Schwangerschaftswoche. Das Kind war in einem bedenklichen allgemeinen Zustand.
Es litt unter Entzugserscheinungen. Es musste intensivmedizinisch betreut
werden. Lange wurde es künstlich beatmet. Erst nach einem Aufenthalt von 47
Tagen wurde das Kind am 9. März 2004 zu seinen Eltern entlassen.
Die Akten enthalten folgende
Feststellungen: Die Mutter war seit "etwa 9 Jahren mit einigen Unterbrechungen
und Pausen im Rahmen von Substitutionsbegleitung" Klientin des Vereins Ani Avati,
Verein für Suchttherapie e. V.5Sie war HIV-positiv und litt an Hepatitis C. Der Vater nahm, betreut von
einem Arzt für Allgemeinmedizin in Bremen (im folgenden als der Methadon
vergebende Arzt bezeichnet), am Methadon-Programm teil.
Schon vor der Geburt war eine
Familien-Hebamme des Gesundheitsamts Bremen in die Vorbereitungen der Familie
auf die Niederkunft eingeschaltet. Nach der Entlassung des Kindes aus der Klinik
trat sie nicht mehr in Erscheinung.
Die Akte des Amtes für Soziale Dienste
beginnt mit dem 23. Januar 2005.6Der Sachbearbeiter vermerkte unter diesem Datum eine Mitteilung einer
Mitarbeiterin des Sozialdienstes im Klinikum Nord. Er notierte u. a. den Namen
der Mutter und des Vaters und fügt hinzu, beide seien "drogenabhängig Pola 14
ml". Er vermerkte ferner den Namen des Methadon vergebenden Arztes. Er hielt die
Adresse der Eltern und den Namen der Familien-Hebamme vom Gesundheitsamt Horner
Straße fest und die Namen von Mitarbeitern der Organisationen Schritt für
Schritt und Ani Avati Verein für Suchttherapie e.V. sowie die Adresse der AOK.
Bis zu dieser Mitteilung hat der
Sachbearbeiter die Eltern offenbar nicht gekannt.7Sie sind wohl erst während der Schwangerschaft in den Bezirk gezogen, für
den der Sachbearbeiter innerhalb des Sozialzentrums Gröpelingen / Oslebshausen
zuständig war.8Der Sachbearbeiter war vom Sozialdienst des Klinikums Bremen-Nord
benachrichtigt worden, da die Mutter aufgrund eines Drogenmissbrauchs im
Methadon-Substitutionsprogramm betreut wurde. Gleiches traf auf den Vater zu.9
Die
Besprechung im Klinikum Bremen-Nord am 05. Februar 2004
Am 05. Februar 2004 gab es ein "Treffen
im Klinikum-Nord".10
Anwesend waren die Eltern, ein Oberarzt, eine Krankenschwester, die
Mitarbeiterin des Sozialdienstes der Klinik, die Familien-Hebamme, ein Vertreter
von Ani Avati Verein für Suchttherapie e. V. und eine Mitarbeiterin vom AK
Kommunale Drogenpolitik (im Protokoll von der Hand des Sachbearbeiters wird sie
aufgeführt als Mitarbeiterin der Drogenhilfe Tivoli).
Der Sachbearbeiter vermerkte in der
Akte, das Kind werde nicht mehr künstlich beatmet, es gehe ihm aber nicht gut.
Es werde noch einige Wochen in der Klinik bleiben. Die Zukunft sei ungewiss.
Zwei Frage stellen sich: Können die Eltern das Kind versorgen und erziehen und
notfalls welche ambulanten Hilfen gebe es? Die Klinik stehe "der momentanen
Situation sehr kritisch gegenüber".
Eine weitere Besprechung fand am 19.
Februar 200411 statt: Der Kreis der Teilnehmer ergibt sich aus der
Gesprächsnotiz des Sachbearbeiters nicht. Kevin werde in 14 Tagen entlassen. Die
Mutter habe in NRW eine Schwester, die "vielleicht den Säugling "vorübergehend"
nehmen könnte", das "Kind müsste dann "zwischendurch" in eine
Übergangspflegestelle". Erwähnt wird eine "Entgiftungskur für die gesamte
Familie … eventuell an der Ostsee".
Im Weiteren spielte die Variante
"Schwester in NRW" keine Rolle mehr. Dagegen ergibt sich aus einem Vermerk des
Sachbearbeiters über eine weitere Besprechung im Klinikum Nord vom 26. Februar
200412, die Eltern könnten "zur Entgiftung in eine Klinik nach
Heiligenhafen". Anwesend waren neben dem Sachbearbeiter die Eltern, die
Mitarbeiterin des Sozialdienstes, ein Oberarzt, der Methadon vergebende Arzt des
Vaters sowie ein Rechtsanwalt, der als Strafverteidiger bekannt ist und offenbar
auch schon den Vater verteidigt hat (in der Hauptverhandlung gegen den Vater vor
dem Amtsgericht Bremen am 14. Juni 2005 wird er als Verteidiger auftreten). Der
Grund für die Anwesenheit der beiden zuletzt genannten Herren ergibt sich aus
der Akte nicht. Die Familien-Hebamme nahm nicht mehr teil.
Der Arzt und der Rechtsanwalt
unterstützten das Vorhaben, die Eltern in Heiligenhafen "runterzudosieren". Die
Position der Klinik wird von dem Sachbearbeiter so beschrieben: " Entgiftung in
Heiligenhafen wird befürwortet, die momentane Versorgung des Kindes durch Frau
K. habe sich verbessert, sie sei aber noch nicht "total gewährleistet", die
Mutter sei schläfrig und "nicht konstant in der Versorgung, eine alleinige
Versorgung des Kindes" durch sie sei "noch nicht möglich." Der Vater habe wegen
Auseinandersetzungen auf der Station Hausverbot erhalten.
Der Vertreter des Vereins Ani Avati
konnte an dem Treffen vom 26. Februar 2004 nicht teilnehmen. Er ließ den
Anwesenden aber ein - zu den Akten gelangtes13 - Schreiben zugehen.
Auch er plädierte für eine Entgiftung in Heiligenhafen "weil dort auch ein
Aufenthalt mit dem Kind möglich ist. Ein gewisses Maß an Unterstützung und
Kontrolle wäre da auch im Hinblick auf die Versorgung des Babys gegeben." Nach
einer Entgiftung "mit entsprechend niedrigerer Dosis Polamidon ist davon
auszugehen, dass die Eltern den Aufgaben der Versorgung des Kindes eher
gewachsen sind und mit entsprechender Unterstützung dem Kind gerecht werden
können." Er stelle sich als Unterstützung vor einmal pro Woche Besuch der
Familien-Hebamme, zwei Mal pro Woche Kontakt durch Schritt für Schritt oder
Mobile, einmal pro Woche Beratungsgespräch bei Ani Avati, einmal pro Woche
Gespräch beim substituierenden Arzt." Zweimal im Monat sollten in dessen Praxis
Urinkontrollen stattfinden, "um die Beigebrauchsfreiheit zu unterstützen und zu
stärken." Ferner sollten "in der ersten Zeit quartalsweise Hilfekonferenzen
stattfinden mit den Institutionen, zu denen die Eltern Kontakt haben, um
weiteren Hilfebedarf rechtzeitig mitzubekommen und Schritte einleiten zu
können". Dieses Bündel von Maßnahmen reiche "zunächst" aus, "um die Eltern so zu
stützen, dass sie der Aufgabe gerecht werden können.
Kevin wurde am 9. März 2004 aus der
Klinik entlassen.
Wer den Aufenthalt zur Entgiftung in
Heiligenhafen initiiert, organisiert und finanziert hat, ergibt sich aus der
Akte nicht. In ihr ist lediglich die Mitteilung der Mitarbeiterin des
Sozialdienstes des Klinikums Nord vom 5. März 2004 an den Sachbearbeiter
dokumentiert, die Mutter fahre am 9. März 2004 mit dem Kind nach Heiligenhafen;
der Vater befinde sich seit einigen Tagen wegen einer sehr ernsten Erkrankung
der Bauchspeicheldrüse im Diako.14
Tatsächlich hielt sich die Familie von
einem in der Akte nicht dokumentierten Tag an bis zum 10. April 2004 in der
Klinik in Heiligenhafen auf. Dies freilich ergibt sich aus der Behördenakte an
zeitrichtiger Stelle nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Amt für
Soziale Dienste sich auf die Rückkehr der Mutter und des Kindes (und des Vaters)
in ihre Wohnung vorbereitet hätte. Vorbereitungen zu Hilfsmaßnahmen - etwa im
Sinne der Überlegungen, wie sie in dem Schreiben von Ani Avati vom 23. Februar
2004 an die Teilnehmer der Konferenz vom 26. Februar 2004 niedergelegt sind -
sind nicht erkennbar.
In der Akte findet sich kein Hinweis auf
das Resultat der Entgiftungskur. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass der
Vater während des Aufenthalts in Heiligenhafen am 13. April 2004 eine
gefährliche Körperverletzung begangen hat. Ausweislich seines
Strafregisterauszugs ist er deswegen vom Amtsgericht Oldenburg in Holstein am
25. Juli 2005 zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt worden.
Das Amt bietet der Familie Hilfe an, die Familie lehnt ab
Eine Aktivität des Sachbearbeiters ist
wieder dokumentiert unter dem 03. Mai 2004.15 Der Methadon vergebende
Arzt teilte dem Sachbearbeiter telefonisch mit, die Familie brauche "wohl ein
wenig Hilfe". Noch am gleichen Tag bat der Sachbearbeiter die Mitarbeiterin des
Sozialdienstes Klinikum Nord telefonisch, sie möge ihm "einen Bericht
zuschicken, da (er) keinerlei schriftliche Unterlagen über Familie K./Kk.
besitze." Unter dem 04. Mai 2004 schrieb er den Eltern, brachte sich ihnen in
Erinnerung als "der Sozialpädagoge des Jugendamtes, der u.a. an den Sitzungen im
Klinikum Nord teilgenommen hat", teilte ihnen seine Telefonnummer mit und lud
sie ein, sich mit ihren Fragen an ihn zu wenden.
Noch vor Erhalt dieses Schreibens rief
der Vater bei dem Sachbearbeiter an und ließ ihn - wie dieser vermerkt "in
vorwurfsvollem Ton"16 - wissen, der Mutter, ihm und Kevin gehe es
gut. Wörtlich notierte der Sachbearbeiter: "Sie bräuchten keine17Hilfe. Wohl sei man bestrebt, schleunigst eine andere Wohnung zu beziehen,
da die Nachbarschaft unmöglich sei." Unter dem 06. Mai 2004 teilte der
Sachbearbeiter dem Methadon vergebenden Arzt den Inhalt des Gesprächs mit.18
Bis zum 28. Mai 2005 war der Bericht der
Mitarbeiterin des Sozialdienstes Klinikum Nord, den der Sachbearbeiter am 03.
Mai 2004 erbeten hatte, noch nicht eingegangen. Am 28. Mai 2004, (Telefonnotiz
des Sachbearbeiters von 9 Uhr 30) erklärte sie ihm, wegen hoher Arbeitsbelastung
habe sie einen Bericht für das Amt noch nicht fertigen können, werde dies aber
umgehend nachholen. Ansonsten rate sie, bei Familie K./Kk. "eine
Familien-Hebamme einzusetzen."19
Noch am gleichen Tag schrieb der
Sachbearbeiter dem Methadon vergebenden Arzt: Wie bekannt, lehnten die Eltern
Hilfen gleich welcher Art ab. In den Gesprächen vom Februar im Klinikum Nord sei
auch der Einsatz einer Familien-Hebamme diskutiert worden. Vielleicht habe der
Arzt als "Person, welche bereits über einen längeren Zeitraum mit der Familie
arbeitet, die Möglichkeit, Frau K. und Herrn Kk. nochmals dieses Angebot zu
machen."20
Eine Reaktion des Arztes ist in der Akte
nicht dokumentiert. Eine Familien-Hebamme ist im weiteren nicht tätig geworden.
Wie in Teil 3 dieses Berichts noch zu zeigen sein wird, haben die Eltern in der
Besprechung im Klinikum Bremen - Nord vom 05. Februar 2004 den weiteren Einsatz
der Familien-Hebamme des Gesundheitsamts Horner Strasse offenbar ausdrücklich
abgelehnt, da sie sich von ihr kontrolliert fühlten. Der Sachbearbeiter hat dem
Verzicht auf die Familien-Hebamme damals nicht widersprochen. Tatsächlich war
die Familien-Hebamme seitdem nicht mehr tätig gewesen.
Am gleichen 28. Mai 2004, 10. Uhr 18
sandte die Mitarbeiterin des Sozialdienstes Klinikum Nord dem Sachbearbeiter -
offenbar in Reaktion auf dessen Wunsch nach einem Bericht vom 03. Mai 2004 -
eine Kopie eines vom gleichen Tag datierten Berichts des Klinikums Bremen Nord -
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin - über das Kind Kevin.21
Originärer Adressat des Berichts war eine Arztpraxis in 23774 Heiligenhafen.
Dabei handelt es sich um die Anschrift der Klinik, in der die Entgiftung der
Familie unternommen worden war.
Der Bericht äußert sich naturgemäß zu
medizinischen Fragen. Allerdings heißt es unter dem Gliederungspunkt "Soziale
und Versorgungssituation":
"Von kinderärztlicher Seite bestehen
deutliche Bedenken in der Versorgung des Kindes durch die Mutter. Bei intensiven
Versuchen, die Mutter in die Versorgung des Kindes mit einzubeziehen, besserte
sich das Verhalten der Versorgung während des stationären Aufenthaltes. Jedoch
kam es gerade in der Nacht zu deutlichen Versorgungsproblemen und Überforderung
der Mutter, so dass das Kind nach wenigen Stunden bereits wieder zu uns auf die
Intensivstation zurückgebracht wurde. Ebenfalls ist sie in der Versorgung des
Kindes sehr langsam.
Der Kontakt zu dem leiblichen Vater,
Herrn Kk. war stark beeinträchtigt. Es kam während des stationären Aufenthaltes
zu rezidiverenden22körperlichen Androhungen, Beschimpfungen.
Wir sehen jetzt dies als einmaligen
Versuch, den Eltern die Betreuung des Kindes zu überlassen; falls die Probleme
weiter auffällig bzw. zunehmend sind, erwägen wir, das Kind von der Betreuung
der Eltern zu entfernen."23
Die ausgewertete Akte ergibt keine
Reaktion des Amtes für Soziale Dienste auf diesen Bericht. Vom 28. Mai 2004 bis
zum 03. August 2004 ist weiter kein Dokument zur Akte gelangt.
Der polizeiliche Notlagenbericht vom 03. August 2004
Von diesem 03. August 2004 datiert eine
"Mitteilung über eine im Rahmen des Polizeidienstes bekannt gewordene erhebliche
soziale Notlage (§§ 14a, 36 f Abs. 1 BremPolG)" der Polizeiwache Stephanitor an
das Amt.24 Darin wird über einen Polizeieinsatz wegen "Gefährdung /
Vernachlässigung / Misshandlung eines Kindes"25 berichtet. Zeugen
hatten nach dem Bericht gegen 22 Uhr die Polizei alarmiert, weil die Mutter,
offenbar unter Drogen stehend, in der Ritterhuder Strasse ihr Kind misshandele.
Sie soll es aus dem Kinderwagen genommen, in die Luft geschleudert und wieder
aufgefangen haben. Sie soll das schreiende Kind mit der flachen Hand auf das
Auge gehauen haben. Gegenüber den Polizeibeamten habe die Mutter die Vorwürfe
bestritten. Im Gesicht konnten die Beamten Verletzungen, Hämatome oder
Errötungen der Augen nicht feststellen. Sie nahmen in der Atemluft der Mutter
Alkohol wahr und boten ihr einen freiwilligen Pupillenreaktionstest und einen
Atemalkohol-Test an. Die Pupillen reagierten normal, der AAK-Test ergab einen
Wert von 0,93 mg/l. Die Mutter sei, so schließt der Bericht, "bereits öfters
wegen BtM-Konsums auffällig geworden. Es erscheint zweifelhaft, ob die Frau K.
in der Lage ist, bei ihrem Kind eine sozialadäquate Erziehung zu gewährleisten,
wenn sie Abends gegen 22 Uhr mit ihrem Säugling betrunken durch die Strassen
spaziert."
Reaktion des Amtes auf den Notlagenbericht
Der Sachbearbeiter reagierte auf diese
Mitteilung. Am 04. August 2004 schickte er die Meldung der Polizei dem Methadon
vergebenden Arzt des Vaters unter Bezugnahme auf sein Schreiben vom 28. Mai
2004.26 Zwar lehne die Mutter vom Amt angebotene Hilfen ab.
Gleichwohl stimme ihn die Meldung der Polizei nachdenklich. Vielleicht habe der
Arzt die Möglichkeit, diesbezüglich mit der Mutter zu sprechen.
Am gleichen Tag schrieb der
Sachbearbeiter der Mutter27. Der letzte Satz der Meldung der Polizei
- der oben zitiert wurde - mache ihn "sehr nachdenklich … Ich biete Ihnen
nochmals Hilfe an, falls Sie diese benötigen."
Eine Reaktion des Methadon vergebenden
Arztes ist nicht aktenkundig.
Dagegen erschienen die Eltern am 17.
August 2004 im Sozialzentrum Gröpelingen und nahmen Stellung zu dem Vorfall vom
03. August 2004. Beide erklärten ausweislich der Notiz des Sachbearbeiters, "dass es ihnen gut ginge und sie keinerlei Hilfe benötigten." Mit beiden wurde
vereinbart, dass der Sachbearbeiter sie in absehbarer Zeit besuchen werde.28
Einen solchen Besuch hat der
Sachbearbeiter erst am 08. Oktober 2004 gemacht.29 Dabei traf er nur
den Vater an. Seinem Vermerk von diesem Tag ist zu entnehmen: Der Vater teilte
mit, die Mutter und das Kind seien seit dem 27. September 2004 in der Professor-Hess-Kinderklinik. Der Grund sei:
"Verdacht auf Frakturen beim Kind
Kevin (Bein und Rippen)".30 Die Beinverletzung führt der Vater " auf
das Kinderbett zurück, wo Kevin angeblich einmal mit dem Bein zwischen den
Sprossen hängen geblieben ist. Die Rippenverletzung könnte durch die Nachbarin
Frau X entstanden sein, die im angetrunkenen Zustand Kevin auf dem Arm haltend
zu sehr gedrückt hat. Kevin habe damals (vor ca. drei Wochen) auch laut
geweint." Er oder die Mutter "würden ihrem Kind niemals Leid zufügen." Bei dem
Besuch in der Wohnung der Eltern kann der Sachbearbeiter "sich von einer gut
aufgeräumten, nett eingerichteten Wohnung überzeugen. Auch das Kinderzimmer war
liebevoll eingerichtet und im Badezimmer befanden sich frisch gewaschene
Stofftiere, die dort zum Trocknen auslagen."
Tatsächlich war Kevin am 27. September
2004 auf Betreiben des Kinderarztes der Familie in die
Professor-Hess-Kinderklinik mit der Verdachtsdiagnose "Knochenbrüche" gebracht
worden. Er blieb dort bis 14. Oktober 2004.
Am 11. Oktober 2004 telefonierte der
Sachbearbeiter mit der Stationsärztin der Professor-Hess-Kinderklinik31,
die ihm mitteilte, bei Kevin sei eine Schädel- und Rippenfraktur älteren Datums
festgestellt worden. Wer die Frakturen verursacht habe, könne sie nicht sagen.
Die Mutter habe sich "ihrem Kind und dem Personal gegenüber vorbildlich
verhalten". Sie würden demnächst entlassen. "Eine ambulante Hilfe sei jedoch
angezeigt (auch im krankengymnastischen Bereich)." Der Sachbearbeiter erklärte,
er wolle sich um entsprechende Hilfen bemühen.
Am gleichen Tag hielt der Sachbearbeiter
den Inhalt eines Telefonats mit dem Vater fest: Der Vater "bemüht sich um einen
Einsatz der "Frühen Hilfen". Er, der Sachbearbeiter, habe die aufsuchende
Familienberatung informiert, die den Fall beraten und zurückrufen wolle. Der
Einsatz einer Familien-Hebamme müsse überlegt werden.
Eine In-Obhutnahme des Kindes wurde
nicht in Erwägung gezogen.
Wie noch dargestellt werden wird, hat
der Vater durch Vermittlung der Frühen Hilfen tatsächlich einen Antrag auf die
Gewährung solcher Hilfen gestellt. Zum Einsatz einer Familien-Hebamme kam es im
Weiteren nicht.
Die Diagnose der Professor-Hess-Kinderklinik vom 14. Oktober 2004
Unter dem Datum 14. Oktober 2004
erstellte die Klinik einen Bericht über den Aufenthalt von Kevin in der Klinik32.
Adressat war der Kinderarzt der Familie. Dieser Bericht ging auch an den
Sachbearbeiter33.
Der Bericht ergibt, dass das Kind Kevin
zunächst bei dem Kinderarzt der Familie vorgestellt worden war, wegen einer
Schwellung am rechten Unterschenkel (S.1).
Eingangs gibt der Bericht vier
Diagnosen. Darunter sind folgende:
"Multiple traumatische Frakturen.
Kindesmisshandlung.
Entwicklungsstörung."
Der Bericht stellt den Zustand des
Kindes dar. Im Zusammenhang mit den diagnostizierten Knochenbrüchen schildert er
eine "ungefähr 3 Wochen alte distale Unterschenkelfraktur beidseitig (Tibia und
Fibula)", "Rippenfrakturen (9. und 10. Rippe) älteren Datums", "komplette
distale Unterarmfraktur älteren Datums", "Kalottenfraktur mit mehreren Frakturen
occipital und links parietal sowie parieto-occipital" (alle S. 3). Der Bericht
diskutiert mögliche krankheitsbedingte Ursachen für die Knochenbrüche, kommt
aber zu dem Schluss, "insbesondere die Frakturen am Schädelknochen und im
Bereich der Rippen sind medizinisch betrachtet traumatisch anzusehen" (S.5).34
Zu den diagnostizierten
Entwicklungsstörungen stellt der Bericht eine "deutliche occipitale Liegeglatze"
fest.35Der Bericht bescheinigt dem damals ca. acht Monate alten Kind einen
"Entwicklungsstand der motorischen Leistungen entsprechend dem 3. bis 4.
Lebensmonat, allenfalls Augen- und Handmotorik etwas altersentsprechender." (S.
4).
Der Bericht erinnert daran, dass Kevin
nach der Geburt trotz "Bedenken über die Qualität der Versorgung des Kindes
durch die Mutter" ... "in die Obhut der Eltern gegeben worden" sei (S.1 / 2).
Die Familie werde im Amt für Soziale Dienste bei dem Sachbearbeiter betreut. In
der Klinik habe sich die Mutter "sehr zugewandt und vorsichtig liebevoll im
Umgang" gezeigt (S.5). Offenbar hat es in der Klinik Überlegungen gegeben, das
Kind nicht mehr zu den Eltern zu geben. Dazu heißt es: "In Absprache mit den
beteiligten Institutionen, insbesondere (dem Sachbearbeiter) vom Amt für Soziale
Dienste, wird es zunächst keinen Antrag auf Fremdunterbringung geben. Es wird
eine Familien-Hebamme bzw. eine aufsuchende Familienberatung eingesetzt und
Kevin erhält bei entsprechender statomotorischer Entwicklungsverzögerung
zusätzlich Frühförderung (Frühe Hilfen)". (S.5). Es folgen Empfehlungen für die
weitere medizinische Betreuung des Kindes in der Klinik und durch den Hausarzt.
Wie berichtet, hatte der Sachbearbeiter
sich schon am 11. Oktober 2004 - noch vor Eingang des Berichts, aber vermutlich
schon in Umsetzung des Gesprächs mit der Stationsärztin vom gleichen Tag - um
die Vermittlung von "Frühen Hilfen", um den Einsatz aufsuchender
Familienberatung bemüht und erwogen, eine Familien-Hebamme einzusetzen.36
Letzteres scheiterte, wie der Sachbearbeiter unter dem 14. Oktober 2004
vermerkte, an fehlenden Kapazitäten.37 Zum Einsatz der "Aufsuchenden
Familienberatung" kam es nicht, da der Vater dem Sachbearbeiter am 19. Oktober
2004 telefonisch mitteilte, davon wolle er "zunächst absehen."38
Dagegen kam am 28. Oktober 2004 ein
Termin mit den Frühen Hilfen - auch durch Einsatz des Sachbearbeiters39
-zustande. Ausweislich eines Kurzvermerks vom 01. November 200440
notierte er den Inhalt einer Mitteilung des Vaters über den Besuch eines
Mitarbeiters der Frühen Hilfen bei der Familie: Der Besucher "war mit der
Gesamtsituation zufrieden." Der Einsatz beginne in ca. sechs Wochen. Ferner
erklärte der Vater, man werde "wöchentlich mit dem Jungen in der Klinik
vorstellig … (Blutüberprüfungen / evtl. Nierenschäden)". Die Ärztin der Klinik
werde mit dem Kinderarzt der Familie Kontakt aufnehmen.
23. November 2004: Strafanzeige gegen die Mutter wegen Verletzung der
Fürsorgepflicht, Aufnahme Kevins im Hermann-Hildebrand-Haus
Am 23. November 2004 erstattete die
Polizei Bremen - Polizeirevier Gröpelingen - Strafanzeige41 gegen die
Mutter wegen Verletzung der Fürsorgepflicht. Die Polizei war in das Haus der
Eltern gerufen worden, wo sie die Mutter alkoholisiert und unter Drogen stehend
schlafend im Hausflur vorfand; das Kind lag neben ihr bäuchlings auf dem Boden
und weinte sehr laut. Es habe eine rote Stelle an der Stirn sowie auf der
rechten Wange gehabt. Die Mutter habe das Kind vermutlich auf den Boden fallen
lassen, als sie einschlief. Die Polizei brachte das Kind zunächst ins Diako. Es
sei bei der Einlieferung schmutzig gewesen und habe für die
Witterungsbedingungen zu dünne Kleidung angehabt. Danach sei das Kind in das
Hermann-Hildebrand-Haus gebracht, die Mutter in Gewahrsam genommen worden.
Aufgrund dieser Strafanzeige leitete die
Staatsanwaltschaft Bremen unter dem Aktenzeichen 406 Js 1053/05 ein
Ermittlungsverfahren gegen die Mutter wegen Verletzung der Fürsorgepflicht und
fahrlässiger Körperverletzung ein.42 Auf dieses Verfahren wird noch
zurück zu kommen sein.
Die Kosten für die Notaufnahme Kevins im
Hildebrand-Haus für die Zeit vom 24. bis 29. November 2004 übernahm das Amt für
Soziale Dienste, Sozialzentrum Walle / Findorff, Sozialdienst Wirtschaftliche
Hilfen. Der Tagessatz betrug 175,37 Euro43
Die Eltern wollen Kevin zurück haben
Die Eltern wandten sich sofort nach dem
Vorfall vom 23. November 2004 an den Methadon vergebenden Arzt, der sich
seinerseits am 24. November 200444 an das Amt für Soziale
Dienste wandte und mitteilte, die Eltern wollen "das Kind zurück holen."
In der Gesprächsnotiz des Amtes heißt es: "(Der Arzt) sieht keinen
Grund, das Kind den Eltern vorzuenthalten (es gibt viele alkoholisierte
Mütter)."
In Abwesenheit des Sachbearbeiters
trafen andere Mitarbeiter des Jugendamtes mit Mitarbeitern des Hildebrand-Hauses
die Absprache, das Kind nicht an die Mutter herauszugeben. Am 25. November 2004
gegen 7 Uhr 15 erschienen die Eltern in Begleitung des Methadon vergebenden
Arztes im Sozialzentrum Gröpelingen.
Im Zusammenhang mit der Mitwirkung des
Arztes fällt auf: In der Akte befindet sich ein - handschriftlich auf den 25.
November 2004 datiertes - "Ärztliches Attest"45 von diesem Arzt, das
dem Vater von Kevin bescheinigt, er sei "regelmäßig (d. h. 1 - 2 x pro Woche) in
unserer ärztlichen Behandlung. Er hat keinen Beigebrauch und ist in der Lage,
sich verantwortlich um sein Kind zu kümmern. " Ausweislich der Fax-Leiste ging
dieses Attest, von dem Arzt abgeschickt, am 25. November 2004, 12 Uhr 38 beim
Amt für Soziale Dienste ein, wo es in die Akte gelangte. Wozu es diente, wer es
eventuell angefordert hat, ergibt sich nicht. Dass es dazu gedient haben könnte,
die Herausgabe des bekanntlich im Hildebrand-Haus befindlichen Kevin an seine
Eltern zu fördern, erscheint freilich plausibel.
Die Mutter weinte und bereute. Sie wurde
ausweislich eines Schreibens des Amtes an das Polizeirevier Gröpelingen vom 02.
Dezember 200446 "über ihr nicht zu entschuldigendes Fehlverhalten
aufgeklärt. Mit entsprechenden Konsequenzen müsse gerechnet werden." Der Vater
würde "das Fehlverhalten" der Mutter "natürlich ebenfalls verurteilen".
Nach
kollegialer Beratung sei den Eltern mitgeteilt worden, falls sie damit
einverstanden wären, würde ein sechswöchiger FiM-Einsatz (Familie im
Mittelpunkt, eine ambulante Maßnahme eines freien Trägers, hier: der
Hans-Wendt-Stiftung) installiert werden. "In diesem Zusammenhang" würde dann das
Kind am 29. November 2004 aus dem Hildebrand-Haus in die Familie zurückgeführt.
Die Eltern erklärten sich mit diesem Vorschlag einverstanden. Weiter heißt es in
dem Schreiben an das Polizeirevier, die im FiM-Einsatz tätigen Mitarbeiter
hätten die Arbeit am 26. November 2004 begonnen, die Eltern seien sehr
kooperativ, die weitere Entwicklung "bleibt abzuwarten."47
In den Akten befindet sich das
Kurzprotokoll - Datum: 30. November 2004 einer Wochenkonferenz des Amtes. Die
Teilnehmer sind daraus nicht ersichtlich. Diskutiert wird über Sinn und
Notwendigkeit eines FiM-Einsatzes. Ergebnis: die Installation eines
FiM-Einsatzes ab 26. November 2004. Dieser soll voraussichtlich sechs Wochen
dauern.48
Die Kosten für den FiM-Einsatz übernahm
das Amt für Soziale Dienste Sozialzentrum Walle / Findorff, Sozialdienst
Wirtschaftliche Jugendhilfe, durch Kostenzusicherung vom 03. Dezember 2004
gegenüber der Hans-Wendt-Stiftung.49
Im weiteren enthält die Akte Unterlagen
betreffend den FiM-Einsatz (Assessmentbogen und Zielvereinbarung vom 09.
Dezember 2004)50 Dort ist in der Rubrik "Grund für Überweisung" der
Polizeieinsatz im Treppenhaus vom 23. November 2004 genannt und hinzugefügt:
"Der zuständige Sozialarbeiter (das ist der Sachbearbeiter), zog eine
Rückführung von Kevin zu den Eltern im Rahmen eines FiM-Einsatzes in Erwägung,
weil er vor allem bei Herrn Kk. Kompetenzen für die Betreuung des Kindes sah."
Es folgt das Protokoll der
Abschlusskonferenz vom 04. Januar 200551. Die Konferenz (Teilnehmer
neben den Eltern der Sachbearbeiter und zwei Mitarbeiter der
Hans-Wendt-Stiftung) ist der Auffassung, die Frage "Ist das Kind weiterhin in
der Familie sicher ?" sei mit "Ja" zu beantworten.52 Speziell der
Sachbearbeiter benennt als sein Ziel die "Sicherung des Kindeswohls", das er zu
seiner "Zufriedenheit" als erreicht ansieht. Die weiter von ihm angestrebte "Klärung, ob Kevin in der Familie verbleiben kann und Anschlusshilfen notwendig
sind", beantwortete er mit "SPFH"533 Monate vor der Geburt des 2. Kindes". Insgesamt stuft die Runde die
Arbeit von FiM als "überwiegend erfolgreich" ein, als "Hilfe im Anschluss wird "SPFH"
vorgesehen.54 Die Eltern wollten diese Hilfe "gern annehmen".55
Das Protokoll ist unterschrieben von den Eltern, dem Sachbearbeiter und den
beiden Mitarbeitern der Hans-Wendt-Stiftung.
Der von den beiden Mitarbeitern der
Hans-Wendt-Stiftung unterschriebene FiM-Abschlussbericht vom 06. Januar 200556
attestiert den Eltern, sie seien sehr interessiert und kooperativ gewesen, sie
hätten umfassende Kenntnisse und ein hohes Bewusstsein, welche Bedürfnisse bei
einem Säugling befriedigt sein müssen. Kevin habe sichtbare Fortschritte gemacht
und sei in den vergangenen Wochen wesentlich agiler und bewegungsfreudiger
geworden. Grossen Anteil an den motorischen Fortschritten habe die
Krankengymnastik, zu der die Eltern mehrmals wöchentlich mit dem Kind gingen.
Sie sprächen viel mit ihm, so dass er inzwischen mehr lautiere und erste Worte
sagen könne. "Wenn Kevin wach ist, nimmt er am Familienleben teil."57
Weitere Fortschritte versprächen sie sich von der Frühförderung, die bereits
beantragt sei und Mitte Januar 2005 beginnen solle. Unter "Fazit" heißt es: "Wir
hatten zu keiner Zeit Sorge, dass Kevins Wohl gefährdet sein könnte.
Alkoholgeruch oder Verhaltensweisen, die auf Alkoholkonsum schließen lassen
würden, haben wir über die gesamte Dauer der Maßnahme nicht wahrgenommen. Die
Eltern gehen sehr liebevoll und fürsorglich mit ihrem Sohn um und es wird eine
stabile Bindung deutlich. Das Familienleben dreht sich um Kevin."
Kevin und die Frühförderung
Genaue Hinweise darauf, wann die für
Mitte Januar 2005 geplante Frühförderung des Kindes begonnen hätte,
finden sich in der Akte nicht. Am 11. Februar erklärt das Amt für
Soziale Dienste, Sozialzentrum Gröpelingen / Walle, Wirtschaftliche
Hilfen - auf Grund eines Antrags der Eltern vom 28. Oktober 2004 - die
Übernahme der Kosten für Frühförderungsmaßnahmen für die Zeit vom 03.
Januar 2005 bis 30. April 2005.58
Ein Nachweis über den Beginn der Maßnahmen fehlt in der Akte des
Jugendamtes.
Dagegen ergibt sich aus einer Unterlage
des Gesundheitsamts Bremen - Sozialpädiatrische Abteilung vom 13. Dezember 2004,
dass die "Frühen Hilfen, Fachbereich III der Lebenshilfe Bremen e.V." am 08.
November 2004 einen vom 29. Oktober 2004 datierten, von den Eltern
unterschriebenen "Antrag auf Übernahme der Kosten für Frühförderungsmaßnahme" an
das Gesundheitsamt gerichtet hatten. Dort wurde Kevin von dem zuständigen
Kinderarzt untersucht. Am 13. Dezember vermerkte der Arzt neben Einzelheiten zur
Geschichte der Familie, dass diese "dem Amt für Soziale Dienste bekannt ist.
(Der Sachbearbeiter) hat auch die häusliche Förderung angeregt". Der Kinderarzt
des Gesundheitsamtes berichtet von einem Hausbesuch, die Wohnung mache einen "unaufgeräumten, chaotischen, aber nicht ungepflegten Eindruck. Es dauert eine
Weile, bis die Eltern das Vorsorgeheft gefunden haben. Frau K. wirkt insgesamt
sehr unselbständig und unsicher, muss dauernd ihren Lebenspartner um Rat fragen.
Bei einem Telefonat mit dem zuständigen Sachbearbeiter (damit ist der
Sachbearbeiter des Jugendamtes gemeint) wird deutlich, dass er dem Vater von
Kevin trotz der bisherigen Vorfälle noch genügend "Kompetenzen" einräumt, um das
Kind noch in der Familie zu belassen. Ich habe ihm gegenüber dennoch deutlich
gemacht dass trotz bestehender Indikation für eine Frühförderung am Kind dies
nicht alleine der richtige Weg sein kann, um auf diese Weise auch Kontrolle über
die Familie auszuüben."
In der von dem Sachbearbeiter
bearbeiteten Akte des Jugendamtes findet sich kein Hinweis (Gesprächsnotiz o.
ä.) über eine solche Unterredung mit dem Kinderarzt des Gesundheitsamtes.
In seinem Frühfördergutachten vom
gleichen 13. Dezember 2004 attestierte der Kinderarzt, Kevin sei ein 10 Monate
alter Säugling in gutem Allgemeinzustand. Frühfördermaßnahmen seien notwendig
wegen der Entwicklungsverzögerungen bzw. Störungen im Bereich der Motorik und
der psychosozialen Entwicklung. Er verschweigt nicht, dass die Eltern zwei
bereits vereinbarte Termine zur Untersuchung des Kindes jedes Mal kurzfristig
abgesagt haben.
Am 21. Januar 2005, also etwa zwei
Wochen nach dem positiven Abschlussbericht des FiM-Projekts, sprach der Vater
beim Amt für Soziale Dienst vor und äußerte große Sorgen, man könnte ihm sein
Kind wegnehmen. Die Mutter habe sich der Hehlerei schuldig gemacht, sie habe
wiederholt Alkohol zu sich genommen. Eine Reaktion des Amtes auf dies Mitteilung
ist nicht dokumentiert.
Mitteilung des Kinderarztes der Familie an das Amt: Verdacht auf Gefährdung des
Kindeswohls
Am 04. Februar 2005 ging eine Meldung
des Kinderarztes der Familie über das Kind Kevin bei dem Jugendamt ein. Eine
offenbar für den Sachbearbeiter bestimmte Notiz über diese Meldung von
unbekannter Hand lautet: "Das Kind soll gefährdet sein: 500 g abgenommen, extrem
blutarm. Die Familie hat den heutigen Kontrolltermin abgesagt. (Der Kinderarzt)
sieht eine Kindeswohlgefährdung."59
Eine kurzfristige Reaktion des Amtes auf
den Besuch des Vaters am 21. Januar 2005 und die Nachricht des Kinderarztes vom
04. Februar 2005 ergibt sich aus den Akten nicht. Möglicherweise hat das Amt
Termine mit den Eltern vereinbart, die aber von diesen abgesagt oder nicht
eingehalten wurden. In einem Vermerk vom 17. Februar 2005 listete der
Sachbearbeiter solche Termine am 07., 09., 14. und 17. Februar auf.60
Am 18. Februar 2005 schrieb er den Eltern, diese Absagen machten ihn "sehr
nachdenklich. Ich hoffe, Sie sind sich der Gesamtsituation bewusst und werden
sich umgehend bei mir melden."61
Am 15. Februar 2005 telefonierte der
Sachbearbeiter mit dem Kinderarzt der Familie. Dieser wiederholt: Die Eltern
seien ohne Absage nicht zum vereinbarten Termin gekommen. Er wiederholt den
Hinweis, Kevin habe vom 17. Januar bis 01. Februar 2005 500 Gramm abgenommen. In
dieser Zeit sei die Mutter im Krankenhaus gewesen und der Vater allein sei für
die Versorgung des Kindes verantwortlich gewesen. Nach der Rückkehr der Mutter
habe das Kind wieder zugenommen.
Einen Tag später, am 16. Februar 2005,
nahm der Kinderarzt der Familie erneut Kontakt mit dem Sachbearbeiter auf.
Dieser vermerkte über das Gespräch: Die Eltern seien in der Praxis mit dem Kind
vorstellig geworden. Ihr Verhalten sei akzeptabel gewesen, die Entwicklung des
Kindes könne als positiv bezeichnet werden. Kevin habe weiter an Gewicht
zugenommen.62
Andere Reaktionen des Amtes wegen der
Mitteilung des Kinderarztes vom 04. Februar 2005 ergeben sich aus der Akte
nicht.
Am 22. Februar 2005 ging bei dem
Sachbearbeiter ein an ihn persönlich adressiertes Schreiben der
Staatsanwaltschaft Bremen vom 15. Februar 200563 ein. Die
Staatsanwaltschaft führte wie schon erwähnt ein Ermittlungsverfahren gegen die
Mutter wegen des Vorfalls im Treppenhaus vom 23. November 2004 wegen Verletzung
der Fürsorgepflicht und Fahrlässiger Körperverletzung. Sie bat um Mitteilung,
"was von Ihrem Amt bzw. möglicherweise vom Jugendamt weiter veranlasst wurde."
Sie fragte nach der derzeitigen Situation der Familie "und insbesondere des
Kindes Kevin." Und: "Wurde der in Ihrem Bericht vom 02. Dezember 2004 erwähnte
FiM -Einsatz durchgeführt und (erfolgreich) abgeschlossen? Inwieweit wurde von
dort aus sichergestellt, dass das Kind in der Gegenwart und Zukunft eine
angemessene Betreuung erhält?"
Mit dem Bericht vom 02. Dezember 2004
ist offenbar der weiter oben erwähnte Bericht des Sachbearbeiters an das
Polizeirevier Gröpelingen wegen des Vorfalls vom 23. November 2004 gemeint, der
Bestandteil der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft geworden ist.
Unter dem 11. März 200564
antwortete der Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft, der FiM -Einsatz
sei erfolgreich abgeschlossen. Die den Einsatz durchführenden
Mitarbeiter hätten sich durchweg positiv über die Familie geäußert.
Zudem sei Kontakt mit den Frühen Hilfen aufgenommen, "die nun zusätzlich
in der Familie tätig sind." Er, der Sachbearbeiter, habe ebenfalls
Kontakt zu dem Methadon verabreichenden Arzt des Vaters und zum
Kinderarzt der Familie. Ein Zwischenfall vom Februar 2005 betreffend die
Verwicklung der Mutter in eine Diebstahlsangelegenheit hätte geklärt
werden können, eine Polizeimeldung liege ihm nicht vor. "Laut Aussage
des Kinderarztes ist Kevin z. Zt. gut versorgt, die Eltern sind sehr um
das Wohl des Kindes bemüht. Dieses ist auch der Eindruck des
Unterzeichners." Wie die "Klärung" dieses Zwischenfalls aussieht, ergibt
die Akte nicht.
Die Staatsanwaltschaft hat mit Rücksicht
auf die vom Sachbearbeiter geschilderte positive Lage der Familie von weiteren
strafrechtlichen Sanktionen abgesehen.
Bevor der Sachbearbeiter auf die Anfrage
der Staatsanwaltschaft vom 22. Februar 2005 antwortete, gab es ein Gespräch
zwischen ihm und dem schon weiter oben erwähnten Rechtsanwalt (der an einer der
Besprechungen nach der Geburt des Kindes im Klinikum Bremen – Nord teilgenommen
hatte) und ein Gespräch mit den Eltern.
Über das Gespräch mit dem Anwalt am 25.
Februar 2005 vermerkte der Sachbearbeiter65, dieser habe sich
telefonisch gemeldet - weshalb und auf wessen Veranlassung bleibt unklar. Er
habe über den Vorfall vom 23. November 2004 berichtet. Er habe erklärt, die
Gesamtsituation der Familie sei "wohl sehr kritisch". "Zudem sei ja nun auch
bekannt, dass der Vater zur Aggressivität neige. Auch sei die Mutter erneut
schwanger, welches ja wohl angesichts der Gesamtsituation "fürchterlich" sei."
Er, der Sachbearbeiter, habe dem Rechtsanwalt berichtet, "dass dieses alles
bekannt sei und ein ständiger Kontakt zur Familie bestünde."
Am 24. Februar 2005 erschienen die
Eltern, wie verabredet, zu einem Gespräch bei dem Sachbearbeiter. Dessen
Gegenstand waren nicht die von dem Kinderarzt der Familie mitgeteilten
Gewichtsprobleme des Kindes. Der Sachbearbeiter vermerkt,66 die
Mutter habe über einen Polizeieinsatz berichtet, der sich vor einigen Tagen
ereignet habe. Sie sei allein unterwegs gewesen und habe, weil ein Arzt ihr von
schlechten Blutwerten (wohl im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft) berichtet
habe, "auch etwas getrunken". Von einer Privatperson habe sie Bettzeug und
Duschutensilien gekauft. Die Polizei habe sie gestoppt, weil die Sachen als
gestohlen gemeldet gewesen seien. Eine Anzeige habe es nicht gegeben.
Dokumente über diesen Polizeieinsatz
finden sich in der Akte nicht.
Ausweislich der Akte erkundigte sich der
Sachbearbeiter erst nach der Mitteilung an die Staatsanwaltschaft vom 11. März
2005 über den Stand der Maßnahmen im Zuge der Frühen Hilfen. Aus seinem Vermerk
vom 17. März 200567 ergibt sich, der Mitarbeiter der "Frühen Hilfen"
sei nun "seit einiger Zeit in der Familie" tätig, er habe einen recht guten
Eindruck, die Familie gehe liebevoll mit dem Kind um und versorge es gut. Er
wolle den Sachbearbeiter regelmäßig informieren.
Das tat der Mitarbeiter der "Frühen
Hilfen" am 7. April 2005. Ausweislich eines Vermerks des Sachbearbeiters68
teilte er mit: Er müsse seine Tätigkeit einstellen, da der Vater mit
Bauchspeicheldrüsenentzündung in einer Klinik sei und die Mutter mit Kevin nach
Alfeld fahren und dort wahrscheinlich auch ihr zweites Kind zur Welt bringen
werde.
Nach einem weiteren Telefonat mit dem
Mitarbeiter der "Frühen Hilfen" notierte der Sachbearbeiter am 15. Juni 2005,69
der Mitarbeiter der Frühen Hilfen habe seit der "Alfeldzeit" keinen Kontakt zur
Familie. Am 22. Juni 2005 vermerkte der Sachbearbeiter, der Mitarbeiter der
Frühen Hilfen habe seit längerer Zeit keinen Kontakt zur Familie.70
Die Akte ergibt im Weiteren keinen
Hinweis darauf, dass die Frühen Hilfen noch weiter tätig gewesen sind.
Allerdings ist unter dem 25. Juli 2005 eine Verlängerung der Kostenübernahme für
Frühförderungsmaßnahmen vom 01. August 2005 bis 31. Dezember 200571
und weiter vom 01. Januar 2006 bis 30. Juni 200672 dokumentiert.
Unter dem 12. Oktober 2005 bittet der Mitarbeiter der Frühen Hilfen das
Jugendamt, den Eltern die Fortsetzung der Frühförderung nahe zu legen,73
was der Sachbearbeiter auch tut.74 Daraufhin erklärte der Vater, er
wolle Kontakt mit dem Mitarbeiter der Frühen Hilfen aufnehmen.75 Ob
das geschehen ist, ergibt sich aus der Akte nicht.
Im Weiteren enthält die Akte auch keinen
Hinweis auf eine Reise der Mutter nach Alfeld.
29. Mai 2005: Die Mutter erleidet eine Totgeburt
Die Schwangerschaft der Mutter endete in
Bremen am 29. Mai 2005 mit einer Totgeburt. Der Vater teilte dies einer
Mitarbeiterin von FiM mit, die ihrerseits am 01. Juni 2005 den Sachbearbeiter
unterrichtete und hinzufügte, eine Frau Y kümmere sich um die Versorgung von
Kevin76 . Am 14. Juni 2005 vermerkte der Sachbearbeiter die
Mitteilung des Methadon vergebenden Arztes, die Mutter sei auf freiwilliger
Basis in der Klinik Dr. Heines.77 Am 15. Juni 2005 erschien der Vater
vereinbarungsgemäß bei dem Sachbearbeiter. Der Vater erklärte ausweislich eines
Vermerks des Sachbearbeiters78, "zur Versorgung seines Sohnes
benötige er keine Hilfe."79Kevin habe einen aufgeweckten und durchaus zufriedenen Eindruck gemacht.
Der Vater habe dem Sachbearbeiter erklärt, der Methadon vergebende Arzt stehe in
Kontakt mit der Klinik in Heiligenhafen, um eine erneute "Entgiftung" für die
Familie vorzubereiten. Weiter war die Rede von einem anstehenden Termin beim
Kinderarzt am 22. Juni 2005; sowohl der Vater als auch der Sachbearbeiter wollen
deswegen mit dem Arzt Kontakt aufnehmen. Bei auftretenden Schwierigkeiten wolle
der Vater sich umgehend an den Sachbearbeiter wenden.
Nähere Hinweise zu den Gründen, die eine
erneute "Entgiftung" der Familie in Heiligenhafen veranlasst haben könnten,
ergeben sich aus der Akte nicht. Unter dem 07. Juli 2005 vermerkt der
Sachbearbeiter die Mitteilung des Methadon vergebenden Arztes, die Familie werde
spätestens am 18. Juli 2005 einen Platz zur Entgiftung in Heiligenhafen
erhalten.80
14. Juni 2005: Der Vater vor dem Amtsgericht - Schöffengericht - Bremen
Am 14. Juni 2005 verurteilte das
Amtsgericht Bremen - Schöffengericht - den Vater rechtskräftig wegen
räuberischen Diebstahls im Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung sowie
wegen Diebstahls in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 6
Monaten auf Bewährung (81 b Ls 520 59247/02). Verteidigt wurde er von dem schon
weiter oben erwähnten Rechtsanwalt. In der Akte findet sich ein Bericht des
WESER-REPORT vom 15. Juni 2005 über die Verhandlung. Darin ist u. a. davon die
Rede, der Vater habe wegen Einbrüchen und Diebstählen seit 1979 insgesamt 13
Jahre im Gefängnis gesessen. Seine Lebensgefährtin – die Mutter - sei ebenfalls
drogenabhängig. Kurz vor der angeklagten Tat habe er Alkohol getrunken und
Heroin gespritzt. Sein Kind habe er in der Verhandlung mit dabei gehabt.
In der Akte sind keine Hinweise
ersichtlich, dass das Amt auf dieses Verfahren reagiert hätte.
Der polizeiliche Notlagenbericht vom 18. Juli 2005
Am 18. Juli 2005 war die Familie immer
noch nicht nach Heiligenhafen zur Entgiftungskur abgereist. Die Polizei Bremen
übermittelte an diesem Tag dem Sozialzentrum Gröpelingen / Walle eine
"Mitteilung über eine im Rahmen des Polizeidienstes bekannt gewordene erhebliche
soziale Notlage (§§ 14a, 36 f Abs. 1 BremPolG)"81 wegen Gefährdung /
Vernachlässigung / Misshandlung eines Kindes; es liege zusätzlich
Alkoholmissbrauch und Drogengefährdung vor. Ausgelöst war der Einsatz durch
einen Anruf des Vaters bei der Polizei, der gemeldet habe, die Mutter raste aus,
er wisse sich nicht mehr zu helfen. Die einschreitenden Beamten "fanden einen
desolaten Gesamtzustand der Wohnung und der Lebensverhältnisse vor." Die Mutter
sei stark alkoholisiert gewesen. Auch der Vater habe Alkohol getrunken gehabt.
Der Vater habe der Mutter im Beisein des 17 Monate alten Kindes vorgeworfen, sie
sei eine alte Schlampe, die für jeden für Alkohol die Beine breit mache. Sie
lasse das Kind einfach eine halbe Stunde zu Hause allein herumliegen, um neuen
Alkohol zu besorgen, ohne den sie es nicht aushalte. Der Vater habe eingeräumt,
er habe die Mutter geohrfeigt. Wörtlich heißt es in dem Bericht: "Es ist auf
jeden Fall sehr offensichtlich, dass sich die Gesamtsituation in diesem
Haushalt, wenn man das noch so nennen kann, sehr zum Nachteil des kleinen Kindes
auswirkt. Weiterhin ist davon auszugehen, dass von den Verantwortlichen für den
kleinen Jungen … mindestens immer einer alkoholisiert sein wird und es deswegen
auch stets zu Auseinandersetzungen kommen könnte. Die normale und natürliche
Versorgung des Kindes wird dadurch sehr vernachlässigt und geht sogar gänzlich
verloren. Zu dem kleinen Kevin sei noch gesagt, dass er von unten bis oben
komplett verdreckt (Bekleidung stark mit Essen verschmiert, durchnässte Windel)
war und auch dringend mehr Pflege und Hygiene benötigt, als es zur Zeit in
diesen Verhältnissen gewährleistet werden kann."
Der Hausbesuch des Amtes vom 19. Juli 2005
Aufgrund dieser Meldung machten zwei
Mitarbeiterinnen des Sozialzentrums am 19. Juli 2005 einen Hausbesuch bei den
Eltern. Der handschriftliche Bericht82 der Besucherinnen ergibt:
Kevin wurde gesehen. Auffälligkeiten bei ihm konnten nicht festgestellt werden.
Er wirkte nicht unterversorgt. Es scheine, als sei der Vater in erster Linie für
die Versorgung des Kindes zuständig. Einen "zugedröhnten Eindruck" habe er nicht
gemacht. Die Mutter leide unter der Totgeburt, wirke "aber auch irgendwie
"zugedröhnt"". Sie bekommen ihr Polamidon für eine Woche zugeteilt. Sie warten
auf einen Platz in Heiligenhafen. Den Eltern wird empfohlen, jede Woche ein Mal
dort anzurufen (was diese schon getan haben wollen). Sie hätten am 18. Juli 2005
mehrfach vergeblich versucht, den Sachbearbeiter oder eine andere Mitarbeiterin
des Amtes zu erreichen. Sie hätten sich auch an ihren Kinderarzt wenden wollen,
"weil Kevin einen Blumentopf an die Wange bekommen habe. Eine minimale Spur war
noch sichtbar. Der Kinderarzt ist aber in Urlaub. Wenn Kevin etwas Auffälliges
habe, wollten sie sich an die Professor-Hess-Klinik wenden … Das Kind musste von
uns heute nicht in Obhut genommen werden."
Am 25. Juli 2005 ging bei dem
Sachbearbeiter ein weiterer Bericht wegen des eben erwähnten Vorfalls ein.
Absender war die Polizei Bremen - PD Schutzpolizei, Polizeirevier Gröpelingen.
Unter dem 18. Juli 2005 schrieb die Polizei: Eine Mitbewohnerin des Hauses habe
"erhebliche Familienstreitigkeiten" gehört. Auf der Straße habe man die
erheblich angetrunkene Mutter angetroffen, die Probleme abgestritten habe, und
sei mit ihr in die Wohnung gegangen. Dort habe man den Vater getroffen, der sehr
sauer gewesen sei, weil die Mutter wieder mal betrunken sei und sich nicht um
den Sohn kümmerte bzw. kümmern konnte. Die Polizeibeamten teilten den Eindruck,
dass die Mutter sich in ihrem Zustand nicht kümmern konnte. Der Bericht erinnert
an den Vorfall vom 23. November 2004. Die Mutter sei in Gewahrsam genommen
worden, um eine Eskalation zu vermeiden und weil der Vater der einzige sei, der
sich um den Sohn wirklich kümmern konnte. Gegen 20 Uhr 20 habe man den Vater
nochmals aufgesucht. Er habe sich beruhigt gehabt und den Jungen gefüttert und
ins Bett gelegt. Weiter habe der Vater von seinen Drogenproblemen und denen der
Mutter berichtet. Die Mutter leide unter der Totgeburt, sei fast jeden Tag
betrunken und könne den Sohn nicht vernünftig versorgen. Er, der Vater lebe in
ständiger Angst, es könnte sich in seiner Abwesenheit ein Vorfall wie der vom
23. November 2005 wiederholen. Er beabsichtige, sich von der Mutter zu trennen.
Der Bericht schließt mit dem Hinweis,
der Vater neige zu aggressivem Verhalten, "vor allem wenn (die Mutter) betrunken
ist" und schlage sie dann. Er sei 190 cm groß und kräftig, wiege ca. 110 bis 120
kg.
Noch am Tag des Eingangs dieses Berichts
bei dem Sachbearbeiter vermerkte dieser eine Mitteilung83 des Vaters:
Der Konflikt mit der Mutter sei behoben. Sie habe wieder Kontakt mit Kevin
aufgenommen, Kevin reagiere wieder positiv. Am 26. Juli 2005 werde die Kur in
Heiligenhafen beginnen. Dauer zunächst drei Wochen, man denke an Verlängerung.
Erster Hinweis: Die Familie will Bremen verlassen
Ausweislich eines Vermerks des
Sachbearbeiters84 meldete sich der Vater am 10. August 2005 aus
Heiligenhafen. Er und die Mutter (von Kevin ist nicht die Rede) seien seit 26.
Juli 2005 dort. Sie planten, nach der Kur aus Bremen fortzuziehen, er denke,
seine eigene Mutter werde ihn unterstützen.
Am 24. August 2005 vermerkte der
Sachbearbeiter85, der Vater habe mitgeteilt, die Entgiftung sei
beendet, seit 22. August sei er wieder in Bremen. Er wolle sich bemühen, in der
Nähe seiner Mutter, in Alfeld, eine Wohnung zu bekommen. Der Kontakt zu seinem
Elternhaus sei sehr gut. Sein Methadon vergebender Arzt wolle einen betreuenden
Arzt in Alfeld suchen.
Anfrage der Bewährungshilfe
wegen der Mutter "vom Senator für Justiz", die sich
nach der Mutter und der Kindsversorgung erkundigt habe. Tatsächlich handelt es
sich der Anruferin um die Bewährungshelferin der Mutter von den Sozialen
Diensten der Justiz des Landgerichts Bremen, was aus der Akte aber nicht
erkennbar wird. Ihr wird die aktuelle Situation geschildert, vermerkte der
Sachbearbeiter, diese Schilderung werde die Bewährungshelferin in einen Bericht
mit einbeziehen.86
Zum Hintergrund dieser Anfrage sei
angemerkt: Die Mutter stand wegen Verurteilung wegen Diebstahls unter Bewährung.
Aus einem Schreiben der Frühen Hilfen an
den Sachbearbeiter vom 12. Oktober 200587 ergibt sich, dass die
Familie nach Hildesheim ziehen will. Der Vater erklärte am 28. Oktober 200588
auch gegenüber dem Sachbearbeiter, der Umzugsgedanke "Richtung Hildesheim" sei
weiterhin aktuell. Zugleich erklärt der Vater, er wolle Kontakt zu den Frühen
Hilfen aufnehmen, Kevin werde jetzt vormittags in einem Hort betreut, es gebe
regen Kontakt zum Streichelzoo.
12. November 2005: Tod der Mutter. Kevin erneut im Hermann-Hildebrand-Haus
Am 12. November 2005 stirbt die Mutter.
Aus dem Bericht der Polizei Bremen, Polizeirevier Gröpelingen vom 13. November
200589 ergibt sich: Die Todesursache ist ungeklärt. Die Notärztin hat
den Polizeibeamten erklärt, sie könne Fremdverschulden am Tod der Mutter nicht
ausschließen. Der Vater, der sich während des Einsatzes der Ärzte und der
Polizei aggressiv verhalten hat und Rettungsversuche behinderte, wurde vom
Sozialpsychiatrischen Notdienst und von der Polizei "zwangseingewiesen", d.h. er
wurde in die Klinik Dr. Heines verbracht.90 Kevin wird "mit
ausreichend Bekleidung, Kuscheltiere und Windeln" erst auf die Wache und dann in
das Hermann-Hildebrand-Haus gebracht, wo er in Obhut genommen wird.91
Die Kostenzusicherung des Amtes für
Soziale Dienste, Sozialzentrum Walle / Gröpelingen, Sozialdienst Wirtschaftliche
Hilfen an das Hildebrand - Haus datiert vom 16. November 2005 und gilt vom 12.
November bis 9. Dezember 2005, der Pflegesatz beträgt 244,31 Euro täglich.92
Am 14. November 2005 notierte der
Sachbearbeiter93 eine Mitteilung des Hermann-Hildebrand-Hauses, der
Vater habe am 13. November seinen Sohn etwa 1 ½ Stunden besucht und mit ihm
gespielt. Er wolle in wenigen Tagen das Kind abholen und dann zur Mutter nach
Hildesheim fahren. Er, der Sachbearbeiter, habe dem Hildebrand-Haus erklärt,
Kevin nicht an den Vater herauszugeben. Gründe dafür notierte er nicht. Ferner
vermerkte er ein Gespräch mit dem für Amtsvormundschaften zuständigen
Mitarbeiter des Amtes für Soziale Dienste. Dieser empfahl ihm, beim Amtsgericht
den Antrag zu stellen, dem Jugendamt die Vormundschaft über Kevin zu übertragen.
Wegen der Absicht des Vaters, mit Kevin nach Hildesheim zu reisen, äußerte der
Amtsvormund sich dahin, dieses müsse "abgeschätzt" werden.
Die Amtsvormundschaft beginnt
Der Antrag des Sachbearbeiters an das
Amtsgericht Bremen wegen der Übertragung der elterlichen Sorge für Kevin datiert
vom 14. November 2005.94 Das Amtsgericht - Familiengericht - übertrug
durch Beschluss vom 17. November 2005 (61 F 3151/05)95 die elterliche
Sorge für Kevin auf einen Vormund und bestellte das Jugendamt Bremen, Abteilung
Amtsvormundschaft, zum Vormund.
Die Übertragung der elterlichen Sorge
auf den Vater lehnte das Gericht ab. Begründung: Da dieser gegenwärtig aufgrund
seines offenbar eingeschränkten Gesundheitszustandes nicht in der Lage sei, sich
tatsächlich um seinen Sohn zu kümmern und für das Kind notwendige Entscheidungen
zu treffen, diene die Übertragung auf ihn gegenwärtig nicht dem Wohl des Kindes.
Am 15. November 2005 hielt der
Sachbearbeiter einen Anruf des Vaters aus der Klinik Dr. Heines so fest96:
Er wolle zunächst noch in der Klinik bleiben. Perspektivisch wolle er mit Kevin
zu seiner Mutter nach Grünenplan in der Nähe von Alfeld ziehen. Kevin solle
zunächst im Hildebrand-Haus bleiben. In der Klinik Dr. Heines habe man dem Vater
empfohlen, nicht zu oft direkten Kontakt zu Kevin aufzunehmen, da dieser die
Gesamtsituation nicht verstehe.
Unter dem 18. November 2005 erstattete
die Leitung des Hermann-Hildebrand-Hauses gegenüber dem Sachbearbeiter einen als
"vertraulich" bezeichneten "Aufnahmebericht"97 über das Kind Kevin.
Wann dieser Bericht bei dem Sachbearbeiter einging, ergibt sich aus der Akte
nicht, auch nicht, ob der Sachbearbeiter bei den nachstehend zu dokumentierenden
Gesprächen vom 21. November 2005 den Bericht schon zur Kenntnis genommen hatte.
Aus dem Bericht ergeben sich u.a.
folgende Einschätzungen des Hildebrand-Hauses:
Kevins Gesundheit sei allgemein
ausreichend. Es falle eine Retardierung auf. Die Gewichtsentwicklung seit
November 2004 sei "bedenklich, nur ca. 500g zugenommen!"98
Ernährungszustand: Sehr schlank. Krankheiten: Gerstenkorn am linken Oberlid,
Pilz am Hoden, der mit Pilzsalbe behandelt wurde. Grob- und Feinmotorik nicht
altersgemäß. Das Kind weint lautlos, lächelt wenig und reagiert verzögert auf
Ansprache. Kevin isst eher wenig. Er lautiert wenig und eher leise, kann Papa
sagen. Im Spielverhalten ist er interessiert, aber ungeübt und hat kaum
Erfahrung mit Spielmaterial. Er wirkt ängstlich und verunsichert. Er hat einen
gleich bleibenden fast maskenartigen Gesichtsausdruck. Er schaut mit großen
Augen alles und jeden an. Mit Hilfe des Erwachsenen probiert er vieles aus. Bei
der liebevollen Begrüßung durch seinen Vater zeigt er keine Emotion, als der
Vater geht, zeigt er keine Reaktion. Der Vater habe während der Besuchszeit
erkennbar unter Einfluss von Drogen/Medikamenten gestanden.
Der Vater will sein Kind zurück. Positive Reaktion im Sozialzentrum
Am 21. November 2005 hat der
Sachbearbeiter eine Vielzahl von Gesprächen über das weitere Vorgehen geführt
und in der Akte dokumentiert.
Am 21. November, 10 Uhr hielt er die
Mitteilung des Vaters fest99, er sei wieder zu Hause und werde sich
noch heute aus der Klinik Dr. Heines abmelden. Er wolle sein Kind
schnellstmöglich zurück haben.
Zu diesem Thema ergeben sich folgende
Vermerke: Der Sachbearbeiter vereinbarte mit dem Vater, er werde mit dem
Amtsvormund über die "Kindeszuführung" sprechen. Weiter vermerkte der
Sachbearbeiter, nach Meinung des Methadon vergebenden Arztes "spricht nichts
gegen eine Rückführung des Kindes", er wolle aber eine Fallkonferenz, um mit dem
Vater die weitere Planung - eventuell ambulante Hilfen - zu besprechen.
Auch der Amtsvormund "hat nichts gegen
eine Rückführung … Vormundschaft kann aufgehoben werden, entsprechender Antrag
soll bei Gericht gestellt werden."
Ein Arzt aus der Klinik Dr. Heines
meinte gleichfalls, der Vater könne das Kind zurückbekommen, er benötige aber
Beratung und Unterstützung durch das Amt o. ä. Auch er befürworte eine
Fallkonferenz.
Gleichfalls am 21. November 2005, 15
Uhr, dokumentierte der Sachbearbeiter ein Gespräch mit dem Leiter des
Sozialzentrums Gröpelingen / Walle:100 Auch er befürworte eine
Kindesrückführung zum Vater, "damit im Anschluss daran beide bei der Mutter (des
Vaters) in der Nähe von Hildesheim leben können."
Dagegen erklärte eine Mitarbeiterin des
Hermann-Hildebrand-Hauses nach der Aufzeichnung des Sachbearbeiters am 21.
November 2005: "Kind ist sehr retardiert. (Die Mitarbeiterin) hat schlechtes
Gefühl, wenn Vater mit dem Kind allein gelassen wird." Ausweislich der gleichen
Gesprächsnotiz wurde dem Vater "nochmals mitgeteilt, dass er101
bei Gericht 100 Antrag auf elterliche Sorge stellen soll. Der Amtsvormund. will
dieses am 24.11.05 mit Herrn Kk. besprechen."
Am gleichen Tag, 15 Uhr 30, vermerkt der
Sachbearbeiter ein Gespräch mit dem Kinderarzt der Familie zum "Thema
Rückführung": Der Kinderarzt "spricht sich gegen102
eine Rückführung aus … (Er) erinnert an "Knochenbrüche" Kevins vor ca. 1 Jahr
und führt dies auf das "grobe Verhalten" des Vaters zurück … (Er) erinnert an
die damalige Gewichtsabnahme Kevins (500g) und führt diese auf das Verhalten
Herrn Kk.s zurück … Die Eltern waren unregelmäßig bei den
Vorsorgeuntersuchungen"
An der Stelle über die
Vorsorgeuntersuchungen hat der Sachbearbeiter am 23. November 2005 folgenden
Zusatz angebracht: "Nachtrag: Das Vorsorgeheft wurde vorschriftsmäßig geführt",
dies habe der Methadon vergebende Arzt des Vaters am 23. November 2005
festgestellt.
Immer noch am 21. November 2005, 16 Uhr,
vermerkte der Sachbearbeiter den Inhalt eines Gespräches mit dem Leiter des
Hermann-Hildebrand-Hauses Pape wie folgt: Der Leiter "ist "entsetzt" darüber,
dass das Amt beabsichtigt, Kevin zum Vater zu geben. Begründung: "Kevin ist
retardiert". "Ansonsten "wagt" (der Leiter) die Einschätzung, den Vater als "erziehungsunfähig"
zu bezeichnen. Anmerkung des Unterzeichnenden: Woher kennt Herr Pape Herrn Kk.
so genau ???"
Tags darauf telefonierte der
Sachbearbeiter mit der Mutter des Vaters in Grünenplan. Im Gesprächsvermerk vom
22. November 2005 hielt er fest, die Mutter bestätige, dass der Vater und Kevin
"zu ihr ziehen werden und sollen." Sie könnten dann eine eigene Wohnung suchen.
Vielleicht ziehe auch der zweite Sohn (23 Jahre) bei ihr aus. Sie fühle sich
fit, Kevin zwischendurch zu betreuen. Sie schlägt vor und wünscht, dass erst ihr
Sohn kommt ohne Kevin, um zu organisieren und einzurichten. Kevin solle noch
einige Tage im Heim bleiben. Wenn in Grünenplan alles klar sei, werde er
nachgeholt.
Am 23. November 2005, 7 Uhr verabreden
der Sachbearbeiter, der Methadon vergebende Arzt und der Vater folgendes
Vorgehen: Am 28. November 2005 wird der Vater Kevin aus dem Hildebrand-Haus
gegen 14 Uhr abholen. Tags darauf werden die Eltern des Kindvaters diesen und
Kevin nach Grünenplan holen. Hausarzt in Grünenplan wird ein Herr X sein. Der
Methadon vergebende Arzt wird sich "evtl. um einen noch zu bestimmenden "methadonvergebenden
Arzt" bemühen". Der Amtsvormund sei hiervon unterrichtet worden.103
Um 9 Uhr 30 des gleichen Tages rief der
Sachbearbeiter die Mutter des Vaters erneut an und fragte sie, ob ihr Sohn und
Enkelkind am 29. November 2005 zu ihr kommen könnten.104 Das habe sie
bejaht. Die beiden würden mit dem Auto geholt. Hiervon unterrichtete der
Sachbearbeiter den Vater und den Amtsvormund telefonisch auf Anrufbeantworter
und am 24. November schriftlich105: Dem Amtsvormund teilte er
zusätzlich mit, er werde das dort zuständige Jugendamt unterrichten und die
aktuelle Situation schildern. Er notierte die Anschrift des Jugendamts
Holzminden und der Name einer Sachbearbeiterin.106 Er erbat das
Einverständnis des Amtsvormunds mit diesen Absichten und fragte weiter, ob die
Vormundschaft zunächst bestehen bleiben solle und der Vater einen Antrag auf
Übertragung der elterlichen Sorge auf sich später stellen solle.
Tags darauf vermerkte der Sachbearbeiter
die Reaktion des Amtsvormundes:107 Die Amtsvormundschaft bleibe
zunächst bestehen, könne aber jederzeit "aufgelöst" werden. Der Vater könne
Kevin am 28. November 2005 vom Hildebrand-Haus abholen und nach Grünenplan
fahren.
Am 28. November 2005 teilte der
Sachbearbeiter dem Sozialzentrum Gröpelingen, Sozialdienst Wirtschaftliche
Jugendhilfe mit108, Kevin werde am 28. November 2005 aus dem
Hildebrand - Haus entlassen. Er werde zukünftig mit seinem Vater bei seinen
Großeltern in 31073 Grünenplan bei Hildesheim leben und teilte die Anschrift
mit.
Der Vater hat Kevin wohl zum
vereinbarten Datum aus dem Hildebrand-Haus abgeholt. Er ist aber nicht im
Anschluss daran zu seiner Mutter nach Grünenplan gereist, sondern ist mit Kevin
in Bremen geblieben. Unter dem 07. Dezember 2005 findet sich ein Vermerk109
des Sachbearbeiters, in dem es heißt, mit dem Vater werde "vereinbart, dass die
getroffenen Absprachen nun auch umgesetzt werden müssen. Der Vater werde seine
Eltern benachrichtigen, dass "Kevin nun abgeholt werden kann." Der Vater werde
wohl "zunächst mitfahren", danach aber wieder kommen, um die Bremer Wohnung
aufzulösen. Die genauen Daten und Termine dieser Vorhaben werde der Vater dem
Sachbearbeiter und seinem Methadon vergebenden Arzt telefonisch mitteilen.
Unter dem 09. Dezember 2005 bat der
Vater den Sachbearbeiter um Reisekosten und Hilfe zur Anschaffung von
Winterkleidung für Kevin und teilte mit: "Am Wochenende fahren wir."110
Im Weiteren sind letztlich nicht
erfolgreiche Bemühungen des Sachbearbeiters dokumentiert, dem Vater Hilfe bei
der Ausstattung von Kevin zukommen zu lassen.111
Wann genau der Vater mit Kevin nach
Grünenplan gereist ist, lässt sich der Akte nicht entnehmen. Dass er von seinem
Bruder abgeholt worden sei, ergibt sich aus einem Schreiben des Vaters an den
Sachbearbeiter vom 20. Dezember 2005112. Der Vater schrieb, es "war
die beste Lösung zu fahren" und er habe seinem Bruder die Reisekosten ersetzt.
Am 22. Dezember 2005 erhielt der
Sachbearbeiter eine Anfrage der Familienrichterin des Amtsgerichts Bremen:113
Sie bezog sich auf ihre Entscheidung vom 17. November 2005 zur Begründung einer
Amtsvormundschaft, hob hervor, dass dies eine Eilentscheidung gewesen sei und
betonte, nach dem Tod der Mutter sei die elterliche Sorge vorrangig dem Vater zu
übertragen, sofern dies nicht dem Kindeswohl widerspräche. Konkret fragte sie: "Wie steht es nun um die Möglichkeit des Vaters, gemäß § 1680 BGB die elterliche
Sorge für Kevin zu übernehmen und sie auch auszuüben?" Sie bat um nähere
Informationen über die gegenwärtige Lebenssituation von Vater und Kind.
Der Sachbearbeiter erwiderte am 23.
Dezember 2005114, Vater und Sohn seien während der Feiertage bei den
Großeltern in Grünenplan; der Vater beabsichtige, sich ganz im Raum Hildesheim
niederzulassen. Weitere Informationen folgten in Kürze.
Am 27. Dezember 2005 ging bei dem
Sachbearbeiter eine Mitteilung des Jugendamtes Hannover ein:115 Der
Vater soll sich am 26. Dezember 2005 im Hauptbahnhof Hannover in alkoholisiertem
Zustand mit Türken angelegt haben. Sein Kind habe er dabei gehabt. Das Kind sei
nicht in Obhut genommen worden, weil es einen gepflegten Eindruck gemacht habe
und eine gute Vater - Sohn - Beziehung da zu sein schien. Ein Bericht werde
folgen.
Ein derartiger Bericht findet sich in
der Akte im Weiteren nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, ob der Sachbearbeiter
Maßnahmen ergriffen hat, um in den Besitz des Berichts des Jugendamts Hannover
zu kommen.
Am 09. Januar 2006 teilte der Vater dem
Sozialzentrum mit, er sei drei Wochen mit seinem Sohn bei seinen Eltern gewesen
und sei wieder in Bremen. Er bat dringend um Anruf. In der Folge bemühte sich
der Sachbearbeiter um Unterstützung für den Vater durch die Zentrale für private
Fürsorge.116
Das Familiengericht erinnert an seine Frage vom 27. Dezember 2005
Die Anfrage des Amtsgerichts war
unbeantwortet geblieben. Die Richterin erinnerte unter dem 19. Januar 2006: "Ist
erkennbar, ob und dass der Vater als verantwortliche Erziehungsperson in
Betracht käme? Wo lebt Kevin jetzt eigentlich? Besteht Kontakt zum Vater oder zu
anderen Verwandten?"117
Der Sachbearbeiter erwiderte am 20.
Januar 2006118, der Vater sei mit seinem Sohn mehrere Wochen bei
seinen Eltern in Grünenplan gewesen. Momentan halte er sich mit Kevin in Bremen
auf. Der Vater habe ihm erklärt, er wolle nach Alfeld oder Holzminden ziehen. Am
24. Januar 2006 habe er einen Termin mit dem Vater und seinem Methadon
vergebenden Arzt und er werde das Gericht über das Ergebnis informieren.
Die Richterin erwiderte postwendend119
und äußerte eine vorsichtige Einstellung im Blick auf drogenabhängige Eltern; es
habe schon manchen Fall gegeben, in dem trotz ärztlicher Kontrolle erheblicher
Beigebrauch erfolgte. Sie fragte nach objektivierbaren Erkenntnissen über das
aktuelle Leben des Vaters.
Der Sachbearbeiter erwiderte120,
es sei "tatsächlich recht problematisch mit den drogenabhängigen Eltern." Der
Vater habe ihm relativ viel von sich erzählt, man dürfe "immer nur die Hälfte
glauben. Aktuell war er wirklich bei seinen Eltern." Mit seiner Mutter habe er
telefoniert, die ihm bestätigt habe, er wolle Bremen verlassen. Bezüglich des
Beigebrauchs "ist er auch nicht ganz ohne." Der Sachbearbeiter erwähnte den
Vorfall in Hannover vom 25. Dezember 2005, wo er "in leicht alkoholisiertem
Zustand" eine Auseinandersetzung gehabt haben solle. Er habe auch schon
stationär im Diako wegen einer Bauchspeicheldrüsenentzündung behandelt werden
müssen. Vor einer endgültigen Regelung der elterlichen Sorge solle man sich noch
einmal austauschen.
Eine Mitteilung der Bewährungshelferin des Vaters an das Sozialzentrum
Unter dem 25. Januar 2006 gab es einen
Kontakt des Sachbearbeiters mit der Bewährungshelferin121
des Vaters. Hinweise auf Grund und Veranlassung ihres Anrufs lassen sich der
Notiz des Sachbearbeiters über den Anruf122 nicht entnehmen. Zum
Inhalt notierte der Sachbearbeiter, die Bewährungshelferin kenne den Vater seit
ca. ½ Jahr, der Vater habe ein hohes Aggressionspotenzial und sie habe Sorge,
dass er mit der Versorgung seines Kindes überfordert sei.
Das in Aussicht genommene Gespräch
zwischen dem Vater, seinem Methadon vergebenden Arzt, dem Amtsvormund K und dem
Sachbearbeiter musste verschoben werden und fand am 6. Februar 2006 statt. Der
Amtsvormund verfasste einen Gesprächsvermerk, auf den sogleich zurück zu kommen
sein wird.
Nachdem das Gespräch am 6. Februar 2006
stattgefunden hatte, berichtete der Sachbearbeiter der Richterin des
Familiengerichts am 7. Februar 2006123: Der Vater werde zunächst in
Bremen wohnen bleiben. Er wolle versuchen, über eine Kirchengemeinde Hilfe in
seiner "Trauerarbeit" zu finden. Die Amtsvormundschaft solle bestehen bleiben.
Kevin solle umgehend in eine Tagespflegestelle, in der sich bereits Kinder
befinden. Nach einem halben Jahr werde ein neues Hilfeplangespräch stattfinden.
Dem Vater sei gesagt worden, er dürfe in keiner Weise auffällig werden,
ansonsten sei der Verbleib seines Sohnes bei ihm gefährdet.
Die Richterin antwortete dem
Sachbearbeiter unter dem 21. Februar 2006124: Sie wolle nur darauf
hinweisen, dass der Methadon vergebende Arzt ihr in einem anderen Fall bestätigt
habe, sein Patient sei seit drei Jahren ohne Beigebrauch; dagegen habe eine
Untersuchung durch die Rechtsmedizin ergeben, er habe mehrmals wöchentlich
Heroin und Kokain konsumiert. "Ich bitte daher wirklich eindringlich, ein Auge
auf Herrn Kk. zu haben. Ich werde also die Akte jetzt erstmal 6 Monate weglegen,
sofern ich nichts anderes von Ihnen höre."
Der Beginn der Berichterstattung an die Leitung des Amtes für Soziale Dienste
An dieser Stelle (zeitlich: 07. Februar
2006) setzt die Berichterstattung des Sozialzentrums über den Fall gegenüber der
Leitung des Amtes für Soziale Dienste ein.
Zur Vorgeschichte: Am 13. Januar 2006
hatte Bürgermeister Böhrnsen ein Gespräch mit dem Vorstand des Vereins Bremer
Säuglingsheime e.V., um das dieser gebeten hatte, geführt. Der Verein sprach den
Bürgermeister nicht vorrangig in dessen Eigenschaft als Bürgermeister, sondern
als Mitglied des Vereins an und bat um strengste Vertraulichkeit. Der Vorstand
wollte Fälle ansprechen, in denen gefährdete und misshandelte Kinder, die
kurzfristig im Hermann-Hildebrand-Haus untergebracht worden waren, trotz
erheblicher Probleme in ihren Familien vom Jugendamt sehr schnell in ihre
Familien zurück gegeben worden waren, obwohl sie eigentlich nicht wieder dorthin
gedurft hätten. In diesem Zusammenhang wies der Verein darauf hin, dass die
Anzahl der In-Obhutnahmen und Notaufnahmen in letzter Zeit stark zurückgegangen
sei. Gegenüber einem Durchschnitt von etwa 94 Fällen in den Jahren 1995 bis 2004
habe es im Jahr 2005 lediglich 44 Fälle gegeben. Der Vorstand frage sich, ob
dies ein Zeichen knapper werdender Kassen sei.
Zu zwei besonders angesprochenen
Einzelfällen übergab der Vorstand anonymisierte Unterlagen, die der
Bürgermeister an die Senatorin Röpke weiterleitete, die ihrerseits den Leiter
des Amtes für Soziale Dienste einschaltete. Der Amtsleiter erklärte, er benötige
zur Verfolgung der Fälle die Klarnamen der Kinder. Ende Januar, wahrscheinlich
am 31. Januar 2006, gingen diese Klarnamen - darunter der Fall Kevin - der
Senatorin zu, die sie dem Amtsleiter weiterleitete. Dieser sagte Prüfung zu.
Unter dem 22. Februar 2006 unterrichtete er die Senatorin vom Ergebnis seiner
Prüfungen. Zu Einzelheiten vgl. sogleich unten.
Aus einem Vermerk des Sachbearbeiters
vom 02. Februar 2006125 ergibt sich: Die Akte des Falles Kevin sei an
diesem Tag dem Leiter des Sozialzentrums Gröpelingen / Walle übergeben worden,
der sie im Auftrag des Leiters des Amtes für Soziale Dienste (künftig: der
Amtsleiter) angefordert habe. "Grund: unbekannt." Er, der Sachbearbeiter habe
den Amtsvormund informiert. Am 27. Februar 2006 vermerkt er, er habe die Akte
zurückerhalten.
Fassbar wird aus einer Zuschrift der
Leiterin des Sachgebiets Junge Menschen126 - (im Folgenden: die
Sachgebietsleiterin) - an den Amtsvormund vom 08. Februar 2006, dass der
Amtsleiter "noch heute eine detaillierte Information" von ihr erwarte. Aus der
weiter unten näher zu behandelnden Rückschrift der Sachgebietsleiterin an den
Amtsleiter wird deutlich, dass dieser einen Mitarbeiter der Fachabteilung Junge
Menschen, Referat Erziehungshilfe / Eingliederungshilfe des Amtes für Soziale
Dienste um Bericht gebeten hatte; dieser hatte diese Bitte mündlich an die
Sachgebietsleiterin weitergeleitet. Die Sachgebietsleiterin wiederum bat den
Sachbearbeiter und den Amtsvormund um Bericht.
Der Sachbearbeiter übermittelte der
Sachgebietsleiterin daraufhin sein Schreiben an die Richterin des
Familiengerichts vom 07. Februar 2006 zu dem Gespräch mit dem Vater. Den
Amtsvormund bat die Sachgebietsleiterin, ergänzend zum Bericht des
Sachbearbeiters darzustellen, "inwieweit davon auszugehen ist, dass der
Kindesvater gegenüber dem Kind nicht gewalttätig wird. Nach meiner Kenntnis war
in der Vergangenheit die verstorbene Mutter der Risikofaktor für das Kind."
Der Amtsvormund kam der Bitte um Bericht
dadurch nach, dass er seinen Vermerk über das schon erwähnte Gespräch vom 06.
Februar 2006 übergab (seine Datumsabgabe "5. Februar 2006" beruht offensichtlich
auf einem Irrtum.)
Der Amtsvormund schickte seinem Bericht
an die Sachgebietsleiterin folgende Vorbemerkung voraus:127
"Ich gebe folgende Vorgaben zu bedenken:
Herr Kk. hat im Mai 2005 ein Kind und im November 2005 seine Freundin
verloren. Durch diese Verluste ist der Mann ziemlich angeschlagen. Wenn
wir ihm nun das zweite Kind wegnehmen, käme dies für ihn einem KO
gleich. Aus meiner Sicht haben wir am Montag, 6.02.06 verbindliche
Absprachen getroffen, welche die Herausnahme des Kindes überflüssig
machen."
Sodann fügte der Amtsvormund seine
Darstellung des Gesprächs von jenem 06. Februar 2006 bei. Danach habe der Vater
mitgeteilt, er habe "in den drei Wochen seines Besuches" bei seinen Eltern
erkannt, dass er diesen "nicht auch noch das Kind aufbürden" dürfe. Er werde
nicht mit dem Kind zu seinen Eltern ziehen. Er sehe ein, dass Kevin unter andere
Kinder gehen müsse. Es sei abgesprochen worden, für Kevin eine Tagespflegestelle
zu finden, in der mehrere andere Kinder leben. Dann hätte der Vater auch mehr
Zeit zur Verfügung, um anfallende Behördengänge zu erledigen. "Die von ihm
gewünschte Hilfe ist dabei nach Aussage (des Sachbearbeiters) durch die bis Juli
2006 genehmigte Familienhilfe sichergestellt." Man habe auch die Notwendigkeit
besprochen, "Trauerarbeit mit dem Vater zu leisten." Er, der Amtsvormund wolle
von sich aus "zur Kirche Kontakt" aufnehmen. Eine von dem Vater gewünschte
"Vater und Kind Kur" "könnte im fortgeschrittenen Stadium nach Einhaltung der
Vorgaben, stehen."128
Im Weiteren wird erörtert, dass der
Vater die Vaterschaft an Kevin noch nicht anerkannt habe. Der Amtsvormund will
"die Beurkundung der Vaterschaft am 15.02.2006 im Sozialzentrum Mitte vornehmen"
wenn die Voraussetzungen gegeben seien. Ansonsten müsste ein Vaterschaftsprozess
eingeleitet werden.
In der Akte fehlen im weiteren Hinweise
sowohl auf die "Beurkundung der Vaterschaft" als auch auf die Einleitung eines
Vaterschaftsprozesses.
Die Sachgebietsleiterin leitete die
Berichte des Sachbearbeiters und des Amtsvormundes am 08. Februar 2006 an den
Amtsleiter weiter. Sie schreibt, "nach mündlicher Aussage (des Mitarbeiters der
Fachabteilung Junge Menschen, Referat Erziehungshilfe / Eingliederungshilfe)
erbaten Sie für heute eine Mitteilung zum Sachstand Kevin. Der Vollständigkeit
halber schicke ich Ihnen die Mitteilung an das Familiengericht und den Vermerk
des Amtsvormundes. Der Kindsvater weiß, dass er sich auf dünnem Eis bewegt und
wir sehr genau hinsehen."129
Unter dem Datum des 08. und 10. Februar
2006 sind Korrekturen der Berichterstattung an den Amtsleiter abgeheftet.130
Am 08. Februar teilt ihm die Sachgebietsleiterin in Korrektur eines "kleinen
Fehlers" mit, bei den Eltern habe es "keine SPFH131
gegeben, sondern Förderung durch frühe Hilfen"132
Unter dem 10. Februar 2006 präzisiert eine andere Mitarbeiterin, die Förderung
durch Frühe Hilfen habe bis zum 07. April 2005 bestanden. Danach habe der
Kontakt zur Familie wegen des Aufenthalts des Vaters in einer Klinik wegen
Erkrankung der Bauchspeicheldrüse und deswegen geendet, weil die Mutter mit dem
Kind "nach Grünenplan zur Schwiegermutter gefahren ist. Danach hat keine
Kontaktaufnahme mit den Eltern mehr stattgefunden." Diese Korrekturen können
sich nicht auf die beiden erwähnten Berichte des Sachbearbeiters oder des
Amtsvormundes bezogen haben, da darin das Problem der Frühen Hilfen und der SPFH
nicht angesprochen wird. Die Akte lässt nicht erkennen, auf welche Berichte an
den Amtsleiter Bezug genommen worden sein könnte.
Das nächste Aktenstück ist ein Bericht
des Amtes für Soziale Dienste - Innenprüfung - vom 10. Februar 2006133.
Der Bericht listet tabellarisch die Ereignisse seit der Geburt von Kevin am 23.
Januar 2004 bis zu dem Gespräch vom 06. Februar 2006 auf. Der schon erwähnte
Mitarbeiter der Fachabteilung Junge Menschen,
Referat Erziehungshilfe / Eingliederungshilfe des Amtes für Soziale Dienste
nimmt Stellung zu diesem Bericht. Seine nicht datierte Stellungnahme134
geht am 15. Februar 2006 beim Amtsleiter ein. Sie führt im Kern aus:
Der Verlaufsbericht der Innenprüfung
bestätige die Notwendigkeit eines offensiven fachlichen Umgangs mit der
"Risikogruppe der Kinder substituierter bzw. drogenabhängiger Eltern".
Das Spannungsverhältnis zwischen Hilfe
und Kontrolle sollte konstruktiv, "im Konfliktfall jedoch auch parteilich
zugunsten des gefährdeten Kindes in die Hilfeplanung einfließen."
Die in diesem Zusammenhang zum 01.
Februar 2005 in Kraft gesetzte Fachliche Weisung zum "Umgang mit Kindern
substituierter bzw. drogenabhängiger Mütter / Väter bzw. Eltern" etabliere ein
Verfahren, "welches die Kindeswohlsicherung in den Mittelpunkt des Umgangs mit
dieser Risikogruppe stellt."
Demnach - gemeint ist wohl: bei
Anwendung dieser Fachlichen Weisung -wären im Fall Kevin vor bzw. nach der
Geburt in der Klinik nach Fallberatung mit allen Beteiligten die Eckpunkte für
eine Hilfeplanung mit den Eltern "kontraktiert" worden. Im Kontrakt wären als
Bestandteil der Hilfeplanung Kontrollinstrumente und Auflagen zu beschreiben
gewesen. Wären die Auflagen nicht eingehalten worden "und dadurch das Kindeswohl
gefährdet", so wäre gemäß § 50 Abs. 3 SGB VIII das Familiengericht anzurufen
gewesen.
Abschließend heißt es: "Der in dem Fall
deutlich gewordene risikohafte Entwicklungsverlauf des Kindes und die stark
differenzierenden fachlichen Einschätzungen zur weiteren Hilfeplanung und zu den
Kompetenzen der Eltern müssen in eine fachliche Positionierung des
Sozialzentrums und in eine abgestimmte Verhaltensweise gffls. unter Einbeziehung
des Familiengerichts einfließen." Dieser Prozess sei nach Auffassung der
Fachabteilung noch nicht abgeschlossen, weil die jetzt angestrebte Lösung
(Tagespflege) im Sinne der Kindeswohlsicherung nicht ausreichend erscheint".
Der Amtsleiter leitete diese
Stellungnahme noch am 15. Februar 2006 dankend über dessen Verfasser an den
Leiter des Sozialzentrums Gröpelingen / Walle weiter mit der Bitte, "eine
Fallkonferenz unter Beteiligung aller einzuberufen, die durch ihre Einlassungen
zu der differierenden fachlichen Einschätzung beigetragen haben. Die
Fachabteilung (gemeint wohl: die Fachabteilung Junge Menschen) bitte ich um
Unterstützung. Bitte Bericht des Ergebnisses. Ich notiere für die Wiedervorlage
den 24. Februar 2006."Der Verfasser der Stellungnahme leitete diese Bitte am 17.
Februar 2006135
samt der Akte dem Leiter des Sozialzentrums mit der Bitte um weitere
Veranlassung weiter. Am 24. Februar leitete der Leiter des Sozialzentrums die
Akten dem Sachbearbeiter weiter mit der Bitte, "eine entsprechende Konferenz
kurzfristig einzuberufen."
Die Akte ging am 27. Februar 2006 beim
Sachbearbeiter136 ein. Auch die Sachgebietsleiterin hatte ihn vom
Wunsch der Amtsleitung nach einer Hilfekonferenz unterrichtet und ihm gesagt, er
solle dazu einladen. Noch am 27. Februar 2006 teilte der Sachbearbeiter dem
Amtsvormund den Termin 06. März 2006 mit und lud ihn dazu ein "Weshalb und
warum" der Amtsleiter dies wünsche, "konnte die Sachgebietsleiterin mir nicht
sagen.137
Schon vor dieser Rückschrift an das
Sozialzentrum Gröpelingen / Walle hatte der Amtsleiter seine Senatorin
unterrichtet.
Diese Vorgänge ergeben sich freilich
nicht aus der hier ausgewerteten Akte - und würden hier auch nicht gesucht
werden - sondern aus einer Akte des Amtsleiters. Aus ihr - 19 Seiten nicht
blattiert -ergibt sich: Der Amtsleiter legte am 22. Februar 2006 der "Senatorin
z. K." einen handschriftlichen Vermerk mit Anlagen vor. Gegenstand waren der
Fall Kevin und der gleichfalls vom Bürgermeister der Senatorin übergebene Fall
M. Zum Fall Kevin führte der Amtsleiter aus, er sei "einer jener Fälle, die auf
Grund einer fachlich weiterentwickelten Weisungslage so heute nicht mehr
gehandhabt würden. Ich habe eine neue Fallkonferenz eingeleitet." Er bittet um "geeignete Kommunikation ggü. dem Auftraggeber und Rückgabe der Unterlagen".
Seiner Zuschrift an die Senatorin
beigefügt sind u. a. der Vermerk aus dem Hermann-Hildebrand-Haus zu Kevin, der
(auch zu den Akten des Sachbearbeiters gelangte, dort Bl. 161), der Bericht der
Innenprüfung vom 10. Februar 2006 und die Stellungnahme der Fachabteilung dazu
vom 25. Februar 2006 (Akte des Sachbearbeiters Bl. 168). Auf der Kopie der
Rückschrift des Amtes an den Leiter des Sozialzentrums Gröpelingen/ Walle findet
sich folgende nicht datierte und nicht mit einem Handzeichen versehene
Bemerkung: "In diesem Fall wird eine engmaschige Lösung gesucht werden (Idee:
Pflegeverhältnis unter Einbeziehung des Vaters). In analogen Fällen wird
aufgrund der im Jahre 2005 in Kraft gesetzten fachlichen Weisung heute anders
gearbeitet."
Dieses Schreiben ist - ohne den
erwähnten Vermerk - zu den Akten des Sachbearbeiters gelangt, dort Bl. 169)
zusammen mit der Stellungnahme zum Ergebnis der Innenprüfung (dort Bl. 168);
darauf findet sich auch der handschriftliche Auftrag des Amtsleiters an den
Leiter des Sozialzentrums, eine Fallkonferenz einzuberufen.
Diese Unterlagen wurden dem Amtsleiter
zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt zurückgegeben.
Nach den Aufzeichnungen der persönlichen
Referentin von Bürgermeister Böhrnsen teilte die Senatorin im Februar 2006 mit
der Bitte um Übermittlung an den Bürgermeister mit, dass im Falle Kevin Hilfen
eingeleitet worden seien (Tagespflegemutter) und dass eine Fallkonferenz
stattfinden wird; in dem weiter angesprochenen Fall gibt es weitere Hilfen.
Darüber hinaus hat die Senatorin Bürgermeister Böhrnsen am Rande einer
Senatssitzung über das Ergebnis der ersten Überprüfung informiert. Feststellungen zu der Frage, ob der
Amtsleiter auch später noch seine Hausleitung über die weiteren ihm zugegangenen
Berichte informiert hat, habe ich nicht treffen können.
Kevin soll in die Tagespflege. Der Vater lehnt ab
Während die Akten der Amtsleitung
vorlagen, bemühte sich der Sachbearbeiter entsprechend dem Ergebnis des
Gesprächs vom 06. Februar 2006 erfolgreich um die Vermittlung einer
Tagespflegemutter für Kevin. Am 16. Februar 2006 teilte er dem Vater schriftlich
Namen und Anschrift der Tagespflegemutter mit und bat ihn, sich mit dieser in
Verbindung zu setzen.138 Der Vater akzeptierte aber diese
Tagespflegemutter nicht. Am 22. Februar 2006 vermerkte der Sachbearbeiter, der
Vater sei im Amt erschienen und habe erklärt, er lehne die Tagespflegemutter
wegen derer türkischen Nationalität ab. Auf den Hinweis des Sachbearbeiters, die
Tagespflegemutter stamme aus Syrien, habe der Vater erklärt, das mache keinen
großen Unterschied. Er wolle aber mit ihr ins Gespräch kommen.
Am 06. März 2006 fand die von dem
Amtsleiter erbetene Hilfekonferenz statt.139 Anwesend waren der
Vater, der Leiter des Sozialzentrums Gröpelingen / Walle, die
Sachgebietsleiterin, der Methadon vergebende Arzt, der Amtsvormund, der
Mitarbeiter des Amtes für Soziale Dienste von der Fachabteilung Junge Menschen,
Referat Erziehungshilfe / Eingliederungshilfe und der Sachbearbeiter.
Als Ergebnis der Konferenz wurde
festgehalten: Die Entwicklung Kevins in der Tagespflegestelle müsse beobachtet
werden auch unter dem Aspekt, ob die Tagesmutter "der Problematik Kevins
gewachsen" sei. Kevin solle im Kinderzentrum (gemeint: im Klinikum Bremen-Mitte)
vorgestellt werden, der Methadon vergebende Arzt wolle Kontakt aufnehmen, auch
der Kinderarzt der Familie sollte dies tun, weil der Kinderarzt einen solchen
Antrag beim Kinderzentrum stellen müsse. Der Vater wolle und solle sich einer "Trauerarbeitsgruppe eventuell über Kirche" anschließen.
Unmittelbar nach dem von dem
Sachbearbeiter stammenden handschriftlichen Protokoll dieser Sitzung ist ein
nicht unterschriebenes "Kurzprotokoll" einer Wochenkonferenz vom 07. Februar
2006140 in die Akte eingeheftet. Ob es in der Konferenz vom 07. März
2006 eine Rolle spielte, ist nicht klar. Es geht darin um den von dem
Sachbearbeiter in die Wochenkonferenz eingebrachten Fall Kevin. Es soll beraten
werden, ob eine Unterbringung Kevins in einer Tagespflegestelle sinnvoll und
notwendig ist. Diese Unterbringung soll zur Entlastung des Vaters dienen, der
sich im Methadonprogramm befinde, sehr labil sei und Unterstützung benötige.
Wohnungssuche, Therapie, Trauerarbeit in einer Gruppe seien Themen, die dringend
bearbeitet werden müssen und Zeit beanspruchten. Als Mehrheitsergebnis wird
festgelegt: Kevin soll ab 23. Februar 2006 aus pädagogischen Gründen in einer
Tagespflegestelle untergebracht werden.
Die Akte enthält sodann einen von dem
Sachbearbeiter als verantwortliche sozialpädagogische Fachkraft unterzeichneten
"Hilfeplan gemäß § 36 KJHG, Beginn der Jugendhilfe-Leistungen"141 vom
08. März 2006, den der Sachbearbeiter am 08. März 2006 an die Wirtschaftliche
Jugendhilfe leitet. Der Hilfeplan benennt den Vater und den Amtsvormund als "an
diesem Hilfeplan beteiligte Personen", als Datum der Fallkonferenz bezieht er
sich auf die Wochenkonferenz vom 07. Februar 2006, von deren Protokoll soeben
die Rede war. Es geht um die Kostenübernahme für eine Tagespflege bei der schon
erwähnten Tagespflegemutter für die Zeit vom 23. Februar 2006 bis 22. August
2006.
Im Einzelnen ergibt die Unterlage:
Unter der Rubrik "Feststellungen über
den Bedarf" wird u. a. gesagt, intensive Beratungen seitens des Amtes hätten zu
dem Ergebnis geführt, Kevin wochentags bei einer Tagespflegemutter
unterzubringen, "um u.a. auch Kontakt zu anderen Kindern zu bekommen." Der Vater
"so auch dessen Wunsch" könne dann "in Abwesenheit seines Sohnes Behördengänge
erledigen, die Wohnungssuche beschleunigen und sich einer "Trauergruppe"
anschließen, um den Verlust seiner Lebensgefährtin aufzuarbeiten." Nach einem
halben Jahr solle eine Auswertung stattfinden.
In der Rubrik "Zu gewährende Art der
Hilfe" wird gesagt, die Unterbringung Kevins in einer Tagespflegestelle "entspricht den Vorstellungen aller Beteiligten.
"Sowohl Vormund, Vater,
Hausarzt als auch CM (d. i. das Kürzel für Case-Manager, konkret gemeint ist der
Sachbearbeiter) sehen den gewählten Weg als Chance, Vater und Sohn eine
gemeinsame Zukunft142
zu ermöglichen." Sodann wird der Hinweis wiederholt, Kevin komme mit anderen
Kindern zusammen während sein Vater in Kevins Abwesenheit alle Behördengänge
erledigen, sich um eine Wohnung kümmern und sich einer "Trauergruppe"
anschließen könne.
In der Rubrik "Ausgestaltung der zu
gewährenden Hilfe" wird der Hinweis auf die geplante Dauer der Unterbringung
ebenso wiederholt wie der Hinweis, der Vater könne sich um die ihm obliegenden
Aufgaben kümmern. Kevin werde erstmals Kontakt zu anderen Kindern bekommen. Nach
einem halben Jahr wird man weitere Planungen erörtern.
Am 08. März 2006 wies der Sachbearbeiter
den Vater schriftlich darauf hin, dass dieser einen Antrag bei der
Wirtschaftlichen Jugendhilfe stellen müsse, um die Übernahme der Kosten der
Tagespflege zu erreichen.143
Das Ende des Planes "Tagespflegemutter"
Zum Aufenthalt Kevins bei der
Tagespflegemutter ergeben die Akten folgendes:
Am 14. März 2006 teilte die
Tagespflegemutter dem Sachbearbeiter144, der Vater bringe Kevin
nicht. Insgesamt sei Kevin nur drei Mal da gewesen und das nur für kurze Zeit.
Der Vater gebe an, das Amt bezahle die Tagespflege nicht. Er habe zurzeit
ohnehin Besuch von der Schwester seiner verstorbenen Partnerin aus Düsseldorf.
Der Sachbearbeiter informierte hierüber
den Methadon vergebenden Arzt des Vaters und vermerkte, dieser werde "morgen"
den Vater befragen. Eine Rückmeldung des Arztes ist in den Akten nicht vermerkt.
Ferner informierte der Sachbearbeiter
den Amtsvormund. Er notierte die Frage: "Ist eventuell für Kevin die Betreuung
durch "Kinderleben e.V." geeigneter ?" Unter dem 20. März 2006 vermerkt der
Sachbearbeiter, sowohl bei Kinderleben e.V. als auch bei Quirly e.V. seien zur
Zeit Plätze nicht frei.145
Am 16.März 2006 reagierte der Vater
telefonisch auf das Schreiben des Sachbearbeiters vom 08. März 2006: Er sei
"total aufgebracht und wütend" wegen der Sachbearbeiterin der Wirtschaftlichen
Hilfe, die von ihm verlange, persönlich mit den Unterlagen in der
Dienststelle
vorzusprechen.146 Offenbar hat der Vater im weiteren keinen Antrag
gestellt.
In der Folge nahm der Sachbearbeiter
wieder Kontakt mit der Tagespflegemutter auf. Unter dem
21. März 2006 teilte er dazu dem
Amtsvormund mit:147 Er habe in einem Telefonat mit der
Tagespflegemutter am 17. März 2006 erfahren, es habe zwischen ihr und dem Vater
einen Konflikt gegeben. Zudem habe Kevin "einen Verband am Fuß gehabt und auch
einige blaue Flecken am Körper". Darauf habe er den Vater angerufen, der ihm
merklich gereizt gesagt habe, Kevin habe sich "beim häuslichen Herumtoben den
Fuß verstaucht" Er werde ihn künftig nicht mehr zu der Tagespflegemutter
bringen, er sei dort nicht gut aufgehoben. Er werde einen Anwalt einschalten.
Am Montag, den 20. März 2006 habe der
Vater "relativ kleinlaut" wieder angerufen und sich entschuldigt, auch bei der
Tagespflegemutter. Er werde Kevin aber trotzdem nicht wieder zu ihr bringen.
Der Sachbearbeiter wies ihn auf
Absprachen hin, die sie getroffen hätten und an die er sich zu halten habe. Der
Vater sei aber "mal wieder um keine Ausrede verlegen" gewesen. Er habe ihm
aufgetragen, "umgehend den Kinderarzt aufzusuchen, Kevins verstauchten Fuß
untersuchen zu lassen und über den Kinderarzt einen Termin im Kinderzentrum zu
organisieren." Er selbst wolle sich um einen Platz für Kevin in einer
Kindergruppe bemühen.
Abschließend stellte der Sachbearbeiter
fest: "Ich glaube, wir müssen "in der Sache Kk. weiterhin sehr aufmerksam sein."
Die Akten ergeben keinen Hinweis darauf,
dass der Vater im Weiteren den Kinderarzt aufgesucht hat. Eine Kontrolle durch
den Sachbearbeiter ist nicht dokumentiert. Zur Frage der Anmeldung im
Kinderzentrum findet sich unter dem 07. April 2006148 eine Mitteilung
des Methadon vergebenden Arztes - nicht des Kinderarztes, dessen Einschaltung
auch in der Akte nicht dokumentiert ist - er habe vom Kinderzentrum des
Klinikums Mitte die Unterlagen erhalten, um Kevin zur Untersuchung dort
anzumelden. Dabei handelt es sich wohl um die Umsetzung eines Auftrags an den
Arzt aus der Hilfeplankonferenz vom 06. März 2006.
Unter dem 23. März 2006149
berichtet der Sachbearbeiter dem Amtsvormund von einem Telefonat mit dem Vater:
"angeblich" habe dieser Kontakt mit den Frühen Hilfen aufgenommen, wo man Kevin
"demnächst zeitweise (10 Stunden wöchentlich) betreuen könne. Unter dem 07.
April 2006 ging eine inhaltlich übereinstimmende Mitteilung des Vaters über den
Methadon vergebenden Arzt bei dem Sachbearbeiter ein150. Er, der
Sachbearbeiter, wolle sich weiter um einen Spielkreis für Kevin bemühen, was
aber schwierig sei.
Am 04. April 2006 informierte der
Sachbearbeiter den Amtsvormund über den Wunsch des Leiters des Sozialzentrums
Gröpelingen / Walle, erneut eine Fallkonferenz in der Angelegenheit abzuhalten.
Der Vater solle berichten, was bislang geschehen sei, was noch erledigt werden
müsse. An der Konferenz sollte der Vater mit Kind teilnehmen. Termin: 12. April
2006, 11 Uhr.151
Offenbar ging diese Aktivität auf eine
weitere Anfrage des Amtsleiters an das Sozialzentrum Gröpelingen / Walle zurück
- die sich allerdings nicht in der Akte befindet. Es ergibt sich aber aus einem
Schreiben von dessen Leiter an den Amtsleiter vom 06. April 2006152,
das auf "Ihre Nachfrage zu Kevin K." Bezug nimmt. Der Leiter des Sozialzentrums
berichtet zum Stand der Angelegenheit und übersendet den oben abgehandelten
Hilfeplan vom 08. März 2006 und den gleichfalls weiter oben behandelten
Abschlussbericht einer FiM -Maßnahme vom 06. Januar 2005. Er teilt mit, die
Tagesbetreuung sei aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen nicht zustande
gekommen. Nach einer Alternative (Spielkreis) werde gesucht. Die Förderung
Kevins im Rahmen der Frühförderung sei vorbereitet und solle jetzt anlaufen. Die
Vorstellung im Kinderzentrum des Klinikums Mitte sei geplant. Der Vater werde
sich einer Trauergruppe anschließen. Diese Punkte würden in einem Gespräch mit
dem Vater am 12. April 2006 erörtert, zu dem der Vater seinen Sohn mitzubringen
gebeten sei. Der Vater sei stark misstrauisch gegen das Amt. Er, der Leiter des
Sozialzentrums habe ihm zugesichert, die Bitte, das Kind mitzubringen sei kein
Trick des Amtes, um Kevin direkt in Obhut zu nehmen. In dem Gespräch wolle man
das Misstrauen des Vaters abbauen "und gleichzeitig in die Erwartungen des Amtes
an (den Vater) eine Verbindlichkeit herzustellen, die auch eine Kontrolle
beinhaltet." Er werde den Amtsleiter vom Ergebnis der Besprechung unterrichten.
Die Fallkonferenzen vom 12. April und vom 20. April 2006
Der Vater erschien zu der Fallkonferenz
am 12. April 2006 ohne Begründung nicht. Mit Schreiben vom 13. April 2006 wurde
er zu der auf den 20. April 2006, 14 Uhr terminierten Konferenz einladen; er
möge seinen Sohn mitbringen.153
Am 19. April 2006 beschwerte sich der
Vater telefonisch - nach der Aufzeichnung des Sachbearbeiters154
"ziemlich aufgebracht" - über die Einladung: Warum finde der Termin statt,
weshalb man ihn nicht in Ruhe lasse, bei der BAgIS sei er auch schon bestellt,
wieso man nicht zu ihm komme, er habe kein Auto und müsse immer den Jungen
fertig machen und Bus und Bahn benutzen, warum mische sich jetzt auch noch der
Leiter des Sozialzentrums ein, für ihn seien der Sachbearbeiter und der
Amtsvormund zuständig. Er habe einen Platz für Kevin und werde dazu berichten.
Hiervon unterrichtet der Sachbearbeiter den Amtsvormund.155
An der Fallkonferenz - die in den
Dokumenten jetzt allerdings als "Gespräch" bezeichnet wird - vom 20. April 2006
nahmen neben dem Vater (mit Kind) der Sachbearbeiter und der Amtsvormund und die
Sachgebietsleiterin teil. Der Sachbearbeiter vermerkt in seinem
handschriftlichen Protokoll: Der Vater habe Kevin im Sozialpädagogischen
Spielkreis Lebenshilfe angemeldet. Drei Mal wöchentlich, Beginn 18. April 2006.
Der Methadon vergebende Arzt melde Kevin im Kinderzentrum des Klinikums Mitte
an. Der Vater besuche ein Mal wöchentlich eine Trauergruppe in der
Baptistengemeinde. Kevin erfahre Förderung durch Frühe Hilfen (Sprachförderung /
Krankengymnastik). Der Vater sei mit einer "Patenschaft" für Kevin
einverstanden. Weiter vermerkt der Sachbearbeiter: Der Vater wolle nach wie vor
eine andere Wohnung beziehen. Er habe durch den Methadon vergebenden Arzt
Kontakt zu einer substituierten Frau mit einem drei Jahre alten Kind. Er beziehe
zurzeit Sozialhilfe, keine Leistungen der BAgIS, ein Rechtsanwalt sei
eingeschaltet.
Der Vater erscheint nicht mit Kevin zur Untersuchung im Gesundheitsamt
Nach dem Gespräch stimmte die
Sachgebietsleiterin einen von ihr unter dem 24. April 2006 verfassten Vermerk
für den Amtsleiter zum "Sachstand vom 20.04.06 nach dem Gespräch im AfSD" mit
dem Sachbearbeiter und dem Amtsvormund ab156.
Noch bevor die abgestimmte Fassung dem
Amtsleiter zugesandt wurde - dies geschah mit Datum vom 26. April 2006157
- ging am 25. April 2006 bei dem Sachbearbeiter eine Mitteilung des Kinderarztes
vom Gesundheitsamt ein158 - der Kevin schon früher, im Dezember 2004
wegen der Frühförderung untersucht hatte. Danach war der Vater nicht mit Kevin
zu einem "vereinbarten Termin zwecks Untersuchung wegen Frühförderung
erschienen". Er habe ihn schriftlich zu einem neuen Termin am 3. Mai 2006
eingeladen. Der Sachbearbeiter unterrichtete den Amtsvormund von dieser
Entwicklung.
In den Bericht, den das Sozialzentrum
Gröpelingen / Walle mit der Unterschrift der Sachgebietsleiterin unter dem 26.
April 2006 an den Amtsleiter schickte159, floss diese Nachricht nicht
ein. Dagegen wird der "Sachstand vom 20.04.06 nach Gespräch im AfSD" so
zusammengefasst:
Das Kind "hat seit 18. April 2006 einen
Platz im Sozialpädagogischen Spielkreis in Gröpelingen. Diese Maßnahme hat der
Vater selbständig eingeleitet. Die vorherige Tagespflege war als Hilfe nicht
geeignet. Darüber hinaus wird das Kind von den Frühen Hilfen begleitet." Diese
förderten die Sprachentwicklung des Kindes, machten Krankengymnastik und
leiteten den Vater an. Eine beim Kinderzentrum beantragte Begutachtung sei noch
nicht erfolgt. Der Vater "hält einmal wöchentlich Kontakt zu einer
Gesprächsgruppe der Baptistengemeinde, während der Gruppenstunden wird eine
separate Kinderbetreuung angeboten." Die "erforderliche Trauerarbeit" finde in
Einzelgesprächen statt. Es besteht offensichtlich "eine Beziehung zwischen Vater
und Kind. Der Vater "muss hier noch viel lernen und räumt ein, gelegentlich an
Grenzen zu stoßen." Das private Umfeld bestehe neben dem Kontakt zur
Baptistengemeinde im Umgang zu einer Nachbarin, "die gelegentlich Kevin betreut,
wenn der Vater früh zum Arzt muss" Seit kurzer Zeit entwickle sich "eine
Bekanntschaft zu einer jungen Frau mit kleiner Tochter (substituiert)." Die
Wohnung sei durch "mehrere unangemeldete Hausbesuche überprüft" worden. Sie sei
"sauber und ordentlich. Das Ergebnis sei: Der Vater habe die Förderung des
Kindes aktiv initiiert und kümmere sich jetzt auch um seine eigenen Belange.
"Das Leben der Beiden nimmt langsam normalere Züge an". Der Amtsvormund bestehe
auf Untersuchungen des Vaters bezüglich Beigebrauch und werde diese bei dem
behandelnden Arzt (gemeint ist der Methadon vergebende Arzt) "einfordern. Da der
Vater sich eine Patenschaft für sein Kind vorstellen könne und die Notwendigkeit
einräume, werde der Fallmanager umgehend eine Anfrage bei PiB GmbH160
veranlassen. Der Termin im Kinderzentrum solle erfragt und eventuell
beschleunigt werden. Es werde weiterhin in kurzen Intervallen Gespräche geben
müssen.
Die Unterschiede zwischen dem
handschriftlichen Protokoll und dem Bericht an den Amtsleiter lassen sich aus
der Akte nicht aufklären. Andere Angaben lassen sich aus der Akte gleichfalls
nicht verifizieren. Ob das Kind tatsächlich einen Platz im Spielkreis hat und
dorthin gebracht wird, haben die Beteiligten ebenso wenig in den Akten
dokumentiert wie Feststellungen zur tatsächlichen Begleitung durch die Frühen
Hilfen; die Mitteilung des Kinderarztes des Gesundheitsamtes, dass der Vater
Kevin nicht zur Untersuchungen zur Vorbereitung der Frühen Hilfen vorgestellt
habe, wird nicht gewürdigt oder erwähnt. Feststellungen zur tatsächlichen
Existenz und Tragfähigkeit des privaten Umfeldes fehlen ebenso wie Angaben zu
den Gründen, aus denen sich die Tagespflegestelle als "nicht geeignet" erweisen
hat; vor allem wird nicht mitgeteilt, dass die Tagespflegemutter dem
Sachbearbeiter von Verletzungen Kevins berichtet hat. Hinsichtlich der Angaben
zu den "mehreren unangemeldeten Hausbesuchen" ist aus der Akte lediglich ein
angemeldeter Hausbesuch des Sachbearbeiters am 08. Oktober 2004161
nachvollziehbar, als Kevin und seine Mutter in der Professor-Hess-Kinderklinik
waren. Ein weiterer Besuch durch zwei Mitarbeiterinnen hat am 19. Juli 2005
stattgefunden, nachdem die Polizei am
18. Juli 2005 vom Vater in die Wohnung
gerufen worden war, weil die Mutter ausraste.162 Ansonsten ergeben
sich aus der Akte lediglich Besuche der Mitarbeiter des FiM -Projekts und der
Frühen Hilfen sowie "Besuche" der Polizei anlässlich der dargestellten
Polizeieinsätze.
Im Folgenden wird aus der Akte nicht
erkennbar, welche konkreten Schritte zur Kontrolle der Schritte des Vaters
unternommen wurden und wie die dargestellten Maßnahmen weiter umgesetzt worden
sind. Auch eine Verifizierung der Angaben zu den Kontakten des Vaters zur
Baptistengemeinde ist nicht dokumentiert. Die vom Amtsvormund geforderte
Abklärung des Problems "Beigebrauch" mit dem Methadon vergebenden Arzt ist nicht
dokumentiert.
Eine Reaktion des Amtsleiters auf diesen
Bericht ergibt sich aus der Akte nicht.
In der Zeit zwischen der Unterrichtung
des Amtsleiters (26. April 2006) und dem 07. Juni 2006 sind offenbar keine
Dokumente zur Akte gelangt.
An diesem 07. Juni 2006 vermerkte der
Amtsvormund einen Anruf des Kinderarztes des Gesundheitsamts, wonach der Vater
den 3. Termin zur Untersuchung wegen der Frühförderung des Kindes Kevin nicht
wahrgenommen habe; der Kinderarzt vergebe jetzt keinen Termin mehr. Er, der Arzt
habe vom Spielkreis gehört, der für Kevin vorgesehene Platz sei "inzwischen
fremd vergeben, weil (der Vater) sich nicht gekümmert habe und das Kind nicht
gekommen sei."163
Am gleichen Tag schreibt der Amtsvormund
an den Sachbearbeiter, nach seinem Dafürhalten sei "nunmehr eine Grenze
überschritten" und bittet um ein kurzfristiges Treffen, um das "weitere Vorgehen
/ Verhalten" abzusprechen. Dieser antwortet sofort: Wegen des Umzuges seiner
Behörde könne man sich nicht kurzfristig treffen. Er habe am 06. Juni 2006 mit
dem Vater telefoniert, der ihm seine momentane Situation geschildert habe. Der
Sachbearbeiter bezieht sich "auf meine Mail vom 26.05.06, die indes nicht bei
den Akten ist. Er teilt mit "Es dreht sich angeblich alles um die Frage: BAgIS
oder Sozialhilfe ... Dieses sei auch der Grund, weshalb er seinen Sohn nicht zum
Spielkreis bringe (Zahlung eines Eigenanteils). Es klang alles sehr logisch und
nachvollziehbar." Er wolle den Leiter des Sozialzentrums ansprechen. Ein Treffen
sei nach dem Umzug Mitte / Ende nächster Woche möglich.
Zum Verständnis ist hier einzuflechten,
dass die BAgIS mit Bescheid vom 28. Februar 2006 die Entscheidung über die
Bewilligung von Leistungen an den Vater zur Sicherung des Lebensunterhalts mit
Wirkung vom 01. April 2006 aufgehoben hatte. Als Grund führt die BAgIS "Wegfall
der Erwerbsfähigkeit" an. Gegen den Bescheid vom 28. Februar 2006 hatte der
Vater unter dem
16. März 2006 Widerspruch eingelegt. Am
28. April 2006 hatte das Verwaltungsgericht Bremen auf Antrag des Vaters die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom
28. Februar 2006 angeordnet. Zur
Begründung führt das Gericht u.a. aus, der Antragsteller habe jedenfalls
Anspruch auf Leistungen nach § 44a Satz 3 SGB II; zwischen der BAgIS und dem Amt
für Soziale Dienste bestehe Streit über die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers,
über die die Einigungsstelle bisher keine Entscheidung getroffen habe. Die BAgIS
hatte dem Vater daraufhin unter dem 11. Mai 2006 mitgeteilt, zunächst würden
weiterhin Leistungen erbracht. Am gleichen Tag hat der Vater einen Betrag von
1.100 Euro bar ausgezahlt bekommen.
Das Amt war über diese Angelegenheit
unterrichtet. Dies ergibt sich beispielhaft aus einer Bemerkung der
Sachgebietsleiterin gegenüber dem Sachbearbeiter vom 27. Juni 2006, die BAgIS
wollen den Vater "nach wie vor in das SGB XII steuern"164. Auch die
weiter unten darzustellende Auswertung der Akten des Amtsvormundes ergibt solche
Hinweise.
Bevor es zu dem von dem Amtsvormund
angeregten Treffen kommt - es findet letztlich nicht statt - findet sich eine
weitere Berichterstattung an den Amtsleiter.
Die Anforderung des Berichts durch den
Amtsleiter findet sich in der Akte nicht. Vermutlich ging der Berichtsauftrag an
die Sachgebietsleiterin, die sich in ihrem Bericht vom 20. Juni 2006165
auf eine solche Bitte bezieht und einleitend mitteilt, "der Erfahrungsbericht
des (Vaters) mit der BAgIS" sei nicht rechtzeitig eingegangen. Sie berichtet
über ein Telefonat mit dem Vater: Er habe sich erfolgreich vor dem
Verwaltungsgericht dagegen gewehrt, dass die BAgIS ihn an die Wirtschaftlichen
Hilfen verweise. Er habe nach dem Beschluss des Gerichts eine Abschlagszahlung
erhalten, womit er Miete und notwendigen Lebensunterhalt sichere. Trotz des
Urteils bekomme er nach seiner Aussage sein Recht bei der BAgIS nicht. Weitere
Zahlungen seien ausgeblieben, er veräußere zur Zeit persönliche Gegenstände. Er
"wendet zur Zeit viel Energie auf um seinen Lebensunterhalt zu sichern und die
Streitigkeiten mit der BAgIS auszuhalten". Es bestehe enger Kontakt zum Methadon
vergebenden Arzt, der den Vater unterstütze, das Kind sehe und auch Kontakt zum
Sachbearbeiter halte. Der Vater melde sich unaufgefordert beim Sachbearbeiter
und bitte um Rat. Eine erneute Zusammenkunft werde in dieser Woche terminiert.
Der Amtsleiter dankte am 20. Juni 2006
für den Bericht und fragte: "Ich hatte Ihre Planung bzgl. eines
Pflegeverhältnisses unter Einbeziehung des Vaters in Erinnerung. Wie ist hier
der Stand?"166
Bevor der weiteren Bitte des Amtsleiters
um Bericht entsprochen wurde, teilte der Sachbearbeiter dem Amtsvormund am 21.
Juni 2006 mit167, man könne nach Beendigung des Umzugs der Behörde
nunmehr einen Termin abhalten. Er habe vor 2 Tagen mit dem Vater telefoniert,
dieser sei recht "aufgeräumt." Er sage, ihm stünden nach dem Beschluss des
Verwaltungsgerichts mehrere Tausend Euro zu, die ihm aber unverständlicherweise
nicht ausgezahlt würden. Die Sachgebietsleiterin und der Leiter des
Sozialzentrums seien informiert. Die Sachgebietsleiterin habe ihm, dem
Sachbearbeiter berichtet, der Vater verkaufe private Dinge, um an Geld zu
gelangen. Er sei sehr verzweifelt und habe zeitweise geweint.
Am 27. Juni 2006 fragte die
Sachgebietsleiterin den Sachbearbeiter nach dem beabsichtigten Termin, da sie
morgen dem Amtsleiter berichten müsse.168 Im übrigen bittet sie ihn,
er möge dem Methadon vergebenden Arzt ausrichten, die BAgIS habe das Geld für
Juni und Juli in voller Höhe angewiesen, Rückstände gebe es nicht. Sie fügt
hinzu: "Die BAgIS will nach wie vor (den Vater) in das SGB XII steuern."
Tags darauf bestätigt der Sachbearbeiter
der Sachgebietsleiterin, er habe mit dem Methadon vergebenden Arzt gesprochen.
Der Amtsvormund sehe in Kenntnis des aktuellen Standes zurzeit keine
Notwendigkeit eines neuen Termins (gemeint: für eine Fallkonferenz).169
Hierauf berichtete die
Sachgebietsleiterin unter dem 28. Juni 2006 dem Amtsleiter (nachrichtlich u. a.
an den Sachbearbeiter). Sie bezieht sich auf eine Verabredung mit diesem vom
Freitag, den 23. Juni 2006. Nach dem Inhalt des Berichts hat sich diese
Verabredung zumindest auch auf die Auseinandersetzung des Vaters mit der BAgIS
bezogen. Sie, Die Sachgebietsleiterin, habe einschlägige Schriftstücke bei dem
Arzt des Vaters - damit ist wohl der Methadon vergebende Arzt des Vaters gemeint
- abgeholt. Danach habe die BAgIS laut Beschluss des Verwaltungsgerichts 960,04
Euro zu zahlen. Damit seien alle Kosten für Vater und Kind abzudecken. Die
Zahlungen seien nicht vollständig und fristgerecht eingegangen. Der Vater wurde
bei der BAgIS "nicht angemessen behandelt und erhielt Hausverbot". Als Beweis
hierfür wird eine "schriftliche Aussage" des Vaters benannt. Der Vater habe
ausweislich beigefügter Kontoauszüge den Lebensunterhalt für sich und das Kind
nicht mehr sicherstellen können. Die BAgIS habe Widerspruch beim Amtsgericht
(sic !) eingelegt. Der zuständige Abschnittsleiter der BAgIS habe die verspätete
Anweisung der Juni-Zahlung eingeräumt. Der Umgang mit dem Abschnittsleiter sei "in der Tat gewöhnungsdürftig".
Für Kevin solle weiterhin eine
Patenschaft eingeleitet werden "auch wenn der Vater nicht psychisch krank ist."
Falls das zu Verwerfungen mit der PiB GmbH führte, werde sie sich melden. Aus
Sicht des Amtsvormundes bestehe zurzeit kein Bedarf für eine neuerliche Sitzung.
Kevin sei im Programm Frühe Hilfen der Lebenshilfe e. V. und der behandelnde
Arzt habe das Kind ebenso im Focus wie den Vater. Fazit sei: Die medizinische
Diagnostik für das Kind müsse weitergehen, ebenso wie die Unterstützung des
Vaters "voraussichtlich in obiger Form. Dem Vater ist bekannt, dass er den
notwendigen Flankenschutz gegenüber der BAgIS bei uns erhält. Die
wirtschaftliche Situation erachte ich jetzt im Augenblick als geklärt."
Abschließend äußert die Sachgebietsleiterin die Hoffnung, den Amtsleiter
hinreichend informiert und auch beruhigt zu haben."
Eine Reaktion des Amtsleiters ist nicht
dokumentiert.
Zur Zeit der Berichterstattung hatten
die Frühen Hilfen für Kevin aber praktisch noch nicht begonnen. Im Spielkreis
war Kevin bis dahin auch nicht gewesen. Unter dem 07. Juli 2006 vermerkte der
Sachbearbeiter eine Mitteilung einer Mitarbeiterin der Frühen Hilfen, die
Frühförderung könne beginnen, die Kostenübernahme liege vor. Im Spielkreis sei
noch ein Platz nach den Sommerferien frei. Aus der gleichen Mitteilung ergibt
sich, dass die Frühen Hilfen aber nicht beginnen konnten, denn "heute, 07.07.06
hing Zettel an der Tür, dass (der Vater) abwesend ist, da Unfall im
Verwandtenkreis."170 Im Weiteren lässt sich klären, dass eine
Mitarbeiterin der Frühen Hilfen am 07. Juli die Familie aufsuchen wollte und an
der Tür der Wohnung diesen Zettel gefunden hat.
An dieser Stelle endet der 1. Band der
Akte. Der 2. Band ist, wie einleitend erwähnt, nicht mit Blattzahlen versehen.
Die nachstehenden Angaben beruhen auf der nachträglichen Blattierung durch den
Berichterstatter.
Zu Beginn enthält der Band doppelte
Unterlagen zu den Auseinandersetzungen des Vaters mit der BAgIS, welche der
Sachbearbeiter ausweislich eines handschriftlichen Vermerks von der
Sachgebietsleiterin erhalten hat171. Vermutlich handelt es sich um
die Unterlagen, auf die die Sachgebietsleiterin sich in ihrem Bericht an den
Amtsleiter vom 28. Juni 2006 bezogen hat.
Darunter befindet sich ein Schreiben des
Methadon vergebenden Arztes an den Leiter des Sozialzentrums Gröpelingen / Walle
vom 15. Juni 2006.172 Offenbar hat der Leiter des Sozialzentrums die
Unterlagen erbeten. Unter anderem berichtet der Arzt von Schwierigkeiten des
Vaters mit der Krankenkasse, er sei zwei Monatsmieten in Rückstand, der
Energieversorger habe wegen Zahlungsrückständen den Vertrag gekündigt. Der Arzt
schreibt: "Wie soll er sich da um seinen Sohn kümmern können? Es ist notwendig,
dass diese Angelegenheit kurzfristig geklärt wird, da (der Vater) sonst zur
tickenden Zeitbombe wird."
Am 11. Juli 2006 wandte sich der
Sachbearbeiter schriftlich an den Vater. Er bezog sich auf die Mitteilung der
Mitarbeiterin der Frühen Hilfen vom 07. Juli 2006 und darauf, dass er, der
Vater, einen Termin mit einer Mitarbeiterin der Frühen Hilfen aus privaten
Gründen nicht eingehalten habe. Weiter informierte er ihn über die
Kostenübernahme bezüglich der Frühförderung und darüber, dass im Spielkreis.
"der Platz für Kevin" nach den Sommerferien frei sei. Es sei vielleicht
sinnvoll, wenn der Vater sich an die Mitarbeiterin der Frühen Hilfen wende.173
Ob dies geschieht oder kontrolliert
wird, ist nicht dokumentiert.
Am 18. Juli 2006 unterrichtete der
Sachbearbeiter in Vertretung für die Sachgebietsleiterin den Amtsleiter174:
Der Vater mache, nachdem die finanzielle Situation geklärt sei, einen
"ausgeglichenen Eindruck". Er habe weiterhin Kontakt zu den Frühen Hilfen. Im
Sozialpädagogischen Spielkreis stehe nach den Sommerferien ein Platz zur
Verfügung. Als Fallmanager habe er ständigen Kontakt zum substituierenden Arzt
des Vaters. Bei irgendwelchen Auffälligkeiten bezüglich des Kindes oder auch des
Vaters werde ihn dieser absprachegemäß umgehend informieren. Der Vater suche
eine neue Wohnung, da ihm das jetzige Wohnumfeld nicht gefalle. Er selbst habe
in dem gegenwärtig vom Vater bewohnten Haus zeitweise vier Familien zu betreuen
gehabt. Ansonsten könne die momentane Situation "den Umständen entsprechend als
zufriedenstellend" bezeichnet werden.
Mitteilung der Frühen Hilfen: Kevin nimmt nicht teil. Sorge der Frühen Hilfen
über sein Wohlergehen. Die Antwort des Amtes
Unter dem 31. Juli 2006, 9 Uhr 20 wandte
sich die Leiterin der Frühen Hilfen erneut an den Sachbearbeiter175.
Zwar sei Kevin seit 01. Juli 2006 in der Frühförderung. Beim ersten Termin am
06. Juli 2006 habe man die Familie nicht angetroffen. Beim zweiten Termin sei
die Mitarbeiterin leider krank gewesen. Zum dritten Termin am 17. Juli 2006 habe
man den Vater extra telefonisch erinnert. Als die Mitarbeiterin am 14 Uhr 30
gekommen sei, habe sich herausgestellt, dass der Vater als Termin "15 Uhr 30"
notiert und erklärt habe, jetzt sei Kevin mit Nachbarn zum Schwimmen. Die
Mitarbeiterin habe über eine Stunde gewartet. Kevin sei nicht gekommen. "Nachdem
Kevin auch im Spielkreis bisher nicht gesehen wurde, machen wir uns Sorgen um
sein Wohlergehen." Die Leiterein erinnert den Sachbearbeiter an seine Zusage,
sie nach deren Anruf am 7. Juli 2006 am 11. Juli anrufen zu wollen. Leider habe
sie keine Nachricht bekommen. Sie fragt, ob Kevin nun einen anderen
Spielkreisplatz in Oslebshausen habe oder ob er ab 21. August 2006 nachmittags
ihren sozialpädagogischen Spielkreis in Gröpelingen besuchen solle.
Gut zwei Stunden später wandte sich die
Leiterin erneut an den Sachbearbeiter176: Auch heute habe der Vater
die Frühförderung abgesagt, da er auf dem Weg zu seiner Mutter sei und dort 2 -
3 Tage bleiben wolle. Sie fügte hinzu: "Von uns wurde das Kind zuletzt am 24.
März 2006 beim Erstgespräch gesehen". Heute habe der Vater Interesse am
Spielkreis der Lebenshilfe ab 21. August 2006 geäußert.
Am gleichen Tag antwortete der
Sachbearbeiter der Leiterin:177 Allen sei klar, dass die Arbeit mit
dem Vater "nicht immer einfach ist". Sozialzentrumsleiter, Stadtteilleiterin,
Amtsvormund etc. seien alle auf dem aktuellen Stand. Zum Vater und dem Methadon
vergebenden Arzt, "welcher übrigens auch regelmäßig das Kind sieht, haben wir
ständigen Kontakt." Vor einer viertel Stunde habe der Vater im telefonisch
gesagt, er sei mit Kevin auf dem Weg zu seiner Mutter und seinem Stiefvater, der
einen dritten Herzinfarkt erlitten habe. Mittwoch Abend wolle er wieder in
Bremen sein. Den Spielkreis wolle er auf alle Fälle in Anspruch nehmen.
Unter dem 04. August 2006 unterrichtete
die Sachgebietsleiterin "der guten Ordnung halber" erneut den Amtsleiter,
nachrichtlich den Leiter des Sozialzentrums und den Sachbearbeiter178.
Da der Vater über die BAgIS wieder krankenversichert sei, stehe auch der
Gesundheitssorge für Kevin nichts mehr im Wege "und das Leben kann einen
geregelten Ablauf nehmen." Aktuell sei der Vater mit Kevin "bei der Großmutter
in Kassel". Besuche der Frühen Hilfen "haben noch nicht stattgefunden und werden
zur Frühförderung des Kindes nach der Rückkehr aus Kassel beginnen. Der Träger
wird Bericht erstatten." Im September könne Kevin zusätzlich in den Spielkreis
im BGH Oslebshausen.
Unter dem 07. August 2006 schrieb der
Sachbearbeiter eine Notiz über ein Telefonat mit dem Vater nieder179:
Der Stiefvater sei verstorben. Heute, 07. August wolle er wieder mit Kevin zur
Mutter fahren. Am Mittwoch, den 09. August 2006 wolle er ohne Kevin nach Bremen
kommen, um bei dem Methadon vergebenden Arzt Methadon abzuholen, danach wieder
zur Mutter fahren. Spätestens am 14. August 2006 wird er wieder in Bremen sein,
damit Kevin den Termin mit den Frühen Hilfen wahrnehmen kann. Seine Mutter habe
ihm durch die Blume angeboten, doch gänzlich zu ihr oder in ihre Nähe zu ziehen.
Er wolle das mit ihr besprechen.
Am gleichen Tag, 07. August 2006,
informierte die Leiterin der Frühen Hilfen den Sachbearbeiter darüber, dass der
Vater auch an diesem Tag den Termin zu Frühförderung absagte, als sie ihn
angerufen hätte, um ihn zu erinnern. Da die Frühförderung nun schon seit fünf
Wochen vom Amt bezahlt werde, die Mitarbeiterin das Kind aber noch nicht gesehen
habe, werde sie die Frühförderung beenden. Die Termine seien jeweils kurzfristig
wegen Krankheit, Unfalls oder familiären Todesfalls abgesagt worden. Falls sich
die Situation des Vaters wieder stabilisiert habe, könne er gern erneut einen
Antrag auf Frühförderung stellen. Sie hoffe, der Vater könne den Spielkreisplatz
ab 21. August 2006 möglichst regelmäßig wahrnehmen.
Unter dem gleichen Datum - 07. August
2006 - erstatteten die Frühen Hilfen einen Bericht zu Frühförderung des Kindes
an das Amt für Soziale Dienst, an das Gesundheitsamt Bremen, den Vater und auch
an den Sachbearbeiter.180 Der Vater habe von vier Terminen nur einen
wahrnehmen können, Kevin sei nicht anwesend gewesen. Die Termine seien kurz
vorher abgesagt worden. Einmal sei man durch einen Zettel an der Tür von der
Abwesenheit unterrichtet worden. Der Vater könne sich weiterhin um Frühförderung
bemühen.
Mit Bescheid vom 10. August 2006181
hob das Amt für Soziale Dienste den Bescheid über die Gewährung von Sozialhilfe
in Form von Frühfördermaßnahmen vom 25. Juli 2005 in Verbindung mit dem
Wiederbewilligungsschreiben vom 12. Juni 2006 auf.
Kevin kommt nicht zum den Spielkreis
In der Folge machte der Vater entgegen
seinen Ankündigungen keine Anstalten, Kevin ab 21. August 2006 im Spielkreis
unterzubringen. Am 15. August 2006 unterrichtet die Leiterin der Frühen Hilfen
den Sachbearbeiter darüber: Der Kindvater habe sich nicht gemeldet und auch die
fällige erste Zahlung zum 1. August 2006 nicht geleistet und auch keine
Einzugsermächtigung gegeben. Er habe auch eine bei der vorigen Anmeldung zu
einem Spielkreis vom 19. April bis 24. Mai 2005 fällig gewordene Zahlung in Höhe
von 8 Euro nicht beglichen. Auch auf die Mitteilung von der Aussetzung der
Frühen Hilfe habe er nicht reagiert. Falls sie weiterhin weder vom Vater noch
dem Sachbearbeiter als dem zuständigen Sozialarbeiter etwas hörten, werde sie
Kevins Platz zum 01. September 2006 anderweitig besetzen.182
Der Sachbearbeiter antwortete am 16.
August 2006: Er verstehe die "Enttäuschung" über den Vater und dessen
Verhaltensweisen er seit Geburt des Kindes kenne. Zuletzt habe er ihm
telefonisch am 07. August 2006 versichert, er wolle den Termin mit der Leiterin
einhalten. "Anscheinend hat (der Vater) sich wohl an diese, aber auch andere
Vereinbarungen nicht gehalten."183
Er werde ihn über das Schreiben der Leiterin unterrichten und ihm mitteilen, er
möge sich umgehend an sie wenden.
Ein entsprechendes Schreiben des
Sachbearbeiters an den Kindesvater datiert vom 16. August 2006.184
Am 21. August 2006 teilte die Leiterin
dem Sachbearbeiter mit, Kevin sei heute, am 1. Tag nicht in den Spielkreis
gekommen. Der Vater habe sich nicht gemeldet.185 Am 23. August 2006
antwortete der Sachbearbeiter, der Vater habe auf seinen letzten Brief nicht
reagiert. Wahrscheinlich sei er noch bei seiner Mutter in Grünenplan. Die Mutter
habe ihm, so seine letzte Auskunft, angeboten, mit Kevin zu ihr zu ziehen
Vielleicht wolle er dies realisieren. Der Spielkreisplatz könne sicherlich nicht
frei gehalten werden. Mehr wisse er nicht. Er sei bis 15. September 2006 in
Urlaub.
Am 21. August 2006 hatte es eine weitere
Entwicklung gegeben: Die Richterin des Familiengerichts des Amtsgerichts Bremen
fragte bei dem Sachbearbeiter an, ob in der Angelegenheit noch Aktivität des
Familiengerichts erwartet werde. Sie will wissen, wo das Kind jetzt ist und ob
es noch vom Vater versorgt werde.186
Ihr antwortete der Sachbearbeiter am 23.
August 2006: Der Vater lebe mit Kevin nach wie vor unter der alten Anschrift. Es
gebe regelmäßigen Kontakt. Der Amtsvormund sei informiert. Der "Methadonarzt"
sei in den "Gesprächsprozess" mit einbezogen. Vater und Kind befänden sich zur
Zeit in Grünenplan bei der Mutter des Vaters, da der Stiefvater verstorben sei.
Wunsch der Mutter sei anscheinend, dass der Sohn in ihre Nähe ziehe. Er werde
nach Ende seines Urlaubs weiter informieren.187
In ihrer Antwort vom gleichen Tag
erklärte die Richterin, mit dem Methadon vergebenden Arzt habe sie "überhaupt
keine guten Erfahrungen gemacht." Er habe einem seiner Patienten bescheinigt,
seit 2 oder 3 Jahren keinerlei Beigebrauch zu haben. Eine von ihr veranlasste
rechtsmedizinische Untersuchung habe ergeben, der Patient habe neben Methadon
fortlaufend und ständig seit Jahren Heroin und Kokain konsumiert. Das sei seinem
Arzt verborgen geblieben oder es habe es nicht merken wollen "Jedenfalls wird
man sich nicht allein darauf verlassen können, was dieser Arzt bescheinigt,
sondern sehr genau immer wieder überprüfen müssen, ob der Vater in seinem
Verhalten tatsächlich verantwortlich für das Kind handelt."188
Der Sachbearbeiter dankte der Richterin
am 23. August 2006 "für die Information." Er melde sich nach seinem Urlaub.189
Mit einem nicht datierten elektronischen
Schreiben fragte die Sachgebietsleiterin - offenbar nach Abreise des
Sachbearbeiters in den Urlaub (den habe sie nicht mehr ganz aktuell befragen
können) - beim Amtsvormund an: "Muss etwas getan werden? Mir ist nicht recht
wohl, weil die Berichterstattung bei Al (gemeint: der Amtsleiter) an bzw.
aussteht." Aus den Akten hat sie folgenden Sachstand entnommen: Der Vater habe
Kevin am 21. August 2006 nicht in den Spielkreis gebracht, weil er wohl bei der
Oma sei. Auch die Frühförderung sei eingestellt, weil der Vater "nie da war";
wenn die Förderfrau kam, bzw. hätten "widrige Umstände" die Förderung des Kindes
verhindert. Der Methadon vergebende Arzt des Vaters und der Sachbearbeiter seien
in Urlaub.190
Eine sich daran anschließende
Information der Amtsleitung ist nicht dokumentiert.
Mitteilung des Vaters an das Amt: Kevin ist in der Elternschule
In einem weiteren Schreiben der
Sachgebietsleiterin an den Amtsvormund - handschriftlich datiert 1. 9. - teilte
diese mit, sie habe eben mit dem Vater telefoniert. Kevin sei bei ihm und werde
laut seiner Aussage täglich bei den Kindern der Elternschule mitbetreut "(soll
ich eigentlich nicht wissen) da er bei der BAgIS wegen Arbeit zur Verfügung
stehen muss. Den Spielkreisplatz wolle er nicht nehmen, "weil das nur 10 Stunden
pro Woche sind." Den Krabbelgruppenplatz habe er nicht genommen, weil er dafür
angeblich 110 Euro zahlen müsse. Sie habe ihn unterstützt in dem Gedanken, zu
seiner Mutter zu ziehen. Sie wolle Kontakt mit der Elternschule aufnehmen und
nach dem Kleinen fragen. "Kommen wir da erst mit hin?"191
Ihrem Plan gemäß fragte die
Sachgebietsleiterin in der Elternschule an. Sie notierte - dem Sachgebietsleiter
zur Kenntnis - ohne Datum in der Akte, eine Mitarbeiterin der Elternschule habe
nicht bestätigt dass Kevin sich inoffiziell dort aufhalte. Der Amtsvormund sei
informiert und mache am Montag, den 04. September 2006 einen Hausbesuch.192
Am 04. September 2006 wollte der
Amtsvormund den Hausbesuch machen. Er traf niemanden an. Tags darauf kam er
wieder. Wieder vergeblich. Er unterrichtete am 05. September 2006 die
Sachgebietsleiterin und erklärte: "Ich weiß nun auch nicht, was wir machen
sollen?"193
In ihrer Antwort erklärte die
Sachgebietsleiterin, sie "habe so was befürchtet". Sie schlägt vor, dass
der Vater "zeitnah mit Kind erscheinen muss." Sie bittet den
Amtsvormund, die Sache in die Hand zu nehmen.194
Aus einem handschriftlichen Vermerk -
Unterschrift unleserlich - vom 08. September 2006 ergibt sich folgender Inhalt
eines Anrufs des Vaters vom 07. September 2006, zwischen 19 Uhr 54 und 19 Uhr 56
(auf Anrufbeantworter): Er hat am Mittwoch, den 06. September 2006 mit der
Sachgebietsleiterin und dem Amtsvormund telefonisch ein Treffen für den 07.
September 10 Uhr abgesprochen. Er hat eine Krankmeldung geschickt, weil er
wirklich krank ist. Deshalb ist er mit Kevin nach Grünenplan zu seiner Mutter
gefahren. Er gibt den Jungen nicht weg, dem geht es gut. Er kommt am Montag in
den Schiffbauerweg 4 und hofft, dann gesund zu sein. Er ist sehr irritiert nach
dem, was ihm die Nachbarn erzählt haben.195
Gleichfalls am 08. September 2006 ging
im Sozialzentrum ein Handschreiben des Vaters an die Sachgebietsleiterin ein. Es
bestehe "Null Grund zur Sorge". Kevin gehe es gut. Er macht der
Sachgebietsleiterin Vorwürfe, dass sie sich auf Aussagen einer Mitbewohnerin
seines Wohnhauses verlasse. Um "unseren Termin tut es mir leid." Dem Schreiben
ist eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Methadon vergebenden Arztes für
den 06.-bis 09. September 2006 beigelegt. Der Vater will wissen, was so wichtig
sei, dass er und sein Sohn "so bekannt gemacht werden". 2/3 seiner Habe sei
schon in Grünenplan.196
Am 11. September 2006 telefonierte die
Sachgebietsleiterin mit dem Vater. Die Sachgebietsleiterin notierte - und
übermittelte die Notiz dem Amtsvormund -, der Vater sage, er sei immer noch in
Grünenplan. Kevin gehe es nach seiner Behauptung gut. Seine Mutter sei nicht zu
sprechen, da sie im Fitnesstraining sei. Der Vater sei noch krank. Ab Mittwoch
wolle er nach Bremen kommen und seinen Umzug weiter betreiben. Bis 25. September
2006 werde er aus Bremen wegziehen. Sie habe ihm erwidert, er hätte sich den
"ganzen Aufruhr" ersparen können, wenn er klar gesagt hätte, er ziehe definitiv
zu seiner Mutter. "Wir möchten nicht angelogen werden und das Wohl von Kevin
liegt uns am Herzen". Er als Vater habe dafür zu sorgen, dass es Kevin gut geht.
Wir bestehen darauf, die Großmutter von Kevin in geeigneter Form zu informieren.
Der Vater solle sich nächste Woche bei dem Sachbearbeiter melden.
Ferner notierte die Sachgebietsleiterin
über ein Gespräch mit dem Methadon vergebenden Arzt: Der Vater hole sich am
Mittwoch bei ihm Methadon ab. Er werde ihn dann "wg. Beigebrauch ansprechen."
Kevin habe er zuletzt vor seinem Urlaub gesehen. Er teile die Meinung, das Kind
müsse gefördert werden und es sollte die Überprüfung in Grünenplan organisiert
werden.
Den Amtsvormund fragte die
Sachgebietsleiterin, ob es gut sei, wenn sie die Mutter des Vaters anrufe, denn
der Sachbearbeiter habe "bereits mehrfach" mit ihr telefoniert und die Mutter
von Herrn Kk. habe zur Zeit den Tod ihres Partners zu verkraften.197
Der Amtsvormund antwortete: Sie solle
bei der Mutter des Vaters anrufen. Kevin werde nach dem Verlust ihres Mannes
ihre neue Aufgabe. Sie sollte Verständnis dafür haben, "wenn wir uns absichern
wollen und auch wissen wollen, ob die Aussagen ihres Sohnes real sind und sie
von all dem weiß."198
Das Ergebnis des Anrufs teilte die
Sachgebietsleiterin dem Amtsvormund und dem Sachbearbeiter unter dem 13.
September 2006 wie folgt mit:
Die Großmutter habe Kevin zuletzt am 2.
Weihnachtstag 2005 gesehen; damals habe der Vater seinen Halbbruder
zusammengeschlagen. Ihr Ehemann lebe und sei nicht krank. Sie werde Kevin
selbstverständlich nehmen, habe aber Angst vor dem Vater, da "dieser eine Waffe
hat." Unsere Sorge um Kevin teilt sie. Sie sagt, auch sie, die
Sachgebietsleiterin sei in Gefahr, wenn wir Kevin dem Vater entziehen; auch sie
- die Mutter - habe aus Angst bisher nichts unternommen.
Die Sachgebietsleiterin fasst zusammen:
"Kurz: Alles was (der Vater) uns über Umzug etc. erzählt ist gelogen!"199
Sie werde den Sachbearbeiter bitten,
sich nach Rückkehr vorrangig um den Fall zu kümmern. Sie "glaube, dass der
Kleine gut versorgt im Sinne (des Vaters) ist und wir sehr bedacht handeln
müssen. Sie will sich Tags darauf mit dem Amtsvormund beraten: "Ich bin sehr
alarmiert."200
Die Mutter des Vaters bestätigte und
ergänzte ihre Angaben schriftlich unter dem 13. September 2006. Ihr Sohn sei
seit dem 12. Dezember 2005 zu Besuch gewesen, "wobei es zu großen Differenzen
kam". Am 1. Weihnachtsfeiertag sei er wieder abgereist. Seither habe sie
keinerlei Kontakt mit ihm gehabt, ein Besuch habe 2006 nicht stattgefunden. Von
einem Umzug konnte daher noch nicht gesprochen werden.201
Im Folgenden suchen die Beteiligten eine
"Ü-Pflege" (Übergangspflege) für Kevin. Unter dem
18. September 2006 vermerkt der
Sachbearbeiter, eine Frau sei bereit, Kevin aufzunehmen. Die Hintergründe um den
Vater seien ihr detailliert erklärt worden. Die Frau warte auf den Anruf des
Amtes.202
Gleichfalls unter dem 18. September 2006
vermerkte der Amtsvormund über ein Gespräch zwischen ihm, der
Sachgebietsleiterin, dem Leiter des Sozialzentrums und dem Sachbearbeiter: Alle
Beteiligten seien dafür, Kevin beim Vater herauszunehmen. Frage sei: Die
Überlegung, mit Hilfe des Methadon vergebenden Arztes an das Kind zu kommen,
habe dieser abgelehnt. So bleibe nur, das Kind durch Polizei und
Gerichtsvollzieher aus der Wohnung zu holen.
Am Nachmittag des 18. September 2006
erörterte der Amtsvormund das Problem mit der Richterin des Familiengerichts.203
Folgendes Ergebnis wird erzielt: Die Richterin wird den Vater zu einer Anhörung
am 26. September 2006, 13 Uhr laden wegen dessen noch offenen Antrags, ihm die
elterliche Sorge nach § 1680 BGB zu übertragen. Sie werde ihm aufgeben, das Kind
mitzubringen. Das Amt möge ein Herausgabeverlangen vorbereiten, es könne dann
das Kind in Obhut nehmen und unterbringen.204
Die für die Ü-Pflege in Aussicht
genommene Frau wurde von dem Termin (26. September 2006, 13 Uhr) und darüber
informiert, dass Kevin wahrscheinlich am Nachmittag gebracht werde.205
Der Sachbearbeiter teilte der Richterin
unter dem 25. September 2006 mit, er könne aus persönlichen Gründen an dem
geplanten Termin nicht teilnehmen. Er teilt mit, der Vater habe "uns nun seit
mehreren Monaten belogen." Er neige, wie die Richterin sicher wisse, zur
Gewalttätigkeit "Körperverletzung etc./ zurzeit Bewährung" Er solle eine
Schusswaffe besitzen. Bei der In-Obhutnahme sei aus seiner Sicht die
Bereitschaft entsprechender Beamter sehr ratsam.206
Die Gerichtstermine vom 25. September und 02. Oktober 2006
Am 26. September 2006 erschien der Vater
nicht bei Gericht.207
Auch zum neuen Termin am 02. Oktober
2006, 12 Uhr erschien der persönlich geladene Vater - entgegen einem telefonisch
gegenüber dem Sachbearbeiter abgegebenen Versprechen208 nicht. Er
teilte telefonisch über das Amt für Soziale Dienste zeitgleich zum Termin mit,
er müsse Kevin vom Hort abholen und komme entweder gar nicht oder später (Notiz
des Sachbearbeiters vom 02. Oktober 2006)209
Das Gericht, der Sachbearbeiter und der
Leiter des Sozialzentrums erörterten sodann das weitere Vorgehen. Erörtert
wurde, ob das Amt eine Vermisstenanzeige stellen sollte. Diese Möglichkeit wurde
nach Überlegungen im Amt verworfen und dieses Ergebnis der Richterin Tags darauf
mitgeteilt.210 Dagegen stellte das Amt für Soziale Dienste in der
Verhandlung den Antrag, anzuordnen, das Kind an den Amtsvormund oder eine von
ihm beauftragte Person herauszugeben.
Das Gericht erließ noch am 02. Oktober
2006 einen solchen Herausgabebeschluss zum Aktenzeichen 61 F 3151/05211
und übermittelte eine Abschrift des Herausgabebeschlusses am gleichen Tag dem
Sachbearbeiter, dem Leiter des Sozialzentrums und dem Amtsvormund. Eine (für die
Vollstreckung erforderliche) Ausfertigung des Beschlusses könne das Amt
jederzeit auf der Geschäftsstelle des Gerichts in Empfang nehmen. Dem Vater
solle der Beschluss zeitgleich mit dem Vollstreckungsversuch zugestellt werden.
Sie, die Richterin sei der Auffassung, dass der Aufenthalt des Kindes möglichst
umgehend geklärt und die Herausgabe herbeigeführt werden sollte. Die Richterin
nannte dem Amt zudem die für die Wohnanschrift des Vaters zuständige
Gerichtsvollzieherin und deren Urlaubsvertreter.212
Aus der Akte des Amtes für Soziale
Dienste Bremen, Geschäftszeichen B 165562
Auch diese mir in Kopie vorgelegte Akte
im Umfang von 83 Seiten ist im Original nicht blattiert. Die nachstehenden
Seitenangaben beruhen auf einer von mir vorgenommenen Blattierung.
Die ergänzende Auswertung der Akte unter
den Gesichtspunkten des Untersuchungsauftrages bestätigt die Abläufe, wie sie
schon dargestellt sind und liefert ergänzende Informationen.
Klar werden die Gründe, aus denen der
Amtsvormund nicht, wie erwogen, das Vaterschaftsanerkenntnis von Herrn Kk.
beurkunden konnte: Eine Anfrage des Amtsvormunds vom 14. Februar 2006 beim
Standesamt Bremen - Nord ergab, dass die Mutter die dafür erforderliche
Zustimmung dort nicht abgegeben hatte.213 Seine danach offenbar
erwogene - und mit dem Vater am 15. Februar 2006 auch besprochene214
- Absicht, "eine Vaterschaftsklage anzugehen"215 hat er in der Folge
ausweislich seiner Akte nicht verwirklicht.
Hilfestellung für den Vater bei der Beantragung von Kindergeld
Nachdem sich der Vater am 15. Februar
2006216 bei ihm zum wiederholten Male beschwert hatte, er habe zu
wenig Geld zur Verfügung und weil sich herausstellte, dass der Vater bislang
keinen Antrag gestellt hatte, wandte sich der Amtsvormund noch am 15. Februar
2006217 an das zuständige Arbeitsamt und überreichte einschlägige
Unterlagen, obgleich er wisse - so schrieb er - dass er nicht antragsberechtigt
sei. Er fügte hinzu, der Vater seines Mündels sei "psychisch und physisch schwer
angeschlagen. Dennoch habe ich zugestimmt, dass mein Mündel in seinem Haushalt
lebt." Er wolle für "Vater und Kind ausreichende Lebensgrundlagen" haben.
In der Akte findet sich weiter ein
Widerspruch des Vaters vom 16. März 2006 gegen einen Bescheid der BAgIS vom 28.
Februar 2006218. Ob der Amtsvormund diesen Widerspruch für den Vater
formuliert hat, ist offen. Immerhin kann man einen Zusammenhang sehen mit der
Bemerkung der Sachgebietsleiterin vom 28. Juni 2006 in einem Bericht an den
Amtsleiter, der Vater wisse, dass er den "notwendigen Flankenschutz gegenüber
der BAgIS bei uns erhält."
Der Vormund des Kindes Kevin hat mit
dessen Vater an jenem 15. Februar 2006 auch über die von diesem "anzustrebende
Trauerarbeit" und über "seine Ängste und deren Bewältigung gesprochen. Da aber
derzeit soviel auf den Vater einstürmt, wurde es bei einer Erörterung belassen."219
Am 16. März 2006 bat das
Vormundschaftsgericht den Amtsvormund um Bericht. Der am 05. April 2006
erstattete Bericht brachte zum Ausdruck, Kevin lebe im Haushalt des Vaters, es
bestehe eine enge Kontrolle des zuständigen Sozialarbeiters, Maßnahmen seien aus
Sicht des Vormundes nicht erforderlich.220
Nachdem das Amtsgericht Bremen den
Beschluss vom 02. Oktober 2006 erlassen hatte, hat der Amtsvormund sich in
dessen Umsetzung eingeschaltet und den Versuch der In-Obhutnahme des Kindes am
10. Oktober 2006 mit vorbereitet.221
In diesem Teil werde ich Informationen
aus anderen Unterlagen mitteilen, die mir zur Ergänzung und zum Abgleich der
bisher festgestellten Zusammenhänge wichtig erscheinen.
Einblicke in das Zustandekommen der
Entscheidung im Klinikum Bremen – Nord nach der Geburt Kevins ergibt ein Vermerk
der Familien-Hebamme vom Gesundheitsamt Bremen. Sie war vor und bis kurz nach
der Geburt von Kevin mit der Angelegenheit befasst.
Sie hat den Vermerk unter dem 17. Juni
2006 auf Veranlassung des Leiters des Gesundheitsamt Bremen, Prof. Dr. Zenker
abgefasst. Dieser wiederum hatte am 12. Mai 2006 gegenüber dem Leiter des Amtes
für Soziale Dienste unter Berufung auf die Mitteilungen der Familien-Hebammen
des Gesundheitsamtes einige Fälle der Hilfe für Kinder durch das Amt kritisch
angesprochen und ihm zugesagt, sich schriftlich zu Einzelheiten dieser Fälle zu
äußern.
Über ihre Klientin, die Mutter von
Kevin, schrieb die Hebamme u. a.:
Der Fall sei ihr am 12. Dezember 2003
gemeldet worden (Geburtstag Kevin: 23. Januar 2004). Die Mutter und ihr Partner
seien seit Jahren in der Drogenszene bekannt. Sie sei HIV positiv gewesen und
habe Hepatitis C gehabt. Sie sei mit 14 mg Polamidon substituiert und habe
bekanntlich Beigebrauch. Der Vater sei in der Vergangenheit 12 Jahre wegen
Gewalttätigkeiten im Gefängnis gewesen.
Am 03. Dezember 2003 habe die Hebamme
mit den Eltern einen Hausbesuch am 18. Dezember 2003 verabredet. Am 17. Dezember
2003 habe die Mutter den Termin abgesagt. Am 23. Dezember 2003 und 16. Januar
2004 habe sie Hausbesuche gemacht. Am 08. Januar 2004 sei sie mit dem Paar zur
Geburtsplanung in der Klinik St.-Jürgen Straße gewesen. Tags darauf habe die
Mutter ihr erklärt, sie wolle in Bremen - Nord entbinden. Gewisse, mit ihrer HIV
Infizierung zusammenhängende Behandlungsvorschläge der Ärzte der Klinik
St.-Jürgen Straße habe sie nämlich abgelehnt.
Die Zusammenarbeit zwischen ihr und den
Eltern sei von Anfang an schwierig gewesen. Die Mutter habe eine
Familien-Hebamme nicht gewollt und sei nur widerwillig zur Geburtsplanung in die
Klinik Mitte mitgegangen. Eine regelmäßige Vorstellung des Kindes nach der
Geburt bei einem Kinderarzt habe das Paar abgelehnt. Das Kind sei stark "entzügig"
gewesen und habe kurz nach der Geburt wegen eines Atemnotsyndroms reanimiert
werden müssen.
Bei den Fallbesprechungen im Klinikum
Nord sei sehr schnell deutlich geworden, dass der Vater häufig alkoholisiert auf
der Säuglingsstation auftauche und die Mutter das Kind zum Teil lückenhaft
versorge.
Durch ihre Betreuerin vom EMP
(Ergänzendes Methadonprogramm)222
habe das Paar im Verlauf der Konferenz vom 19. Februar 2004 im Klinikum
Bremen-Nord mitteilen lassen, dieses wünsche keine Betreuung durch die
Familien-Hebamme. Sie selbst, die Mitarbeiterin von EMP, befürworte diesen
Wunsch, da das Paar sich sonst zu stark "kontrolliert" fühle. Der Sachbearbeiter
habe dies kritiklos hingenommen und zugestimmt, die Kontrolle und die Termine
dürften auch nicht zu viel werden.
Diese Entwicklung hat die Hebamme noch
näher beschrieben. Danach habe die Mitarbeiterin des EMP sich schon am 23.
Januar 2004 bei ihr als die von der Mutter ausgesuchte Betreuerin vorgestellt
und erklärt, das Paar fühle sich "zu sehr" von der Familien-Hebamme "kontrolliert." Die Mitarbeiterin des EMP habe sich
"sehr stark pro Klientin
geäußert" und mitgeteilt, sie kenne "viele substituierte Frauen, die gut mit
ihren Kindern leben würden." Sie traue dies der Mutter mit Unterstützung auch
zu, die Kontrolle solle aber nicht zu stark sein, um die Frau nicht unter Druck
zu setzen. Vor der Fallkonferenz in der Klinik Bremen-Nord vom 19. Februar 2004
hätten die Mitarbeiterin des EMP und der Vater sie, die Hebamme angesprochen und
sich darauf bezogen, sie, die Hebamme habe "die Gewalttätigkeit innerhalb der
Familie angesprochen. Beide teilen mir mit, es sei in der Vergangenheit niemals
zu Gewalttätigkeiten innerhalb der Beziehung gekommen. Das Paar würde sich durch
mich zu stark kontrolliert fühlen!" Über die Konferenz teilt die Hebamme u.a.
mit, einen weiteren Einsatz der Familien-Hebamme werde es "mit Billigung (der
EMP Mitarbeiterin und des Sachbearbeiters) nicht geben."
Zuletzt habe sie an der Fallbesprechung
vom 19. Februar 2004 teilnehmen dürfen. Man sei übereingekommen, die Mutter gehe
direkt von der Klinik in die Entgiftung. Das Kind soll in eine Pflegefamilie
kommen. Ihre offizielle Betreuung habe an diesem Tag geendet. "Für die Zeit nach
der Entgiftung und für das Zusammenleben des Paares mit ihrem Kind wurden von
(dem Sachbearbeiter) keinerlei Ideen eingebracht oder Auflagen gemacht. Er
verhielt sich während der gesamten Zusammenkunft sehr verhalten."
Im Verlauf des Klinikaufenthalts sei das
Paar noch mit dem Methadon vergebenden Arzt und einem Anwalt erschienen, da die
Klinik das Kind nur unter bestimmten Auflagen entlassen wollte. Dies habe sie
von der Mitarbeiterin des Sozialdienstes der Klinik Bremen-Nord erfahren, da sie
selbst zu Helferkonferenzen nicht mehr eingeladen worden sei.
Relativ schnell habe sie das Paar
zusammen mit ihrem Kind im Ostertor gesehen "schwankend, da sie offensichtlich
alkoholisiert waren".
Als sie bei einer Fallkonferenz in
anderer Sache den Sachbearbeiter getroffen habe, habe dieser sie auf die Mutter
von Kevin angesprochen und ihr versichert, "es würde alles gut laufen".
Zuletzt habe sie das Paar am 08. Juli
2005 auf einer Mauer vor dem Gesundheitsamt in der Horner Straße gesehen. Die
Eltern hätten versucht, dem Kind ein Gläschen zu füttern, was nicht gelungen
sei, weil beide offensichtlich so stark Drogen konsumiert hatten, dass sie den
Löffel nicht mehr halten konnten. Sie habe den Sachbearbeiter telefonisch über
diese Beobachtung informiert. Er habe ihr versprochen, nachdem sie ihn
ausdrücklich darum gebeten hatte, Kontakt zu dem Paar aufzunehmen. Der
Sachbearbeiter sei erstaunt darüber gewesen, dass die Mutter mit ihrem Partner
und dem Kind in Bremen weilt. Er sagte, eigentlich sollten sie mit ihrem Kind in
Heiligenhafen sein.
Nachdem sie am 30. November 2005 vom Tod
der Mutter erfahren habe, habe sie noch am gleichen Tag mit dem Gesundheitsamt
Kontakt aufgenommen. Sie habe erfahren, dass die Drogensucht in der Familie auch
nach der Geburt des Kindes eine zentrale Rolle spielte. Sie habe sehr
eindringlich gebeten, sich mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen, damit eine
sichere Unterbringung des Kindes gewährleistet wird.
Sie habe auch den Sachbearbeiter
angerufen. Auf ihre Nachfrage habe er "aggressiv" reagiert und gefragt, "was ich
für ein Interesse an dem Fall hätte". Sie habe geantwortet, dieser Fall bewege
sie emotional tief, da sie von Anfang an der Meinung gewesen sei, dieses Kind
könne nicht bei den eigenen Eltern leben.
Auf ihre Frage, wer die Familie betreut
habe, habe der Sachbearbeiter geantwortet, er hätte unregelmäßig Kontakt zu der
Familie gehabt. Das Kind sei jetzt bei den Eltern des Vaters in Hildesheim. Der
Vater wolle hinterher ziehen.
Der Sachbearbeiter habe "aufgebracht"
gesagt, er fühle sich durch die Nachfragen der Hebamme "verhört". Sie habe
starke Bedenken über den Aufenthaltsort des Kindes geäußert, da der Vater
diverse Jahre wegen Gewalttätigkeiten und Drogenmissbrauchs im Gefängnis
gesessen habe. Sie sei dem Sachbearbeiter "lästig" gewesen. Für ihn sei klar
gewesen, dass der Fall eigentlich abgeschlossen sei. Wo das Kind geblieben sei
und ob es diesem gut gehe, wisse sie nicht, da sie nie mehr von dem
Sachbearbeiter gehört habe.
Sie resümiert ihre Bemerken dahin, dass
sie das Verhalten des Sachbearbeiters "durchgehend als unengagiert und
konzeptlos erlebt" habe. "Er brachte sehr großes Verständnis für das Paar und
seine Drogensucht auf, wodurch das Kind aus dem Focus verschwand und dessen
Interessen sekundär wurden."
Unter Berücksichtigung der schon extrem
lange bestehenden Abhängigkeit hätte sie sich klare Aussagen bezüglich
regelmäßiger Kontrollen durch das Bremer Helfernetz mit klaren Auflagen durch
den Sozialarbeiter gewünscht.
Die von dem Sachbearbeiter geführte Akte
des Amtes enthält über die von der Hebamme geschilderten Telefongespräche mit
ihm keine Gesprächsvermerke.
Wie berichtet, hatte der Sachbearbeiter
im Juni 2006 erwogen, die Organisation PiB GmbH einzuschalten und eine
Patenschaft für Kevin zu organisieren. Dieses Vorhaben hat der Sachbearbeiter
auch in die Wege geleitet. Dies ergibt sich aus einer Notiz einer Mitarbeiterin
von PiB GmbH, die sie unter dem 28. Juni 2006 niedergelegt hat. Die Rede ist u.
a. von der Mitteilung des Sachbearbeiters, der Vater solle Auflagen vom Amt
erhalten "um Kind zu behalten." Als Ergebnis hält die Mitarbeiterin fest, sie
habe dem Sachbearbeiter erklärt, "dass Patenschaft nicht das richtige
Hilfsangebot ist. Richtet sich an andere Zielgruppe." Es gebe andere Hilfen. Sie
fragt nach den "Ressourcen in der Familie … und soll dieses System denn
stabilisiert werden?? Habe große Bedenken. (Der Sachbearbeiter) meldet sich in
der nächsten WOKO."223
Die Entscheidung, Kevin in der Obhut
seiner Eltern zu lassen, wurde unmittelbar nach seiner Geburt in mehreren
Konferenzen im Klinikum Bremen - Nord getroffen. An diesen Konferenzen waren
Ärzte und der Sozialdienst der Klinik, der Sachbearbeiter aus dem zuständigen
Jugendamt (Sozialzentrum Gröpelingen / Walle), zeitweise auch eine
Familien-Hebamme des Gesundheitsamtes sowie Personen beteiligt, welche die
Eltern im Zusammenhang mit deren Drogenabhängigkeit betreuten und (zeitweise)
ein Rechtsanwalt, der den Vater vertrat.
Die Klinik stand der Situation sehr
kritisch gegenüber. Die Familien-Hebamme sprach sich - auch wegen der von ihr
gesehenen Neigung des Vaters zur Gewalttätigkeit - gegen eine Überlassung des
Kindes an seine Eltern aus.
Der Vertreter von Ani Avati hielt die
Überlassung des Kindes an seine Eltern für vertretbar; er machte aber zugleich
eine engmaschige Begleitung durch die Familien-Hebamme, ambulante Hilfen,
Beratungsgespräche auch beim substituierenden Arzt, Urinkontrollen zur Kontrolle
des Beigebrauchs und weitere Hilfekonferenzen zur Voraussetzung.
Dagegen haben der substituierende Arzt
des Vaters sowie die Drogenbetreuerin der Mutter den Standpunkt vertreten, die
Eltern könnten ihr Kind versorgen und betreuen.
Der kraft seiner gesetzlichen Aufgaben
beteiligte Vertreter des Jugendamtes hat sich nicht gegen eine Überlassung des
Kindes an seine Eltern ausgesprochen.
Nach Auffassung der Klinik sollte dies
ein einmaliger Versuch sein, den Eltern die Betreuung des Kindes zu überlassen;
falls die Probleme weiter auffällig bzw. zunehmend seien, sollte das Kind von
der Betreuung der Eltern entfernt werden.
Kevin ist am 09. März 2004 aus der
Klinik entlassen worden. In der Folge hat das Jugendamt zunächst keinerlei
Aktivitäten entwickelt. Auf Hinweis des den Vater substituierenden Arztes vom
03. Mai 2004 bot das Jugendamt den Eltern Hilfe an; diese lehnten ab.
Erst nachdem Kevin wegen mehrfacher
Frakturen in die Professor-Hess-Kinderklinik eingewiesen worden war, begann das
Amt im Oktober 2004 mit der Planung von Unterstützungsmaßnahmen, deren
Finanzierung hat es sichergestellt (FiM-Projekt, Frühe Hilfen). Die konkrete
Hilfsmaßnahme setzte erstmals Anfang Dezember 2004 ein.
Von Anfang an wurde auf eine engmaschige
begleitende Kontrolle des Verhaltens der Eltern verzichtet. Regelmäßige
Hausbesuche hat es nicht gegeben. Angaben der Eltern bzw. des Vaters über ihren
Umgang mit dem Kind wurden nicht überprüft. Dadurch blieb dem Amt zum Beispiel
unbekannt, dass den Angaben des Vaters über den Umzug zu seiner Mutter
spätestens nach dem Weihnachtsfest 2005 der Boden entzogen war. Es ist keine
Kontrolle etabliert worden, durch die das Amt eine Gefährdung des Kindeswohls
rechtzeitig hätte erkennen können.
Das Jugendamt hat die ursprüngliche
Entscheidung über die Platzierung des Kindes bei seinen Eltern auch dann nicht
geändert, als dem Amt Gründe für die Annahme bekannt wurden, die Eltern bzw. der
Vater seien nicht in der Lage, das Kind angemessen zu behandeln und zu versorgen
und dass ein weiteres Verbleiben bei ihnen im Interesse des Kindeswohls nicht
vertretbar war.
Beispielhaft seien genannt:
der polizeiliche Notlagenbericht vom
03. August 2004,
die Feststellungen der
Professor-Hess-Kinderklinik über Kindesmisshandlung und diverse
Knochenbrüche,
der Hinweis des Kinderarztes der
Familie auf eine drastische Gewichtsabnahme des Kindes in einer Zeit, als
der Vater das Kind allein zu versorgen hatte,
der Hinweis der Mitarbeiterinnen des
Amtes, die nach einem Hausbesuch davon berichteten, das Kind habe
Verletzungen gehabt, die nach Angabe des Vaters von einem Blumentopf
herrührten,
der Vorfall vom 23. November 2004,
als Kevin mit seiner alkoholisierten Mutter im Treppenhaus gefunden wurde,
der Hinweis des Vaters darauf, die
Mutter gehe der Prostitution nach, um sich Drogen kaufen zu können und
vernachlässige deswegen das Kind,
der weitere Notlagenbericht der
Polizei vom 18. Juli 2005, in dem die chaotischen Verhältnisse in der
Wohnung und der Besorgnis erregende Zustand des Kindes geschildert werden,
die Bemühungen des
Hermann-Hildebrand-Hauses, das Kind nicht an die Eltern herausgeben zu
müssen,
Hinweise der Familien-Hebamme vom
Juli 2005 über ihre Begegnungen mit den Eltern vor dem Gesundheitsamt, im
Ostertor und nach dem Tod der Mutter im November 2005,
der Hinweis der Tagespflegemutter
auf Verletzungen des Kindes.
Das Amt hat seine Haltung auch dann
nicht korrigiert, als Kritik daran geübt wurde. Solche Kritik ist zum Teil in
barscher Weise abgetan worden.
Die Familien-Hebamme beschreibt die
Reaktion des Sachbearbeiters über deren Bericht über das Zusammentreffen mit den
Eltern und ihrem Kinde vor dem Gesundheitsamt als aggressiv abweisend und dem
Amte offenbar lästig.
Diese Reaktion kann dann nicht mehr als
Einzelerscheinung gewürdigt werden, wenn man ergänzend den Aktenvermerk sieht,
den der Sachbearbeiter anlässlich eines Telefonats mit dem Leiter des
Hildebrand-Hauses verfasst hat: Der Leiter hatte dringend gebeten, Kevin nicht
an den Vater herausgeben zu müssen. Er hatte Zweifel an der Kompetenz des Vaters
zur Pflege des Kindes geäußert. Dazu vermerkte das Amt die Frage, woher der
Leiter denn den Vater so gut kenne und fügte drei Fragezeichen hinzu.
Weder das Jugendamt noch der Amtsvormund
haben den Eltern bzw. dem Vater vermittelt, dass die Hilfen für das Kind für sie
verbindliche und einzuhaltende Verpflichtungen im Interesse des Kindes
begründeten. Auf ihnen bekannt werdende Verstöße gegen Verabredungen und das
Unterlaufen von Maßnahmen haben sie nicht angemessen reagiert. Den Eltern bzw.
dem Vater wurde nicht deutlich gemacht, dass derartiges Verhalten Konsequenzen
bis hin zu einer In-Obhutnahme des Kindes haben würde.
Hierher rechnen beispielhaft:
die Eltern versäumen Termine zu
ärztlichen Untersuchungen vor dem Einsatz der Frühen Hilfen im
Gesundheitsamt; bewilligte Hilfen nehmen sie nur für kurze Zeit in Anspruch,
der Vater holt Kevin am 28. November
2005 aus dem Hildebrand – Haus ab, reist aber entgegen der Absprache mit dem
Amt nicht sogleich zu seiner Mutter,
der Vater lehnt die
Tagespflegemutter mit einer abwegigen Begründung ab, wird aber nicht
veranlasst, entweder diese oder eine andere Tagespflegemutter im Interesse
des Kindes zu akzeptieren,
der Vater bringt das Kind nicht in
den Spielkreis.
Wünsche der Eltern bzw. des Vaters sind
auffallend stark berücksichtigt worden. Dies gilt für die Unterstützung,
die das Jugendamt den Eltern bzw. dem Vater nach den beiden
In-Obhutnahmen gegenüber dem Hildebrand-Haus gewährt hat, als diese
Kevin so schnell wie möglich wieder haben wollten. Gleiches gilt für die
Unterstützung der Eltern durch den Amtsvormund nach dem zweiten
Aufenthalt des Kindes im Hildebrand-Haus.
Schon im Klinikum Bremen-Nord entfällt
der Einsatz der Familien-Hebamme hauptsächlich deshalb, weil die Eltern sich
durch den Einsatz der Hebamme zu sehr kontrolliert fühlten. Gerade der Einsatz
der Familien-Hebamme wäre aber im Interesse des Kindeswohls angezeigt gewesen.
Auch der Amtsvormund hat diese Haltung
des Jugendamtes nicht korrigiert. Die Abwägung der Rechte und der Interessen des
Vaters mit dem Wohl des Kindes fiel auch bei ihm fast bis zuletzt zu Gunsten des
Vaters aus. Besonders zu erwähnen ist seine Erklärung, es sei der "KO" für den
Vater, wenn man ihm nach dem Tod seiner Partnerin und der vorhergehenden
Totgeburt auch noch Kevin wegnähme.
Im Übrigen hat der Amtsvormund nicht auf
die Prüfung der tatsächlichen Vaterschaft hingewirkt.
Strafanzeigen und Mitteilungen der
Polizei sowie Anfragen der Staatsanwaltschaft und des Familiengerichts wurden
hinhaltend bis nichts sagend beantwortet. Mitunter wurde der Sachverhalt
beschönigend dargestellt. Die Mitteilungen und Anfragen wurden nicht zum Anlass
genommen, um Näheres im Interesse der Aufgabenwahrnehmung des Jugendamtes in
Erfahrung zu bringen.
Auf die Entscheidungen und die Haltung
des Amtes hat der den Vater substituierende Arzt einen erheblichen Einfluss
ausgeübt.
Schon in den Gesprächen im Klinikum
Bremen-Nord machte er sich für die Interessen der Eltern stark.
Er wirkte gegenüber dem Jugendamt zu
Gunsten der Eltern mit, als diese am 25. November 2004 das Kind aus dem
Hildebrand-Haus herausholen wollten. Er attestierte bei dieser Gelegenheit der
Mutter ungeachtet ihrer Sucht die Fähigkeit zur Betreuung ihres Kindes und dem
Vater - sehr wahrscheinlich fälschlich - die Freiheit von Beigebrauch.
Überhaupt ist er so etwas wie ein
Mittelsmann zwischen dem Jugendamt und den Eltern. Er soll den Eltern Vorschläge
des Amtes zu Gunsten des Kindes nahe bringen und Anträge zu Gunsten des Kindes
stellen. Er erscheint im Amt mit den Eltern bzw. dem Vater; er scheint derjenige
zu sein, der das Kind viel öfter sieht als Vertreter des Amtes oder der Vormund.
Aus den Akten kann man den Eindruck gewinnen, der Arzt sei ein Mitarbeiter oder
Sachverständiger im Auftrag des Amtes.
Eine kritische Distanz des Amtes zu den
Auffassungen des Arztes ergibt sich aus den Akten nicht. Seine Einbindung hat
bewirkt, dass vornehmlich die Interessen der drogenabhängigen Eltern in den
Vordergrund gerückt worden sind. Dabei wäre für das Amt und den Vormund Anlass
gewesen, die Äußerungen des Arztes äußerst kritisch zu würdigen - spätestens
nachdem die Familienrichterin am 21. Februar 2006 dem Jugendamt gegenüber
Zweifel an der Zuverlässigkeit des Arztes hinsichtlich der Beigebrauchskontrolle
geäußert hatte.
Die Angaben, die der Vater bei seiner
Inhaftierung am 10. Oktober 2006 über die verschiedenen verordneten Medikamente
gemacht hat, erhärten diese Zweifel. Die Frage, ob die verordnete Kombination
von Medikamenten vereinbar ist mit den Richtlinien des Bundesausschusses der
Ärzte und Krankenkassen über die Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden gem. § 135 Abs. 1 SGB V ("BUB-Richtlinien") und den
Richtlinien der Ärztekammer Bremen zur Verschreibung psychotroper Medikamente an
drogenabhängige Patienten soll hier nicht weiter untersucht werden.
Im Ergebnis muss davon ausgegangen
werden, dass die Drogenkarriere des Vaters seit seiner Entlassung aus dem
Strafvollzug im Jahre 2002 trotz aller begleitenden Maßnahmen sich fortgesetzt
hat und das Amt die daraus entstehenden Risiken für das Kind weit unterschätzt
und sogar falsch eingeschätzt hat, weil es sich insoweit auf die Aussagen des
substituierenden Arztes verlassen hat.
Die durch die Nachfrage des
Bürgermeisters ausgelöste wiederholte Berichterstattung des Sozialzentrums an
die Leitung des Amtes für Soziale Dienste hat keine erkennbaren Auswirkungen auf
die konkrete Handhabung des Falles Kevin zur Folge gehabt.
Der Leiter des Amtes hat sich in seiner
eigenen Berichterstattung an die Senatorin auf die Feststellung beschränkt, der
Fall würde jetzt, nachdem am 01. Februar 2005 eine neue fachliche Weisung in
Kraft gesetzt worden sei, so nicht mehr behandelt. Zu diesem Ergebnis kam auch
die fachliche Stellungnahme zum Bericht der Innenprüfung. Der Leiter hat eine
neue Befassung der Fallkonferenz angeordnet. Eine auf den Inhalt der
Entscheidung bezogene Vorgabe hat er nach meinen Feststellungen nicht gegeben.
Ich lasse offen, ob die Berichte des
Sozialzentrums die Empfänger in die Lage versetzt haben, den Sachverhalt in
ganzer Tragweite zu erfassen. Sie stellen Erwägungen als konkrete Projekte und
Absichten als Ereignisse dar; sie sind nicht umfassend und vernachlässigen
relevante und negativ einzustufende Informationen. Sie erzeugen den Eindruck,
die Entwicklung stabilisiere sich und erlaube eine vorsichtig optimistische
Erwartung eines im Interesse des Kindes guten Endes. Es bestehe kein Anlass, das
Kind aus der Obhut des Vaters zu nehmen.
Ich habe in den mir vorliegenden
Unterlagen keinerlei Hinweise darauf gefunden, dass die Herausnahme des Kindes
aus seiner Familie aus Kostengründen unterblieben ist. Dies gilt auch für alle
Maßnahmen zur Förderung des Kindes in seiner Familie ebenso wie die beiden
In-Obhutnahmen im Hildebrand-Haus, die ohne Anstände vom Amt finanziert wurden.
Teilweise wurde sogar die Finanzierung
für die Verlängerung von Maßnahmen bereitgestellt, die noch gar nicht in
Anspruch genommen worden waren.
Bei Beachtung der in Teil 1
dargestellten Vorschriften für den Umgang mit Kindern substituierter bzw.
drogenabhängiger Eltern hätte der Tod von Kevin nach meiner Überzeugung
verhindert werden können.
Es gibt klare inhaltliche Vorgaben
für den Vorrang des Kindeswohls gegenüber anderen Interessen bei möglichen
Gefährdungen des Kindeswohls.
Es gibt klare inhaltliche Vorgaben
für den Umgang mit Kindern substituierter Eltern.
Es gibt klare Vorgaben für das
Verfahren des Sozialdienstes.
Es gab zahlreiche Hinweise
unterschiedlicher Stellen, dass zu mehreren Zeitpunkten seit der Geburt des
Kindes erhebliche Gefährdungslagen bestanden.
Es gab ausreichende Informationen
über die Vorgeschichte der Eltern und ihre konkrete Situation
(wirtschaftliche, gesundheitliche, psychische und familiäre Situation)
Es gibt ausreichende Kontroll-,
Reaktions- und Eingriffsmöglichkeiten bei Gefahren für das Kind.
Der festgestellte Sachverhalt ergibt
demgegenüber, dass weder die inhaltlichen Vorgaben hinreichend berücksichtigt
noch das vorgeschriebene Verfahren eingehalten worden ist. In der Folge sind die
Gefährdungslagen nicht erkannt oder falsch eingeschätzt worden und darauf
beruhend falsche Entscheidungen getroffen oder notwendige Entscheidungen nicht
getroffen worden.
Damit sich diese Ereignisse nicht
wiederholen, muss durch geeignete Maßnahmen (Informationen, Fortbildung und
Kontrolle) sichergestellt werden, dass in vergleichbaren Fällen folgende
Vorgaben beachtet werden:
Vorrang des Kindeswohls
Konkrete und verbindliche
Vereinbarungen (Kontrakte) über Hilfsmaßnahmen des Amtes und die Mitwirkung
der Betroffenen
Engmaschige Begleitung der
Betroffenen in der Durchführung
Überprüfung der jeweils als
Entscheidungsgrundlage herangezogenen Angaben des Betroffenen und anderer
Stellen
Kontrolle der vereinbarten Maßnahmen
Reaktion auf Nichteinhaltung
vereinbarter Maßnahmen
Es fällt auf, dass der Amtsvormund -
gemessen an seinen gesetzlichen Aufgaben – im gesamten Verlauf nur eine
untergeordnete Rolle spielt. Insbesondere findet seine Funktion, in absolut
erster Linie das Wohl des Kindes im Auge zu haben, in den festgestellten
Abläufen nicht das erforderliche Gewicht.
Es ist deshalb zu prüfen, ob die
Rollenverteilung zwischen Amtsvormund und Sachbearbeiter sachgerecht und zur
Wahrung des Kindeswohls im gesamten Verfahren hinreichend und mit richtiger
Gewichtung geregelt ist. Dabei ist auch die Frage zu stellen, ob die derzeitige
Fallbelastung - gemessen an der Aufgabe des Amtsvormunds - noch vertretbar ist.
Im Fall Kevin sind die grundsätzlichen
Vorgaben der bestehenden Regelungen zur Zusammenarbeit der beteiligten Stellen
nicht oder jedenfalls nicht durchgängig beachtet worden. Insbesondere betrifft
dies die gegenseitige Information, die Regelung der Verantwortlichkeiten und die
- notfalls auch parteiliche - Orientierung der Entscheidungen am Wohl des
Kindes.
In diesem Zusammenhang ist auch zu
klären, wie im Entscheidungsprozess die Beiträge von Beteiligten, die Interessen
anderer Betroffener vertreten, zu gewichten sind. Dies gilt nach den
Feststellungen zum Fall Kevin insbesondere für die Rolle des substituierenden
Arztes. Dazu sollte aber über die Frage des Umgangs mit Informationen und
Vorschlägen des Arztes hinaus geprüft werden, ob die gegenüber dem Methadon
vergebenden Ärzte bestehenden Qualitätssicherungs- und Kontrollmechanismen
ausreichend sind. Weiter stellt sich die Frage, ob die Substitutionsbehandlung
drogenkranker Mütter und Väter von Säuglingen und Kleinkindern bei
niedergelassenen Ärzten verantwortet werden kann. Ob eine zusätzliche besondere
Begleitung und Kontrolle ausreicht, oder ob es angezeigt ist, die Vergabe der
Substitutionspräparate in derart sensiblen Fällen einem System vorzubehalten,
das stärker staatlich kontrolliert wird, sollte von den zuständigen Stellen
geprüft werden.
Zu klären ist auch die Frage, ob der
Umgang mit Informationen durch andere Stellen (z.B. Kinderarzt, Polizei,
Pflegepersonen) und die Reaktion auf Mitteilungen solcher Stellen, die
Anhaltspunkte für eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls enthalten,
grundsätzlich verändert werden muss. Es ist zu prüfen, ob bei Anhaltspunkten für
das Vorliegen von Kindesmisshandlung Anzeigepflichten einzuführen sind.
Wünschenswert wäre die Benennung einer
zentralen Stelle im Amt für Soziale Dienste, die für die Entgegennahme und
Weiterleitung der von der Polizei erstatteten Krisenberichte zuständig ist. Für
die Polizei entfiele die oft schwierige und zeitraubende Suche nach der im Amt
für Soziale Dienste zuständigen Stelle. Das Amt für Soziale Dienste sollte der
Polizei zurückmelden, was auf einen Krisenbericht hin veranlasst worden ist. Auf
diese Weise würden der Polizei - auch mit Blick auf mögliche spätere Einsätze -
zusätzliche wertvolle Informationen über den Fall gegeben.
In geeigneten Fällen sollte die Polizei
an den vom Amt für Soziale Dienste durchgeführten Fallkonferenzen teilnehmen.
Auf diese Weise könnte sichergestellt werden, dass alle Beteiligten über den
gleichen Informationsstand verfügen.
Im Fall Kevin fällt auf, dass es ganz
offensichtlich eine in der Sache erfolgende Kontrolle der Fallbehandlung weder
in der vorgesehenen kollegialen Form noch durch Vorgesetzte gegeben hat. Auch
die gemessen am Regelbetrieb einer Behörde eher seltene Form der Aufsicht - die
unmittelbar von der Senatorin ausgelöste Berichtsbitte der Amtsleitung - hat im
Ergebnis keine Veränderung in der konkreten Fallbehandlung bewirkt. Es ist zwar
mehrfach berichtet worden, die Berichte geben aber die tatsächliche Situation
zum jeweiligen Berichtszeitraum nicht zutreffend wieder.
Zu prüfen ist deshalb, ob das bestehende
Konferenz- und Aufsichtssystem unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle
ergänzungsbedürftig ist.
Quellenverzeichnis
1 Vgl. § 1 Abs. 1 Satz 3 des
Bremischen Ausführungsgesetzes zum Kinder- und Jugendhilfegesetz 2 Vorblatt zum Geschäftsverteilungsplan SDJM, Stand
1. Juni 2002 3 Amt für Soziale Dienste, Geschäftsverteilungsplan –
Teil A, Stand 06/2002 4 BGBl. 2005 I S. 2729 5 Schreiben Ani Avati vom 23.02.2004, Bl. 4
6 Bl.1 7 vgl. Schreiben des Sachbearbeiters an den Vater vom
4.5.2005, Bl. 9 8 Bl.4, Bericht von Ani Avati
9 Bl.42
10 Bl.2
11 Bl.3
12 Bl.6
13 Bl.4/5
14 Bl.7
15 Bl.8
16 Bl.10 17 Hervorhebung im Original
18 Bl.11
19 Bl.12
20 Bl.13
21 Bl.15 ff. 22 Gemeint ist: wiederkehrenden
23 Bl.17
24 Bl.19
25 Bl.19
26 Bl.21
27 Bl.22
28 Bl.23
29 Bl.24
30 Bl.24
31 Bl.25
32 Bl.30-34 33 Bl.34 a.E. 34 Das bedeutet, sie sind nach Auffassung der
Klinik durch stumpfe Gewalteinwirkung entstanden. 35 Darin liegt ein Hinweis darauf, dass das Kind
Kevin längere Zeit überwiegend auf dem Rücken gelegen haben muss.
36 Bl.25
37 Bl.25
38 Bl.28
39 Bl.27
40 Bl.29
41 Bl.38
42 Bl.78
43 Bl.50
44 Bl.35
45 Bl.40
46 Bl.42
47 Bl.43
48 Bl.39
49 Bl.48
50 Bl.52 ff.
51 Bl.58
52 Bl.60 53 Sozialpädagogische Familienhilfe
54 Bl.62
55 Bl.67
56 Bl.64 ff.
57 Bl.65
58 Bl.71
59 Bl.69
60 Bl.74
61 Bl.75
62 Bl.73
63 Bl.78
64 Bl.79
65 Bl.78
66 Bl.77
67 Bl.80
68 Bl.81
69 Bl.83
70 Bl.87
71 Bl.95
72 Bl.144
73 Bl.100
74 Bl.101
75 Bl.102
76 Bl.82
77 Bl.83
78 Bl.84 79 Unterstreichung im Original
80 Bl.89
81 Bl.90
82 Bl.92
83 Bl.94
84 Bl.97
85 Bl.98
86 Bl.99
87 Bl.100
88 Bl.102
89 Bl.105
90 Bl.115
91 Bl.112
92 Bl.116
93 Bl.109
94 Bl.110
95 Bl.118
96 Bl.115
97 Bl.122 ff. 98 Im November 2004 war Kevin nach dem Vorfall vom
23. November im Treppenhaus zum ersten Mal im Hildebrand – Haus
aufgenommen worden.
99 Bl.120
100 Bl.128 101 Unterstreichung im Original 102 Unterstreichung im Original
103 Bl.132
104 Bl.133
105 Bl.134
106 Bl.136
107 Bl.134
108 Bl.135
109 Bl.137
110 Bl.138
111 Bl.140,141,142
112 Bl.145
113 Bl.143
114 Bl.143
115 Bl.146
116 Bl.152
117 Bl.154
118 Bl.153
119 Bl.153
120 Bl.153 121 Wie berichtet, war der Vater am 14. Juni 2005
vom Amtsgericht Bremen zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung
verurteilt worden
122 Bl.155
123 Bl.158
124 Bl.180
125 Bl.171
126 Bl.158
127 Bl.157
128 Bl.158
129 Bl.157
130 Bl.160 131 Kürzel für Sozialpädagogische Familienhilfe
132 Hervorhebung im Original
133 Bl.161
134 Bl.168 135 Bl.169. Hinweis: Die Blattierung der Akte
endet mit Blatt 168. Ab jetzt beziehen sich die Blatt-Angaben
auf eine eigene Paginierung der mir vorgelegten Akte.
136 Bl.171
137 Bl.182
138 Bl.179
139 Bl.183 ff.
140 Bl.184
141 Bl.187 142 Hervorhebung im Original
143 Bl.193
144 Bl.194
145 Bl.199
146 Bl.195
147 Bl.200
148 Bl.205
149 Bl.201
150 Bl.205
151 Bl.202
152 Bl.204
153 Bl.206
154 Bl.207
155 Bl.208
156 Bl.210
157 Bl.213
158 Bl.212
159 Bl.213 160 Abkürzung für Pflegekinder in Bremen GmbH
161 Bl.23
162 Bl.92
163 Bl.216
164 Bl.219
165 Bl.217
166 Bl.217
167 Bl.218
168 Bl.219
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170 Bl.221
171 Bl.1 -39
172 Bl.20
173 Bl.40
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175 Bl.42
176 Bl.43
177 Bl.44
178 Bl.45
179 Bl.46
180 Bl.49
181 Bl.51
182 Bl.52 183 Hervorhebung im Original
184 Bl.53
185 Bl.54
186 Bl.55
187 Bl.57
188 Bl.58
189 Bl.58
190 Bl.60
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198 B.67 199 Hervorhebung im Original
200 Bl.68
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210 Bl.89, 90
211 Bl.91
212 Bl.93
213 Bl.27, 28
214 Bl.30
215 Bl.31
216 Bl.30
217 Bl.29
218 Bl.33
219 Bl.30 220 Akte Amtsgericht Bremen 44 VII 70/05
221 Bl.83 222 Hierbei handelt es sich um ein
spezialisiertes Angebot im Drogenhilfesystem in Bremen, das sich
in erster Linie an "Altfixer" und "Frauen" richtet, die noch
keinen niedergelassenen Arzt gefunden haben; es handelt sich um
eine Gruppe, die mit den Anforderungen einer niedergelassenen
Arztpraxis große Schwierigkeiten haben. Nach einem mir zur
Verfügung gestellten "Leitfaden für substitutionsbegleitende
Hilfen in Bremen"
223 Abkürzung für Wochenkonferenz