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Neoliberalismus

Inhalt


Die Volksbewegung kann den Neoliberalismus überwinden

Das Beispiel Bolivien

Von Osvaldo Calle Quinonez

Vor zehn Jahren war Bolivien ein Modell jener Länder, die die neoliberalen Reformen angewendet hatten. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit, die Schwäche des Staates und die Bedingungen der Straffreiheit für die Handlungen der Transnationalen Unternehmen resultierten aus der Umsetzung des neoliberalen Modells und führten schließlich dazu, dass das Volk einen Systemwechsel erzwang. Heute kann Bolivien als Modell dafür betrachtet werden, wie der Kampf des Volkes den Schaden, der durch die neoliberalen Reformen angerichtet wurde, wieder rückgängig machen kann.

Der wilde Kapitalismus

Im Zentrum Südamerikas gelegen ist Bolivien ein Land mit einer Vielzahl natürlicher Ressourcen. Aber sein Volk ist arm. »Bolivien stirbt uns«, sagte 1985 der ehemalige Präsident Víctor Paz Estenssoro. Zu dieser Zeit litt das Land unter den Auswirkungen der Auslandsverschuldung. Die angewandte Schocktherapie stabilisierte zwar die Wirtschaft, hatte aber erhebliche soziale Kosten. Um den »Tod« Boliviens zu verhindern, begann der rechtsgerichtete Politiker Paz Estenssoro mit Unterstützung des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Jeffrey Sachs eine Reihe von Reformen, die die staatlichen Unternehmen und die öffentlichen Dienste privatisierten, den Handel liberalisierten und die Beteiligung des Staates an der Wirtschaft verminderten.

In diesem Kontext flüchtete Bolivien in den so genannten Baker-Plan, der in der Anwendung eines Programms neoliberaler Reformen bestand: Er bewirkte einen Anstieg der Auslandsschulden, um die wirtschaftlichen Anstrengungen des Landes zu finanzieren, und der kontinuierlichen Kontrolle durch den Internationalen Währungsfonds (IWF). Da dies nicht funktionierte, gingen sie zum Brady-Plan über, der den Rückkauf der Schulden gestattete, unter der Bedingung neoliberale Reformen anzuwenden, die durch den IWF gestützt wurden.

Der Neoliberalismus profitierte von der Entwicklung in Bolivien, verschlimmerte aber die Lage des Landes. Wie in fast ganz Lateinamerika ruinierte die Öffnung des Handels die Realwirtschaft, indem sie sich auf die Produktion, die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit auswirkte. Ebenso wie die anderen Rohstoff exportierenden Länder hatte Bolivien Schwierigkeiten, fertige Güter zu exportieren. Paradoxerweise sprachen in Bolivien die Anhänger des Neoliberalismus von der Alternative »exportieren oder sterben«. Auf finanziellem Gebiet provozierten kurzfristige Geldanlagen einen Prozess der Spekulation und damit eine Bankenkrise, für die der Staat viel Geld aufbringen musste. Im sozialen Bereich ging die Möglichkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, zurück und verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig wurden die öffentlichen Dienste wie Bildung, Gesundheit, Wohnen verschlechtert und wandelten sich später zu einem lukrativen Geschäft für Privatunternehmen.

Trotz dieser Ergebnisse vertiefte die neue Regierung unter der Führung von Gonzalo Sánchez de Lozada, einem Präsidenten, der besser englisch als spanisch sprach, die neoliberalen Reformen. Diese Regierung »verkapitalisierte« die wichtigsten staatlichen Unternehmen, unter ihnen die staatliche Ölgesellschaft YPFB, und führte ein neues Rentensystem ein. Das alles, um das Wirtschaftswachstum anzustoßen und das chronische Staatsdefizit zu beenden.

Die so genannte Kapitalisierung der staatlichen Unternehmen bedeutete letztlich nichts anderes als einen Prozess der Privatisierung, durch den die Investoren neben der Kontrolle über ihre vermeintlich eingebrachten Geldmittel auch die Kontrolle über die Unternehmen bekamen. Gemäß der Charakteristik des Modells stellten die direkten Investitionen aus dem Ausland das Wundermittel für die Lösung der Probleme des Landes dar.

Mit der Privatisierung wurden die in Bolivien erzielten Überschüsse nun von den Transnationalen kontrolliert. Ende 2001 gab ein Funktionär der Ölgesellschaft Repsol bekannt, dass jeder in Bolivien investierte Dollar 10 Dollar einbrächte. Zu dieser Zeit fragte die Regierung bei der Verabschiedung von neuen Gesetzen nicht nach der Meinung der Bevölkerung, sondern nach der der Transnationalen.

Auf dem Höhepunkt des neoliberalen Umbaus waren die Indikatoren der Makroökonomie sehr gut. Aber die Menschen werden von Makroökonomie nicht satt. Bald zeigten sich die Auswirkungen der Reformen auch in den Geldbeuteln der Menschen, die gezwungen waren, Dollar-indexierte Tarife zu bezahlen, obwohl die Landeswährung (Bolivianos) und damit die Löhne ständig abgewertet wurden, um die Wirtschaft wettbewerbsfähig zu machen.

Ein dramatischer Rückgang des Staatseinkommens war eine weitere Konsequenz des Neoliberalismus und mit ihm ein drastischer Anstieg der öffentlichen Verschuldung. Zu dieser Zeit verschuldete sich Bolivien, um die Unternehmen zu privatisieren. Mit geringeren Einkommen vertiefte sich die Anhängigkeit Boliviens so weit, dass die Regierung, die die Privatisierung vorantrieb, nun von einem »dramatisch armen« Land sprach. Bolivien, das zu Beginn der neoliberalen Reformen 3,2 Milliarden Dollar Schulden hatte, war Ende 2003 mit 5,1 Milliarden Dollar verschuldet, obwohl es von sukzessiven Programmen der Neuverhandlung der Schulden und schließlich von Schuldenerlassen, die die Wirtschaft in Gang bringen sollten, profitiert hatte.

Diese Schuldenerlasse wurden zuerst von der Weltbank vorgeschlagen und später von mehreren G 8-Treffen unterstützt. Die G 8 forderten als Gegenleistung die strikte Einhaltung der Vorschläge des Internationalen Währungsfonds. Dieser brachte unter dem Deckmantel von Programmen gegen die Armut eine Vertiefung der Abhängigkeit und neue Vorteile für die Transnationalen in Bolivien.

 

Die Macht des Volkes

»Ein Übel dauert niemals 100 Jahre, weil das ein Körper nicht ertragen kann«, sagt ein bolivianisches Volkslied. Anfang 2000 provozierte die Verteuerung der Wasserversorgung einen Volksaufstand, der darin endete, dass der transnationale Konzern Bechtel das Land verlassen musste. Gleichzeitig fand ein Aufstand von Aymara-Bauern statt, die das Ende der Diskriminierung der indigenen Völker, 60% der Bevölkerung Boliviens, und die Neuerschaffung des Staates forderten.

Nach den Richtlinien des IWF versuchte die Regierung Sánchez de Lozada - der beste Mitspieler im Neoliberalismus, der zum zweiten Mal an der Regierung war -, Steuern auf die Löhne zu erheben, um Mittel für den Ausgleich des Staatsdefizits zu bekommen.

Das Ergebnis war ein Aufstand der Polizei, gefolgt von einem Volksaufstand, die beide durch die Regierung unterdrückt wurden und 33 Todesopfer forderten. Während des Aufstandes und der Rebellion zwangen Angestellte des IWF die Regierung zur Anwendung des »impuestazo« (schlagartige Steuerreform).

Der Prozess der gesellschaftlichen Mobilisierung nahm seine endgültige Gestalt an, als die Ölgesellschaften den Export des bolivianischen Erdgases in die Vereinigten Staaten über chilenische Häfen durchsetzen wollten. Dank der Bedingungen der Transnationalen hätten damit von der zweitgrößten Erdgasreserve in Südamerika nur sie, nicht aber die Bolivianer profitiert.

Aus diesem Grund bildete sich auf der Aymara-Hochebene und in El Alto eine mächtige Volksbewegung, zuerst, um das Gas zu verteidigen, dann, um ein Referendum in dieser Frage durchzuführen. Die Proteste wurden mit Gewalt niedergeschlagen, was 60 Tote zur Folge hatte. Aber weit davon entfernt, sich dadurch zu beruhigen, radikalisierte sich die Mobilisierung und erzwang die Flucht von Sánchez de Lozada. Gegen ihn hat der Oberste Gerichtshof inzwischen einen Prozess eingeleitet. Allerdings kommt das Gericht nicht weiter, da die Bush-Administration Maßnahmen ergreift, um den Beginn des Prozesses gegen den ehemaligen Präsidenten zu verhindern.

Der Volksaufstand vom Oktober stieß die so genannte Oktoberagenda an, deren Ziel es war, die Bolivianer selbst zu befragen, wie ihre Rohstoffe verwendet werden sollten. Außerdem sollten die Bolivianer in einem Referendum über ein neues Kohlenwasserstoffgesetz [gemeint sind die Erdgas- und Erdölvorkommen] abstimmen, um die schamlose Ausnutzung der transnationalen Ölgesellschaften auszuschließen. Weiterhin sollte eine konstituierende Versammlung ins Leben gerufen werden, um die Verfassung den Gegebenheiten der bolivianischen Realität anzupassen.

Der Nachfolger von Sánchez de Lozada, Carlos Mesa, wurde als letzte Bremse angesehen, um das aufzuhalten, was als Ende des Neoliberalismus in Bolivien erschien. Seine Wortgewandtheit und Popularität, die er durch seine Tätigkeit als Fernsehmoderator gewonnen hatte, trugen dazu bei, dass er in der Bevölkerung eine Akzeptanz von fast 80% erreichte. Außerdem setzte die Weltbank auf seinen Einfluss, um den Neoliberalismus in Bolivien beizubehalten. Das Modell stützte sich auf die Annahme, dass die Wirtschaft Boliviens nur dann wettbewerbsfähig sei, wenn Gas exportiert wird, und zwar zu den von den Transnationalen definierten Bedingungen, und wenn weitere neoliberale Reformen angewendet werden.

Aber nach dem Oktober 2003 konnte man sich in Bolivien keine Regierung mehr vorstellen, die die Meinung der sozialen Sektoren nicht einbezieht. Mesa manipulierte jedoch das Referendum derart, dass es für die Ölgesellschaften günstig war (die Fragen wurden von Beratern der transnationalen Ölgesellschaften entwickelt und bezahlt). Er setzte auch durch, dass das Parlament die Artikel des neuen Gesetzes über das Öl zurücknehmen musste, die den Interessen der Ölgesellschaften entgegenstanden. Aus diesem Grund zwang eine neue Volksbewegung, die wieder in El Alto ihren Ausgang nahm, Mesa zurückzutreten. Die Protestierenden forderten auch die Ausweisung der transnationalen Firma Suez, die die Trinkwasserversorgung innehatte, sowie die Verstaatlichung der Kohlenwasserstoffe. Mesa wich einer Übergangsregierung.

»Bis jetzt haben wir zwei neoliberale Regierungen gestürzt, Gonzalo Sánchez de Lozada und dann seinen Nachfolger Carlos Mesa. Der dritte wird nicht Rodríguez Veltzé sein, da er in fünf Monaten nichts machen kann, aber der nächste Neoliberale, der kommt, wird auch hinausgeworfen werden«, sagte Felipe Quispe, einer der wichtigsten Anführer der bolivianischen Landwirte.

In den Wahlen vom Dezember 2005 hatte die Rechte auf Jorge Quiroga, den »verwöhnten Jungen« der US-amerikanischen Regierung, gesetzt, und einen Sieg des Kokabauern Evo Morales mit geringem Vorsprung vorhergesagt. Dies hätte ein Bündnis aller rechten Parteien erlaubt, das Qui-roga den Weg bereitet hätte, wieder Präsident zu werden. Aber Quiroga wurde mit Pauken und Trompeten besiegt. Mit 54% der Stimmen wurde Morales am 18. Januar 2006 als erster indigener Präsident in der Geschichte Boliviens in sein Amt eingesetzt.

Morales' Regierungsübernahme löste bei den Unternehmen große Besorgnis aus. Die Ölgesellschaften, die es gewöhnt waren, Probleme mit Telefonaten zu lösen, standen neuen Umgangsformen gegenüber. Dies betraf auch das Unternehmen Repsol, das endlich genötigt wurde, die Wahrheit über seine Reserven zu sagen - und die Wahrheit bestand darin, dass diese nicht ihr, sondern Bolivien gehörten. Damit musste sie nun einen Verlust von 25% verkünden, was einen Fall der Aktien um 10% bewirkte und für die Ölgesellschaft einen Verlust von mehr als 2.000 Millionen Dollar bedeutete.

Die transnationalen Ölgesellschaften, die noch bis vor kurzem daran gewöhnt waren, ungestraft in Komplizenschaft mit den Regierungsbehörden zu handeln, sahen sich jetzt vor Gericht gestellt, da sie sich für eine Serie von Anzeigen wegen Unregelmäßigkeiten, insbesondere Erdölschmuggel, zu verantworten hatten.

Es gab Zeichen der Veränderung in der Regierungsweise, aber den sozialen Bewegungen reichte das nicht aus. 80% der Bevölkerung verlangte die Verstaatlichung der Kohlenwasserstoffe. Diese Entscheidung basierte auf der Tatsache, dass alle Ölgesellschaften in Bolivien mit Verträgen operierten, die vom Kongress nicht gebilligt und damit null und nichtig waren. Morales, der im Rahmen des EU-Lateinamerikagipfels 2006 in Wien zugab, dass es in Bolivien unter den aktuellen Umständen nur möglich ist zu regieren, indem man gehorcht, musste nach einer Form suchen, dem Auftrag des Volkes nachzukommen und die Kontrolle über die Rohstoffe wiederzuerlangen.

Am 1. Mai verkündete Morales - der sich bis 2003 noch gegen den Vorschlag gestellt hatte - das Dekret der Verstaatlichung der Kohlenwasserstoffe. Große Plakate mit der Aufschrift »Verstaatlicht« wurden auf die Gebiete der Ölgesellschaften gestellt. Dies glich einer Show, die fast alle Bolivianer enthusiastisch stimmte und seinen politischen Gegnern jegliche Argumente nahm. Ein Schritt, der der Verstaatlichung voranging, war die Weigerung, neue Abkommen mit dem IWF zu unterzeichnen. Diese Institution hätte die Verstaatlichung nicht akzeptiert; und zwar mit dem Argument, dass die juristische Sicherheit der Investoren davon betroffen ist. Bolivien brauchte Freiheit, um über seine eigene Zukunft zu entscheiden.

Die verkündete Verstaatlichung der Kohlenwasserstoffe beeinflusst nur die Firmen, die ursprünglich ein Teil der staatlichen Ölgesellschaft YPFB waren. Nach dem Dekret der Verstaatlichung handelte Morales die Preise für den Verkauf von bolivianischem Erdgas an Argentinien neu aus und erreichte damit eine Zunahme der Staatseinnahmen. Nach der Verstaatlichung war Morales nach Umfragen mit 80% der beliebteste Präsident Amerikas.

Evo Morales, Anführer der Kokabauern von Cochabamba, hatte keine Erfahrung in Staatsführung. Er selbst besitzt keine professionelle Ausbildung, aber anders als die Technokraten weiß er, dass in Bolivien die sozialen Bewegungen so viel Macht haben, dass es nicht mehr möglich ist, ohne sie zu regieren.

In diesem Prozess haben sich die Mechanismen der gesellschaftlichen Kontrolle noch nicht perfektioniert. Beamte, die der alten Logik des Neoliberalismus anhängen, sind noch in ihren Ämtern. Und die transnationalen Ölgesellschaften initiierten eine Art Boykott, um die aufdiktierte Verstaatlichung rückgängig zu machen. Die Reformen der Reformen, die in Bolivien durchgeführt werden, lösten bei Grundbesitzern und Transnationalen Besorgnis aus. Daher unterstützten sie Bewegungen, die sogar die Möglichkeit in Betracht zogen, Bolivien zu spalten und aufzulösen. Bolivien steht unter Druck, über die Vereinbarung einer Freihandelszone in Amerika (ALCA) zu verhandeln. Allerdings gelang es Bolivien, eine konstituierende Versammlung einzurichten, die die Vollmacht hat, eine neue Verfassung abzufassen, die seinen realen Verhältnissen entspricht.

Der bolivianische Fall hat sich somit von einem Modell der Umsetzung des Neoliberalismus zu einem Modell dafür gewandelt, wie Entscheidungen und Mobilisierungen des Volkes die Politik von Regierungen ändern können, die bislang zugunsten der transnationalen Unternehmen gehandelt haben. Er zeigt: Es ist möglich, eine andere Welt aufzubauen.

Aus dem Spanischen von Lucia Schnell

Inhaltsverzeichnis


Für den antiimperialistischen Kampf der Völker

Von Hugo Chávez

Guten Abend allerseits. Willkommen in Caracas, in dieser Stadt, die ihre Geschichte hat wie alle Städte. Caracas war in den vergangenen Jahrhunderten ein Ort von vielfach erschütternden, manchmal auch kleinen oder großen Ereignissen, die die Befreiungskämpfe der Völker geprägt haben. Caracas! Hier wurde Simon Bolivar (1) geboren, und hier liegt die Asche dieses großen Mannes, der sich wie Christus eines Tages bewusst wurde, dass er in seinem Leben die Verwirklichung seines Traumes, seiner Utopie weder sehen, noch hören, noch fühlen können würde. Bolivar, der kurz vor seinem Tod 1830 sagte: »Der große Tag von Südamerika ist noch nicht gekommen.«

In den 1960er Jahren dann entfesselten sich voll Energie Unabhängigkeitsbewegungen, revolutionäre Bewegungen in Afrika und in Asien, die große Wirkung in der ganzen Welt hatten. Jetzt kommt das 21. Jahrhundert, nein, es kommt nicht, es ist schon gekommen. Ich schlage vor, dass wir Kraft aus den Jahrhunderten ziehen. (...) Ich glaube, dass es möglich ist, und jeden Tag spüre ich es stärker. Im Jahr 2005 passierten viele Dinge, aber es endete zum Beispiel hier in Lateinamerika damit, dass Mister Danger (2) sich am 4. und 5. November nach Mar del Plata (3) begab. Er hatte sein Fest vorbereitet, mit Druck und Erpressungen, dem schmutzigem Krieg der Weltmacht. Es gab in den letzten Jahrhunderten keine perversere Weltmacht als diese. Zynisch - es ist ein zynisches Imperium: Mister Danger redet von Menschenrechten, und dort in Guantánamo foltern sie und lassen Menschen in geheimen Gefängnissen der CIA verschwinden. Seht, wie eine zynische Regierung sagt, dass sie gegen den Terrorismus kämpft und dort mit Posada Carriles und Orlando Bosch (4) zwei der größten Terroristen der Geschichte der Welt schützt, die hier Polizeichefs waren, hier getötet und gefoltert haben und dort beschützt werden.

Ich erwähnte das Jahr 2005, damit wir, die wir betonen, dass eine andere Welt möglich ist, sehen, wo wir stehen. Jeden Tag gibt es mehr Gründe, optimistisch zu sein und verstärkt für die Ausbreitung der sozialen Bewegungen zu arbeiten. Gründe dafür, die Arbeit für eine große internationale antiimperialistische Front wieder aufzunehmen. Es ist nötig, den Kampf in der ganzen Welt zu führen.

Ich sagte Euch, dass gegen Ende des Jahres 2005 Mister Danger sich nach Mar del Plata begab mit seinem ganzen Tross. Er dachte, alles sei haarklein kalkuliert. Aber der Schuss ging in den Ofen, weil trotz all des Drucks, den sie ausübten, das ALCA, (5) die amerikanische Freihandelszone in Mar del Plata begraben wurde.

Zu dieser Niederlage des ALCA kam hinzu, dass sie es in Mar del Plata trotz sieben Stunden Debatte nicht schafften, eine gegenseitige Verpflichtungserklärung zur Wiederaufnahme der Diskussion zu unterschreiben. Es war eine Debatte, bei der wir uns standhaft dem Druck verweigerten: Kirchner, Lula, Tabaré, Nicanor Duarte und dieser Diener, d.h. der Mercosur und Venezuela. (6) Stattdessen schreiten wir einer neuen Qualität der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Integration in Lateinamerika und der Karibik entgegen. ALBA, das heißt die bolivarianische Alternative für Amerika, ist zwischen Kuba und Venezuela schon Realität. Einer der verschiedenen Schritte, die wir in Richtung wahre Integration gehen, nicht bloß auf dem Papier, ist eine Gaspipeline, eine Megagaspipeline, um die Entwicklung und den Energieantrieb Südamerikas zu befördern. Venezuela hat eine der größten Gasreserven der Welt und ist das Land mit den größten Erdölvorkommen der Welt. Das ist der entscheidende Grund für die Verzweiflung von Mister Danger. Sie wollen das venezolanische Erdöl und Gas. Sie hatten es hundert Jahre lang, wir haben es uns wiederangeeignet und jetzt dient es der Entwicklung unseres Volkes und den ärmsten Völkern dieses Kontinents. Venezuela wird nie mehr eine Kolonie der Vereinigten Staaten von Nordamerika sein, nie mehr!

Verschiedene Bewegungen erwachen in den Vereinigten Staaten. Wir sollten uns an die Tragödie des Hurrikans Katrina erinnern; an das ganze Entsetzen, das im Anblick einer Regierung erwachte, die Millionen von Bürgern ihrem Schicksal überließ, vor allem die Armen, die Schwarzen, die Latinos, alle! Es lebe das Volk der Vereinigten Staaten! Auf Euch zählen wir, Genossen. Schon Karl Marx sagte: Wir können die Völker der Welt retten. Und unter diesen Völkern zählen wir auf das Volk der USA. Wir hoffen auf den Aufstand des Volkes der USA, vereint mit den Völkern der Karibik und Lateinamerikas, den Völkern Asiens, Afrikas und Europas.

Am Anfang des Jahres 2006, am Anfang des 21. Jahrhunderts und auf diesem glanzvollen Forum, das Caracas mit Magie, mit unbeschreiblicher Schönheit, Leidenschaft der Jugend und verschiedenster Strömungen dieser Welt erfüllt hat, gibt es viele Gründe optimistisch zu sein.

Die Bedeutung dieses Forums, das in der Hitze der Kämpfe von Seattle und Cancún gegen die Welthandelsorganisation (WTO), gegen ALCA und die neoliberale Globalisierung geboren wurde, ist heute gewachsen und wächst weiter. Wie schmerzhaft wäre es, wenn wir jetzt nach fünf, sechs Jahren eine Bilanz ziehen und zu dem Schluss kommen würden, dass wir uns auf dem Rückzug befinden. Nein, eine Bilanz dieser letzten Jahre, der aktuelle Triumph des bolivianischen Volkes, die Ereignisse in Afrika und der Erfolg dieses Forums müssen uns zu folgendem Schluss führen: Wir, die wir für eine bessere und andere Welt kämpfen, wir, die wir die Fahnen der Revolution erheben, wir befinden uns in der Offensive. Sie, die die Ungerechtigkeit und die Ungleichheit verteidigen, sind diejenigen, die sich auf dem Rückzug befinden.

Es ist nun an uns, ein Rezept der Einheit zu gestalten, der Offensive, des Sieges. Es wird ein weiter Weg sein, aber ich glaube, dass es genug Elemente gibt, um mit der passenden Strategie für die nächsten Jahre die Einheit unserer Völker, aller Strömungen der Indigenen, Arbeiter, Bauern, Intellektuellen, Angestellten, Frauen, Studierenden, aller Umweltschützer, aller, die wir für die Gleichberechtigung kämpfen, für die Werte des menschlichen Wesens, für die wahren Menschenrechte, für Gerechtigkeit und Würde zu schaffen. Wir müssen uns vereinen und uns in einer siegreichen Offensive gegen den Imperialismus zu Wort melden.

Hier in Venezuela treiben wir ein bisher unabgeschlossenes Experiment voran, das einen Beitrag zum Anliegen aller sozialen, die Gesellschaft verändernden Bewegungen in Richtung neue, andere, mögliche, notwendige Welt geleistet hat: Die Bolivarianische Revolution.

Heute haben wir den Abschluss von Mitbürgern des Pilotprojektes Mission Robinson II gefeiert und an eine Gruppe von Venezolanern den Schulabschluss der 6. Klasse vergeben, die vor zwei Jahren weder lesen noch schreiben konnten. Ich sage das, um eine der vielen Erfahrungen der Bolivarianischen Revolution in der Bildung, der Gesundheit sowie im Kampf gegen die Armut zu nennen. Das Wirtschaftsmodell des 20. Jahrhunderts muss überwunden werden, denn im 21. Jahrhundert bedarf es eines Wirtschaftsmodells, das Antrieb für eine neue Gesellschaft von Gleichberechtigten gibt, wo es keine Ausgeschlossenen gibt. Wir brauchen ein neues politisches Modell: die revolutionäre Demokratie, aufbauend auf einer partizipativen Demokratie, in der das Volk der Protagonist, der Haupthandelnde in der politischen Arena ist und nicht eine Elite, die »das Volk« repräsentiert: Die repräsentative Demokratie endet immer in einer Demokratie der Eliten und damit in einer falschen Demokratie.

Deshalb mussten wir die ganzen Jahre lang mehreren Angriffen des Imperialismus widerstehen. Ihr wisst, dass der Imperialismus in den so genannten Flitterwochen zunächst anfängt, Brücken zu schlagen: Der Imperialismus, die mit der Weltmacht verbundene kreolische Oligarchie (7) schlägt zunächst Brücken und umgarnt einen. So ist es mir passiert. Ich war einen Tag im Weißen Haus, in vielen Versammlungen des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, der Welthandelsorganisation. In meinem ersten Regierungsjahr gab es prächtige Abendessen und das Imperium schmeichelte sich bei mir ein.

Später, als sie sich bewusst wurden, dass euer aller Diener nicht kam, um sich zu verkaufen, das heldenhafte Volk von Venezuela zu verraten, nicht Teil zu werden von dieser langen Liste von Verrätern, da begannen sie den imperialistischen Angriff, der seinen Höhepunkt in dem Putsch des 11. April 2002 fand. Dieser Putsch war verbunden mit dem imperialistischen Plan der Regierung der USA, der Strategie des Präventivkrieges. Ihr alle kennt diese Strategie: Sie bedeutet, jede mögliche Bedrohung - nach ihrem Verständnis von Bedrohung - zu eliminieren, bevor sie Gestalt annimmt.

Sie überzogen uns mit Aggression, dem Putsch, Terrorismus, um sich zuerst Venezuela und sein Öl anzueignen und dann das irakische Öl zu erobern. Nur dass wir uns bewusst sind, dass die Weltmacht USA nicht unfehlbar ist, was keine Unterschätzung der Weltmacht bedeutet. Nein, sie sind die Weltmacht, sie haben viel Macht, aber so wie wir das ALCA in Mar del Plata begraben haben, so werden wir diese nordamerikanische Weltmacht in diesem Jahrhundert begraben. Seid Euch dessen sicher!

Stellt Euch vor, dass diese Weltmacht, mit ihrer ganzen Kraft, hier gegen die Wand gefahren ist, gegen ein Volk, gegen eine patriotische Armee. Hier sind sie gescheitert und im Irak auch. Sie jedoch erkennen ihre Niederlage nicht an und opfern weiter Hunderte und Tausende junger US-Amerikaner und Tausende unschuldige Kinder, Frauen und Männer des irakischen Volkes.

Von diesem antiimperialistischen Forum aus fordern wir die Regierung der USA auf, die Aggression gegen das irakische Volk, den Völkermord zu beenden und die Truppen abzuziehen. Ich möchte Euch etwas erzählen: In den Tagen der Tragödie des Hurrikan Katrina schickte nach ich weiß nicht wie vielen Tagen Mister Danger schließlich Truppen nach New Orleans. Ich sah den Einsatz in New Orleans im Fernsehen und verglich diese Bilder mit dem Gesicht eines US-Soldaten in den Straßen von Bagdad oder Falludscha. Gesichter der Angst, genauer eine Mischung aus Angst und Aggression. Wie anders sieht hingegen ein Gesicht eines US-Soldaten aus, der ein Kind aus dem Sumpf zieht, um sein Leben zu retten! Dem sollten sich die US-Truppen widmen! Die Armut und das Elend anzugreifen, das in ihrem Land wächst! Jeden Tag gibt es mehr Arme in den USA, jeden Tag wächst das Elend in den USA: 40 Millionen Arme, jeden Tag mehr.

Ich sage, dass wir die Beteiligung des Volkes der USA brauchen, um die Welt zu retten. Stellt Euch eine Regierung der USA vor, die der Welt den Frieden erklärt! Stellen wir uns eine US-Regierung vor, die alle ihre auf dem Planeten verstreuten Truppen, U-Boote und Atomwaffen zurückzieht. Stellen wir uns vor, die USA würden die 400 Milliarden Dollar, die sie jährlich in den Militärhaushalt investieren, für Bildung, Gesundheit, Medikamente und Lebensmittel ausgeben. Kuba und Venezuela haben es - mit allen Beschränkungen, die wir haben - geschafft, in eineinhalb Jahren in Venezuela eineinhalb Millionen Menschen zu alphabetisieren und unser Land »Vom Analphabetismus frei« zu erklären. Stellt Euch vor, was wir machen könnten, wenn die Regierungen der mächtigsten Länder der Welt sich einem weltweiten Kampf gegen die Schrecken des Elends: der Armut, der Krankheiten und des Hungers anschließen würden - aber einem ernsthaften Kampf, nicht mit Brotkrümeln, sondern mit finanziellen Ressourcen und mit allen wissenschaftlichen und technischen Mitteln, über die sie verfügen.

Wir hoffen auf das Erwachen dieses Riesen auf dem Territorium der USA, der in der Seele dieses Volkes schlafen muss. Wir hoffen darauf, dass sich dieser Riese den Kämpfen für Gleichberechtigung und Freiheit anschließt.

Das Weltsozialforum hat eine ungeheuer wichtige Bedeutung in all dem, was ich erwähnt habe. Und es wäre meines Erachtens scheußlich, wenn wir zuließen, dass das Weltsozialforum sich zum Beispiel zu einem jährlichen Folklore-Treffen entwickeln würde. Touristisches, folkloristisches Treffen - das wäre schrecklich, weil wir einfach Zeit verlieren würden, und wir sind nicht hier, um Zeit zu verlieren. Und deshalb rufe ich alle hier vertretenen Bewegungen auf, einen gemeinsamen Arbeits- und Aktionsplan zu verabreden, um die Kämpfe in Lateinamerika, der Karibik, Asien, Afrika voranzutreiben. Ich glaube, das ist lebensnotwendig für die Zukunft. Karl Marx sagte einst: »Sozialismus oder Tod«. Rosa Luxemburg sagte es auch: »Sozialismus oder Barbarei«. Fidel Castro sagte es für die 1960er und sagt es weiterhin. Ihr sagt es und Che Guevara.

Wenn wir jetzt nicht die Richtung der Welt in diesem Jahrhundert ändern, denke ich, dass der Satz von Karl Marx heute mehr Gültigkeit dehn je besitzt, eine dramatische Gültigkeit. Es bleibt uns fast keine Zeit mehr: Sozialismus oder Tod - aber wirklicher Tod der menschlichen Spezies. Tod des Lebens auf dem Planeten Erde, weil der Kapitalismus das Leben auf dem Planeten vernichtet, das ökologische Gleichgewicht vernichtet. Die Pole schmelzen ab, die Meere wärmen sich auf, die Kontinente werden überschwemmt, die Wälder und Regenwälder zerstört, die Flüsse und Seen trocknen aus. Der zerstörerische Entwicklungszwang des kapitalistischen Modells vernichtet das Leben auf dem Planeten. Ich glaube, es heißt für uns: jetzt oder nie.

Von hier aus haben wir erneut die Fahne des Sozialismus erhoben, um im 21. Jahrhundert neue Wege zu gehen, Wege des Aufbaus einer starken, authentischen sozialistischen Bewegung auf dem Planeten.

Wir brauchen einen neuen, frischen Sozialismus. Es geht nicht darum, Modelle zu übernehmen. Das war einer der großen Fehler der sozialistischen Versuche des 20. Jahrhunderts, Modelle zu übernehmen. Wir brauchen die Selbstbestimmung, die Unterschiedlichkeit und die ursprüngliche Kraft eines jedes Volkes. Ich als Christ glaube, dass Christus und die authentischen christlichen Strömungen viel zu dem sozialistischen Projekt des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika beizutragen haben. Das wahre und authentische Christentum ist antiimperialistisch.

Unseren Sozialismus müssen wir weiter erfinden. Aber dies ist der Weg, wir haben nicht den geringsten Zweifel.

Vielen Dank im Namen des bolivarianischen Volkes von Venezuela. Wir werden siegen! Venceremos!

Rede auf dem VI. Weltsozialforum in Caracas am 27.1.2006. Die Rede wurde stark gekürzt, überarbeitet und aus dem Spanischen übersetzt von Lucia Schnell.

Anmerkungen

1 Simon Bolivar, lateinamerikanischer Führer der Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanische Kolonialmacht.
2 Chávez spricht von George W. Bush nur als Mister Danger.
3 Mar del Plata, argentinisches Seebad, in dem der Gipfel der amerikanischen Staatschef im November 2005 stattfand, auf dem die Gesamtamerikanische Freihandelszone, in der spanischen Abkürzung ALCA genannt, auf Wunsch der US-Regierung beschlossen werden sollte.
4 Posada Carriles und Orlando Bosch sind international gesuchte Terroristen, die u.a. 1976 ein Bombenattentat auf ein kubanisches Flugzeug organisierten, bei dem 73 Menschen starben. Posada Carriles ist ehemaliger Mitarbeiter der CIA und unterstützte die Contras in Nicaragua. Orlando Bosch arbeitete für die Regierung Pinochet in Chile und ist verantwortlich für den Tod des Außenministers der Regierung Salvador Allende. Beide leben unbehelligt in den USA. 
5 ALCA, Area de Libre Comercio de las Americas, ist die spanische Abkürzung für die amerikanische Freihandelszone.
6 Nestor Kirchner, argentinischer Präsident, Lula, Spitzname des brasilianischen Präsidenten Lúcio Ignacio da Silva, Tabaré Vázquez, uruguayischer Präsident und Nicanor Duarte, paraguayanischer Präsident. »Dieser Diener« ist die Selbstbezeichnung von Hugo Chávez. Mercosur ist der wirtschaftliche Zusammenschluss von Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay.
7 Gemeint sind die Eliten spanischer Abstammung in Lateinamerika.

Das soziale Deutschland

Von Kurt Beck

Der Gegensatz zwischen Staat und Freiheit ist nach Ansicht des SPD-Vorsitzenden Beck ein künstlicher. Der Neoliberalismus der Union hängt in der Luft. Er ist Ideologie ohne Erdung. Das Wegducken vor den sozialen Herausforderungen unserer Zeit ist symptomatisch für eine Schwundform des Liberalismus, die politische Freiheit mit Privatisierung verwechselt. Einen Beitrag leisten - das ist das erste Gesetz der Solidarität. Leistung ist daher ein ganz und gar solidarisches und egalitäres Prinzip.

Die Menschen haben ein sicheres Gespür dafür, was wichtig ist und wer sich nur wichtig macht. Es lohnt sich, die politischen Auseinandersetzungen aus diesem Blickwinkel zu betrachten, und ich empfehle, gerade die programmatischen Debatten der Parteien aufmerksam zu bewerten. Denn die Programme zeigen die Fähigkeit der Politik, die soziale Wirklichkeit aufzugreifen.

Es gibt soziale Gegensätze, die eine Mehrheit der Menschen in Deutschland beunruhigen. Aber ein künstlicher Gegensatz ist der zwischen Staat und Freiheit. Der Entwurf zum neuen Grundsatzprogramm der CDU gibt sich alle Mühe, so samtweich zu formulieren, dass er keinen mehr verschreckt. Doch der Staat, das bleibt, soll um der Freiheit willen immer weiter zusammenschrumpfen. Erstaunlich, wie wenig praktische politische Erfahrung der Traum vom Schrumpfstaat enthält. Würde die Union sich selbst beim Wort nehmen, müsste sie konsequenterweise auch weniger Bildung, weniger Investitionen und weniger Rechtssicherheit fordern. Über solche Folgen schweigt sie. Deshalb hängt ihr Neoliberalismus in der Luft. Er ist Ideologie ohne Erdung. Er hat den Menschen, die für ihre Kinder gute öffentliche Schulen wollen, nichts zu sagen, und er geht über die hinweg, die vom Rechtsstaat nicht nur den Schutz des Eigentums, sondern gleichermaßen den Schutz vor Willkür in der Wirtschaft und vor Diskriminierung am Arbeitsplatz erwarten.

Wo das Recht auf dem Rückzug ist, tritt nicht die Freiheit auf den Platz, sondern das Privileg. Das weiß jeder, der die Härte erlebt hat, ohne Begünstigung seinen Weg zu gehen. Wer seine Zukunft durch eigene Anstrengung erst gewinnen muss, der spürt, welches Gewicht die Forderung nach gleichen Rechten hat. Nicht Besitz darf den Ausschlag geben, sondern die immer neue Chance des Erwerbs, nicht Ort oder Status der Geburt dürfen entscheiden, sondern allein die immer offene Perspektive eines tätigen Lebens. Von "Chancen" spricht heute fast jeder. Aber die volle Bedeutung des Wortes und die Verpflichtung, die mit der Chancengleichheit verbunden ist, muss man sich schon klarmachen. Denn um dieses Versprechen einzulösen, brauchen wir eine starke und energische Politik, die in der Lage ist, die sozialen Barrieren der Herkunft zu überwinden und neue Risiken, neue Formen der Ausgrenzung mit neuen Chancen und Sicherheiten zu beantworten. Dafür brauchen wir einen vorsorgenden Sozialstaat, der stärker als bisher die Ursachen sozialer Probleme angeht, anstatt nur die Symptome zu kurieren.

Viele Menschen sehen die positive, zum Teil äußerst dynamische Wohlstandsentwicklung unseres Landes und beobachten, dass dabei die Lebenschancen verschiedener sozialer Gruppen stärker auseinanderfallen. Sie hören die Nachrichten von großen wirtschaftlichen Gewinnen und merken in der Nachbarschaft, dass junge Leute ohne Ausbildungsplatz bleiben, dass gestandene Facharbeiter über 50 Jahre keinen Zugang zu Arbeit mehr finden oder dass die Post jetzt von Zustellern gebracht wird, die sich für einen Hungerlohn abstrampeln. Mittelständische Betriebe, die hierzulande bemüht sind, Angestellte nach Tarif zu entlohnen, werden von Konkurrenten verdrängt, die nur einen Bruchteil der Lohnsumme zahlen. Von dieser Art sind die wirklichen Gegensätze in Deutschland, die Menschen verunsichern und verbittern. Darüber geht der Grundsatzprogrammentwurf der CDU hinweg mit der versteckten, aber eindeutigen Floskel "im Zweifel für die Freiheit des Marktes". Das bedeutet nichts anderes, als dass jeder selbst zusehen soll, wie er mit den Risiken klarkommt. Wer sich die Gesellschaft unter Globalisierungsbedingungen nur noch in zunehmender Ungleichheit und wachsender Unsicherheit denken kann, der hat, mit Verlaub, die Segel gestrichen und den Gestaltungsanspruch aufgegeben.

Freiheit ist ein herausragender Wert. Die liberale Bewegung ist eine wichtige Kraft des Fortschritts. Aber das Wegducken vor den sozialen Herausforderungen unserer Zeit ist leider symptomatisch für eine Schwundform des Liberalismus, die politische Freiheit mit Privatisierung verwechselt und den solidarischen Bürger zum egoistischen Bourgeois zurückentwickeln will.

Das ist eigentlich nicht mehr "liberal", es ist nur noch marktradikal zu nennen. Seit der Bundestagswahl 2005 ist offenkundig, dass es dafür keine Mehrheit gibt. Auch an den Wahlurnen lassen sich die meisten Leute nichts vormachen. Sie schenken den Anwälten einer "Eigentümergesellschaft", in der Besitz zu fast allem berechtigt, aber zu nichts mehr verpflichtet, kein Vertrauen, weil sie nicht als Eigentümer, sondern als Menschen geachtet und respektiert werden wollen. Weil ein jeder seinen kleinen oder größeren Erfolg der guten Zusammenarbeit mit anderen verdankt, weil selbst der Vermögende in jedem Moment auf die Hilfe anderer angewiesen sein kann, weil Zusammenhalt mehr bewirkt als Vereinzelung, deshalb setzt die solidarische Mehrheit in Deutschland auf soziale Gerechtigkeit.

Das ist auch der Grund, warum eine Art "Empfängergesellschaft", in der nur noch aufgerechnet wird, was der eine oder die andere an staatlichen Transfers, Beihilfen, Subventionen bekommt, am Bedürfnis der solidarischen Mehrheit vorbeigeht. Ich finde es gar nicht so rätselhaft, dass von Marktradikalen bis zu Postkommunisten ein fauler Kompromiss über ein sogenanntes "bedingungsloses Grundeinkommen" geschlossen wird. Durch Besitz Begünstigte drängen darauf, gering belastet und von der Gesellschaft in Ruhe gelassen zu werden. Die anderen nehmen es hin, dass die Schwächeren nur noch alimentiert und damit abgespeist und ausgegrenzt werden. Das Ergebnis wäre sicher nicht die klassenlose Gesellschaft, sondern eine Spaltung Deutschlands in einen produktiven und einen stillgelegten Teil.

Die wirkliche Herausforderung lautet Gestaltung, nicht Kapitulation. Seit eineinhalb Jahrzehnten erleben wir, wie sich elementare Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft mehr und mehr auflösen. Geregelte Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern werden durch die einseitig ausgeübte Vormachtstellung der Kapitalgeber ersetzt. An die Stelle des geduldigen Geldes tritt die Hektik des kurzfristigen Profits. Wo früher der Gewinn zwischen Kapital und Arbeit mehr oder weniger fair aufgeteilt wurde, erwarten die internationalen Finanzmärkte nun eine Maximalrendite auf eingesetztes Kapital und nehmen auf prekäre Löhne oder Arbeitsbedingungen kaum Rücksicht. Die aktuell diskutierten Hedge-Fonds sind nur die Spitze des Eisberges. Denkt man diese Entwicklung logisch fort, steht am Ende eine Gesellschaft, die selbst nach dem Prinzip der Börse funktioniert: Nicht Leistung entscheidet, sondern der schnelle Gelegenheitsgewinn. Spekulative Anlagen können die Substanz von Unternehmen zerstören, ohne dass die Beschäftigten durch die Qualität ihrer Arbeit darauf einen Einfluss hätten. Dabei stimmt es keineswegs, dass wir die soziale Spaltung zwingend in Kauf zu nehmen haben, um hohes Wachstum zu ermöglichen. Das Problem besteht vielmehr darin, dass kreative und innovative Potentiale einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung blockiert werden. Zu Recht weist daher der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz darauf hin, dass man die Globalisierung vor ihren Anhängern schützen müsse.

Es mutet paradox an, dass wir einen kräftigen, durch richtige Reformen vorbereiteten und verstärkten Aufschwung unserer Wirtschaft haben, aber dennoch so viel Unbehagen an der sozialen Entwicklung bei uns und in der Welt erleben. Die in diesen Tagen rund um den G-8-Gipfel zum Ausdruck gebrachte Kritik an einer ungerechten Form der Globalisierung wird von der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger geteilt. Sie macht auch deutlich, dass wir auf das gemeinsame Handeln von Staat und Bürgergesellschaft angewiesen sind, um die Globalisierung sozial zu gestalten. Dazu tragen Linkspopulisten übrigens nichts bei, denn sie bedienen sich der Ängste, fallen in nationalen Isolationismus zurück und verweigern sich dem Fortschritt. Nicht der Rückzug hinter die Barrikaden hilft uns, sondern der Aufbruch des sozialen Deutschland, das sich seiner internationalen Verantwortung bewusst ist und eine Vorreiterrolle für die nachhaltige Entwicklung anstrebt. Das soziale Deutschland ist ein Land des Fortschritts.

Wir haben durch nötige Reformen in den letzten Jahren die Weichen für einen neuen Aufschwung gestellt. Wir müssen deutlich machen, dass Reformen das Ziel haben, das Leben der Menschen zu verbessern. Die wieder erstarkende Zuversicht gilt es zu nutzen, um die Idee eines sozialen Deutschland zu verwirklichen. Wann, wenn nicht jetzt in einer Phase wirtschaftlicher Dynamik, können wir das Wachstum verbreitern und zu einem Aufschwung für alle machen? Wann, wenn nicht jetzt, ist es an der Zeit, die Zugänge zu guter Arbeit, zu gerechten Löhnen und die Teilhabe an Kapitalgewinnen für mehr Menschen zu öffnen? Wir müssen durch langfristig wirkende Investitionen, nicht zuletzt in Bildung und Ausbildung, dafür sorgen, dass dieser Aufschwung von möglichst vielen qualifizierten Menschen getragen wird. Wir wollen ökologische Schlüsseltechnologien der Ressourceneffizienz in Deutschland zum Durchbruch führen und den Klimaschutz weltweit entschlossen voranbringen. Die Chance ist da, aus einer kraftvollen Konjunktur der Jahre 2006 und 2007 ein nachhaltiges Wachstum für die kommenden zehn, fünfzehn Jahre zu entfalten. Deutschland 2020 kann ein wirtschaftlich erfolgreiches, sozial gerechteres, ökologisch gesünderes Land sein, und es kann eine stärkere Demokratie werden, wenn wir heute die richtige Richtung einschlagen. Das ist unsere Aufgabe, und das muss die Perspektive unserer Reformen sein.

Die demokratische Gesellschaft ist auf die aktive Beteiligung aller ihrer Bürgerinnen und Bürger gegründet. Sie entspricht damit dem Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit, das man auch auf die Formel "Mitarbeiten und Mitbestimmen" bringen könnte. Die Menschen wollen sich einbringen und im Zusammenwirken mit anderen für bessere Lebensbedingungen sorgen. Sie wollen ihren Beitrag zu einer besseren Gesellschaft leisten, auf die sie stolz sein können, weil diese Gesellschaft ihr eigenes Werk ist. Einen Beitrag leisten - das ist das erste Gesetz der Solidarität. Meiner festen Überzeugung nach ist Leistung daher ein ganz und gar solidarisches und egalitäres Prinzip. Es stimmt, dass dieses Wort vielen sozial motivierten Menschen nicht geheuer ist. Sie fragen: Was wird aus denen, die nicht so viel schaffen können? Aber man darf sich nicht durch einen elitär verengten Leistungsbegriff täuschen lassen. Leistungsträger sind doch nicht nur Besserverdiener, sondern oft gerade die kleinen Leute in ihrem Beruf, in ihrer Nachbarschaft, in ihrem Verein und ihrer Familie. Auf sie kommt es an. Diese Menschen werden gebraucht. Sie bewirken zusammen das, was wir die solidarische Bürgergesellschaft nennen. Natürlich gibt es immer alte Menschen, Schwerkranke, Leute, denen die Kraft ausgeht. Ihnen wird geholfen, und zwar immer mit Blick auf ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmung - das ist die zweite Dimension der Solidarität. Beide Dimensionen gehören zusammen, und beide finden zusammen in einem modernen, vorsorgenden Sozialstaat, der die Menschen vor allem als aktive Bürger einbezieht, ihre Entfaltung fördert und ihre soziale Sicherheit bei existentiellen Risiken garantiert.

Die herausragende Frage der sozialen Sicherheit ist die nach der Zukunft der Arbeit unter den Bedingungen der Globalisierung. Erwerbsarbeit ist es, die aus Armut und dauerhafter Ausgrenzung herausführt. Sie verschafft Anerkennung und Selbstwertgefühl, und sie öffnet den Weg in ein selbständiges Leben. Doch die Arbeitswelt ist in einem tiefgreifenden Umbruch. Dabei sind die globale Arbeitsteilung, der beschleunigte technische Wandel, die Bedeutungszunahme von Wissen und Qualifikation und die Tatsache, dass die Menschen heute länger leben, keine negativen Entwicklungen. Wir können die Chancen dieser Entwicklung für den sozialen Fortschritt nutzen, wenn die soziale Sicherheit gewährleistet ist. Deshalb verbietet es sich, traditionelle Arbeitsformen konservieren zu wollen. Wir würden die Möglichkeit verschenken, die Lebensqualität der Menschen in einem umfassenden und vorausschauenden Sinne zu verbessern. Unsere Aufgabe, nicht zuletzt die gemeinsame Aufgabe der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften ist es, die Zukunft einer sich wandelnden Arbeitswelt im Interesse erwerbstätiger Menschen zu gestalten. Unser Leitbild dabei muss das der guten Arbeit in einer produktiven und kreativen Gesellschaft sein. Dafür gibt es zwei Hauptansätze: bessere Chancen für die Menschen und bessere Regeln für die Märkte.

"Gute Arbeit" gedeiht in einer innovativen und dynamischen Marktwirtschaft. Diese ist auf Kapital angewiesen. Das private Vermögen auf der Suche nach rentabler Anlage wird in den nächsten Jahren weiter anwachsen. Nicht zuletzt die gewollte Stärkung der privaten Altersvorsorge trägt dazu bei. Wir brauchen aber neue Anlageformen und bessere Regeln, um dieses Kapital den langfristig ausgerichteten Wirtschaftsprozessen zugutekommen zu lassen. Wer kurzfristig mit Aktien spekuliert, darf beim Stimmrecht nicht mit den am langfristigen Wohl des Unternehmens interessierten Anlegern gleichgestellt sein. Darüber hinaus stärkt die Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmenskapital die teilhabeorientierte Kultur der Sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen deshalb ein umfassendes Modell der Mitarbeiterbeteiligung. Verantwortungsbewusstes Kapital in Arbeitnehmerhand ist unser Ziel.

"Gute Arbeit" heißt wie noch nie zuvor bessere Bildung und Ausbildung. Die beste Garantie für ein selbstbestimmtes Leben und der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit sind mehr denn je die frühkindliche Förderung, der Schul-, Hochschul- und Berufsabschluss. Die höheren Qualitäts- und Qualifikationsanforderungen der Arbeit erzwingen ein verbessertes Bildungssystem. Das erfordert mehr öffentliche Mittel für Bildung und Weiterbildung und ein gerechtes Steuersystem, das die Finanzierungslasten nach Leistungsfähigkeit verteilt. Abgesicherte Auszeiten für die Weiterbildung und für die Familie müssen zum Normalfall werden. Ein Weg könnte die Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung zu einer Beschäftigungsversicherung sein, die Übergänge im Berufsleben und vor allem die Weiterbildung der Beschäftigten zur Aufgabe des vorsorgenden Sozialstaats macht.

"Gute Arbeit" erfordert Regeln für die Arbeitszeit. Besonders die neuen dynamischen Branchen wollen von ihren Beschäftigten ein weit höheres Maß an individueller Flexibilität. Das kann die Selbstbestimmung am Arbeitsplatz fördern, wenn klar ist, dass ein fairer Ausgleich beider Seiten zustande kommt. Befristung darf kein Dauerzustand sein, wenn die Leistungsmotivation dem Unternehmen zugutekommen soll. Schließlich geht es um intelligente Regeln für die Lebensarbeitszeit, vor allem um die Chance, bis ins Alter seinem Leistungsvermögen entsprechend zu arbeiten und flexibel in den Ruhestand gehen zu können, wenn die Kraft nicht mehr reicht.

"Gute Arbeit" heißt Regeln für eine gerechte Entlohnung. Wir setzen uns für eine an der Produktivität und Preissteigerung orientierte Lohnfindung ein. Im Bereich der niedrigen Entlohnung brauchen wir die Einführung von Mindestlöhnen. Wer Vollzeit arbeitet, muss von seiner Arbeit leben können. Wir wollen tarifliche Mindestlöhne allgemeinverbindlich machen, indem wir den Geltungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Wirtschaftsbereiche ausweiten. Dort, wo tarifliche Lösungen nicht greifen oder ein Mindestniveau unterschreiten, brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, der sich in der Höhe am Niveau in unseren wichtigsten vergleichbaren Nachbarländern orientiert.

"Gute Arbeit" bedeutet schließlich nicht zuletzt: keine Gesundheitsgefährdung, keine Diskriminierung, kein Missbrauch von Zeitarbeit, keine Willkür, kein Mobbing am Arbeitsplatz. Moderne Betriebe wissen längst um die Vorteile des regulären Kündigungsschutzes, des Arbeitsfriedens, der Mitbestimmung und der flachen teamorientierten Hierarchien.

Ein Leitbild von gut gemachter und fair honorierter Arbeit muss unser noch immer gängiges Bild der Arbeitsgesellschaft verabschieden. Dass Arbeit nur Druck und Notwendigkeit bedeutet und vor allem im Produzierenden Gewerbe stattfindet, ist Vergangenheit. Zukunft liegt in einer weitgefassten Zielsetzung von Erwerbstätigkeit, die mehr und mehr auch die in Deutschland unterentwickelten Bereiche der Dienstleistungen am Menschen, zum Beispiel bei Kinderbetreuung, Bildung und Pflege, umfasst. Durch die Schlüsselfunktion der Bildungsberufe und durch den größeren Anteil älterer Menschen bekommt diese Arbeit eine weithin wachsende Bedeutung.

Ein soziales Deutschland wollen wir aber nicht nur nach innen sein. Es gilt, diesen Anspruch auch nach außen zu wenden. Damit wird die soziale Globalisierung zu einer zentralen Herausforderung. Nicht nur das internationale Lohngefälle führt immer wieder zu einer Dumpingkonkurrenz, die Arbeit entwertet und Menschen unter existentiellen Druck setzt. Auch Fragen des Arbeitsrechts, der sozialen Standards, der Besteuerung von Unternehmen oder der Normen für Finanzmärkte rücken auf die Tagesordnung der internationalen Politik. Heute noch macht die Globalisierung vor allem deshalb Angst, weil sie als bloße Beseitigung von Regeln und als Ursache sozialer Unsicherheit interpretiert wird. In Zukunft aber kann eine positive, soziale Politik der Globalisierung deutlich machen, dass das weltweite Zusammenwachsen Prozesse des Ausgleichs und der Verständigung auf gemeinsame Regeln voranbringt. Deutschland und Europa können viel dafür tun, die soziale Globalisierung zu fördern. Wahr ist, dass kein Staat für sich allein die dafür nötige Kraft oder Legitimation hat. Aber immer war es so, dass einzelne Nationen und wichtige Staatenvereinigungen inspirierend vorangegangen sind und Handlungsallianzen geformt haben. Warten wir also nicht, bis alle so weit sind, sondern überzeugen wir andere durch unser Beispiel.

Die klassische Industriegesellschaft wird zunehmend durch neue Wertschöpfung ergänzt. Es entstehen neue Branchen und neue Formen der Arbeit. Ob es gelingt, den Umbruch der ökonomischen Strukturen zu einem Fortschritt für die Menschen zu machen - das ist die soziale Frage unserer Zeit. Das war und das ist unsere Aufgabe als Sozialdemokratie im unvollendeten Prozess der Modernisierung: Wenn wir eine menschenunwürdige Spaltung in "produktive" und "unproduktive" Klassen abwenden wollen, in Menschen, die mithalten, und andere, die abgekoppelt werden, dann müssen wir der Arbeitsgesellschaft eine Zukunft geben. Denn sie ist es, die das Versprechen der Chancengleichheit handfest einlöst und die dem partizipatorischen Grundprinzip der Demokratie eine materielle Basis gibt.

FAZ vom 11.06.2007

 

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