Artikel von Paul Gaebler 2

 

 

Veröffentlichungen 2 von Paul Gäbler

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Auf missionarischem Neuland in Südindien

Von Paul Gäbler

Die deutsche evangelische Heidenmission, Jahrbuch 1935 der vereinigten deutschen Missionskonferenzen, Hamburg, Seite 65 - 71

Wie ist Südindien so weit, so weit! Da gibt es keine Berge und Täler, alles ist flach und oft eintönig, wenn wir uns in den südöstlichen Bezirken befinden. Ist die Regenzeit erfolgreich, so sind die vielen Stauseen, welche die Fluren bewässern sollen, zum Überfließen voll, und der Fuß hat sich seinen Pfad mühsam zwischen den Feldern auf abschüssigen Feldrainen und durch aufgeweichte Dorfwege zu suchen. Aber wird es Februar und März, so brennt die Sonne mit immer stärkerer Glut vom Firmament herab, und die grünende Flur verwandelt sich in sandbedeckte Einöde, in der sich nur noch Kakteen wohlfühlen, während Mensch und Tier seufzen. Da ist es wie in einem Glutofen. Weit, weit ist die indische Tiefebene, und oft sind die Dörfer zerstreut und durch Meilen öder Fläche voneinander getrennt. Auf einer kleinen Anhöhe, die um wenige Meter aus dem Flachland hervorragt, oder unter einer Gruppe von Bäumen sind die Hütten hingelagert, meist ein armseliges Dorf, manchmal eine kleine Stadt, hier ein elendes Pariaviertel, dort der Hof eines Großgrundbesitzers.


1. Gottessehnsucht

Viel ließe sich schreiben von der Buntheit indischer Freuden und Leiden, von den gewaltigen Gegensätzen innerhalb der indischen Welt und auch des indischen Dorfes. Und doch treten diese Unterschiede ganz zurück hinter dem Gemeinsamen, das die Dörfler untereinander und vielfach auch mit den Städtern verbindet. Das ist ihre Einstellung dem Leben und seinen Geheimnissen gegenüber, wie sie sich in ihren religiösen Anschauungen offenbart. Freilich gibt es auch da Sondermeinungen, besonders unter den Gebildeten. Aber nimmt man das schlichte, breite Volk, die Bauern und Kulis, die Kleinhändler und Handwerker, so huldigen sie fast alle einer Art Animismus, der mit spezifischen Elementen des Hinduismus durchsetzt ist. Dazu gehört der Glaube an einen höchsten Schöpfergott, der auch jetzt noch über der Welt waltet und sie erhält. Sie wissen, dass mit dem Tode noch nicht alles zu Ende ist, sondern der Mensch irgendwie weiterlebt, wobei der Gedanke der Seelenwanderung oft nicht einmal klar ausgeprägt ist. Sie haben einen strengen Sittenkodex, äußerlich oft zwar, aber sie wissen, dass Sünde nicht bloß mit zeremonieller Unreinigkeit gleichzusetzen ist, sondern auch in der Unreinheit des Herzens besteht. Allerdings ist mit diesen Grundanschauungen der Glaube an Götter und Dämonen und ein phantastischer Aberglaube verquickt. Immer wieder stößt man auf seinen Fahrten auf zahllose Tempel und Tempelchen, Götzenbilder und Altäre, die steingewordenen Zeichen der Gottessehnsucht der Inder. Sie achten auf Vorzeichen und richten sich nach den Stunden des Tages, die je nachdem glücklich oder gefahrdrohend sind. Und dann gehen die Menschen mit ihren Anliegen zur Gottheit, um durch Opfer oder Gaben oder auch einfach durch ein Niederfallen vor der Gottheit Erfüllung ihrer Bitten zu erflehen. In Zeiten von Heimsuchungen, wenn Missernte droht oder Pestilenzen einhergehen, vereinigt sich das ganze Dorf zu gemeinsamen Bittgängen, und zu anderen Zeiten werden die großen Tempelfeste ein Anlass zu fröhlichem Zusammensein. Und doch, nimmt man alles in allem, die äußeren Nöte und das religiöse Sehnen, das letztlich in der Irre geht, so wird dem Missionar das Herz unendlich schwer. Denn was er bei den Dörflern tagaus, tagein aus allernächster Nähe schaut, ist Öde und Leerheit, Müdigkeit und Armut. Heiß ist die indische Sonne, anstrengend die Arbeit, schwül die Nacht. Arm ist das Leben an Hoffnungen, reich an Enttäuschungen. Nach ehernen Gesetzen nimmt das Dasein seinen Lauf, unerbittlich ist das Karma, unersättlich sind die Götter, und der Mensch ist nichts als Staub. Was für Hoffnungen kann solch eine Religion wecken? Was für einen Trost kann sie spenden? Was für Kraftquellen vermag sie zu erschließen? Wohl zeigt sie dem Menschen seine Ohnmacht und Schuld, aber Freiheit und Erlösung vermittelt sie nicht, und Gottes Antlitz bleibt verhüllt.

Da ist es unendlich beglückend zu wissen, dass das, was wir den Indern zu bringen haben, eine frohe Botschaft ist, die nicht nur auf die letzten Fragen des Lebens eine Antwort gibt, sondern auch den Weg zur Gemeinschaft mit Gott weist und das Menschenherz frei und stark macht. Nur Christus ist fähig, die Inder - wie auch uns - mit dynamischen Kräften zu erfüllen, so dass die Lethargie ihres Denkens und Handelns weicht, dass ihre Ketten gesprengt werden und sie hinfort als frohe Gotteskinder ihre Straße ziehen, mannhaft streiten und siegen.

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2. Vorbereitungen

Aber wie geschieht die Ausrichtung dieser Botschaft? Statt prinzipiell davon zu reden, soll im Folgenden ganz schlicht nach eigenem Erleben geschildert werden. Vor mehreren Jahren wurde ich auf eine Missionsstation mit Namen Pattukkottai versetzt, wo lange alle evangelistische Arbeit geruht hatte. Das Hinterland dieser Station mit ihren rund sechshunderttausend Menschen konnte weithin als missionarisches Neuland angesprochen werden. Ich selbst hatte nur den einen Auftrag, diesen Bezirk zu bereisen und mich soviel als möglich der missionarischen Verkündigung zu widmen. Zunächst besorgte ich mir Generalstabskarten von jenem Gebiet. Es waren modernste Karten in mehrfarbigem Druck und in sorgfältigster Ausführung; denn die englische Regierung hatte gerade kurz vorher alles neu vermessen lassen. Nach diesen Karten richtete ich genau meine Reisen und Wanderungen ein. Die Frage war, wie ich auf die Dörfer hinauskam und dort existieren konnte. Zeltleben kam bei der stechenden südindischen Sonne überhaupt nicht in Frage. Lehrer hatte die Mission in dieser Gegend auch noch nicht, sonst hätte ich mich bei ihnen einquartieren können. Und Gasthäuser gibt es erst recht nicht. Da war ich froh, als ich feststellte, dass es in jenen Landschaften eine Reihe von Rasthäusern gibt. Dort in der Nähe führt die alte Pilgerstraße nach Rameswaram, einem Wallfahrtsort der Hindus. Seit alten Zeiten gibt es auf jener ganzen Strecke Rasthäuser. Freilich sind sie meist für uns Europäer nicht verlockend, da sie eng, schmutzig und voller Ungeziefer sind. Sie sind auch gewöhnlich von einer Anzahl etwas heruntergekommener Sannyasis, wandernder Heiliger, bevölkert, die eine indische Landplage sind und die man wegen ihrer Faulheit und Bettelhaftigkeit lieber meidet. Daneben gibt es jedoch eine andere Klasse von Rasthäusern, die von der Regierung oder von Ortsbehörden gebaut sind und unterhalten werden. Sie sind gewöhnlich luftig und liegen in einem kleinen abgeschlossenen Grundstück. Sie befinden sich in der Obhut eines indischen Wächters, und Obdach findet man dort nur gegen Entrichtung eines bestimmten Tagespreises, der einen halben oder ganzen Rupie beträgt. So war mein Plan schnell fertig: Ich besuchte der Reihe nach die meisten dieser Rasthäuser, die ich jeweils für mehrere Tage oder auch für eine Woche und länger zu meinem Standquartier machte, um von ihnen aus die umliegenden Ortschaften zu besuchen. So lernte ich allmählich meinen Bezirk näher kennen, ich besuchte wieder und wieder die gleichen Gegenden, und allmählich bildeten sich Zentralpunkte der evangelistischen Arbeit heraus. Natürlich bevorzugte ich die Orte, in denen am ehesten ein Echo zu verspüren war; und eine Zusammenfassung der Arbeit war nötig, weil ich der einzige Missionar in dieser Gegend war und an meiner Seite nur noch zwei indische Evangelisten standen, zwei Kandidaten der Theologie, die auch selbst noch wenig Erfahrung besaßen. Während ich jetzt auf Urlaub bin, führt der eine von ihnen die Arbeit allein fort, bis ich nach Indien zurückkehre, während ein Missionar von Zeit zu Zeit auf wenige Tage die Station besucht.

Schon rein körperlich sind manche Schwierigkeiten zu überwinden. Die Reise zu den Rasthäusern muss genau vorbereitet werden, zumal die Missionarsfrau nicht mitkommen kann, sondern bei den Kindern bleiben muss. In einer größeren Holzkiste werden die Kochtöpfe, Nahrungsmittel und einige Stall-Laternen verstaut. Dazu kommen noch lose ein Bündel Feuerholz, ein Feldbett mit den Decken und dem Moskitonetz, ein dickbäuchiges, langhalsiges Tongefäß mit frisch abgekochtem Trinkwasser, das dann täglich erneuert wird, ein Blechköfferchen mit Zeug und Wäsche und den Bündeln von Evangelien und Flugblättern usf. Und dann geht es in Begleitung eines jungen Mannes, der sich auf das Kochen versteht und uns das Essen zuzubereiten hat, während wir die Dörfer besuchen, mit Autobus, Eisenbahn oder Ochsenwagen, oft auch zu Fuß, nach dem Rasthaus. Dort gibt es meist einige Tische und Stühle, manchmal aber auch überhaupt kein Mobiliar, so dass wir beim Essen mit untergeschlagenen Beinen auf einer Matte am Boden sitzen müssen. Nicht selten ist das Dach schadhaft, so dass man vor allem während der Regenzeit von einer Ecke in die andere ziehen muss, um nicht allzu nass zu werden. In aller Frühe geht es dann hinaus auf die Dörfer, von denen wir gegen Mittag zurückkehren, um dann nach einigen Stunden Mittagsrast wieder bis zum Anbruch der Dunkelheit tätig zu sein. Da bedarf es häufig der Anspannung aller Kräfte, um in der sengenden Glut der Ermüdung, die selbst die an das Klima gewohnten Inder schwer anficht, nicht Raum zu geben.

Aber allmählich kann man sich an Derartiges gewöhnen, da der Körper über eine wundervolle Anpassungsfähigkeit verfügt, solange man gesund ist. Viel schwieriger jedoch ist die geistige Akklimatisation, das immer tiefere Eindringen in die fremde Sprache, das Vertrautwerden mit dem fremden Volkstum, das liebende Verstehen des fremden Menschentums, das Einfühlen vor allem in die religiöse Vorstellungswelt. Da ist es unschätzbar wertvoll, wenn der eingeborene Mitarbeiter, mit dem man auf diesen Reisen Tag und Nacht zusammen ist und mit dem man alles teilt, seine Scheu überwindet und sein Herz auftut und zum Freund und Bruder wird. Erst dann fängt die Fremde an, zur Heimat zu werden. Und der Missionar muss ja tief einwurzeln, wenn anders er fähig werden soll, den anderen die frohe Botschaft tief ins Herz hineinzusagen, so dass sie in Christus nicht den Heiland der Deutschen, sondern vor allem den Retter in ihren eigenen Nöten erkennen.

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3. Missionarische Verkündigung

Auf mannigfaltige Weise geschieht nun die Verkündigung. Das Gewöhnliche sind Dorfbesuche, bei denen man von Haus zu Haus geht und überall auf den Straßen und an den Zäunen mit den Leuten Gespräche anknüpft, ihnen Flugblätter zu lesen gibt und auch Evangelien an sie verkauft. Alles, was wir sehen und womit sie beschäftigt sind, muss dabei zu einem Gleichnis werden, um den Dörflern die Botschaft anschaulich und gegenwartsnah zu machen. Wir werden dies gleich nachher noch durch ein Beispiel deutlich zu machen versuchen. Das Überraschende bei diesen Dorfbesuchen ist die für uns Abendländer kaum glaubliche Aufgeschlossenheit der Inder für religiöse Dinge. Sie haben eigentlich immer Zeit und Bereitschaft, ja lebhaftes Interesse für Gespräche über Gott und vergessen selbst ihre Arbeit darüber. Erst neuerdings beginnt die atheistische sog. Selbstrespektsbewegung hierin einen traurigen Wandel zu schaffen.

Zu den Einzelgesprächen kommen dann Ansprachen, die sich an einen größeren Kreis von Zuhörern wenden; bei jedem Gespräch besteht eigentlich die Möglichkeit, dass es mit solch einer Ansprache abschließt. Als direkte Methode der missionarischen Verkündigung treten dann aber diese Ansprachen in der Form der Heidenpredigten bei den großen Märkten in Erscheinung. Ihr besonderer Wert besteht darin, dass durch sie eine große Schar von Dörflern, die auch aus abgelegenen Ortschaften stammen, erreicht werden können. Andererseits erfordern diese Marktansprachen bei dem dort herrschenden orientalischen Treiben besonders für den jungen Missionar ein hohes Maß von Entschlossenheit und innerer Sammlung. Auch bei den großen Heidenfesten fehlt nicht das Zeugnis der Mission, nur dass dort mehr die Schriftmission und das fleißige Verteilen von Flugblättern im Vordergrunde steht. Eine besondere Form der Vertiefung der Botschaft ist die Veranstaltung von Lichtbilderabenden, an denen man den Dorfbewohnern auf einem freien Platz abends Bilder aus dem Leben Jesu zeigt. Das ist dann eine besonders schöne Gelegenheit, ihnen im Zusammenhang die ganze Größe und Kraft der Persönlichkeit Jesu zu zeigen. Es ist ergreifend, wenn in solch einer Stunde die sonst so gesprächigen Inder immer stiller werden und wie gebannt auf die Bilder blicken und auf die Geschichte des Gottessohnes lauschen, der in diese armselige Welt gekommen ist, um auch sie zu befreien, sie, die sich oft so einsam und verlassen dünken, dort fernab in ihrem abgelegenen Dorf. Und dann beginnen sie zu begreifen, dass Gott ein Vater ist, der auch sie liebt.

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4. Ein Beispiel

Und nun sei an einem Beispiel gezeigt, wie sich etwa solch ein Gespräch entwickeln mag, wenn wir in ein Dorf kommen. Vielleicht haben wir bei einigen nur kurze Gespräche geführt. Da lädt uns ein etwas Vornehmerer ein, dass wir uns bei ihm auf dem Fußboden der Veranda niedersetzen. Wir fragen ihn nach seinem Ergehen, und er klagt, dass die Zeiten schlecht seien. Der Regen lasse auf sich warten, die Preise seien hoch, im Hause habe er Krankheitsnot. Wir erwidern, dass es leider wahr sei, dass wir mit viel Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. Wir dürften jedoch nicht in den Sorgen dieser Welt aufgehen, sondern müssten unsere Sinne auf den richten, der uns geschaffen hat, Gott. "Aber was hilft mir Gott, wenn ich jetzt soviel leiden muss?" Wir sagen: "Das ist es ja gerade: Wir vergessen Gott leicht, wenn es uns gut geht. Darum schickt Gott Trübsale, damit wir uns wieder zu ihm wenden." "Das ist freilich richtig. Im übrigen ist es doch selbstverständlich, dass man an Gott denkt." "Selbstverständlich schon. Aber gibt sich Gott damit zufrieden? Angenommen, ein Vater hat einen Sohn, den er mit viel Liebe aufzieht. Dieser Sohn setzt sich eines Tages in eine Ecke und rührt keinen Finger mehr. Der Vater ruft ihn zur Arbeit, er kommt nicht. Schließlich findet ihn sein Vater und fragt ihn: ,Mein Sohn, was machst du hier?' Da antwortet der Sohn: "Vater, ich denke an dich.' Was soll man zu solch einem Sohn sagen?" Da lächelt der Zuhörer: "O weh, der Sohn sollte lieber seinem Vater seine Liebe durch die Tat beweisen!" Wir fahren fort: "So ist es in unserem Verhältnis zu Gott. Er ist unser Vater, wir seine Söhne. Er will, dass wir ihm als rechte Söhne dienen." Nach einer Pause fügen wir die Frage an: "Wie weit können wir ein wahrhaft tugendhaftes Leben führen und Gottes Gebote halten?" Ohne Besinnen lautet die Antwort: "Wir ein Gott wohlgefälliges Leben führen? Wir seine Gebote halten? Das können wir nicht!" Es ist das tief empfundene, unendlich oft in den indischen Dörfern uns entgegenklingende Echo des Pauluswortes: Wollen das Gute habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht. So setzen wir an diesem entscheidenden Punkte ein: "Gewiss, Sie haben recht. Einmal eine gute Tat tun, das bringen wir vielleicht fertig. Aber stets das Gute tun, das ist unmöglich. Wenigstens von uns aus gesehen. Oder ob es nicht doch eine Möglichkeit gäbe, dass wir aus dem schrecklichen Kreislauf der Sünde herauskämen?" Und nun greifen wir den in Indien überall geläufigen Guru-Gedanken auf: "Es müsste denn sein, dass ein Guru, ein frommer, von Gott gesandter und von ihm erfüllter Lehrer zu uns käme, der selbst von aller Sünde frei wäre und uns zu seinen Jüngern machte, uns den Weg zu Gott zeigte, ja uns mit Gott vereinigte - wäre es dann nicht denkbar, dass durch ihn unser Leben erneuert wird?" "Gewiss, denkbar wäre das!" "Haben Sie schon einmal von solch einem Guru gehört?" "Von solch einem Guru? Einem, der selbst gut ist und andere gut macht? Nein, nie!" "Das ist doch furchtbar! Da müssten wir also immer als schlechte Menschen dahinleben und so dahinsterben? Aber haben Sie denn wenigstens nachgeforscht, ob es solch einen Guru gibt?" "Nein, der Gedanke ist mir noch nicht gekommen." "Sehen Sie, so gleichgültig sind wir Menschen. Wir sind wirklich schlechte Menschen, die ihrem Vater Kummer über Kummer bereiten." Wenn wir so weit gediehen sind und uns überzeugt haben, dass unser Gegenüber ein wenig verstanden hat, was wir klarmachen wollen, und wenn wir merken, dass ihm die Sache nicht gleichgültig ist, gehen wir einen Schritt weiter. Denn nun ist der Zeitpunkt zur Ausrichtung der frohen Botschaft gekommen: "Sie haben noch nicht von solch einem Guru gehört. Nun sollen Sie wissen, dass es tatsächlich solch einen Guru gibt. Er heißt Jesus Christus. Wir schreiben jetzt das Jahr 1934. Warum? Weil es 1934 Jahre her ist, dass er geboren worden ist. Er kam als die Menschwerdung Gottes auf diese Erde herab. Er lebte in Palästina, das ebenso wie Indien zu Asien gehört. Nach seinem Tode erstand er auf und lebt in Gemeinschaft mit Gott, zu dessen rechter Hand er sitzt. Er ist mein Guru. Ich bin sein Jünger. Er hat den Befehl gegeben, dass seine Jünger in alle Welt gehen und das Evangelium aller Kreatur verkündigen sollen. So bin ich nach Indien gekommen, habe Ihre Sprache gelernt und bin in Ihr Dorf gereist, um die Botschaft dieses göttlichen Gurus auszurichten. Und seine Botschaft an Sie lautet, dass Sie auch sein Jünger werden sollen. Wenn wir ihm unser Herz zukehren, wird es rein. Wie der Bast den Geruch der Blumen annimmt, die er zusammenbindet, so nehmen wir die Art dieses Guru an. Er hilft uns, dass wir nicht jähzornig werden, keinen Palmwein trinken, nicht zanken. Freilich, wenn wir uns von ihm entfernen, fallen wir in Versuchungen und sündigen. Aber solange wir mit ihm herzliche Gemeinschaft haben, sind wir vor allem Bösen wohl bewahrt. Wie lieben wir diesen Guru! Wie gern möchten wir, dass ihn auch andere kennen und lieben lernen!..." Und so fort. Je nach den Umständen und dem Verlauf des Gespräches, das natürlich auch völlig andersartig verlaufen mag, flechten wir Stücke aus dem Leben Jesu oder aus seinen Reden und Gleichnissen ein, und so verkündigen wir überall die Botschaft vom Gottesreich. Manchmal schütteln die Leute den Kopf; es ist ihnen zu neu und ungewohnt. Manchmal lauschen sie in tiefer Bewegung. Schließlich ziehen wir weiter, und nach einiger Zeit kehren wir wieder in das gleiche Dorf zurück und verkünden die gleiche Botschaft auf andere Weise, wieder und wieder. Es ist mühselige, und doch unendlich beglückende Erstlingsarbeit.

Wie eine göttliche Verheißung steht ein leuchtendes Sternbild am tropischen Himmel: das Kreuz des Südens. Wenn wir nach den Mühen des Tages im leisen Abendfrieden auf der Veranda des Rasthauses sitzen und stille Einkehr halten, grüßt es uns als ein lichtes Unterpfand des Liebesratschlusses Gottes, dass er sich aller Menschen erbarmt. In solchen Stunden flehen wir mehr noch als sonst zu dem Mann am Kreuze, dass er unseren Dienst segnen wolle und sich den Männern und Frauen in den verlassenen indischen Dörfern offenbaren, dass sie ihn finden und ihm nachfolgen.

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Charakterköpfe unter unseren tamulischen Pfarrern

Von Paul Gäbler

Das Buch der deutschen Weltmission. Leopold Klotz Gotha 1935, Seite 296 bis 299

1. Aaron

In den letzten Dezembertagen des Jahres 1932 konnte unsere tamulische Kirche ein seltenes Jubiläum feiern, das zu begehen freilich versäumt worden ist. Damals jährte sich zum 200. Male der Tag, an dem im Jahre 1733 der erste Taumle und damit der erste Inder zum protestantischen Geistlichen ordiniert worden ist. Es geschah in der längst von den brausenden Wellen hinweggespülten alten Jerusalemskirche auf dem Meeresstrand von Tranquebar. In dem feierlichen Gottesdienst wirkten nicht weniger als sieben Missionare sowie zwei dänische Pastoren und zwei Schiffsprediger mit. Der Mann, der ordiniert wurde, war Aaron, der Erstling im geistlichen Amt und auf mehrere Jahre hinaus der einzige. Jetzt gibt es über 2.200 indische Geistliche, die katholischen Priester nicht mitgerechnet, die Sonntag für Sonntag und oft auch an Wochentagen in Städten und Dörfern, auf stolzen Kanzeln und in armseligen Kapellen, auf den Veranden der Reichen und vor den Hütten der Armen, wohin auch immer sie ihr Dienst führt, die Gottesbotschaft ausrichten. Aaron selbst war der Besten einer. Als er im Jahre 1745 heimging, schrieben die Missionare nach Deutschland: "Sein Abscheiden geht uns... fast näher zu Herzen, als wenn einer von uns abgeschieden wäre." So hoch wurde er geschätzt.

Sein Leben war bewegt. Er wurde etwa 1698 zu Cuddalore als Sohn hinduistischer Eltern geboren und erhielt den Namen Arumucham. Da er der angesehenen Kaste der Wöllâler angehörte und sich sein Vater in günstigen Verhältnissen befand, verlebte er eine sorglose Jugend und lernte sogar Schreiben und Lesen. Als junger Mann schloss er Freundschaft mit einem Lehrer Sawarimuthu, einem Christen, der ihm von Bartholomäus Ziegenbalg verfasste Schriften zu lesen gab. Was er dann fand, machte ihm tiefen Eindruck, wennschon er sich nicht zum Christwerden und damit zu einem Bruch mit seinen Eltern entschließen konnte. Da trat plötzlich eine Wendung in seinem Leben ein. Die Familie musste wegen "Ungelegenheiten" mit der englischen Handelskompagnie in das damalige Königreich Tanjore fliehen. Nunmehr war Arumucham genötigt, durch saure Arbeit sein Brot zu verdienen. In dieser Not machte er sich nach Tranquebar auf, allerdings nur, um dort irdische Hilfe bei den dortigen Missionaren zu suchen. Aber was er fand, war mehr. Ziegenbalg selbst nahm sich seiner an, stellte ihn als Hilfslehrer zum Unterricht von Schreiben und Lesen an und nahm ihn auch geistlich in seine Obhut. Da er schnelle Fortschritte machte und eine tiefe, innere Umkehr bei ihm bemerkbar war, konnte ihn Ziegenbalg taufen. Er tat es mit eigener Hand am 5. August 1718 in der schon erwähnten Jerusalemskirche und gab ihm dabei den Namen Aaron. Der Neugetaufte blieb im Missionsdienst und wurde, da er sich trefflich bewährte, mit immer größeren und verantwortungsreicheren Aufgaben betraut. Vom Schullehrer stieg er 1719 zum Unterkatecheten und 1720 zum ordentlichen Katecheten empor, bis er zum Pfarrer bestellt wurde. Langwährende, anstrengende Reisen, in den Anfangsjahren zu Fuß - später wurde ihm ein Pferd bewilligt -, führten ihn immer wieder zu den riesig weit zerstreuten Gemeinden bis nach Ramnad im Süden und ins Königreich Tanjore im Westen, das für die Missionare damals noch verschlossen war. Glänzende, bestechende Gaben waren ihm versagt; um so mehr eroberte er sich die Herzen der Christen und Nichtchristen durch seine Bescheidenheit, Treue und Festigkeit. Hunderte von Menschen gewann er durch seinen evangelistischen Dienst und taufte sie, und sichtbar wuchs die Zahl der Gemeindeglieder unter seiner Pflege. Not und Leid blieben ihm nicht erspart. Sein Vater starb als hartnäckiger Heide; erst nach dessen Tode wurden Aarons Mutter und Schwester Christen. Die Reisen strengten ihn sehr an, da er keine feste Gesundheit besaß. Dreimal war er verheiratet, und zehn Kinder wurden ihm geschenkt - wahrlich ein Leben, das, alles in allem, ein reiches Maß von Mühe umschloss, aber auch helle Segensspuren hinterließ.

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2. A. M. Samuel

Als die Zeit der Dänisch-Halleschen Mission abgelaufen war und die Leipziger Mission vor bald hundert Jahren in ihr Erbe eintrat, war es sehr bald ihr Bemühen, auch ihrerseits tamulische Pfarrer heranzubilden. Der erste, der dafür in Frage kam und der mit anderen für diesen Zweck geschult wurde, war A. M. Samuel. Es traf sich seltsam, dass er ein direkter Nachkomme von Aaron war, und zwar sein Ururenkel. Als er 1827 geboren war, wurde er von seiner Mutter, wie es einst Hannah getan hatte, dem Herrn gelobt. Nachdem er 1841 konfirmiert worden war, hätte er am liebsten der lutherischen Kirche den Rücken gekehrt, weil er keine Hoffnung hatte, in ihr jemals - wie er es sich brennend wünschte - in das geistliche Amt zu gelangen. Die Leipziger Mission war ja erst ganz jung. Aber vor allem die Liebe zu seinem Vater hielt ihn von einem voreiligen Schritt zurück. In einem langen inneren Kampfe rang er sich dann dazu durch, sich und seine Zukunft ganz in Gottes Hand zu stellen und selbst auf das geistliche Amt zu verzichten, wenn er anders geführt werden sollte. Jedoch bereits ein Jahr später wurde ein Seminar eröffnet, und Samuel, der dann als erster Aufnahme fand, gewann sich schnell das Herz von Missionar Cordes, dem Leiter des Seminars. Eine Freundschaft für das Leben entstand hieraus. Bekannte doch Cordes in seinem Nachruf für Samuel, er sei sein "erster, treuester und liebster Schüler" gewesen. Der Kursus ging 1848 zu Ende. Anschließend musste Samuel wie die anderen von der Pike auf dienen und als Hilfskatechet beginnen. Durch die übergroße Bedenklichkeit auf Seiten einzelner Missionare, verursacht durch den damals tobenden Kastenstreit, wurde die Ordination unverhältnismäßig lange hinausgeschoben. Erst im Jahre 1860 wurden Samuel und Nallathambi als die beiden ersten tamulischen Pfarrer der Leipziger Mission ordiniert, nachdem ihnen sieben ausführliche Ordinationsfragen vorgelegt worden waren. Die nächsten Jahre waren für Samuel voller Unruhe. Er wurde zunächst in Kumbakonam stationiert, dann ein Jahr später nach Trichinopoly versetzt, dann 1863 nach Mötupatti und schließlich 1865 nach Tranquebar. Und all diese Jahre hatte er eine überaus ausgedehnte Reisetätigkeit zu entfalten und litt gleichzeitig an viel Krankheit und Schwachheit. Zwar erwies er sich als gewissenhaft in seiner Arbeit, aber er drohte mutlos zu werden. Erst in Tranquebar konnte er die ihm geschenkten Gaben recht entfalten. Er wirkte nicht stark als Prediger und war auch in weltlichen Dingen nicht sehr erfahren. Dagegen lag seine Stärke auf theologischem Gebiet, und er übertraf darin in späteren Jahren alle seine damaligen Mitarbeiter. Diese Gabe wurde auch eifrig genutzt, und so sind aus seiner Feder mancherlei literarische Arbeiten hervorgegangen, so vor allem eine Schrift zur Widerlegung des Aberglaubens, die auch ins Deutsche übersetzt wurde und selbst heute nicht ohne religionsgeschichtliches Interesse ist. Bei der Übersetzung deutscher Schriften ins Tamulische erwies er sich als eine große Hilfe für die Missionare, z. B. bei Johann Gerhards "Heiligen Betrachtungen" und Bogatzkys "Schatzkästchen". Auch bei der Revision der Fabrizius-Bibel war er tätig.

 Die letzte Zeit seines Lebens musste er noch durch das dunkle Tal des Leides hindurch. Ein Schlaganfall warf ihn auf ein mehrjähriges Krankenlager, bis er schließlich 1880 seine Augen schloss. "Er hat getragen Christi Joch, ist gestorben und lebet noch", ruft ihm Missionar Heinrich Cordes nach.

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3. N. Devasagayam

Der dritte Tamulenpfarrer, dessen Bild wir skizzieren möchten, ist der erst 1919 gestorbene N. Devasagayam. Er entstammte einer Räuberkaste, den sogenannten Kallern. Seit Generationen wohnte sein Geschlecht in Kanandagudi. Sein Urgroßvater Mathânden war bereits Christ geworden und hatte von Christian Friedrich Schwartz in Tanjore die Taufe erhalten. Gleichzeitig wurde er von einem alten Familienübel geheilt, einem Unterleibsleiden, das bis dahin seit Jahrzehnten wie ein Fluch auf der Familie gelegen und die Männer stets in jungen Jahren dahingerafft hatte. Jetzt war dieser Bann von der Familie gewichen und stellte sich hernach nie wieder ein. Devasagayam wurde 1851 geboren. Als der Junge heranwuchs, kannte er keinen sehnlicheren Wunsch, als Offizier zu werden. Aber diese Hoffnungen zerschlugen sich, als seine Eltern um ihres Glaubens willen mit zwei anderen Familien blutenden Herzens von der altererbten, heimatlichen Scholle fortwandern mussten. Die anderen Dorfgenossen, einst Christen wie sie, waren abgefallen und hatten alle Wasser- und Feuergemeinschaft mit ihnen abgebrochen. Die drei Familien wollten gemeinsam nach Mauritius auswandern. Schließlich gelang es zwei von ihnen, sich wenigstens nach Trinidad einzuschiffen; aber Devasagayams Vater wurde als zu alt abgewiesen. Nach manchen Irrfahrten gelangte die vereinsamte und verarmte Familie nach Mayavaram zu Missionar Schwarz - seltsamerweise wieder einem Schwarz -, der sich der Verlassenen erbarmte und den Alten als Küster anstellte. Er nahm sich besonders des Jungen an, der von unbestechlicher Wahrheitsliebe und von einem unbeugsamen, geraden Charakter war. Er sorgte wie ein leiblicher Vater für ihn und ließ ihm eine treffliche Erziehung zuteil werden. Auch später blieb er sein väterlicher Berater, der ihn an den entscheidenden Wendepunkten des Lebens mit manchmal unnachgiebiger Festigkeit nach seinem Willen leitete. An mancherlei Klippen fehlte es nicht. Schon in der Kostschule ging es gelegentlich hart auf hart. Später stand Devasagayam als junger Lehrer in schwerer Gefahr, dem Christentum den Rücken zu kehren, weil ihn die Schönheit der altindischen Philosophie bestrickt hatte. Noch später hing er sein Herz an irdische Güter, an Geld und Ehre. Aber nie trübte sich das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden, und Devasagayam fand sich stets wieder zurecht. Schwarz bestimmte seinen Schützling für das geistliche Amt, und dieser willigte, wenn auch mit äußerstem Widerstreben, darein. 1881 beendigte er seinen theologischen Lehrgang. Nach einer kurzen Kandidatenzeit in Tanjore, wo er sich während einer Choleraepidemie bei seinen Hausbesuchen ansteckte und an den Rand des Grabes geriet, wurde er 1884 ordiniert und nach Chidambaram versetzt. Dies ist eine Hochburg des Hinduismus; gleichwohl fand er unter den Brahmanen des großen Tempels überraschend guten Eingang. Aber schon nach kurzer Zeit erhielt er Anweisung, nach Porayar überzusiedeln, und musste bald darnach auf ein Jahr nach Rangun. Ergötzlich weiß er zu berichten, wie er auf der Seefahrt dorthin, die sich über Erwarten in die Länge zog, schließlich vor lauter Hunger zwei Schüsseln Reis aß, die nicht von Kastenangehörigen zubereitet waren, und dadurch zum ersten Male zum Bruch der Kaste verleitet wurde. Als er sich gesättigt hatte und nun in Ruhe über das Geschehene nachdachte, war er Manns genug und Christ genug, sich nun endlich ein für alle Male von allen Kastenvorurteilen loszusagen. Eine kurze Wirksamkeit in den Pariagemeinden der Station Mayavaram folgte, bis seine Wanderjahre ihr Ende erreichten und Devasagayam 1889 als selbständiger Pfarrer - als der erste unter den Tamulen - mit der Pflege der schwierigen Madras-Gemeinde betraut wurde. Fast ein Menschenalter war es ihm vergönnt, dort eine reich gesegnete Wirksamkeit zu entfalten. Man muss das selbst in seiner auf Deutsch veröffentlichten Selbstbiographie nachlesen, wie er die schon lange in jener Gemeinde bestehenden Spaltungen durch geduldige Wortverkündigung beseitigte, den Kasten stolz der Gemeindeältesten durch die jungen Männer des von ihm gegründeten Bibelkreises, zu dem später auch Parias gehörten, überwand, in unermüdlichem Streben seine Predigten auf die Bedürfnisse seiner Gemeinde abstimmte usf. In den Zeiten, wo die Kämpfe in der Gemeinde besonders tobten und wo er um seiner geraden, aufrechten Art willen viel angefochten wurde, konnte er nie ohne einen handfesten Knotenstock ausgehen, weil ihm aufgelauert wurde; aber er brauchte nie Gebrauch von ihm zu machen, da er Anrempeleien nicht tragisch nahm. Dieses muskulöse Christentum, das seine Abkunft von einem rauen, energischen Geschlechte verrät, verband sich mit einem heißen, wissenschaftlichen Streben.

Wenn wir nach den reifsten Früchten der deutschen Missionsarbeit in Indien fragen, finden wir die Männer, deren Bild wir vor uns haben lebendig werden lassen, mit in der ersten Reihe, aber sie sind längst nicht die einzigen. Hinter ihnen steht unsichtbar die große Schar derer, die unter der glühenden Sonne Indiens unter vielfachen Anfechtungen ein mannhaftes Christenleben gelebt und siegreich überwunden haben. Gott schenke der indischen Christenheit viele solche wackeren Führer und segne dazu auch weiterhin den Dienst der deutschen Mission.

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Nâdiamman, die Göttin von Pattukkottai

Ein Beitrag zum Verständnis der Volksreligion in Indien

Von Paul Gäbler

Vom Missionsdienst der Lutherischen Kirche. Berichte und Übersichten dargeboten von der Missionskonferenz in Sachsen durch W. Gerber. Verlag H. G. Wallmann Leipzig 1938. Seite 35 bis 48.

Die Zahl der südindischen Gottheiten ist erstaunlich groß und wird sich wohl je kaum statistisch erfassen lassen1. In den Städten und Dörfern findet man überall die großen und kleinen Tempel, in denen die Götter und Göttinnen aus dem riesigen Pantheon des Volkshinduismus verehrt werden. Besonders in Zeiten der Heimsuchung oder in den Tagen des Götzenfestes strömen die Menschen, oft aus einem weiten Umkreis, zusammen, um ihre Spezialgottheit anzubeten und sich ihrer besonderen Gunst zu versichern. Befasst man sich mit der wichtigsten Literatur hierüber, so bekommt man einen geradezu verwirrenden Eindruck von dieser tropischen Fülle indischer Göttergestalten, erhält aber dach auch zugleich eine Gesamtschau, durch welche die allgemeinen Grundzüge dieser Dorffrömmigkeit deutlich werden, die trotz zahlreicher Abweichungen in den Einzelheiten doch überraschend viele gemeinsame Züge aufweist. Die Erforschung des Heidentums ist ein Stück Missionsdienst.

Demgegenüber möchte der vorliegende Aufsatz die Monographie einer einzelnen Gottheit versuchen. Der kundige Beobachter wird dabei auf Schritt und Tritt Züge finden, die für die Verehrung derartiger Dorfgottheiten schlechthin typisch sind. Dass ich für diesen Zweck die meines Wissens in der Fachliteratur bisher noch nicht erwähnte Göttin Nâdiamman ausgewählt habe, beruht auf dem Umstand, dass ich mehrere Jahre in Pattukkattai gewohnt habe und so Gelegenheit zu einem eingehenderen Studium dieser Göttin hatte2. Es mag noch hinzugefügt werden, dass Pattukkottai ein etwa 45 Kilometer südlich von Tanjore gelegenes Landstädtchen ist. Bei der letzten Volkszählung 1921 hatte es 10.951 Einwohner.

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1. Die Anfänge der Nâdiamman-Verehrung

Hierüber lässt sich nichts Sicheres ermitteln. Vermutlich aber verbergen sich hinter den verschiedenen Legenden, die über den Ursprung der Nâdiamman im Umlauf sind, auch historische Tatsachen. Das Gemeinsame an ihnen ist die Behauptung, dass Nâdiamman aus einer anderen Ortschaft eingewandert und in Pattukottai Zuflucht gesucht und gefunden habe. Zwei geflügelte Worte, die dort gern zitiert werden, lauten:

  • "Die Pidâri3, die Zuflucht suchend hergekommen ist, hat die ansässige Pidâri vertrieben."

  • "Die Pidâri, die Schutz vor dem Regen suchend hergekommen ist, begann um das Land zu streiten."

Eine Legende, die an erster Stelle genannt sei, hängt mit dieser Überlieferung eng zusammen. Darnach gab es in Pattukkottai ursprünglich eine Gottheit mit Namen Pattatal, die von Nâdiamman aus Paingânâdu, einem Dorfe sechs Meilen südlich von Mannârgudi und 15 Meilen nordöstlich von Pattukkottai bei einem heftigen Regen vertrieben wurde und sich dann in den vakanten Tempel von Paingânâdu zurückzog. Der Ausspruch "Pattatal von Pattukkottai und Nâdiamman von Paingânâdu" erinnert an die ursprünglichen Verhältnisse. Demnach hätte sich Nâdiamman als die stärkere Gottheit durchgesetzt. - Ob es sich dabei um die Anspielung an die Zeiten handelt, wo der Kampf um den Sieg der verschiedenen Gottheiten noch unentschieden war? Liegen hier Anklänge an die Epoche vor, wo die dravidischen und die arischen Gottheiten miteinander im Wettbewerb standen?

Eine andere Legende besagt, dass Nâdiamman ursprünglich in Pangâttuvayal, einem Teil von Pannaivayal, beheimatet gewesen sei. Dieses Dorf liegt vier Meilen südwestlich von Pattukkottai. Dort wird noch heutigentags zur Zeit des Nâdiamman-Festes in Pattukkottai Nâdiamman von den Bewohnern Pannavayals in einem sonst verlassenen Lehmtempelchen mit Palmblattdach verehrt. Hierauf bezieht sich der Ausspruch: "In Pannavayal werden die Ziegen geopfert, aber nur in Pattukkottai finden die Wagenprozessionen statt."

Eine dritte Legende bezeichnet Nädiyam, ein etwa zehn Meilen südlich von Pattukkottai entferntes und in der Nähe von Setubavâ-Chattram befindliches Dorf als den ursprünglichen Sitz von Nâdiamman. Es heißt, dass ein Sanniyasi das Bildnis der Gottheit entweder von sich aus oder auf Anordnung des damaligen Tanjore-Königs nach Pattukkottai geschafft habe. Auf dieser Reise soll er auch in Pannavayal, das allerdings für diesen Zweck etwas abseits liegt, Halt gemacht haben. - So mag anfänglich die zweite Legende nur ein Teil der eben genannten gewesen sein.

Eine vierte Version besagt schließlich, dass einer der Tanjore-Könige auf seiner Reise erkrankt sei und die Göttin Nâdiamman, deren Statue sich noch im Besitz des eben genannten Sanniyasi befand, um Hilfe angefleht habe. Der König sei daraufhin gesund geworden und habe aus Dankbarkeit Felder und Ländereien im Umfang von 750 Äckern (ca. 250 ha) dem Sanniyasi geschenkt. Dieser scheint das Land auf die Göttin überschrieben zu haben. Tatsache ist, dass schon seit sehr langer Zeit diese 250 ha Land in den Grundbüchern auf den Namen der Göttin selbst eingetragen sind. Sie ergeben ein jährliches Einkommen von etwa 5.000 Rupies, das fast ganz für das jährliche Fest der Göttin verausgabt wird. Ein Komitee ist für die Tempel-Verwaltung verantwortlich, bezahlt u.a. das Gehalt der beiden unten zu erwähnenden Priester und achtet auch auf die sichere Verwahrung der Tempeljuwelen, deren Wert auf 30.000 Rupies angegeben wird.

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2. Die Tempel

In Pattukkottai gibt es zwei Tempel, in denen Nâdiamman angebetet wird. Der Haupttempel der Gottheit befindet sich südlich der Eisenbahnstation etwa fünf bis zehn Minuten außerhalb der Stadt inmitten der Felder auf der einen Seite und eines Stausees auf der anderen Seite. Hier steht das Steinbild der Gottheit. Der Tempel ist rings von einem breiten Hofe umgeben, der von einer zyklopischen Mauer umschlossen ist. Östlich schließt sich ein Garten an; dort steht ein Schuppen, in dem der Priester die Mahl-Zeiten für die Göttin zubereitet. Im Vorderhof steht der Opferaltar. Außerhalb der Tempelmauer und vor ihrem Eingang befindet sich ebenfalls ein altarähnlicher Aufbau. Rechts und links vom Eingang stehen unter dem gewölbten Dach von zwei Nischen, die wie zwei kleine Extra-Tempelchen anmuten, die beiden männlichen Begleiter von Nâdiamman, die nach ihrem Standort als "östlicher Riese" und "westlicher Riese" bezeichnet werden. Es sind unschöne Tonfiguren von plumpen, furchterregenden Männern mit einer Schlange um den Hals, einer schweren Keule in der Rechten und einem Schwert, das links herunterhängt. Dicht bei diesen Begleitern der Gottheit stehen zwei Tonpferde einander gegenüber, fertig gesattelt und mit einem Schwert, das rechts herunterhängt, und einem Köcher voller Pfeile auf der linken Seite. Diese Pferde sind für den Gebrauch der Begleiterin der Göttin gedacht. Sie selbst jedoch hat für ihre Ritte einen Yâli (Löwen), dessen Tonfigur mit der Blickrichtung auf den Tempeleingang nicht weit von diesem entfernt errichtet ist. Ein weiteres Tonpferd steht ebenfalls zur Verfügung von Nâdiamman; es ist einst als Dank für die Erhörung einer Bitte und gewiss einem Gelöbnis aufgestellt worden.

Die zweite Anbetungsstätte findet sich am westlichen Rand von Pattukkottai innerhalb des alten Forts im dortigen Sira-Tempel. Dort steht gleichfalls ein Bildnis der Nâdiamman, ist jedoch aus Pancha-Locham angefertigt, d.h. aus den fünf Metallen Gold, Silber, Kupfer, Eisen und Blei. Es wird zur Zeit der Götzenprozessionen herumgetragen, während das im anderen Tempel stehende Steinbild nie von der Stelle gerührt werden darf. AIs Grund dafür, dass das Metallbildnis im Sira-Tempel steht, wird angegeben, dass Nâdiamman gleichzeitig eine Inkarnation von Pārvati, der Gattin Sivas, sei.

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3. Die Priester

Der Priester des Hauptheiligtums ist ein Nichtbrahmane, und zwar ein Sudra. Er bekommt monatlich zwölf Rupies Gehalt außer den Gaben, die ihm die Gläubigen zukommen lassen. Er sagt, dass seine Vorfahren schon seit zehn Generationen dies Amt innegehabt haben.

Im Fort-Tempel dagegen ist ein Brahmane gegen ein Monatsgehalt von 15 Rupies als Priester angestellt. Der Unterschied im Gehalt erklärt sich daraus, dass er eben ein Brahmane ist. Auch er erhält noch Extragaben von den Tempelbesuchern. Während der Festzeit übernimmt er jedoch auch im Haupttempel den Dienst, während dann der Nichtbrahmane mit weniger wichtigen Dienstleistungen zufrieden sein muss.

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4. Die Verehrung der Göttin

Täglich wird die Göttin verehrt. Dabei werden die Opfer von den beiden Priestern in dem ihnen zustehenden Tempel dargebracht. Die Hindus kommen jedoch nur nach ihrem eigenen Be-lieben und zu beliebigen Zeiten, meist früh morgens oder gegen Abend kurz vor der Dämmerung. Es ist selbstverständlich, dass die Kastenlosen nicht den Tempel selbst betreten dürfen. Die Brahmanen ziehen meist den Fort-Tempel vor, die anderen Kaufleute den Tempel draußen.

Man kann verschiedene Formen der Anbetung unterscheiden, die praktisch überall in Süd-Indien im Schwange sind. Aber die im folgenden aufgezählten Formen wurden ausdrücklich in dieser Weise von den Bewohnern in Pattukkottai differenziert. Es sind durchweg die typischen Formen primitiver Religiosität, die der Gottheit mit der do-ut-des-Einstellung naht.

4.1 Die gewöhnliche Form

Sie besteht darin, dass der Fromme zunächst entweder seinen ganzen Körper badet oder wenigstens Gesicht, Hände und Füße abspült. Dann umschreitet er ein oder mehrere Male den Tempel, wobei er entweder über sein Anliegen meditiert oder irgendwelche Gebetsformeln mit halblauter Stimme hersagt. Wenn er auf seinem Wege am Tempeleingang vorbeikommt, bleibt er einen Augenblick stehen und verneigt sich in der Richtung nach Nâdi. Schließlich tritt er in den Tempel ein und geht zum Mulastânam, zum Allerheiligsten. Dort verneigt er sich nochmals mit aneinander gelegten Händen oder schräg übereinander gekreuzten Armen - wenn er etwas besonders Dringendes auf dem Herzen hat, wirft er sich der Länge nach auf den Boden und berührt mit der Brust und mit der Stirn den Boden - und empfängt aus der Hand des Priesters Vibuthi (heilige Asche von verbranntem Kuhdung) oder Kungumam (rotes Pulver, eine Mischung aus Safran, Alaun, Limonensaft u. a.) oder beides und macht sich damit Götzenzeichen an seine Stirn und seinem Körper. - Dies Opfer wird besonders gern dargebracht, wenn man etwas sehr Wichtiges vorhat und sich der Gunst der Göttin versehen will.

4.2 Archanai

Dies ist die Form der Verehrung, bei der die Hindus der Gottheit bestimmte Gaben kleineren Alusmaßes darbringen, wie Kokosnüsse, Bananen, Blumen, Betel-Blätter, Kampfer, Geld. Diese Opfergaben überreichen sie dem Priester. Dieser bringt sie zunächst der Göttin dar und trägt sie dann zum Altar.

4.3 Abishecham

Hierbei bringen die Anbetenden Öl, Rosenwasser, Milch, Safran, Honig, Streuzucker, Kandiszucker, getrocknete Weintrauben und ähnliche Opfergaben dar. Beliebt sind hierfür der Dienstag und Freitag, die beiden Tage, die nach hinduistischer Auffassung besonders glückverheißend sind.

4.4. Padikattuthal

 Dies Wort bedeutet im volkstümlichen Sprachgebrauch eigentlich: Zahlung der Rechtsanwalt-Gebühren. Im religiösen Sinn bedeutet es, dass man sich an die Gottheit wendet, damit sie als Richterin eingreift. Meist geschieht dies, wenn der Hindu glaubt, dass ihm Unrecht geschehen ist, und er nun die Göttin zur Rache aufruft. In diesem Falle naht er sich der Göttin mit einer größeren oder kleineren Geldsumme, die er ihr zu Füßen legt. Gleichzeitig redet er sie an und bittet sie um ihr Einschreiten. Dann nimmt der Priester das Geld an sich, kauft davon Früchte und dergleichen und bringt sie als Opfer dar.

4.5 Vênduthal

Dies Opfer wird dargebracht, wenn der Bittflehende sein Anliegen ganz besonders nachdrücklich vor die Göttin bringen will. Die Opfergabe kann z. B. aus einer lebenden Ziege oder aus einem übermannsgroßen Tonpferde bestehen. Doch kann man sich auch mit Gaben in Spielzeug-Größe behelfen. Sehr beliebt ist bei Ehepaaren, die Kindersegen erflehen, eine winzige Schaukel aus Holzstäbchen mit einer Lehmpuppe. Oder wenn jemand beispielsweise ein krankes Bein hat, bringt er ein aus Ton angefertigtes Bein dar. Diese Opfergaben werden entweder auf die Tempelmauer befördert, wo sie dann jahrelang ein wenig ästhetisches Dasein fristen, oder in eine Ecke des Tempelhofes geworfen, wo sich ein großer Haufen solch zerbrochener Opfergaben auftürmt.

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5. Das Fest der Göttin

Es wird alljährlich im Monat Panguni (Mitte März bis Mitte April) gefeiert. An seinem Beginn steht die Kâppukattal genannte Zeremonie, die an einem glückverheißenden Tage, einem Dienstag, ihren Anfang nimmt. Diejenigen, die sich dieser Zeremonie unterziehen, haben sich zunächst durch ein Bad zu reinigen, dann sich vom brahmanischen Priester eine safrangelbe Schnur am Unterarm dicht vor dem Handgelenk als Schutz (= kâppu) umbinden (= kattal) zu lassen und für acht Tage im Tempelbezirk zu bleiben, wo sie nur vegetarische Kost verzehren dürfen, die im Tempel oder in ihren Häusern zubereitet worden ist. Sie dürfen zwar den Tempel verlassen, aber nicht die Eisenbahnlinie überschreiten und damit die Stadt betreten, da sie sich dadurch verunreinigen würden. Es sind jedes Jahr vier Personen, die sich dem Kâvpukattal unterziehen: ein Glied aus der Familie des Sudra-Priesters, ein Adidravida, ein Ambalakaran (beides sind Kastenbezeichnungen, allerdings von "Kasten", die eigentlich nicht mehr Kasten sind, sondern zu den Kastenlosen gehören) und ein Chetty (Kaufmannskaste) aus Vendakottai unweit Pattukkottai. Während dieser Woche legen sich überhaupt die frommen Hindus eine Reihe von Beschränkungen auf: sie unternehmen keine Reise, veranstalten keine Hochzeit oder auch nur Vorbereitungen dazu, bringen keine Frau zu ihrer Entbindung in ihrer Mutter Haus, entfernen nicht das Korn vom Dreschplatz vor dem Hause, beginnen keinen Hausbau usf. Es ist zwar zu beachten, dass es vor allem die Alten sind, die besonders auf diese Dinge achtgeben, die sich auch gern auf vegetarische Speise während dieser Zeit beschränken, aber auch die Jüngeren bezeigen ein großes Interesse an dem Fest und nehmen daran teil.

Der achte Tag nach dem Kâppukattal bringt den Transport des Bildnisses der Göttin aus dem Fort-Tempel zur Basarstrasse. Es wird auf den vier rechtwinklig verlaufenden Hauptstraßen der Stadt entlang getragen und dann unter einem riesigen Baldachin auf einem erhöhten Platz, dem sogenannten Mandakapadi, mitten auf der Basarstraße niedergesetzt, wo es für die nächsten zehn Tage verbleibt, abgesehen von den Stunden, in denen es zu Prozessionen herumgetragen wird. An diesem gleichen Tage bringen die Koliars (Angehörige der Weberkaste) vier Ziegenböcke als Opfer dar. Der Vetti (eig. Schlächter), ein Tempeldiener, der gleichzeitig der Hüter des Leichenbrennplatzes ist, haut die Köpfe der Ziegen ab und behält sie für sich, während der übrige Körper den Opfernden zum Schmaus überlassen wird. Außerhalb der Festzeit besorgt dies Geschäft auch der Sudra-Priester (nie der Brahmane), falls der Vetti abwesend ist.

Dann beginnt das Fest im engeren Sinne und dauert für zehn Tage, wie die meisten derartigen Tempelfeste. Riesige Menschenmengen strömen aus dem ganzen Umkreis nach Pattukkottai und füllen die Straßen mit wogendem Leben an. Selbst von weit entfernten Dörfern kommen die Dörfler, um am Feste teilzunehmen. Täglich wird das Bildnis in immer neuer Bekleidung und Aufmachung und auf einem immer neuen Vahanam (Reittier einer Gottheit) ausgeführt. Unterwegs bringen die Menschen Kokosnüsse, Bananen und Kampfer als Opfergaben dar, die der Brahmanenpriester an sich nimmt; nur eine Hälfte der Kokosnuss und eine Banane wird dem Opfernden zurückgegeben. Eine andere Eigentümlichkeit besteht darin, dass die Kosten jedes einzelnen Tages abwechselnd von bestimmten Gruppen von Menschen getragen werden, wie es seit alters traditionsgemäß festgelegt worden ist. Diese Ausgaben, die sich auf durchschnittlich täglich 500 bis 600 Rupies (1 Rupie = 90 Pfennig) belaufen, umfassen das Ausschmücken der Göttin, das tägliche Feuerwerk, die Bezahlung der Trommler, Pfeifer und anderer Musikanten, das Mieten der tragbaren Gaslaternen u. a. Die Pfeifer werden gewöhnlich aus Tanjore von der dortigen Palast-Musikkapelle bestellt und gelten als mit die Tüchtigsten in der ganzen Madras-Präsidentschaft. Wenn eine Gruppe nicht für die Kosten des ihr zustehenden Tages eintritt, springt das oben erwähnte Tempelkomitee in die Bresche. Bei den Prozessionen fehlen auch nicht Tänzer auf Stelzen mit Pferdemasken vor dem Gesicht sowie Tempelmädchen, die ebenfalls von auswärts bestellt werden. Die Prozessionen beginnen abends um etwa zehn Uhr und bewegen sich dann meistens durch die schon genannten vier Hauptstraßen. Vereinzelt finden auch Tagesprozessionen statt, die dann durch fast alle Straßen der Stadt führen. Ein besonders langer Halt wird stets vor dem Hause derer gemacht, die an dem betreffenden Tage für die Kosten verantwortlich sind.

Wir wenden uns nun im einzelnen den zehn Festtagen zu, deren erster auf den neunten Tag nach dem Beginn des Käppukattal fällt.

1. Tag

Die Kosten tragen die Kaller (Angehörige der Räuberkaste) der Kandianstrasse in Pattukkottai. Die Göttin reitet auf Kâmadhênu, alias Surabhi, der Kuh, die entstand, als das Milchmeer gebuttert wurde, und alle Wünsche zu erfüllen vermag. Nâdiamman wird vor dem Hause von Mr. Nadimuthupillai, dem reichsten Mann Pattukkottais, der gleichzeitig Präsident des West-Tanjore-Distnkt-Boards ist, bekränzt, und zwar von einer Puppe.

2. Tag

Für die Ausgaben sind die Beamten des Distrikt-Munsif-Gerichtes (Munsif: der Richter des untersten Zivilgerichtes) verantwortlich. Über Tage wird Nädi auf einem herrlich geschmückten Blumen-Palankin herumgetragen. Während der abendlichen Prozession reitet Nädi auf einem Elefanten (eigentlich Reittier des Indra) als Vahanam und wird von einer Puppe vor dem Munsif-Gericht bekränzt.

3. Tag

Kosten: die Bewohner der Thiniah-Strasse. Vahanam: ein Schwan. Bei Tage wieder herumtragen des Palankin. Abends eigentliche Prozession. Bekränzung der Göttin in der Chiniah-Straße unter einem besonders errichteten Baldachin.

4. Tag

Kosten: die Beamten des Taluk-Office und des Devuty-Collectors4, Vahanam: ein Buthan (Riese).

5. Tag

Kosten: die Kaufleute der Chetty-Straße und der Hauptbasar-Strasse. An diesem Tage wird die Göttin als Narasimha-Avatara (Inkarnation als Mann-Löwe) verehrt und entsprechend gekleidet. Ähnlich wie Vishnu in dieser seiner vierten Inkarnation den Dämonen Hiranya-Kasipu überwältigt und vernichtet hat, erhofft man auch von Nâdi den Sieg über die bösen Geister und Dämonen. Sie reitet auf einem Yäli (Löwen) und wird mit einem Kranz aus Varahu-arisi (paspulum frumentaceum, eine Art Hirsekörner) geschmückt. Dieser Tag gilt als ziemlich bedeutsam.

6. Tag

Die Kosten bestreitet ein Nachkomme von Verwandten der früher in Tanjore herrschenden Maratha-Könige. Er heißt Râmachandra Sivaji Kattehâl Rao Sahib (Rao Sahib ist ein von der Regierung für besondere Verdienste verliehener Titel) und ist der Besitzer der Fluren des Dorfes Maharaja-Samutiram, die er durch einen Verwalter bewirtschaften lässt, während er selbst in Tanjore wohnt. Das Vahanam ist Rishabha, der Stier Sivas. Es ist interessant, dass in den Siva-Tempeln bei den allgemein üblichen zehntägigen Festen das Götterbild Sivas an einem bestimmten Tage auf diesem Stier in einer Prozession durch die Straßen getragen wird und dass dabei gerade dieser Tag als der wichtigste gilt5.

7. Tag

Die Ausgaben werden auf die Karnams (Rechnungsführer) einer Reihe von Dörfern umgelegt. Über Tage wird die Göttin wieder in Prozession herumgeführt, wobei ihr die Hindus in Töpfen Butter darbringen. Diese Zeremonie heißt Venneitâli.

8. Tag

Dies ist der wichtigste Tag des Festes und trägt den Namen Pâlkâvadi-Tiruvlâ. An diesem Tage wird das Bildnis der Göttin zum Tempel getragen und dort eine Weile aufgestellt. Nur eine kleine Handtrommel wird während der Prozession geschlagen, während die Pfeifer und anderen Musikanten an diesem Tage ihre Musik ruhen lassen. Es ist schwer zu erklären, warum dies der Fall ist. Am einleuchtendsten von den verschiedenen Äußerungen der Leute hierzu scheint mir die Angabe zu sein, dass Nâdiamman schon beim allerersten Male, als sie im Tempel aufgestellt wurde, ohne Musik dahin gebracht worden sei. Im übrigen finden verschiedene Zeremonien an diesem Tage statt. Die wichtigste ist das Pâlkâvadi-Tragen, das auf diesen Tempelfest (Tiruvilâ)tag fällt. Kâvadi ist anscheinend "die Zusammensetzung der zwei Worte kâvu und adi und bedeutet das Gelöbnis, dass man die Strecke bis zum Walfahrtsort zu Fuß zurücklegen will"6. Praktisch ist Kavadi die Bezeichnung einer Tragstange mit einem Aufbau; das Ganze wird auf der Schulter getragen; an den beiden Enden der Tragstange ist je ein Messinggefäß aufgehängt. Es gibt verschiedene Arten von Kâvadi-Tragen, je nach dem, was in diesen Messinggefäßen eingesammelt wird. PâI(Milch)kâvadi ist "das Gelöbnis, von Haus zu Haus Milch zu erbitten, die dann im Gottesdienst benutzt wird. Gewöhnlich wird die eingesammelte Milch auf das Bild der Gottheit ausgegossen, dann wieder in einem Gefäß gesammelt und schließlich weiterverwandt, indem man sie an die Kinder verteilt oder damit seinen eigenen Hunger und sein eigenes Verlangen stillt"7.

Eine weitere Zeremonie ist das Mudi-irakkal. Diejenigen, die im Laufe des vorhergehenden Jahres gelobt haben, ihr Haupthaar (mudi ist eigentlich das Haarknäuel) als Opfergabe darzubringen, rasieren es sich an diesem Tage ab oder schneiden es ab (irakkal), bringen es zum Tempel und werfen es in der Nähe des innersten Tempelgemaches, genannt Mulastânam, auf den Boden.

Eine dritte Zeremonie ist das Darbringen des Mâvillakku. Dies ist eine Opfergabe bestehend aus geknetetem Teig (Mâ oder Mâvu), der so geformt wird, dass er oben in der Mitte ähnlich wie bei einem Kuchen eine Vertiefung aufweist. In diese Vertiefung wird geronnenes ÖI (Ghee) gegossen, ein kleiner Docht darin befestigt und angezündet, so dass es als Licht (villakku) brennt und der Göttin dargebracht. Übrigens wird auch sonst in vielen frommen Hindu-Häusern in einer Ecke des Hauses vor einem Götterbildnis dieses "Teiglicht" gern dargebracht. Es ist interessant, dass diese drei Zeremonien auch durch Geldgaben abgelöst werden können, die dann dem Tempelschatz zugefügt werden. Und zwar wird das Pälkävadi mit acht Annas (1 Anna = ca. 5 Pf.), das Mudi-irakkal mit vier Annas und das Mâvillakku mit zwei Annas bewertet.

Weiter werden an diesem Tage sehr zahlreich früher gelobte Schlachtopfer dargebracht, und zwar Ziegenböcke und Hähne. Leim Ziegenopfer werden die gleichen Sitten beobachtet, die auch sonst für Südindien charakteristisch sind, aber bisher noch nicht in allen Stücken eine befriedigende Erklärung gefunden haben8. Ehe der Kopf des Opfertieres abgeschlagen wird, besprengt man es mit Wasser, dem Safran zugefügt ist. Verhält sich das Tier dabei völlig ruhig, wird es nicht geopfert, da man denkt, dass es der Göttin nicht genehm ist. Schüttelt es sich dagegen und bewegt den Kopf, wird dies als Zustimmung der Göttin gedeutet und das Tier getötet. Nachdem. der Kopf vom Vetti bzw. Sudrapriester (vgl. oben) mit einem einzigen Hieb vom Rumpfe abgetrennt worden ist, wird die untere Hälfte des rechten Vorderbeines abgeschnitten und quer in das Maul des vor der Göttin auf den Boden gelegten Kopfes gesteckt, was gerade diese letzte Handlung betrifft, die in vielen, weit entfernten Orten Südindiens nachweisbar ist, ist sie, soweit ich sehe, wissenschaftlich noch ungeklärt9. Was das Opfer von Hähnen betrifft, so ist bemerkenswert, dass es an diesem Tage nicht nur in Pattukkottai selbst stattfindet, sondern in zahlreichen Dörfern selbst der weiteren Umgebung Pattukkottais. Die Grenze im Süden für diese Sitte bietet erst der Ambular-Fluß, eine Entfernung von etwa 15 Meilen.

9. Tag

Dies ist der Tag, an dem der Götzenwagen durch die vier dafür bestimmten Straßen gezogen wird. Der riesig hohe Wagen wird schon lange vorher auf das schönste geschmückt und dann an riesigen Tauen langsam von den Menschen Schritt für Schritt weitergezogen. Manchmal wird dies an den beiden folgenden Tagen wiederholt.

10. Tag

An diesem Tage kommt das Nâdiamman-Fest zum Abschluss, und das Bildnis der Göttin wird zum Siva-Tempel zurückgebracht. Dort findet eine Abisheka(Salbungs)-Zeremonie statt, die vom früher erwähnten Mr. Nadimuthu-Pillai ausgeführt wird. Kostbare Öle und Salben werden dabei über der Göttin ausgeschüttet. Die Kosten der Weihehandlung belaufen sich auf mehrere hundert Rupies.

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6. Abschließendes

Die synkretistischen Tendenzen des Hinduismus und vollends des Volkshinduismus zeigen sich vielleicht nirgends so deutlich wie bei der Verehrung einer derartigen Gottheit wie Nädiamman. Was immer an religiösem Erbgut lebendig ist, hat sich in dem breiten Bett dieses Götzendienstes vereinigt. Die Verehrung von Indra, Siva, Pârvati, Surabhi, Rishabha und anderen Gottheiten fließen in eins zusammen. Speiseopfer, Tieropfer und Feueropfer fehlen nicht. Animistische Anschauungen und abergläubische Vorstellungen haben sich mit althinduistischem Religionsgut zu einem fast unentwirrbaren Ganzen vereinigt. Arische wie dravidische Ideen stehen dabei Pate. Was gegenwärtig geübt wird, ist freilich im allgemeinen nicht viel mehr als eine Fülle halbtoter Zeremonien, deren Sinn und innerer Wesensgehalt selbst dem Frommen kaum mehr erkennbar ist. dass hier noch vieles der wissenschaftlichen Forschung und ihrer Erschließung harrt, dürfte deutlich geworden sein.

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Anmerkungen

1 Bischof Whitehead zählt in seiner Studie The Village Gods of South India" (London, Madras usw., 1921) die Namen von nicht weniger als 19 verschiedenen männlichen und 97 verschiedenen weiblichen Gottheiten auf, die entweder vereinzelt oder hin und her im ganzen Lande verehrt werden. Auch Dr. Frölich erwähnt in seinem Büchlein "Tamulische Volksreligion" (Leipzig 1915, 2) eine ganze Reihe derartiger Gottheiten, ebenso Dr, Elmore in "Dravidian Gods in Modern Hinduism. A Study of the Local and Village Deities of Southern India" (Madras usw., 1925).

2 Ich erwähne dankbar, dass ich die meisten Einzelheiten der Mitarbeit zweier Inder, D. Chinnappan und G. D. Francis, zu verdanken habe, die mir das von ihnen zusammengetragene Material zur Verfügung stellten. Wer die indischen Verhältnisse kennt, weiß, dass man als Europäer bei derartigen Nachforschungen auf die Hilfe zuverlässiger Inder angewiesen ist. Der Tempel Nâdiamman wird im Internet Sri Nadiyamman Temple genannt. Andreas Nehring zitiert in seinem Buch "Orientalismus und Mission - Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840 -1940", Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2003, Seite 87-88 diese Anmerkung:

"Wenn auch in den Stationsberichten der Missionare gerade diejenigen Stellen, die einen Dialog mit den 'Heiden' wiedergeben, starke apologetische Züge aufweisen, die die theologische Überlegenheit des Missionars herausstellen sollen und seine autoriale Kontrolle bestätigen, und es schwierig ist festzustellen, ob der Missionar die Aussagen seines Gesprächspartners angemessen wiedergegeben hat, so ist aus ihnen dennoch einiges über den 'native's point of view' zu erfahren. Dass allerdings die ,Heiden' meist namenlos bleiben oder allenfalls nach ihrer Kastenzugehörigkeit klassifiziert werden, während der Missionar als das Gespräch dominierende Subjekt erscheint, zeigt, dass der Dialog, der im Text aufgehoben ist, einem bestimmten Muster folgt, das in dem missionarischen Schrifttum Tradition hat. Auch über Informanten von lokalen Verhältnissen, deren Aussagen den Missionaren in der indologischen oder ethnologischen Darstellung als Quelle dienten, erfährt man allenfalls in den Fußnoten oder in bisher nicht aufgearbeitetem Archivmaterial. Zwei Ausnahmen seien hier erwähnt, da sie deutlich machen, dass die Missionare trotz jahrelanger Aufenthalte in Indien in ihrer Kenntnis des Landes von den Informationen der Einheimischen abhängig waren, diese aber meist verschwiegen. Frölich berichtet in seinem Buch über 'Tamulische Volksreligion', dass er sich die Totenrituale der Paraiyar in drei Dörfern von Einheimischen hat aufschreiben lassen, um in die Lage versetzt zu werden, diese von den Ritualen der Brahmanen zu unterscheiden. Um lokale Unterschiede herausarbeiten zu können, kommt es auf die Sicht der Informanten an. Im Gegensatz zu dem am Sanskrit orientierten orientalistischen Diskurs über Indien, der vor allem durch brahmanische Informanten geprägt wurde, haben die Missionare in ihren Berichten oftmals die andere Seite dieses Diskurses repräsentiert. Paul Gäbler, der 1938 eine Ethnographie einer Dorfgöttin von Pattukkottai verfasst hat, erwähnt als einziger der Leipziger Missionare seine Informanten mit Namen und macht zugleich die Abhängigkeit der europäischen Sicht von einheimischen Informationen deutlich. Den Missionarsberichten fehlt aber meist die Polyphonie eines offenen Dialogs, der die Stimme der Einheimischen neben der ihrer westlichen Repräsentanten erklingen lässt. Diese kommt allenfalls in klassischen tamilischen Texten zu Gehör, die von Missionaren übersetzt, zitiert und immer wieder auch als apologetische Argumente im Dialog gegen die Aussagen ihrer tamilischen Gesprächspartner eingesetzt wurden."

Auf Seite 299:

"Gäblers Hinweis auf Nädiyamman als juristische Person und seine Beschreibung der Aufteilung ritueller Aufgaben und Unkosten beim Fest der Göttin, legt daher nahe, die volksreligiöse Verehrung der Göttin nicht von der priesterzentrierten Perspektive der Reinheit her zu interpretieren, sondern von der souveränen Autorität der Göttin, an der verschiedene Gruppen im Ort auf unterschiedliche Weise partizipieren."

3 Nâdiamman wird hier mit der sonst vielerorts verehrten Göttin Pidâri gleichgestellt.

4 Entspricht dem, was etwa z. B. in Sachsen eine Amtshauptmannschaft mit ihren Beamten ist.

5 Vgl. T. A. Gopinatha Rao: Elements of Hindu Iconogravhy, Madras 1916, Bd. II, 352) 

6 P. V. Jagadisa Ayyar: South Indian Customs, Madras 1925, S. 136

7 Jagadisa Ayyar a. a. O.

8 Vgl. Whitehead a. a. O. 139ff., Elmore a. a. O. 127ff.

9 Die Leute in Pattukkottai bezeichnen dies als ein Zeichen der Unterwerfung unter die Gottheit, doch leuchtet diese Deutung nicht ohne weiteres ein.

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