"Ich ging nach Berlin," schrieb im Jahre 1856 der
amerikanische Reisende Bayard Taylor, "nicht um seine Museen und Galerien, die
schöne Lindenstraße, Opern und Theater zu sehen, noch um mich an dem munteren
Leben seiner Strassen und Salons zu erfreuen, sondern um den größten jetzt
lebenden Mann der Welt zu sprechen - Alexander von Humboldt.
Ich drückte die Hand, welche die Friedrichs des Großen,
Forsters, des Gefährten Cooks, Klopstocks und Schillers, Pitts, Napoleons,
Josephinens, der Marschälle des Kaiserreichs, Jeffersons, Hamiltons, Wielands,
Herders, Goethes, Cuviers, Laplaces, Gay-Lussacs, Beethovens, Walter Scotts -
kurz aller großen Männer, die Europa in drei Vierteln eines Jahrhunderts erzeugt
hat, berührt hatte. Ich blickte in das Auge, welches nicht allein die
gegenwärtige Geschichte der Welt, Szene nach Szene, hatte vorüberziehen sehen,
bis die Handelnden einer nach dem anderen verschwanden, um nicht wiederzukehren,
sondern das auch die Katarakte von Aturas und die Wälder von Cassiquiare, den
Chimborasso, den Amazon und Popocatepetl, die Altaischen Alpen von Sibirien, die
Tatarensteppen und das Kaspische Meer betrachtet hatte. Ich habe nie ein so
erhabenes Beispiel bejahrten Alters, gekrönt mit unvergänglichen Erfolgen, voll
des reichsten Wissens, belebt und erwärmt durch die reichsten Attribute des
Herzens, gesehen. Eine Ruine, wirklich? Nein, ein menschlicher Tempel, vollendet
wie der Parthenon."
Das Leben dieses Mannes umspannt einen für das Dasein eines
einzelnen Menschen unvorstellbar langen Zeitraum. Er war siebzehn Jahre alt, als
Friedrich der Große starb. Als er selbst zu Grabe getragen wurde, war Wilhelm
II. schon geboren. In gefahrvollen Situationen traf Humboldt wohl gelegentlich
Bestimmungen für den Fall eines frühen gewaltsamen Todes. Im Grunde war er aber
tief davon überzeugt, dass ihm ein langes Leben beschieden sein werde, um das
vollenden zu können, was er als Mission in sich fühlte. Sein Leben ist geradezu
darauf angelegt, nahezu ein Jahrhundert zu währen.
Humboldt war kein Träumer. Die Welt der Romantik blieb ihm
fremd. Nie verlor er sich in ganz uferlose Wünsche und Pläne. Aber einen Traum
hat er schon als Knabe geträumt und mit grenzenloser Zähigkeit verwirklicht: Die
große Reise. Er verfolgte kein bestimmtes geographisches Ziel. Asien, Afrika,
Amerika, die Südsee und der Südpol, sie alle werden in nüchternen Plänen
erwogen. Der Zufall mehr als sein eigener Entschluss bringt schließlich die
Entscheidung: Amerika. Die Reise machte Epoche, nicht nur im Leben Humboldts,
sondern in der Geschichte der Wissenschaft. Die Reise des Kolumbus führte zur
Entdeckung einer neuen Welt. Humboldts Reise, drei Jahrhunderte später, hatte
zur Folge ein neues Weltbild.
Das erste Menschenalter
Alexander von Humboldt wurde am 14. September 1769 im
gleichen Jahre wie Napoleon und Wellington - in Berlin in der Jägerstraße
geboren. Sein Vater stammte aus einer erst nach 1700 geadelten märkischen
Beamtenfamilie, die Mutter aus einem Hugenottengeschlecht. Im Winter lebte die
Familie Humboldt in Berlin, im Sommer meist auf dem Schlösschen Tegel, das erst
durch die Mutter in die Familie gekommen war. Schon als Zehnjähriger verlor
Alexander den Vater; seitdem wurde seine und des zwei Jahre älteren Bruders
Wilhelm Erziehung allein von der Mutter geleitet. Der Unterricht erfolgte nur
durch Privatlehrer, die Naturkunde trat dabei ganz zurück. In fast allen
Wissenschaften, denen Alexander später sein Leben widmete, war er Autodidakt.
Eine öffentliche Schule hat er nie besucht, auch nie im Leben ein Examen
abgelegt.
Wilhelm erwies sich in der Jugend als der weitaus Begabtere.
Alexander war dauernd kränklich und konnte dem Unterricht nur mit Mühe folgen.
Lange Zeit zweifelten seine Lehrer, ob sich jemals auch nur gewöhnliche
Geisteskräfte bei ihm entwickeln würden. Das Studium des Griechischen hat er
erst als Student begonnen. Wirkliche Begabung offenbarte er nur im Zeichnen.
Schon als Siebzehnjähriger stellte er in der ersten Kunstausstellung der
Berliner Akademie eine Kreidezeichnung aus. Im Radieren und Kupferstechen wurde
Chodowiecki sein Lehrer. Für Musik hatten beide Brüder keinen Sinn. Wilhelm fand
sie unerträglich, und Alexander empfand sie zeitlebens als eine "calamite
sociale".
Mehr noch als andere Knaben interessierten ihn Erzählungen
von Abenteuern und Reisen in fremden Ländern. Vor allem erregte ihn das
Betrachten geographischer Karten, die Umrisse der Länder, die Formen der
asiatischen Binnenseen, auch die Abbildungen von Palmen und Libanon-Zedern in
einer alten Bilderbibel und ein großer Drachenbaum im botanischen Garten in
Berlin. Die ganze Atmosphäre in Humboldts Elternhaus war kühl und korrekt, das
Verhältnis zur Mutter ohne jede Wärme des Gefühls. Von frohen Jugendeindrücken
weiß Alexander nicht viel zu berichten. Briefe aus Tegel datiert er häufig
"Schloss Langweil".
Da Berlin keine Universität besaß, bezog Humboldt als
Achtzehnjähriger mit dem Bruder die Universität Frankfurt an der Oder. Noch
immer zeigte er keine deutliche Berufsneigung, sollte daher auf Wunsch der
Mutter Kameralia studieren, um sich für den Staatsdienst vorzubereiten. Die
Universität war klein und bot wenig Anregungen für Studium und studentisches
Leben. Aber Humboldt war von zu Hause aus nicht verwöhnt. "Mit ein wenig
Philosophie wird man bald gewahr, dass der Mensch für jeden Erdenstrich, also
auch für die frostigen Ufer der Oder geboren ist." Wilhelm stürzte sich sogleich
in ernste Studien. Von seinem Verhältnis zum Bruder sagt er: "Wir sind uns sehr
gut, aber selten einig. Unser Charakter ist zu verschieden." Ihre Beziehungen
sind schon jetzt so wie im ganzen späteren Leben: liebevoll, aber recht
distanziert. Jeder spricht mit betonter Ächtung von den Leistungen des anderen,
doch auf Seiten Wilhelms ist oft ein kleiner Vorbehalt, eine leise Kritik dabei,
die aus der grundverschiedenen Veranlagung beider entspringen. Wilhelm ist der
erste, der bei Alexander besondere Begabungen feststellt. Wenig später schreibt
er: "überhaupt verkennen ihn die Leute, vorzüglich, wenn sie mich in Talent und
Kenntnissen so weit über ihn setzen. Talent hat er weit mehr wie ich, und
Kenntnisse - abgerechnet, dass er jünger ist - ebenso viel, nur in anderen
Fächern."
Das universale Interesse
Bald zeigte es sich, dass die Universität Frankfurt beiden
Brüdern für ihre Studienrichtung nicht genug bieten konnte. Schon nach dem
ersten Semester verließen sie die Stadt. Wilhelm ging nach Göttingen, Alexander
blieb zunächst in Berlin. Er vertiefte sich in das Studium des Griechischen, und
vor allem wurde er hier mit dem jungen Botaniker Willdenow bekannt, der soeben
eine Flora von Berlin veröffentlichte und Humboldt für seine Wissenschaft
begeisterte.
Endlich hat er ein Interesse gefunden, dem er sich mit
Leidenschaft zuwenden kann. In einem Brief an den Frankfurter Freund Wegener
schildert er einen Spaziergang durch den Berliner Tiergarten. Gerade für den,
der sich gern in die Einsamkeit vergräbt, schreibt er, hat die Beschäftigung mit
der Natur etwas ungemein Anziehendes, sie versetzt ihn in eine süße Schwermut.
Aber von ästhetischen Empfindungen kommt der junge Kameralist rasch auf den
praktischen Wert der Naturerkenntnis. "Je mehr die Menschenzahl und mit ihr der
Preis der Lebensmittel steigen, je mehr die Völker die Last zerrütteter Finanzen
fühlen müssen, desto mehr sollte man darauf sinnen, neue Nahrungsquellen gegen
den von allen Seiten einreißenden Mangel zu eröffnen." Unübersehbar viele Kräfte
sieht er ungenutzt in der Natur liegen, deren Entwicklung Tausenden von Menschen
Nahrung und Beschäftigung geben kann. "Viele Produkte, die wir von fernen
Weltteilen holen, treten wir in unserem Lande mit Füßen, bis nach vielen
Jahrzehnten ein Zufall sie entdeckt. Welch ein schiefes Urteil zu meinen, dass
die paar Pflanzen, welche wir bauen, (ich sage, ein paar gegen die
zwanzigtausend, welche unsern Erdball bedecken,) alle Kräfte enthalten, die die
gütige Natur zur Befriedigung unserer Bedürfnisse in das Pflanzenreich legte."
Es klingt wie ein Programm seiner künftigen Lebensarbeit. Kaum hat sich ihm
dieses neue Interesse erschlossen, da denkt er schon an ein umfassendes Werk
über die gesamte Pflanzenwelt, zu dem er wegen der Vielzahl der Gesichtspunkte,
die sich ihm aufdrängen, gleich mehrere Spezialkenner als Mitarbeiter vereinigen
will.
Im Frühjahr 1789 folgte Alexander dem Bruder an die
Universität Göttingen, die damals auf der Höhe ihres Ruhmes stand. Nicht nur
Philosophie, Weltgeschichte und klassische Philologie waren hier durch
hervorragende Lehrer vertreten; Göttingen war auch die erste deutsche
Universität, an der verschiedene Zweige der Naturkunde zum Range von
Wissenschaften erhoben wurden. Für das erwachende universale Interesse Humboldts
konnte kein Platz in Deutschland geeigneter sein. Auf einer Rheinreise sammelte
er das Material für seine erste größere Arbeit, die "Mineralogischen
Beobachtungen über einige Basalte am Rhein." Er folgt darin noch der
herrschenden Ansicht über den neptunistischen Ursprung des Basalts, zeigt aber
schon die wesentlichen Züge seiner späteren wissenschaftlichen Arbeiten:
hervorragendes Beobachtungstalent und kritische Beherrschung der Literatur.
Das entscheidende Erlebnis dieser Zeit war für Humboldt die
Begegnung mit dem Weltreisenden Georg Forster. Er begleitete ihn auf der Reise
nach England, die später durch Forsters "Ansichten vom Niederrhein" berühmt
wurde. Der Umgang und die Reise mit Forster gaben Humboldts Interessen eine
feste Richtung: Er beschloss, Naturforscher zu werden in dem umfassenden Sinn,
den der universale Geist seiner Epoche ihm vorzeichnete. Eine große Reise in die
Länder der Tropen sollten ihn zu diesem Ziel führen.
Noch aber war es nicht so weit, denn zunächst verfügte
Humboldt noch nicht über eigenes Vermögen, und vor allem musste er sich erst
noch viel tiefer in die Methoden der Forschung einarbeiten. Zehn Jahre dauerte
diese Epoche der Vorbereitung. Er verbannt alles aus seinem Leben, was ihn
ablenken kann. Nirgends wird er an einem Ort wirklich sesshaft, um nicht in
Abhängigkeit zu geraten. Den gesellschaftlichen Verkehr, die Freundschaften
beschränkt er allein auf das, was seinen Zielen dienen kann. Frauenliebe hat in
seinem Leben jetzt wie auch später nie eine Rolle gespielt.
Die Mutter bestand weiterhin auf Fortsetzung der Studien zum
Eintritt in den Staatsdienst. Auch das vermochte er seinen Zwecken nutzbar zu
machen. Im Herbst 1790 ging er nach Hamburg an die Handelsakademie, doch schon
ein halbes Jahr später siedelte er an die Bergakademie in Freiberg über, wo der
hervorragende Geologe Werner tätig war, der Hauptvertreter der neptunistischen
Schule. Mit Feuereifer warf er sich auf das Studium der Geologie und praktischer
bergmännischer Fragen, immer geleitet von der glücklichen Gabe, an allem, was er
anfasste, sogleich ein brennendes Interesse zu finden.
Mit dreiundzwanzig Jahren wird er von der preußischen
Bergwerksverwaltung ohne jeden Studienabschluss zum Assessor ernannt. Er erhält
den Auftrag, die Bergwerke in den beiden fränkischen Markgrafentümern geologisch
und bergmännisch zu untersuchen. Der Minister war von seinem Bericht entzückt
und übertrug ihm sogleich die gesamte Leitung der preußischen Bergämter in
Franken.
Ein weites Arbeitsfeld tat sich auf, das seine
wissenschaftlichen Neigungen und seinen Tätigkeitsdrang wohl einige Zeit
hinreichend beschäftigen konnte. "Alle meine Wünsche", schrieb er an den Freund
Freiesleben in Freiberg, "sind nun erfüllt. Ich werde nun ganz dem praktischen
Bergbau und der Mineralogie leben. Die hiesigen Lagerstätten sind unendlich
interessant. Ich taumele vor Freude. Vor einem Jahr fragte ich Sie, was ein
Gesenk wäre, und jetzt bin ich Oberbergmeister." Weitere Dienstreisen zur
Untersuchung von Steinsalzquellen und Siedevorrichtungen führten ihn nach
Oberbayern, ins Salzkammergut, nach Oberschlesien und Galizien.
Trotzdem wollte er sich auch jetzt nicht allzu eng an den
neuen Arbeitskreis binden, über aller emsigen Tätigkeit verlor er nie sein
weiteres Ziel aus den Augen. Als ihm nach drei Jahren die Oberaufsicht über alle
Bergwerks- und Hüttenbetriebe in Schlesien übertragen werden sollte, lehnte er
entschieden ab. Nur die finanzielle Abhängigkeit von der damals schon kranken
Mutter hielt ihn im Staatsdienst fest. Im Sommer 1796 nahm er sich fest vor, im
folgenden Jahre seine Ämter aufzugeben und eine Studienreise nach Italien
anzutreten, "meine Mutter mag tot oder lebendig sein."
Der Tod der Mutter, Ende 1796, brachte schließlich die
entscheidende Wendung für seine Pläne. "Du weißt," schreibt er an Freiesleben,
"dass mein Herz von der Seite nicht empfindlich getroffen werden konnte, wir
waren uns von jeher fremd." Humboldt erbte ein ansehnliches Vermögen, rund
hunderttausend Taler, und war endlich frei in allen seinen Entschlüssen.
Durch seinen Bruder, der schon seit Jahren mit Schiller
befreundet war, wurde Alexander während seiner fränkischen Tätigkeit in Jena und
Weimar eingeführt. Es ist bezeichnend für das Wesen der beiden Brüder, dass
Wilhelm sich mehr zu Schiller, Alexander von Anfang an zu Goethe hingezogen
fühlte.
Schiller konnte für den jungen Gelehrten, der die Natur mit
Maß und Zahl erforschen wollte, wenig Verständnis aufbringen. In einem Brief an
Körner spricht er 1797 seine Ansicht über Humboldt mit schonungsloser Offenheit
aus: "über Alexander habe ich kein rechtes Urteil; ich fürchte aber, trotz aller
seiner Talente und seiner rastlosen Tätigkeit wird er in seiner Wissenschaft nie
etwas Großes leisten. Eine zu kleine, unruhige Eitelkeit beseelt noch sein
ganzes Wirken. Ich kann ihm keinen Funken eines reinen, objektiven Interesses
abmerken, und wie sonderbar es auch klingen mag, so finde ich in ihm, bei allem
ungeheuren Reichtum des Stoffes, eine Dürftigkeit des Sinnes, die bei dem
Gegenstande, den er behandelt, das schlimmste Übel ist. Es ist der nackte,
schneidende Verstand, der die Natur, die immer unfasslich und in allen ihren
Punkten ehrwürdig und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will und mit
einer Freiheit, die ich nicht begreife, seine Formeln, die oft nur leere Worte
und immer nur enge Begriffe sind, zu ihrem Maßstabe macht. Kurz, mir scheint er
für seinen Gegenstand ein viel zu grobes Organ, und dabei ein viel zu
beschränkter Verstandesmensch zu sein. Er hat keine Einbildungskraft, und so
fehlt ihm nach meinem Urteil das notwendigste Vermögen zu seiner Wissenschaft,
denn die Natur muss angeschaut und empfunden werden in ihren einzelnsten
Erscheinungen wie in ihren höchsten Gesetzen. Alexander imponiert sehr vielen
und gewinnt im Vergleich mit seinem Bruder meistens, weil er ein Maul hat und
sich geltend machen kann. Aber ich kann sie dem absoluten Werte nach gar nicht
miteinander vergleichen, so viel achtungswürdiger ist mir Wilhelm."
Zu den vielen, denen Alexander dennoch imponierte, gehörte
Goethe, dem er schon als Knabe einmal in Tegel begegnet war. Von 1794 an trafen
beide oftmals in Jena oder Weimar zusammen. Goethe fühlte sich in seinen
naturwissenschaftlichen Bestrebungen durch ihn mehr als durch andere belehrt und
gefördert. "Alexander von Humboldt, längst erwartet, von Bayreuth ankommend,
nötigte uns ins Allgemeinere der Naturwissenschaft," notiert er 1794 in den
"Tages- und Jahresheften". Drei Jahre später schreibt er nach einem Besuch
Humboldts: "Alles der Natur Angehörige kam philosophisch und wissenschaftlich
zur Sprache." Der Sinn für das Ganze der Natur, das Streben, die
Mannigfaltigkeit ihrer Ordnungen als lebendige Einheit zu erfassen, das war es,
was den Dichter und den jungen Naturforscher zusammenführte. Nach der Rückkehr
von seiner großen Reise bekannte Humboldt: "überall ward ich von dem Gefühl
durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf mich eingewirkt, wie ich,
durch Goethes Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet
war!"
Nur in einem vermochte Goethe Humboldt nicht zu folgen, in dessen späteren
Ansichten über die Natur der geologisch wirksamen Kräfte. Der Gedanke, dass die
Erdrinde sich in urweltlichen Epochen langsam aus der "Lebensfeuchte" gebildet
habe, sagte seiner ganzen Anschauung weit mehr zu als die neue Lehre von
vulkanischen Katastrophen, die Humboldt auf Grund der Erfahrungen seiner
Amerikareise entwickelte. Im zweiten Teil des "Faust" spottet Mephisto über die
neue vulkanische Hebungstheorie, und 1828 eifert Goethe: "Wenn Alexander von
Humboldt und die andern Plutonisten mir's zu toll machen, werde ich sie
schändlich blamieren; schon zimmere ich Xenien genug im stillen gegen sie; die
Nachwelt soll wissen, dass doch wenigstens ein gescheiter Mann in unserm
Zeitalter gelebt hat, der jene Absurditäten durchschaute." Der Gedanke, mit
Xenien gegen diese neue Anschauung zu Felde zu ziehen, schien ihn aber doch
nicht ganz zu befriedigen. Noch bis an sein Ende lässt ihm die Sache keine Ruhe.
Wenige Monate vor dem Tode schreibt er an Zelter: "Dass sich die Himalayagebirge
auf fünfundzwanzigtausend Fuß aus dem Boden gehoben, und doch so starr und
stolz, als wäre nichts geschehen, in den Himmel ragen, steht außer den Grenzen
meines Kopfes, in den düsteren Regionen, wo die Transsubstantiation haust, und
mein Cerebralsystem müsste ganz umorganisiert werden - was doch schade wäre -
wenn sich Räume für diese Wunder finden sollten."
Die Differenz der Anschauungen in diesem einen Punkte konnte
aber Goethes Achtung vor Humboldts Persönlichkeit und Leistungen nicht
beeinträchtigen. Mit Spannung verfolgt er die Amerikaexpedition und später die
Veröffentlichung der Reisewerke. Am 11. Dezember 1826, schreibt Eckermann, trat
ihm Goethe freudig erregt mit den Worten entgegen: "Alexander von Humboldt ist
diesen Morgen einige Stunden bei mir gewesen. Was ist das für ein Mann! Ich
kenne ihn so lange, und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann
sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und
eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin
man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen.
Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße
unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich
entgegenströmt. Er wird einige Tage hier bleiben, und ich fühle schon, es wird
mir sein, als hätte ich Jahre verlebt."
Nach Regelung der Erbschaftsfragen konnte sich Humboldt
endlich mit ganz konkreten Reiseplänen befassen. Die politische Weltlage war
allerdings für überseeische Unternehmungen, wie sie ihm vorschwebten, denkbar
ungünstig. Im Herbst 1797 machte ihm ein Engländer, Lord Bristol, den Vorschlag,
ihn auf einer Reise nach Ägypten zu begleiten. Der schwerreiche Lord war trotz
seiner hohen kirchlichen Würden - er war Bischof von Derby - als Freigeist und
seltsames Original bekannt. Humboldt nennt ihn "halb toll, halb Genie." Es
sollte eine Expedition in großem Stil werden mit eigenem Schiff und bewaffneten
Leuten. Sogar zwei Damen wollten den Lord begleiten; die eine war die Gräfin
Lichtenau, die ehemalige Geliebte Friedrich Wilhelms II. Aber alle großartigen
Pläne waren vergeblich. Der Lord wurde in Mailand verhaftet, und Bonapartes
Feldzug nach Ägypten machte die Reise schließlich ganz unmöglich.
Bald danach wurde Humboldt von der französischen Regierung
aufgefordert, den Kapitän Baudin auf einer Forschungsreise um die Welt zu
begleiten, die fünf Jahre dauern sollte. Schon waren die Vorbereitungen in
vollem Gange, da wurden plötzlich wegen des Kriegsausbruchs die Geldmittel
gestrichen und die Expedition auf unabsehbare Zeit vertagt. Humboldt, der schon
in Paris war, um wissenschaftliche Instrumente zu kaufen, beschloss nun, mit
einer eigenen Expedition der ägyptischen Armee zu folgen. Zusammen mit dem
jungen französischen Botaniker Bonpland wollte er über Algier nach Tripolis
reisen und von dort mit einer Mekkakarawane zu Bonaparte stoßen. Die Reisenden
warteten bereits zwei Monate lang in Marseille mit gepackten Koffern auf die
Gelegenheit zur überfahrt nach Afrika, da kam die Nachricht, dass das Schiff an
der Küste von Portugal mitsamt der Mannschaft untergegangen war und der Bey von
Algier die Karawane nach Mekka nicht abgehen lassen wollte, "damit sie nicht
durch das von Christen verunreinigte Ägypten ziehe."
Alle diese Fehlschläge konnten Humboldt nicht entmutigen. Von
Spanien aus, meinte er, würde es bei der politischen Lage leichter sein, ein
überseeisches Ziel zu erreichen. So machte er sich Ende 1798 mit Bonpland von
Marseille aus auf den Weg. Nach einer sechswöchigen Fußwanderung kamen sie in
Madrid an. Durch den sächsischen Gesandten von Forell wurde Humboldt am Hof in
Aranjuez eingeführt und konnte selbst dem König den Plan einer großen
Forschungsreise durch die spanischen Besitzungen in Amerika vortragen. Der
Erfolg übertraf alle Erwartungen. Sein diplomatisches Geschick und die Hilfe
eines freisinnigen Ministers beseitigten auch die letzten Schwierigkeiten. Schon
nach wenigen Wochen war er im Besitz eines Passes, der es ihm und seinem
Gehilfen gestattete, ungehindert alle spanischen Kolonien in Amerika zu
bereisen.
Misstrauisch hatte Spanien bisher diese Länder von aller Welt
abgeschlossen. Seit der Entdeckung durften sie nur mit dem Mutterland Handel
treiben. Nichtspaniern war der Zutritt verwehrt. So gehörten diese Gebiete, die
sich ihm jetzt öffneten, tatsächlich zu den wissenschaftlich am wenigsten
bekannten Regionen der Erdoberfläche. Er eilte mit Bonpland nach La Coruña, wo
die Amerikaschiffe in See gingen. "Welch ein Glück ist mir eröffnet!" schreibt
er an Freiesleben. "Mir schwindelt der Kopf vor Freude. Welchen Schatz von
Beobachtungen werde ich nun zu meinem Werk über die Konstruktion des Erdkörpers
sammeln können! Der Mensch muss das Gute und das Große wollen! Das übrige hängt
vom Schicksal ab."
Das
zweite Menschenalter
Humboldt war dreißig Jahre alt, als er Europa verließ. Nie
vor ihm ging ein wissenschaftlicher Reisender besser gerüstet an seine Aufgabe.
Von seinem zwanzigsten Jahre an hatte er nur der Vorbereitung auf dieses Ziel
gelebt. Die Probleme der Mineralogie und Geologie waren ihm durch Studium und
praktische Bergtätigkeit wohl vertraut. Er hatte sich jahrelang in der
Handhabung der Instrumente zur astronomischen Ortsbestimmung und zu
meteorologischen Beobachtungen geübt und das kurz zuvor erst entdeckte Verfahren
der barometrischen Höhenmessung zu großer Vollkommenheit entwickelt. Die Botanik
war seine Lieblingswissenschaft vor allen anderen. Er freut sich unbändig auf
die Fülle der neuen Beobachtungen, die ihm in Amerika bevorstehen. "Das alles
ist aber nicht Hauptzweck meiner Reise", schreibt er in einem Abschiedsbrief aus
La Coruña. "Auf das Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluss der unbelebten
Schöpfung auf die belebte Tier- und Pflanzenwelt, auf diese Harmonie sollen
stets meine Augen gerichtet sein!"
Reise in die Äquinoktialgegenden
Am 5. Juni 1799 lichtete die Korvette "Pizarro" in La Coruña
die Anker. Die Furcht des Hafenkommandanten vor englischen Kaperschiffen erwies
sich als sehr berechtigt. Schon nach kurzer Zeit wurde von den Masten ein
feindlicher Konvoi gesichtet, dem der "Pizarro" nur durch den Einbruch der Nacht
entging. Bei günstigem Wind segelte das Schiff zehn Knoten in der Stunde. Am
zwölften Tage sichtete man die Kanarischen Inseln. Kaum waren sie in Santa Cruz
eingelaufen, da erschienen sechs englische Fregatten vor dem Hafen.
Der Kapitän hatte Befehl, so lange auf Teneriffa zu bleiben,
bis Humboldt den Pik bestiegen hatte, aber wegen der feindlichen Blockade
drängte er zur Eile. So blieb keine Zeit zu näherer Untersuchung des riesigen
Vulkans. Humboldt ist berauscht von der Schönheit der südlichen Landschaff.
"Fast mit Tränen reise ich ab," heißt es im ersten Brief an den Bruder. "Ich
möchte mich hier ansiedeln und bin doch kaum vom europäischen Boden weg.
Könntest Du diese Fluren sehen, diese tausendjährigen Wälder von Lorbeerbäumen,
diese Trauben, diese Rosen! Mit Aprikosen mästet man hier die Schweine. Alle
Straßen wimmeln von Kamelen." Sein für alle Reize der Natur empfänglicher Sinn
lässt ihn viele Orte, die er auf seinen Reisen sieht, zu den schönsten der Erde
zählen. Schon hier auf Teneriffa hat er dies Empfinden. "Kein Ort der Welt
scheint mir geeigneter, die Schwermut zu bannen und einem schmerzlich
ergriffenen Gemüt den Frieden wiederzugeben."
Der Passat wehte so stetig, dass die Matrosen auf der
weiteren Fahrt bis nach Amerika fast keine Hand an die Segel zu legen brauchten.
"Man fährt in diesen Strichen, als ginge es auf einem Fluss hinunter, und es ist
zu glauben, dass es kein gewagtes Unternehmen wäre, die Fahrt mit einer
Schaluppe ohne Verdeck zu machen." Humboldt wird nicht müde, in jeder Nacht die
Schönheit des südlichen Himmels zu bewundern. "Ein sonderbares, bis jetzt ganz
unbekanntes Gefühl wird in einem rege, wenn man dem Äquator zu und namentlich
beim Übergang aus der einen Halbkugel in die andere die Sterne, die man von
Kindheit auf kennt, immer tiefer herabrücken und endlich verschwinden sieht.
Nichts mahnt den Reisenden so auffallend an die ungeheure Entfernung seiner
Heimat als der Anblick eines neuen Himmels."
Nach zwanzig Tagen erreichte das Schiff die ersten Vorbeten
des südamerikanischen Festlandes, die Inseln Trinidad und Tobago. Der "Pizarro"
hatte als Ziel Kuba und die mexikanische Küste; auch Humboldt wollte hier seine
Arbeit beginnen. Schon mitten während der Reise war aber auf dem Schiff ein
typhusartiges Fieber ausgebrochen. Alle Passagiere drängten darum, schon im
ersten Hafen an Land zu gehen; das war Cumana in Terra Firma, dem heutigen
Venezuela. Nach kurzem Zögern folgte ihnen Humboldt. In dem Bewusstsein, dass
diese neue Welt, wo er sie auch anpackt, seinem Forschungsdrang eine Fülle von
Objekten bieten wird, nimmt er diese Änderung seiner Pläne nicht tragisch.
Nachträglich sieht er darin sogar eine freundliche Fügung des Schicksals. "Der
Entschluss äußerte einen glücklichen Einfluss auf den Verfolg unserer Reisen.
Statt einiger Wochen verweilten wir ein ganzes Jahr in Terra Firma; ohne die
Seuche an Bord des "Pizarro" wären wir nie an den Orinoko, an den Cassiquiare
und an die Grenzen der portugiesischen Besitzungen am Rio Negro gekommen."
Die Llanos von Venezuela
Venezuela ist tropisches Land. Durch Humboldts Schilderungen
wurde es für die Europäer zum klassischen Tropenland überhaupt, das ihnen auf
Jahrzehnte die bildhaften Vorstellungen, die Maßstäbe zur Beurteilung alles
Lebens in diesen Breiten lieferte. Der erste Eindruck ist berauschend und
verwirrend durch die Überfülle des Lichtes, die Symphonie der Farben, die
Üppigkeit der Natur. "Welche Bäume! Kokospalmen, fünfzig bis sechzig Fuß hoch;
Poinciana pulcherrima, mit fußhohem Strauße der prachtvollsten hochroten Blüten;
Pisange und eine Schar von Bäumen mit Ungeheuern Blättern und handgroßen
wohlriechenden Blüten, von denen wir nichts kennen. Und welche Farben der Vögel,
der Fische, selbst der Krebse, himmelblau und gelb! Wie die Narren laufen wir
jetzt umher; in den ersten drei Tagen können wir nichts bestimmen, da man immer
einen Gegenstand wegwirft, um einen andern zu ergreifen. Bonpland versichert,
dass er von Sinnen kommen werde, wenn die Wunder nicht bald aufhören. Aber
schöner noch als diese Wunder im einzelnen ist der Eindruck, den das Ganze
dieser kraftvollen, üppigen und doch dabei so leichten, erheiternden, milden
Pflanzennatur macht. Ich fühle es, dass ich hier sehr glücklich sein werde."
Aber die Tropen sind nicht nur strotzende Üppigkeit der
Natur. Jenseits des Küstengebirges kommt man in eine ganz andere Welt, die
Llanos, ein riesiges Steppengebiet, eben wie der Spiegel des Meeres bei
Windstille. Viele Tagereisen trifft man hier nicht einmal fußhohe Unebenheiten.
Der einförmige Anblick dieser Steppen hat etwas Großartiges, sagt Humboldt, aber
auch etwas Trauriges und Niederschlagendes. "Es ist, als ob die ganze Natur
erstarrt wäre; kaum dass hin und wieder der Schatten einer kleinen Wolke, die
durch den Zenit eilend die nahe Regenzeit verkündet, auf die Savanne fällt. Die
Ebenen im Westen und Norden von Europa geben nur ein schwaches Bild von den
unermesslichen Llanos in Südamerika. Sie sind in der Regenzeit schön begrünt,
aber in der trockensten Jahreszeit bekommen sie das Ansehen von Wüsten. Das
Kraut zerfällt zu Staub, der Boden berstet, das Krokodil und die großen
Schlangen liegen begraben im ausgedörrten Schlamm, bis die großen Regengüsse im
Frühjahr sie aus der langen Erstarrung wecken."
Trotz aller Kargheit der Natur bieten die Llanos dem Forscher
viele Merkwürdigkeiten. Eine der seltsamsten sind die Gymnoten, Zitteraale, die
elektrische Schläge austeilen können und von den Indianern mit Pferden gejagt
werden. In einer Schilderung, die später in Europa berühmt wurde, gibt Humboldt
ein Bild dieser aufregenden Jagd.
Dreißig ungezähmte Pferde und Maultiere werden auf der
Savanne zusammengetrieben und in eines der schlammigen Wasserbecken gejagt, wo
die Zitteraale sich mit Vorliebe aufhalten. "Der ungewohnte Lärm vom Stampfen
der Rosse treibt die Fische aus dem Schlamm hervor und reizt sie zum Angriff.
Die schwärzlich und gelb gefärbten, großen Wasserschlangen gleichenden Aale
schwimmen auf der Wasserfläche hin und drängen sich unter den Bauch der Pferde
und Maultiere. Der Kampf zwischen so ganz verschieden organisierten Tieren gibt
das malerischste Bild. Die Indianer mit Harpunen und langen dünnen Rohrstäben
stellen sich in dichter Reihe um den Teich. Die Aale, betäubt vom Lärm,
verteidigen sich durch wiederholte Schläge ihrer elektrischen Batterien. Lange
scheint es, als solle ihnen der Sieg verbleiben. Mehrere Pferde erliegen den
unsichtbaren Streichen, von denen die wesentlichsten Organe allerwärts getroffen
werden; betäubt von den starken, unaufhörlichen Schlägen sinken sie unter.
Andere, schnaubend, mit gesträubter Mähne, wilde Angst im starren Auge, raffen
sich wieder auf und suchen dem um sie tobenden Ungewitter zu entkommen. Ehe fünf
Minuten vergingen, waren zwei Pferde ertrunken."
Auch die Gymnoten sind von dem ungleichen Kampf erschöpft und
können nun leicht mit kleinen Harpunen gefangen werden.
Für Humboldt, der schon in Deutschland den physiologischen
Wirkungen des Galvanismus nachgegangen war, bot das Studium dieser Zitteraale
eine Quelle reinsten Forscherglücks. Er experimentierte tagelang mit den
gefangenen Tieren und stellte fest, dass sie auch dem Menschen gefährlich werden
können. "Den ersten Schlägen eines sehr großen, stark gereizten Gymnotus würde
man sich nicht ohne Gefahr aussetzen. Ich erinnere mich nicht, je durch die
Entladung einer großen Leidner Flasche eine so furchtbare Erschütterung erlitten
zu haben wie die, als ich unvorsichtigerweise beide Füße auf einen Gymnotus
setzte, der eben aus dem Wasser gezogen war."
Wie Tiere und Pflanzenwelt, so musste sich auch der Mensch
den harten Lebensbedingungen der Llanos anpassen. Die Steppe kann nur ganz
extensiv genutzt werden. Riesige Viehherden schweifen frei umher, nirgends gibt
es Umzäunungen. Männer, bis zum Gürtel nackt und mit einer Lanze bewaffnet,
streifen zu Pferde über die Savanne, um die Herden im Auge zu behalten.
Wochenlang zieht Humboldt mit seinem Begleiter durch diese eigenartige
Landschaft. Seine Stützpunkte sind die wenigen verstreuten Stationen der
katholischen Missionen, denn in weiten Gebieten sind sie fast die einzigen
Vertreter des spanischen Kolonialeinflusses.
Orinoko
Wieder eine andere Welt sind die Riesenströme des
südamerikanischen Urwaldes, die Humboldts nächstes Ziel waren. Er hatte sich die
Aufgabe gestellt, den Oberlauf des Orinoko zu erforschen und die vielumstrittene
Frage zu lösen, ob tatsächlich zwischen dem Orinokosystem und dem Amazonas eine
Flußverbindung besteht. Zu diesem Zweck fuhr er den Orinoko und dessen Nebenfluß
Atabapo aufwärts bis zur Wasserscheide zum Amazonasgebiet. Er benutzte dazu
eines der landesüblichen Fahrzeuge, eine Pirogue, das ist ein mit Feuer und Axt
ausgehöhlter Baumstamm, dreizehn Meter lang, aber nur etwa einen Meter breit.
Dreiundzwanzig Indianer schleppten das Schiff über die Wasserscheide zum Rio
Negro, einem Nebenfluss des Amazonas. In einer Flussgabelung zweigt von ihm der
Cassiquiare ab, und tatsächlich führte dieser Strom Humboldts Pirogue wieder
zurück zum Orinoko. Damit war die Verbindung der beiden Stromsysteme endgültig
bewiesen und durch astronomische Ortsbestimmungen und Kompaßaufnahmen
festgelegt.
Das primitive Fahrzeug, in dem nicht drei Mann nebeneinander
sitzen konnten, erschien den Reisenden zunächst wie ein enges Gefängnis. "Das
niedrige Blätterdach war für vier Personen bestimmt, die auf dem Verdecke oder
dem Gitter aus Baumzweigen lagen; aber die Beine reichen weit über das Gitter
hinaus, und wenn es regnet, wird man zum halben Leibe durchnässt. Dabei liegt
man auf Ochsenhäuten oder Tigerfellen, und die Baumzweige darunter drücken einen
durch die dünne Decke gewaltig." Die Menscheln müssen den knappen Raum auch noch
mit zahlreichen Tieren teilen. Schon nach kurzer Zeit waren 14 Vögel und zwei
Affen an Bord, und durch Humboldts Sammeleifer wurde diese schwimmende Menagerie
fast mit jedem Tage vermehrt.
Weite Strecken des Urwaldes sind ganz menschenleer. Auf dem
Orinoko begegnete man während einer Stromfahrt von achthundert Kilometer nur
einem einzigen Fahrzeug. In der großartigen Waldlandschaft am Cassiquiare fühlt
sich Humboldt in den Urzustand der Welt versetzt. "Die Üppigkeit des
Pflanzenwuchses steigerte sich in einem Grade, von dem man sich keinen Begriff
macht, selbst wenn man mit dem Anblick der tropischen Wälder vertraut ist. Ein
Gelinde ist gar nicht mehr vorhanden; ein Pfahl werk aus dichtbelaubten Bäumen
bildet das Flussufer. Man hat einen breiten Kanal vor sich, den zwei ungeheuere,
mit Laub und Lianen bedeckte Wände einfassen."
Humboldts wissenschaftliche Arbeiten wurden unter den
Bedingungen dieses Urwaldlebens aufs äußerste erschwert. Er musste unzählige
neue Pflanzen sammeln, trocknen und beschreiben, astronomische und klimatische
Messungen machen und sie mit allen sonstigen Beobachtungen in seine Tagebücher
eintragen. Der schlimmste Feind waren die Moskitos. Stets müssen bei der Arbeit
Kopf und Hände verdeckt sein; man kann die Hände nicht ruhig halten, so wütend
schmerzen die Stiche dieser Insekten. "Alle unsere Arbeit musste daher beim
Feuer in einer indianischen Hütte vorgenommen werden, wo kein Sonnenstrahl
eindringt und in welche man auf dem Bauche kriechen muss. Hier aber erstickt man
wieder vor Rauch, wenn man auch weniger von den Moskitos leidet. In Maypures
retteten wir uns mit den Indianern mitten in den Wasserfall, wo der Strom rasend
tobt, wo aber der Schaum die Insekten vertreibt. In Higuerote gräbt man sich
nachts in den Sand, so dass bloß der Kopf hervorragt und der ganze Leib mit drei
bis vier Zoll Erde bedeckt bleibt. Man hält es für eine Fabel, wenn man es nicht
sieht."
Der Franzose Bonpland, den Humboldt eigentlich nur als
bezahlten Gehilfen mit auf die Reise genommen hatte, wurde ihm auf diesen
Urwaldfahrten zum treuen und opferbereiten Freund. "Nie werde ich seine
großmütige Anhänglichkeit an mich vergessen, die er mir in einem Sturme, der uns
am 6. April 1800 mitten auf dem Orinoko überfiel, gegeben hat. Unsere Pirogue
war schon zwei Drittel mit Wasser angefüllt, die Indianer sprangen bereits ins
Wasser, um schwimmend das Ufer zu erreichen; nur mein großmütiger Freund blieb
treu an meiner Seite und bat mich, ihrem Beispiel zu folgen und mich auf seinem
Rücken von ihm schwimmend durch die Fluten tragen zu lassen.
Das Schicksal wollte es nicht, dass wir in dieser Wüste
umkommen sollten, wo zehn Meilen im Umkreise kein Mensch weder unsern Untergang
noch die geringste Spur von uns würde entdeckt haben. Unsere Lage war wahrhaft
schrecklich; das Ufer war über eine halbe Meile von uns entfernt, und eine Menge
Krokodile ließen sich mit halbem Körper über dem Wasser sehen. Selbst wenn wir
der Wut der Wellen und der Gefräßigkeit der Krokodile entgangen und an das Land
gekommen wären, würden wir daselbst vom Hunger oder von den Tigern verzehrt
worden sein. Denn die Wälder sind an diesen Ufern so dicht, so mit Lianen
durchschlungen, dass es schlechterdings unmöglich ist, darin fortzukommen. Der
robusteste Mensch würde mit dem Beil in der Hand in zwanzig Tagen kaum eine
französische Meile zurücklegen. Der Fluss selbst ist so wenig befahren, dass
kaum in zwei Monaten ein indianisches Canot hier vorbeikommt. In diesem
allergefährlichsten und bedenklichsten Augenblicke schwellte ein Windstoß das
Segel unseres Schiffchens und rettete uns auf eine unbegreifliche Weise. Wir
verloren nur einige Bücher und einige Lebensmittel."
In der kleinen Reisebibliothek, die Humboldt auf seinen
Fahrten mit sich führte, befand sich auch St. Pierres "Paul et Virginie", das
Bild freundlich-heiterer Naturkinder inmitten einer üppigen Tropenwelt. Die
Wirklichkeit, der Humboldt bei den Eingeborenen Amerikas begegnete, entsprach
freilich wenig dem Bild, womit der Dichter in seinem berühmten Roman alle Welt
entzückt hatte. "Die Menschennatur tritt uns hier nicht im Gewande
liebenswürdiger Einfallt entgegen. Der Wilde am Orinoko schien uns so widrig,
abstoßend, wie der Wilde am Mississippi."
Eine ziegelrote Körperbemalung ist nahezu die einzige
Bekleidung der Indianer. Auch die Missionare haben diese Sitte nicht abschaffen
können, ja mitunter handeln sie selbst mit dem kostbaren Farbstoff Chica, der
bei den Eingeborenen besonders gesucht ist. "Um einen Begriff zu geben, welchen
Luxus die nackten Indianer mit ihrem Putze treiben, bemerke ich hier, dass ein
hochgewachsener Mann durch zweiwöchige Arbeit kaum genug verdient, um sich durch
Tausch so viel Chica zu verschaffen, dass er sich rot bemalen kann. Wie man
daher in gemäßigten Ländern von einem armen Menschen sagt, er habe nicht die
Mittel, sich zu kleiden, so hört man die Indianer am Orinoko sagen: ,Der Mensch
ist so elend, dass er sich den Leib nicht einmal halb malen kann'."
Überall im Urwald stieß Humboldt auf die Sitte des
Kannibalismus. Die Eingeborenen sprachen davon wie von einer alltäglichen Sache.
Einer der Ruderer bemerkte einmal ganz unbefangen, Affenfleisch sei zwar
schwärzer als Menschenfleisch, er meine aber doch, dass es ebenso gut schmecke;
seine Stammesbrüder äßen vom Bären wie vom Menschen die Handflächen am liebsten.
Nach Humboldts Ansicht sind Nahrungsmangel oder religiöse Vorstellungen, wie man
es von den Südseeinseln hört, in Guayana kaum die Ursache der Menschenfresserei,
er meint vielmehr, sie beruhe hier meist auf Rachsucht des Siegers oder auf
einer "Verirrung des Appetits."
Humboldt fand Beispiele von rührender Kindesliebe unter den
Eingeborenen. Auch das Bewusstsein von Pflichten gegen Familie und
Stammesverband ist ihnen nicht unbekannt, wohl aber jedes Gefühl für allgemeine
Menschlichkeit. Keine Regung des Mitleids hält sie davon ab, auch Weiber und
Kinder eines feindlichen Stammes abzuschlachten. "Denkt man über die Sitten
dieser Indianer nach, so erschrickt man ordentlich über die Verschmelzung von
Gefühlen, die sich auszuschließen scheinen, über die Unfähigkeit dieser Völker,
sich anders als nur teilweise zu humanisieren, über diese Übermacht der Bräuche,
Vorurteile und Überlieferungen über die natürlichen Regungen des Gemütes."
Schon gleich, bei der Ankunft in Venezuela hatte Humboldt
lebhafte Eindrücke von der Sklaverei und dem Negerhandel bekommen. Im Vergleich
zu anderen Kolonialgebieten war zwar in den spanischen Besitzungen die
Sklavengesetzgebung verhältnismäßig milde. "Aber vereinzelt, auf kaum urbar
gemachtem Boden, leben die Neger in Verhältnissen, dass die Gerechtigkeit, weit
entfernt, sie im Leben schützen zu können, nicht einmal imstande ist, die
Barbareien zu bestrafen, durch die sie ums Leben kommen." Vor allem der
Haussklaverei gegenüber sind die Behörden völlig machtlos. Die Missionen, die an
vielen Orten bürgerliche und geistige Obrigkeit in einer Person vereinen, haben
an diesen Verhältnissen kaum etwas geändert, ja sie haben nach Humboldts
Beobachtungen durch die Gewohnheit, mit Gewalt "Seelen zu erobern", unter den
Indianern oft ähnliche Zustände geschaffen wie bei den Negersklaven. "Der Geist,
der die Gesetze macht, und der, der sie vollzieht, haben nichts miteinander
gemein."
Zwölf Monate nach der Landung in Cumana kam Humboldt wieder
an die Küste. Alle Anstrengungen und Mühseligkeiten des Lebens fern der
Zivilisation, alle Gefahren des Klimas hatte er auf sich genommen, um die "allverbreitete Fülle des Lebens" im Bergland zu Venezuela, in den Llanos und im
Orinoko-Urwald zu erforschen. Obgleich er von Natur nie robust und bis in sein
drittes Jahrzehnt in Europa immer kränklich war, fühlte er sich jetzt so wohl
wie noch nie. "Meine Gesundheit und Fröhlichkeit hat trotz des ewigen Wechsels
von Nässe, Hitze und Gebirgskälte, seitdem ich Spanien verließ, sichtbar
zugenommen. Die Tropenwelt ist mein Element."
Anden
Der Zufall hat auf der großen Reise immer wieder entscheidend
in Humboldts Pläne eingegriffen, aber immer waren es Zufälle, denen er
schließlich doch eine glückliche Wendung geben konnte. Von Venezuela ging er
nach Kuba und weiter nach Cartagena im heutigen Kolumbien, um von hier aus über
den Isthmus von Panama nach Guayaquil an der Küste des Pazifischen Ozeans zu
reisen, wo er die schließlich doch noch von Europa abgegangene Expedition des
Kapitän Baudin zu treffen hoffte. In Cartagena erfuhr er jedoch, dass die
Jahreszeit für eine rasche Seereise an der Westküste Südamerikas ungünstig sei.
So entschloss er sich, den viel beschwerlicheren Landweg den Magdalenenstrom
aufwärts und über die Kordilleren von Bogota und Quito zu nehmen.
In einem Brief an den Bruder schildert er die neue
Flussreise: "Die Gewalt des angeschwollenen, mächtig strömenden Wassers hielt
uns fünfundfünfzig Tage auf dem Magdalenenflusse, während welcher Zeit wir uns
immer zwischen wenig bewohnten Wäldern befanden. Ich sage Dir nichts mehr von
der Gefahr der Katarakte, von den Moskitos, von den Stürmen und Gewittern, die
hier fast ununterbrochen fortdauern und alle Nächte das ganze Himmelsgewölbe in
Flammen setzen. Ich habe dies alles umständlich in einer Menge anderer Briefe
beschrieben."
Viele dieser Briefe haben ihr Ziel nie erreicht. Immer wieder
klagt Humboldt über die traurigen Postverhältnisse. Von seinem Bruder erreichte
ihn in zwei Jahren nur ein einziger Brief, von Willdenow gar in vier Jahren nur
einer. Für einen Mann wie Humboldt war das ein ernster Kummer, eigentlich der
einzige, unter dem er auf der Reise wirklich litt. Briefeschreiben war für ihn
eine Leidenschaft, nicht nur um mit dem Bruder und den Freunden persönliche
Nachrichten auszutauschen, sondern mehr noch um seine eigenen Ideen zu
entwickeln, Anregungen zu empfangen und zu geben. Schon aus Venezuela schrieb er
an Wilhelm: "Das Einzige, was man in dieser Einsamkeit bedauern könnte, ist,
dass man mit den Fortschritten der Aufklärung und Wissenschaften in Europa
unbekannt bleibt und der Vorteile beraubt ist, welche aus dem Ideenaustausch
entspringen."
Von der Mündung des Rio Magdalena bis nach Bogota nahm
Humboldt ein exaktes barometrisches Nivellement des Reiseweges auf und zeichnete
eine große Karte des Stromlaufs in vier Blättern; eine Kopie davon übergab er
später dem Vizekönig. Der Aufstieg aus dem Flusstal auf die Hochebene war höchst
beschwerlich. Auf langen Strecken führte der Weg über ganz schmale, zwischen den
Felsen eingehauene Treppen, auf denen die Maultiere sich nur mit Mühe
durchzwängen konnten.
Die Empfehlungen, die Humboldt aus Madrid mitbekommen hatte,
wirkten überall Wunder. "Meine Aufnahme in den spanischen Kolonien ist so
schmeichelhaft, als der eitelste und aristokratischste Mensch sich nur wünschen
kann. In Ländern, in denen kein Gemeinsinn herrscht und in denen alles nach
Willkür gelenkt wird, entscheidet die Gunst des Hofes alles. Nie, nie hat ein
Naturalist mit solcher Freiheit verfahren können." Seine Ankunft in Bogota wurde
zu einem Triumphzug. Der Erzbischof hatte seinen Wagen entgegengeschickt, und
die Vornehmsten der Stadt gaben ihm zwei Meilen vor dem Ort ein festliches Mahl.
Der Vizekönig, der einer seltsamen Etikette zufolge in der Stadt mit Fremden
nicht essen darf, lud ihn auf seinen Landsitz ein. Besonders interessierte
Humboldt in Bogota der berühmte Botaniker Mutis, ein würdiger Geistlicher von 72
Jahren, der eine großartige Sammlung tropischer Pflanzen besaß und von Malern
Tausende von botanischen Zeichnungen anfertigen ließ.
Da Bonpland an einem heftigen Fieber erkrankt war, verzögerte
sich die Weiterreise nach Quito um zwei Monate. Humboldt selbst fühlte sich
leistungsfähiger als je. "Ich bin äußerst glücklich; meine Gesundheit ist so
gut, als sie vorher nie war, mein Mut ist unerschütterlich; meine Pläne gelingen
mir."
Der Weg über die Schneefelder des dreitausendfünfhundert
Meter hohen Passes von Quindiu war der schwierigste Teil der ganzen Andenreise.
Auch in der besten Jahreszeit kann man die Strecke nicht schneller als in zehn
oder zwölf Tagen zurücklegen. Es gibt keine Unterkunft, keine Lebensmittel, und
die Reisenden müssen sich immer auf einen ganzen Monat mit Vorräten versehen,
weil sie oft durch das plötzliche Anschwellen der Gebirgsbäche nach keiner
Richtung vorwärts kommen können. Jenseits des Passes führte der Weg durch
sumpfiges, mit Bambusschilf bedecktes Land. "Die Stacheln der Wurzeln dieser
gigantischen Grasart hatten unsere Fußbekleidung so sehr zerrissen, dass wir
barfüßig und mit blutrünstigen Füßen zu Cartago ankamen, weil wir uns nicht von
Menschen (Cargueros) auf dem Rücken tragen lassen wollten. In diesen Klimaten
sind die Weißen so träge, dass jeder Bergwerksdirektor einen oder zwei Indianer
im Dienste hat, welche seine Pferde (Cavallitos) heißen, weil sie sich alle
Morgen satteln lassen und, auf einen kleinen Stock gestützt und mit
vorgeworfenem Körper, ihren Herrn umhertragen. Unter den Cavallitos und
Cargueros unterscheidet und empfiehlt man den Reisenden diejenigen, die sichere
Füße und einen sanften gleichen Schritt haben; und da tut es einem recht weh,
von den Eigenschaften eines Menschen in Ausdrücken reden zu hören, mit denen man
den Gang der Pferde und Maultiere bezeichnet."
Zu Anfang des Jahres 1802, acht Monate nach seiner Abreise
von der Mündung des Magdalenenstromes, kam Humboldt in Quito an. Für die Dauer
seines Aufenthaltes wurde ihm ein Haus zur Verfügung gestellt, "das nach so viel
Beschwerden uns alle Gemütlichkeiten darbot, die man nur in Paris oder London
verlangen könnte."
Die Stadt Quito findet Humboldt schön, aber der Himmel war
stets traurig und neblig. Die benachbarten Berge zeigten kein Grün, und die
Kälte war beträchtlich. Vor fünf Jahren hatte ein gewaltiges Erdbeben die ganze
Provinz erschüttert und in wenigen Augenblicken vierzigtausend Menschen getötet.
Das Studium der Riesenvulkane um Quito beschäftigte Humboldt fast acht Monate
lang. Das ganze Gebiet erschien ihm wie ein einziger Vulkan. In Bergen wie dem
Cotopaxi und dem Pichincha sah er nur einzelne Spitzen, deren Krater
verschiedene Schornsteine eines gemeinsamen großen Herdes bilden. Obgleich seit
der Katastrophe von 1797 die Erdbeben nie aufgehört haben, findet er die
Einwohner von Quito fröhlich und lebenslustig. "Ihre Stadt atmet nur Wollust und
Üppigkeit, und nirgends vielleicht gibt es einen entschiedeneren und
allgemeineren Hang sich zu vergnügen. So kann sich der Mensch gewöhnen, ruhig am
Rande eines jähen Verderbens zu schlafen."
Humboldt bestieg den Cotopaxi, Antisana, Pichincha und andere
große Vulkane bis zum Gipfel. Die größte Berühmtheit unter allen seinen
Bergbesteigungen erlangte sein Versuch, mit Bonpland den Chimborasso zu
bezwingen, der damals noch als höchster Berg der Erde galt. In
fünfzehntausendsechshundert Fuß Höhe versagten alle Eingeborenen bis auf einen;
sie erklärten, unter der dünnen Luft mehr als die Europäer zu leiden. Humboldt
empfindet den Reiz des alpinistischen Abenteuers, aber die wissenschaftlichen
Beobachtungen sind ihm noch wichtiger. Laufend prüft er die Höhe, misst die
Temperatur und macht elektrische Untersuchungen. In achtzehntausendeinhundert
Fuß Höhe verhindert ein unbezwingbarer Abgrund den letzten Anstieg. Nur
eintausendzweihundert Fuß - die dreifache Höhe der Peterskirche in Rom, wie
Humboldt bemerkt - trennten ihn noch vom Gipfelt. Er sammelte einige
Gesteinsproben, denn er sah voraus, dass man ihn in Europa oft um "ein kleines
Stückchen vom Chimborasso" anbetteln würde, dann wandte er sich zum Abstieg.
Bei der Besteigung des Chimborasso hatte Humboldt eine Höhe
erreicht, die vor ihm noch kein Mensch bezwungen hatte. Als fünfundzwanzig Jahre
später englische Reisende im Himalaya noch höhere Berggipfel feststellten und
erstiegen, tröstet er sich darüber in dem Gedanken, dass sein Vorbild die
Anregung dazu gab. "Ich habe mir mein Lebelang etwas darauf eingebildet",
schreibt er 1828 an den Berliner Geographen Berghaus, "unter den Sterblichen
derjenige zu sein, der am höchsten in der Welt gestiegen ist - ich meine am
Abhänge des Chimborasso - und bin stolz gewesen auf meine Ascension! Mit einem
gewissen Gefühl von Neid habe ich darum auf die Enthüllungen geblickt, welche
Webb und seine Consorten von den Bergen in Indien gegeben. Ich habe mich über
die Reisen des Himalaya beruhigt, weil ich glaube annehmen zu dürfen, dass meine
Arbeiten in Amerika den Engländern den ersten Impuls gegeben haben, sich etwas
mehr um die Schneeberge zu bekümmern, als es von ihnen seit anderthalb
Jahrhunderten geschehen."
Die weitere Reise von Quito nach Peru führte Humboldt auf dem
Hochland zwischen den Andenketten zu zahlreichen Ruinenstätten der alten
Inkaljultur. In dem Palast von Caxamara sah er das Zimmer, in dem der
Inkaherrscher Atahualpa von den Spaniern vor seiner Hinrichtung gefangen
gehalten wurde. Man zeigte den Reisenden noch die Mauer, an der er das Zeichen
machte, bis zu welcher Höhe er den Raum mit Gold anfüllen wollte, wenn man ihn
freiließe. Er bestaunt die Reste der großen Inkastraße; sie ist schnurgerade,
ganz aus behauenen Steinen aufgeführt und gleicht den schönsten Straßen der
alten Römer, überall sammelt er historische Dokumente und Mythen, die ihm
beweisen, dass Amerika einst eine weit höhere Kultur besaß, als die Spanier bei
der Entdeckung vorfanden. Besonders interessiert ihn alles, was er über die
astronomischen Kenntnisse der Inka in Erfahrung bringen kann. In Peru und am
Hofe des Königs von Bogota verstanden die Priester, den Augenblick der
Sonnenwende zu beobachten und das Mondjahr durch Einschaltungen in ein
Sonnenjahr zu verwandeln. Humboldt erwarb selbst einen siebeneckigen Stein, der
zur Berechnung dieser Schalttage diente.
Auch die lebenden Indianersprachen sind ihm ein Beweis für
die früher höhere Kultur; sie sind keineswegs so primitiv und arm, wie ältere
Reisende angaben. In der karibischen Sprache zum Beispiel findet Humboldt
Reichtum, Anmut, Kraft und Zartheit. Sie hat zahlreiche Ausdrücke für abstrakte
Begriffe, kann von Zukunft, Ewigkeit, Existenz und ähnlichem reden und es fehlt
ihr nicht an Zahlwörtern, um alle möglichen Kombinationen unserer Zahlzeichen
wiederzugeben. "Vorzüglich lege ich mich auf die Inkasprache; sie ist die
gewöhnliche hier in der Gesellschaft und ist so reich an feinen und mannigfachen
Wendungen, dass die jungen Herren, um den Damen Süßigkeiten zu sagen,
gemeiniglich Inka zu sprechen anfangen, wenn sie den ganzen Schatz des
Castilischen erschöpft haben."
Nachdem Humboldt zum vierten Male die Andenkette überstiegen
hatte, gelangte er bei Truxillo endlich an die Küste des Stillen Ozeans. Alte
Erinnerungen an seinen Lehrer Georg Forster werden wach. "Der Anblick der Südsee
hatte etwas Feierliches für den, welcher einen Teil seiner Bildung und viele
Richtungen seiner Wünsche dem Umgange mit einem Gefährten des Kapitän Cook
verdankte. Durch Forsters anmutige Schilderungen von Otaheiti war besonders im
nördlichen Europa für die Inseln des Stillen Meeres ein allgemeines, ich könnte
sagen sehnsuchtsvolles Interesse erwacht."
Mexiko
Schon in Quito hatte Humboldt erfahren, dass er auf ein
Zusammentreffen mit Baudin nicht mehr rechnen konnte. Ursprünglich hatte er die
Absicht gehabt, - sei es nun in Begleitung Baudins oder allein - auf der
Rückreise nach Europa noch die Philippinen, das Rote Meer und Ägypten
aufzusuchen und so sein Unternehmen mit einer wirklichen Weltumsegelung zu
beschließen. In Peru entschloss er sich, diesen Plan aufzugeben. Auf der
Andenreise hatte ein Teil seiner Instrumente Schaden erlitten, deren Ersatz in
Amerika nicht möglich war. Entscheidend war schließlich wohl die schon erwähnte
Befürchtung, durch zu lange Abwesenheit von Europa den Anschluss an die
Fortschritte der Naturforschung zu verlieren, ein Gedanke, der ihn von Jahr zu
Jahr immer mehr beunruhigte. So fasste er den Entschluss, jetzt nach Mexiko zu
fahren und über Nordamerika die Heimreise anzutreten.
Trotz dieser Vorsätze dauerte der Aufenthalt in Mexiko noch
ein volles Jahr. Niemals war Humboldt verlegen um Gründe, warum das Land, in dem
er sich gerade befand, ganz besonderes Interesse und eingehendes Studium
verdiente. Seine bisherigen Reisen hatten ihn den großen Wert des
wissenschaftlichen Vergleichens verschiedenartiger Natur- und Kulturbereiche
gelehrt; durch ihn wurde diese Methode des Vergleichens in der modernen Erdkunde
zu einem der großen Gesichtspunkte für die Gewinnung vertiefter geographischer
Anschauung. "Nichts war mir auffallender als der Kontrast zwischen der
Zivilisation von Neuspanien und der geringen physischen und moralischen Kultur
derjenigen Regionen, welche ich soeben durchstrichen hatte. Ich verglich
sorgfältig, was ich an den Ufern des Orinoko und Rio Negro, in der Provinz
Caracas in Neugranada, auf dem Gebirgsrücken von Quito und an den Küsten von
Peru beobachtet hatte, mit der damaligen Lage des Königreichs Mexiko. Alles
reizte mich an, den noch wenig entwickelten Ursachen nachzuforschen, welche in
diesem die Fortschritte der Bevölkerung und der Nationalbetriebsamkeit so
auffallend begünstigt haben."
Sein Standquartier wurde die Stadt Mexiko. Von hier aus
besuchte er die berühmten Bergwerke von Moran und Real del Monte und eine große
Bewässerungsanlage im Fluss Montezuma. Am Pik von Orizaba, Iztaccihuatel und
Popocatepetl machte er trigonometrische Vermessungen und untersuchte die große
Pyramide von Cholula, einen von den Tolteken aus ungebrannten Ziegeln
errichteten Stufenbau. Unendliche Mühe verwandte er auf die Beschaffung
verlässlicher statistischer Unterlagen zur Beurteilung der Wirtschafts- und
Bevölkerungsstruktur, die zu einer umfassenden Landeskunde von Mexiko dienen
sollten.
Die botanischen Gärten der Hauptstädte Europas, die seine
Pläne gefördert hatten, versorgt er schon von unterwegs mit tropischen
Pflanzensamen. Gleich nach der Ankunft in Mexiko schreibt er an Willdenow: "Wir
haben schon über zehn- oder zwölfmal große Sendungen frischer Sämereien von hier
abgeschickt: an den botanischen Garten in Madrid; an den Garten in Paris; und
über Trinidad an Sir Josef Banks in London. Allein denke darum nicht, dass mein
Reichtum erschöpft sei oder dass ich Berlin vergessen werde."
Immer wieder schiebt er den Zeitpunkt der endgültigen Abreise
hinaus. Jetzt müssen sogar die möglichen Gefahren der letzten Reiseetappe
herhalten, um sein Zögern zu begründen. "Ich wünschte, gegen Ende dieses Jahres
in Europa zu sein. Allein das schwarze Erbrechen, welches schon in Veracruz und
in Havana herrschte, und die Furcht vor der Übeln Schifffahrt im Oktober müssen
mich zurückhalten. Ich will nicht mit einer Tragödie endigen."
Die Heimreise, zu der er sich schließlich doch bequemen
musste, verlief ohne Zwischenfälle; zu allen Zeiten hat Humboldt ein
erstaunliches Glück und Talent entwickelt, Katastrophen und tragischen
Lebenssituationen aus dem Wege zu gehen. Er reiste zunächst noch einmal nach
Kuba, um die dort vor vier Jahren zurückgelassenen Sammlungen zu holen. Nach
sehr stürmischer Seefahrt durch den Bahama-Kanal ging er in Philadelphia an
Land. Drei Wochen lang war er in Monticello Gast des Präsidenten der Vereinigten
Staaten Jefferson. Die Fahrt über den Atlantik war so ruhig wie selten und
dauerte siebenundzwanzig Tage. Am 3. August 1804, mehr als fünf Jahre nach der
Abreise von La Coruña, landete er in Bordeaux.
Die Reisewerke
Humboldt war heimgekehrt, aber eine wirkliche Heimat, einen
Ort, wo er sich zu Hause fühlte, besaß er nicht. Wohl hatte er zahlreiche
Freunde, sie waren verstreut über viele Städte Europas, doch im Grunde waren das
nur wissenschaftliche Freundschaften, keine starken persönlichen Bindungen. Auch
das Verhältnis zu seinem Bruder blieb so, wie es schon in den Jugendjahren
gewesen war, voll gegenseitiger brüderlicher Achtung, aber ohne Wärme. "Ich kann
nicht sagen, dass ich eben glaube, in irgendeiner Art über ihm zu stehen",
schreibt Wilhelm kurz nach Alexanders Rückkehr an seine Frau. "Aber seit unserer
Kindheit sind wir wie zwei entgegengesetzte Pole auseinandergegangen, obgleich
wir uns immer geliebt haben und sogar vertraut miteinander gewesen sind. Er hat
von früh an nach außen gestrebt; und ich habe mir ganz früh schon nur ein
inneres Leben erwählt."
Die Wahl des Ortes, wo er sich nun niederlassen wollte, wurde
ihm darum nicht leicht. Am meisten lockte ihn Paris. Keine Stadt der Welt bot
für seine Zwecke bessere Hilfsmittel. Eine Zeit lang dachte er auch an Genf, die
beschauliche Ruhe des Sees und den Umgang mit dem Freunde Pictet, dem großen
Schweizer Naturforscher. Für Berlin sprach die Gunst des Königs, die von jetzt
an seine Arbeit begleitet. Die Preußische Akademie der Wissenschaften wählte ihn
zum Mitglied; aus ihren Fonds erhielt er ein Jahresgehalt von 2.500 Talern. Der
König ernannte ihn zum Kammerherrn.
Zunächst blieb er in Paris. Als Republik hatte er Frankreich
verlassen, als Kaiserreich fand er es wieder. Der Trubel der Krönung wenige
Wochen nach der Landung in Bordeaux übertönte zunächst noch etwas die Sensation
seiner Rückkehr. Um bei den Festlichkeiten angemessen auftreten zu können,
musste Humboldt sich von Grund aus neu ausstaffieren. Besorgt berichtet seine
Schwägerin Karoline, die damals gerade in Paris war, an ihren Mann: "Er gibt
sehr viel Geld für seine Garderobe aus. Kleider bis jetzt - nicht etwa Wäsche -
für 1.200 Francs; und heute kauft er einen gestickten Samtrock, der wenigstens
800 Francs kosten muss. Zur Krönung ist es beinahe nicht zu evitieren." Aber der
Empfang beim Kaiser war äußerst kühl. Bei der einzigen Begegnung richtete
Napoleon an den ruhmreichen Weltfahrer die denkwürdigen Worte: "Sie beschäftigen
sich mit Botanik? Das tut meine Frau auch."
Doch solch schnöder Nichtachtung begegnete Humboldt nur bei
Napoleon. Die Öffentlichkeit und die gelehrte Welt, der er im Institut National
die ersten Ergebnisse seiner Forschungen vortrug, feierte ihn mit Begeisterung
als den erfolgreichsten Weltreisenden seiner Zeit. Humboldt sonnt sich in diesem
Ruhm, der ihm sichtlich wohl tut, und er gibt das auch unumwunden zu. In einem
Brief an Wilhelm schreibt er: "Alle Mitglieder des Instituts haben meine
Manuskript-Zeichnungen und Sammlungen durchgesehen; und es ist eine Stimme
darüber gewesen, dass jeder Teil so gründlich behandelt worden ist, als wenn ich
mich mit diesem allein abgegeben hätte. Gerade Berthollet und Laplace, die sonst
meine Gegner waren, sind jetzt die Enthusiastischsten. Berthollet rief neulich
aus: ,Cet homme réunit toute une Académie en lui.' Das Bureau des Longitudes
berechnet meine astronomischen Beobachtungen und findet sie sehr, sehr genau."
Man hat Humboldt oft starkes Geltungsbedürfnis vorgeworfen.
Seine Briefe und die Zeugnisse von Zeitgenossen enthalten viele Züge kleiner
persönlicher Eitelkeit, die bei einem Manne überraschen, der nie in seinem Leben
um Anerkennung ringen musste, auf den die ganze Welt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
in kaum mehr möglicher Steigerung alle erdenklichen Ehrungen gehäuft hat. Doch
nie hat er auf Verdienste Anspruch gemacht, die ihm nicht zukamen, oder Würden
angestrebt, die außerhalb seiner Sphäre lagen. Als man ihm die Entdeckung der
kalten Meeresströmung an der Westküste Südamerikas zuschrieb, protestierte er
laut und erklärte, dass dieser Strom schon im sechzehnten Jahrhundert jedem
Schiffsjungen bekannt gewesen sei. So geschickt und gern er kleine diplomatische
Aufträge ausführte, in die hohe Diplomatie hat er sich trotz mancher Angebote
nie gedrängt, und als man ihm als eben erst Vierzigjährigen die Leitung des
Preußischen Kultusministeriums antrug, lehnte er entschieden ab. Sein
Geltungsbedürfnis, das sich durchaus mit hingebendem Dienst an anderen Menschen
vertrug, ist begrenzt auf die Welt der Wissenschaft, und auch hier soll es nicht
so sehr seine eigene Person als vielmehr die Bedeutung der Dinge ins rechte
Licht setzen, deren Förderung er als die Aufgabe seines Lebens betrachtete.
Nach einem Aufenthalt in Italien, wo sein Bruder preußischer
Ministerresident am Vatikan war, reiste Humboldt im Herbst 1805 nach Berlin. Er
war nun doch entschlossen, hier zu bleiben, um seine Reisewerke auszuarbeiten.
An der Akademie hielt er Vorlesungen, widmete sich aber auch schon wieder neuen
experimentellen Arbeiten über den Erdmagnetismus. Im Garten des reichen
Branntweinbrenners George, bei dem auch der Historiker Johannes von Müller
wohnte, hatte er sich ein eisenfreies "magnetisches Häuschen" gebaut. Varnhagen
berichtet, dass Humboldt einmal sieben Tage und Nächte lang, fast ohne zu
schlafen, jede halbe Stunde die Instrumente abgelesen habe. Der alte George
rühmte sich gern seiner Beziehungen zu den Größen der Wissenschaft: "Hier habe
ich den berühmten Müller, hier den Humboldt, hier auch den Fichte, der aber nur
ein Philosoph sein soll."
Das bedeutendste Ergebnis dieser Berliner Zeit war die
Veröffentlichung der "Ansichten der Natur". Es ist eine Sammlung von Essays, die
er in der zweiten Auflage noch erweiterte. Ihre Themen sind die großen
Landschaftserlebnisse der amerikanischen Reise: über Steppen und Wüsten - über
die Wasserfälle des Orinoko - Das nächtliche Tierlieben im Urwalde - Ideen zu
einer Physiognomik der Gewächse - über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane -
Erster Anblick der Südsee. In der Vorrede zur ersten Auflage schreibt er: "Schüchtern übergebe ich dem Publikum eine Reihe von Arbeiten, die im Angesicht
großer Naturgegenstände, auf dem Ozean, in den Wäldern des Orinoko, in den
Steppen von Venezuela, in der Einöde peruanischer und mexikanischer Gebirge
entstanden sind. Einzelne Fragmente wurden an Ort und Stelle niedergeschrieben
und nachmals nur in ein Ganzes zusammengeschmolzen. Überblick der Natur im
großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses,
welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen
gewährt, sind die Zwecke, nach denen ich strebe."
Während Humboldt seine großen wissenschaftlichen Reisewerke
französisch schrieb, wählte er für die "Ansichten" die deutsche Sprache. Er
nannte es später sein Lieblingswerk, "ein rein auf deutsche Gefühlsweise
berechnetes Buch". Neben dem "Kosmos" wurden die "Ansichten der Natur" Humboldts
berühmtestes Werk, das zusammen mit Forsters Landschaftsschilderungen im ganzen
neunzehnten Jahrhundert das klassische Vorbild für eine
ästhetisch-wissenschaftliche Betrachtungsweise der Natur bildete.
Die Gunst des Hofes konnte Humboldt nicht mit dem Leben in
Berlin aussöhnen. Seine Briefe sind voll von Klagen. "Ich lebe fremd und
isoliert in diesem mir fremd gewordenen Lande", schreibt er im Frühjahr 1806 an
einen Freund. "Diese menschenleere Wüste" nennt er bald danach Berlin in einem
Brief an Karoline von Wolzogen. "Ich habe niemand hier, mit dem mir wohl wäre."
Die politischen Ereignisse im Gefolge der Schlacht von Jena, die Flucht des
Königs und der Einzug Napoleons in Berlin raubten ihm vollends die Stimmung zu
ungestörter wissenschaftlicher Arbeit.
Im Jahre 1808 wurde Prinz Wilhelm von Preußen nach Paris
gesandt in der Hoffnung, man könnte dadurch eine Milderung der Bedingungen des
Tilsiter Friedens erreichen. Da Friedrich Wilhelm III. annahm, dass Humboldt
durch seine Persönlichkeit und die Kenntnis der entscheidenden Männer dabei von
Nutzen sein würde, bestimmte er ihn zur Hegleitung des Prinzen. Die Mission
führte nicht zu dem gewünschten Erfolg. Als aber der Prinz im folgenden Jahre
nach Berlin zurückkehrte, erbat Humboldt vom König die Erlaubnis, in Paris
bleiben zu dürfen, da er zu der Überzeugung gelangt war, dass bei den jetzt in
Deutschland herrschenden Zuständen eine Fortführung seiner Arbeiten dort nicht
möglich sei. Auch während der Freiheitskriege hat er die französische Hauptstadt
nicht verlassen. Dass ihn trotzdem die Ereignisse dieser Jahre nicht unberührt
ließen, deutet er an in der Vorrede zu den "Ansichten der Natur", die kurz nach
seiner Abreise von Berlin erschienen: "Bedrängten Gemütern sind
diese Blätter vorzugsweise gewidmet. Wer sich herausgerettet aus der stürmischen
Lebenswille, folgt mir gern in das Dickicht der Wälder, durch die unabsehbare
Steppe und auf den hohen Rücken der Andenkette. Zu ihm spricht der weltrichtende
Chor:
-
Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual."
Paris
Was Paris damals im Gegensatz zu dem Leben in Deutschland zu
bieten hatte, hat Goethe etwas später - im Mai 1827 - in einer Bemerkung zu
Eckermann ausgesprochen: "Wir führen doch im Grunde alle ein isoliertes
armseliges Leben! Aus dem eigentlichen Volke kommt uns sehr wenig Kultur
entgegen, und unsere sämtlichen Talente und guten Köpfe sind über ganz
Deutschland ausgesäet. Da sitzt einer in Wien, ein anderer in Berlin, ein
anderer in Königsberg, ein anderer in Bonn oder Düsseldorf, alle durch fünfzig
bis hundert Meilen voneinander getrennt, so dass persönliche Bemühungen und ein
persönlicher Austausch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört. Was dies aber
wäre, empfinde ich, wenn Männer wie Alexander von Humboldt hier durchkommen und
mich in dem, was ich suche und mir zu wissen nötig, in einem einzigen Tage
weiter bringen, als ich sonst auf meinem einsamen Wege in Jahren nicht erreicht
hätte.
Nun aber denken Sie sich eine Stadt wie Paris, wo die
vorzüglichsten Köpfe eines großen Reichs auf einem einzigen Fleck beisammen sind
und in täglichem Verkehr, Kampf und Wetteifer sich gegenseitig belehren und
steigern, wo das Beste aus allen Reichen der Natur und Kunst des ganzen
Erdbodens der täglichen Anschauung offen steht; diese Weltstadt denken Sie sich,
wo jeder Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große Vergangenheit
erinnert, und wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat!
Und zu diesem allen denken Sie sich nicht das Paris einer dumpfen, geistlosen
Zeit, sondern das Paris des neunzehnten Jahrhunderts, in welchem seit drei
Menschenaltern durch Männer wie Moliere, Voltaire, Diderot und ihresgleichen
eine solche Fülle von Geist in Kurs gesetzt ist, wie sie sich auf der ganzen
Erde auf einem einzigen Fleck nicht zum zweiten Male findet."
In diesem Paris fand Humboldt die geistige Atmosphäre, die er
in Berlin so sehr entbehrt hatte; hier allein glaubte er, sein großes Werk
vollenden zu können. Er fand eine Menge von Mitarbeitern und Gelehrten, die er
bei allen Spezialfragen zu Rate ziehen konnte: die Astronomen und Physiker
Laplace, Lalande, Delambre und Arago, die Chemiker Gay-Lussac und Berthollet,
den Zoologen Lamarck, ferner Botaniker, Mineralogen und die Vertreter der
verschiedenen Geisteswissenschaften. Hier konnte er sich seiner immer stärker
hervortretenden Neigung, die Forschung durch Gemeinschaftsarbeit
gleichstrebender Gelehrter zu fördern, nach Herzenslust hingeben.
Sein Leben in Paris ist zunächst ganz auf die
wissenschaftliche Arbeit eingestellt. Um ungestört zu sein, hat er lange Zeit
zwei Wohnungen, eine zum Schlafen und für offizielle Besuche, die andere als
Arbeitsstätte. Er meidet aber keineswegs die Geselligkeit, doch wünscht er sich
seinen Umgang selbst auszusuchen. Ein Besucher, Karl Vogt, .schildert Humboldts
Lebensgewohnheiten in den späteren Pariser Jahren folgendermaßen: "Morgens von
8-11 Uhr sind seine Dachstubenstunden, da kriecht er in allen Winkeln von Paris
herum, klettert in alle Dachstuben des Quartier Latin, wo etwa ein junger
Forscher oder einer jener verkommenen Gelehrten haust, die sich mit einer
Spezialität beschäftigen. Morgens um 11 Uhr frühstückt er im Cafe Procope in der
Nähe des Odeon, links in der Ecke am Fenster, es drängt sich da immer ein
Schwärm von Menschen um ihn herum. Des Nachmittags ist er im Cabinet von Miguet
in der Bibliotheque Richelieu. Er speist täglich wo anders, immer bei Freunden,
niemals in einem Hotel oder Restaurant. Unter uns gesagt, er plaudert gern. Da
er geistreich, witzig und schön erzählt, so hört man ihm gern zu. Kein Franzose
hat mehr Esprit als er. Er besucht jeden Abend wenigstens fünf Salons und
erzählt dieselbe Geschichte mit Varianten. Hat er eine halbe Stunde gesprochen,
so steht er auf, macht eine Verbeugung, zieht allenfalls noch einen oder den
andern in eine Fensterbrüstung, um ihm etwas ins Ohr zu plauschen, und huscht
dann geräuschlos aus der Tür. Unten erwartet ihn sein Wagen. Nach Mitternacht
fährt er nach Hause."
Sein Ruhm als erfolgreicher Weltreisender und seine
Beziehungen zu vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens brachten ihn
öfter in Versuchung, zu politischen Fragen Stellung zu nehmen. Alle Ansinnen
solcher Art lehnte er ab. Er wollte in Paris nur ein wohlgelittener Gast sein.
Selbst den nach seiner Ansicht exponierten Posten eines Vizepräsidenten der
Pariser Geographischen Gesellschaft, den man ihm als besondere Ehrung zugedacht
hatte, schlug er aus. Durch diese Zurückhaltung gewann er in den schwierigen
Jahren nach dem Kriege seine einzigartige Stellung als der entscheidende
Vertreter des geistigen Deutschland in Frankreich. Diese private, allein auf
seiner Person beruhende zwischenstaatliche Funktion war ihm wichtiger als das
Amt des offiziellen preußischen Gesandten, das man ihm nach dem zweiten Pariser
Frieden anbot.
Bei der Rückkehr aus Amerika hatte Humboldt gedacht, sein
Reisewerk in zwei bis drei Jahren vollenden zu können. Aber die Arbeit wuchs ihm
unter den Händen, und schließlich war er auch nach zwanzig Jahren noch nicht
damit fertig. Allein die botanischen Teile beschäftigten ihn jahrelang. Seine
Sammlung amerikanischer Pflanzen enthielt 6.000 Arten, davon waren mehr als die
Hälfte damals noch unbekannt. Die Bereicherung für die Wissenschaft kann man
daran ermessen, dass um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts überhaupt erst
etwa 8.000 Arten bekannt waren. So nützlich sich Bonpland beim Sammeln der
Pflanzen erwiesen hatte, der wissenschaftlichen Bearbeitung war er nicht
gewachsen, so dass sich Humboldt nach anderen Mitarbeitern umsehen musste.
Das Riesenwerk, das unter dem Gesamttitel "Voyage aux Regions
Equinoxiales du Nouveau Continent" in Paris herauskam, wurde schließlich in
seinen spezielleren Teilen eine internationale Gemeinschaftsarbeit, an der neben
Humboldt noch fünf Deutsche, sechs Franzosen und ein Engländer beteiligt waren.
In Paris beschäftigte er ein ganzes Verlegerkonsortium, in Deutschland meist
Cotta. Die französische Originalausgabe in Folio und Quart umfasst 30 Bände mit
über 1.400 gestochenen, zum größten Teil farbigen Abbildungen.
Auch die technische Seite der Drucklegung machte enorme
Schwierigkeiten. Humboldt war als Autor sehr schwer zufrieden zu stellen. Er
verlangte die besten Zeichner, Kupferstecher und Drucker. Immer wieder verwarf
er bereits fertig gestellte Teile, nicht nur einzelne Tafeln und Testbogen,
sondern sogar zwei schon fast ausgedruckte Bände. Um das große Werk in
vollkommener Weise herauszubringen, zögerte er nicht, sich an den hohen Kosten
auch mit seinen eigenen Mitteln zu beteiligen. Die Expedition selbst hatte ihn
ungefähr 40.000 Taler gekostet, für das Reisewerk opferte er den ganzen Rest
seines Vermögens.
Als Preis für ein vollständiges Exemplar der französischen
Ausgabe ergab sich schließlich der Betrag von 2.753 Talern oder rund 10.000
Francs. Selbst große Bibliotheken waren kaum imstande, das ganze Werk zu
erwerben. Der preußische Finanzminister, der Humboldt bei einem Aufenthalt in
Paris einen Vorschuss von 24.000 Francs gegeben hatte, erklärte sich später
damit einverstanden, dass der Betrag durch Lieferung von vier Prachtexemplaren
an die Universitäten Berlin, Breslau, Halle und Bonn als ausgeglichen gelten
sollte. Zu spät erst erkannte Humboldt, dass er selbst durch seine Anforderungen
an kostbare Ausstattung die Verbreitung des Werkes aufs schwerste behindert
hatte. Im Jahre 1830 schreibt er: "Leider, leider! meine Bücher stiften nicht
den Nutzen, der mir vorgeschwebt hat, als ich an ihre Bearbeitung und Herausgabe
ging: sie sind zu teuer! Außer dem einzigen Exemplar, welches ich zu meinem
Handgebrauch besitze, gibt es in Berlin nur noch zwei Exemplare von meinem
amerikanischen Reisewerke. Eins davon ist in der königlichen Bibliothek, das
zweite hat der König in seiner Privatbibliothek, aber unvollständig, weil auch
dem Könige die Fortsetzungen zu hoch gekommen sind." Erst für Friedrich Wilhelm
IV. wurde später ein vollständiges Exemplar besorgt.
Berechtigt waren diese beweglichen Klagen Humboldts nur bei
der Pariser Originalausgabe, besonders den kostbaren Tafelbänden. Von allen
wichtigeren Textteilen erschienen zahlreiche Sonderausgaben und Übersetzungen,
die weite Verbreitung fanden. Allerdings zog sich deren Erscheinen fast über ein
halbes Jahrhundert hin. Von der deutschen Ausgabe kamen als erstes Werk im Jahre
1807 die "Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der
Tropenländer" heraus, die Goethe gewidmet waren. Der "Versuch über den
politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien" erschien 1809-14 in 5 Bänden.
Der langatmige Untertitel enthält von der physischen Beschaffenheit bis zum
Gedanken einer Kanalverbindung zwischen atlantischem und pazifischem Ozean das
ganze Programm einer modernen politisch-geographischen Landeskunde, wie Humboldt
sie aufgefasst wissen wollte. Am Beispiel Mexikos entwickelt er hier eine ganz
neue Methode, aus den natürlichen Bedingungen eines Landes alle Lebensäußerungen
abzuleiten.
Den eigentlichen Reisebericht bringt die "Reise in die
Äquinoktialgegenden des Neuen Kontinents", 1815-32. Obgleich sechs Bände
umfassend, enthält er ebenso wie das entsprechende französische Werk nur etwa
ein Drittel des Gesamtverlaufs der Reise. In Erinnerung an seinen Lehrer Forster
hatte Humboldt die Übersetzung dessen ehemaliger Frau Therese Huber geb. Heyne
anvertrauen lassen, war aber von deren Leistung sehr wenig befriedigt, so dass
später im gleichen Verlag eine neue Bearbeitung herauskam. Die "Kritischen
Untersuchungen über die historische Entwicklung der geographischen Kenntnisse
von der Neuen Welt", 3 Bände 1835-51, enthalten ein besonderes Lieblingsgebiet
Humboldtscher Forschung, die Erweiterung des allgemeinen Weltbildes durch das
Zeitalter der Entdeckungen.
Über dieses Werk schrieb Humboldts Freund Arago: "Humboldt,
tu ne sais pas comment se compose un livre; tu écris sans fln; mais ce n'est pas
là un livre, c'est un portrait sans cadre." Nicht nur für französisches
Formgefühl sind die meisten Werke Humboldts weitschweifig und ohne rechte
Gliederung. Die kurzen Essays in den "Ansichten der Natur" fesselten den Leser
auch durch ihre literarische Gestaltung. Aber schon hier kämpft er mit den
Schwierigkeiten der Darstellung, die sich ihm aus der Verbindung künstlerischer
und wissenschaftlicher Anschauung ergeben. "Diese ästhetische Behandlung
naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und der
Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der
Komposition. Reichtum der Natur veranlasst Anhäufung einzelner Bilder, und
Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die
Phantasie ansprechend, artet der Stil leicht in eine dichterische Prosa aus." In
den wissenschaftlichen Werken tritt dieses Streben nach poetischer Darstellung
zurück. Der berühmte Aufsatz "über einen Versuch, den Gipfel des Chimborasso zu
ersteigen" schließt mit den Worten: "Wo die Natur so mächtig und groß und unser
Bestreben rein wissenschaftlich ist, kann die Darstellung jedes Schmuckes der
Rede entbehren." Aber im Verfolgen zahlloser Gedankenverbindungen wird der
Satzbau unbeholfen, unendlich verschachtelt und muss mühsam mit Partizipien
wieder eingerenkt werden. Auch auf seine Briefe färbt dieser Stil ab, am Rande
verspottet er sich einmal selbst mit der Bemerkung: "Eine Phrase wie ein
Warschauer Schlafrock mit 40 Taschen als Parenthesen." Aber trotz dieser Mängel
der sprachlichen Form, die in einer übersprudelnden Menge von Einfällen
begründet sind, wirkt seine Darstellung nicht langweilig. Nie häuft er totes
Wissen auf, und niemals erstickt er in der Überfülle des Materials, über das
gleiche Werk, von dem Arago gesagt hatte, es sei überhaupt kein Buch, urteilt
Schelling: "Nachdem ich die ersten Seiten von Band drei gelesen, konnte ich
nicht wieder aufhören und war so gefesselt, dass ich die nächsten zwei Tage
alles beiseite legte, um der unwiderstehlichen Untersuchung zu folgen." Alles,
was Humboldt anpackt, auch die entlegenste Einzelheit, wird irgendwie
interessant und bekommt eine Beziehung zum Ganzen. Am stärksten freilich
offenbarte sich das bei der mündlichen Unterhaltung, in der Humboldt von
Einfallen, Witzen und Anspielungen sprühte. Niemand, der ihm im Leben begegnete,
konnte sich dem Reiz dieses virtuosen Feuerwerks entziehen. "Humboldt ist der
Einzige", sagt Dove, "der mir davon eine Ahnung gegeben, dass causer auch im
Deutschen möglich sei." In den "Wahlverwandtschaften" schreibt Goethe in
Ottiliens Tagebuch: "Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das
Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft, jedesmal in
dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern möchte ich
nur einmal Humboldten erzählen hören." Die amerikanische Reise hatte Humboldt
die allverbreitete Fülle des Lebens im ganzen Bereich der Natur offenbart; die
Ausdeutung ihrer Ergebnisse lehrte ihn "die Kunst, die größte Menge von
Tatsachen zu sammeln, zu ordnen und sich auf dem Wege der Induktion zu
allgemeinen Ideen zu erheben." Alle seine wesentlichen Erkenntnisse gehen zurück
auf das Zusammenwirken von sinnlicher Anschauung und wissenschaftlicher
Abstraktion. "Die Natur muss gefühlt werden", schreibt er 1810 an Goethe; "wer
nur sieht und abstrahiert, kann ein Menschenalter im Lebensgedränge der
glühenden Tropenwelt Pflanzen und Tiere zergliedern, er wird die Natur zu
beschreiben glauben, ihr selbst aber ewig fremd bleiben." Wenn Schiller ihm
vorgeworfen hatte, er wolle die Natur "schamlos ausmessen", so stellte er damit
freilich die Grundlage jeder wissenschaftlichen Naturerkenntnis in Frage.
Humboldt will nur messen, was messenswürdig ist. Seine Begeisterung für
statistische Methoden von der kritischen Berechnung der Mittelwerte des
Klimaverlaufs bis zu der Bevölkerungsstatistik Mexikos und den Untersuchungen
über die Gold- und Silberausfuhr der Kolonialländer dient nur dem Zweck, Dinge,
Vorgänge und Zustände in ihrer Größenordnung zu erkennen und damit vergleichbar
zu machen. Nie geht es ihm um abstrakte Zahlen, sondern um die Erfassung der
lebendigen Gestalt der Natur.
Die Ergebnisse wurden von entscheidender Bedeutung für die
Entwicklung der modernen Erdkunde. Erst durch Humboldt gewinnt sie den Rang
einer wirklichen Wissenschaft. Er entwickelte einen neuen Stil des
wissenschaftlichen Reisens, an die Stelle der Entdeckungsfahrt trat die
Forschungsreise, die dem Studium im voraus gesehener oder auch nur geahnter
Probleme dient. Die exakte Beobachtung wird zur Grundvoraussetzung aller
geographischen Arbeit. Humboldt hat als erster zahllose barometrische
Höhenmessungen vorgenommen und die Resultate in Höhenschnitten ganzer Länder
zeichnerisch dargestellt. Das führte ihn auf grundlegende geographische
Probleme, die vor ihm noch kein Reisender mit solcher Klarheit gesehen hatte.
Erst seine Unterscheidung von Kamm-, Gipfel- und Passhöhe führte zu einer
deutlichen Vorstellung vom Bau der Gebirge. Er erkannte die Bedeutung der
Schneegrenze, überhaupt aller Höhengrenzen, der Höhenschichtung des organischen
Lebens, der Zusammenhänge zwischen Klima und Verbreitung von Pflanzen, Tieren
und menschlichen Siedlungen. Der geographische Raum, in den Anschauungen seiner
Zeit im Grunde nur ein zweidimensionales Gebilde, gewinnt damit eine neue
Dimension. Goethe erkannte sofort den Wert dieser neuen Betrachtungsweise und
entwarf selbst nach Humboldts "Ideen zu einer Geographie der Pflanzen" eine
symbolische Landschaft, eine vergleichende Zeichnung der europäischen und
amerikanischen Gebirge mit Schneegrenzen und Vegetationshöhen.
Die Botanik weitete sich Humboldt durch diese Erkenntnisse
zur Pflanzengeographie, deren eigentlicher Begründer er ist. Seine
meteorologischen Beobachtungen führten ihn zur Klimakunde, die erst durch ihn
ein geographisches Gesicht bekam. Er erkannte das Gesetzmäßige im Verlauf der
tropischen Witterungserscheinungen und spürte den Ursachen der Passatwinde und
den Abwandlungen der täglichen und jährlichen Wärmeschwankungen mit der Höhe
nach. Er zeichnete die erste Isothermenkarte und erkannte, dass diese Linien
gleicher Wärme nicht mit den Breitengraden der Erde zusammenfallen. Das führte
ihn auf die Bedeutung der Meeresströmungen und weiter zur Charakterisierung des
wichtigen Gegensatzes von maritimem und ozeanischem Klima. In der Geologie trug
er entscheidend zum Umschwung der Anschauungen vom Neptunismus zum Vulkanismus
bei. Er wies auf die Zusammenhänge von Erdbeben und vulkanischen Erscheinungen
hin und zeigte, dass die Vulkane der Erde nicht regellos auftreten, sondern auf
weitgespannten Linien angeordnet sind, die er als Spalten der Erdkruste deutete.
Alle diese Erkenntnisse sind nicht entlegene Spezialfragen
der Forschung; es sind die Grundbegriffe geographischer Anschauung, die heute
niemand entbehren kann, der eine klare Vorstellung vom Aufbau der Erde und der
Vielfalt ihrer Erscheinungen gewinnen will.
Das dritte Menschenalter
Seit seiner Übersiedelung nach Paris war Humboldt fünfzehn
Jahre lang nicht in Berlin gewesen. Seinen Dienst als Kammerherr am preußischen
Hofe hatte er nie angetreten. Von Friedrich Wilhelm III. wurde er mehrmals zur
Rückkehr gemahnt, aber stets wich er aus. Allmählich wurde der Körnig immer
dringender, und 1822 musste ihn Humboldt zum Kongress nach Verona und über Rom
und Neapel bis nach Berlin begleiten. Noch einmal gelang es ihm, einen Aufschub
zu gewinnen, aber 1827 musste er sich endgültig damit abfinden, seinen Wohnsitz
in Berlin zu nehmen. Es blieb ihm keine andere Wahl, denn nachdem er für die
Herstellung der Reisewerke den Rest seines Vermögens verbraucht hatte, war er
jetzt auf sein Einkommen aus Berlin angewiesen. Die äußeren Bedingungen seiner
neuen Lage waren nicht schlecht. Der König bewilligte ihm ein Jahresgehalt von
5.000 Talern, allerdings unter Einschluss der Akademiebezüge, und gestand ihm in
jedem Jahr vier Monate Paris zu.
Berlin war größer und betriebsamer geworden in den Jahren
nach den Freiheitskriegen. Es hatte durch Schinkel die Anfänge einer
großstädtischen Architektur bekommen und besaß seit siebzehn Jahren eine
Universität mit vielen bedeutenden Gelehrten. Aber im Vergleich zu Paris
erschien Humboldt das Leben hier auch jetzt noch eng und bedrückend. In Paris
war er eine stadtbekannte Persönlichkeit gewesen, von dessen Ruhm selbst die
Droschkenkutscher wussten. Wenn man ihnen nur seine Adresse nannte, erzählt
Holtei, wussten sie gleich Bescheid und sagten anerkennend: "Ah, chez Monsieur
de Humboldt." "In Berlin", bemerkt Holtei 1844, "ist mir kein Droschkenkutscher
vorgekommen, dem Humboldts Wohnung bekannt gewesen wäre." Noch viele Jahre nach
seiner Rückkehr nennt Humboldt Berlin eine "Sandwüste, geziert durch
Akaziensträucher und blühende Kartoffelfelder." Allerdings darf man solche
Äußerungen bei ihm nicht allzu tragisch nehmen. Wenn er ärgerlich war, liebte er
dramatische Ausdrücke. Schon in Paris hatte Arago von ihm gesagt: "Mein Freund
Humboldt ist das beste Herz auf der Welt, aber auch das größte Schandmaul, das
ich kenne."
Humboldt wagte es aus Loyalität für den König nicht zu laut
auszusprechen, aber aus zahlreichen Äußerungen wird es deutlich: der eigentliche
Grund seines Missvergnügens an der Situation in Berlin sind die Pflichten am
Hofe. Die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens wurde er für zwei preußische
Könige, Friedrich Wilhelm III. und IV., zum Berater in allen wissenschaftlichen
und überhaupt kulturellen Dingen, mehr noch Unterhalter, Vorleser und
Zeitvertreiber. Alle Wanderungen des Hofes nach Charlottenburg, Sanssouci und
Paretz musste er mitmachen. Der Bau der Eisenbahn von Berlin nach Potsdam
brachte ihm keineswegs Erleichterung. Wie er im Jahre 1839 klagt, wurde dadurch
die Unruhe seines "oft sehr unliterarischen, fledermausartigen Lebens noch
vermehrt, die Pendelschwingungen zwischen beiden sogenannten Residenzen
häufiger." Besonders Friedrich Wilhelm IV. plagte ihn unentwegt durch die
absonderlichsten Fragen und betrachtete ihn als lebendiges Konversationslexikon.
Wenn die beiden in Potsdam im Stadtschloss wohnten, besuchte der König meist
noch spät in der Nacht Humboldt auf seinem Zimmer, und oft wurden die Gespräche
auch auf der Wendeltreppe des Schlosses endlos fortgesponnen. Für die
wissenschaftliche Arbeit blieben ihm nur die tiefen Nachtstunden. "Dass in der
Zerstreutheit meiner Stellung ich meine literarischen Zwecke noch ernst
verfolge, wird möglich dadurch, dass der periodische Schlaf in der Humboldtschen
Familie für ein verjährtes Vorurteil gilt. Ich gehe um halb drei ins Bett und
stehe um sieben Uhr auf, im Sommer um sechs Uhr."
Humboldt besaß nicht den Ehrgeiz, seinen Einfluss am Hofe
politisch auszunutzen. Lange Zeit hatte er beinahe die Stellung eines
inoffiziellen Kultusministers neben dem amtlichen. An dem Posten selbst, den er
schon 1810 ausgeschlagen hatte, lag ihm nichts. Er warf aber bedenkenlos das
Gewicht seines Namens in die Waagschale, wenn es galt, Mittel für allgemeine
Zwecke der Wissenschaft bereitzustellen oder einzelnen Forschern zu helfen. Als
1846 der Berliner Astronom Galle nach den Berechnungen des Franzosen Leverrier
den Planeten Neptun entdeckte, machte Humboldt daraus "den möglichsten
Spektakel, um Königen und Ministern die Größe der Wissenschaft einzureden."
Hunderte von jungen Gelehrten hat er auf diese Weise gefördert und neue
Erholungsstätten geschaffen. So ist er der Begründer der Berliner Sternwarte und
des Preußischen Meteorologischen Institutes. Auf seine Anregung entstand nicht
nur in Europa, sondern in den Kolonien des Britischen Reiches und im asiatischen
Russland ein Netz von Beobachtungsstationen für Erdmagnetismus und Meteorologie,
das sich von Helsingfors bis Kapstadt und von Kanada bis Sibirien erstreckte.
In allen Fragen der großen Politik, auch bei den Ereignissen
des Jahres 1848, war der Mann, "der die Ideen von 1789 im Herzen und den
Kammerherrnschlüssel auf dem Rücken trug", zurückhaltend, fast uninteressiert.
Die Welt der politischen Geschichte lag ihm fern. Als Naturforscher ist er der
Überzeugung: "Jahrhunderte sind Sekunden in dem großen Entwicklungsprozess der
Menschheit." Wohl sieht er in der Weltgeschichte eine aufsteigende Linie, kommt
jedoch zu der Einsicht: "Die ansteigende Kurve hat aber kleine Einbiegungen, und
es ist gar unbequem, sich in solchem Teile des Niederganges zu befinden."
Asiatische Reise
Kurz nach seiner Übersiedelung nach Berlin wurde Humboldt von
dem russischen Finanzminister Graf Cancrin um ein Gutachten über die Frage
gebeten, ob die Ausgabe von Münzen aus Platinmetall, von dem damals reiche Lager
im Ural entdeckt worden waren, zweckmäßig sei. Humboldt rät ab, hauptsächlich
aus währungstechnischen Gründen, wie er es in der gleichen Frage schon in Mexiko
getan hatte. Cancrin hatte in seinem Schreiben bemerkt, "der Ural wäre wohl des
Besuches eines großen Naturkundigen wert." Dadurch bekamen die alten Pläne
Humboldts für eine große asiatische Reise neuen Auftrieb. Eigenhändig fügte er
dem Gutachten in einer Nachschrift den Satz hinzu: "Der Ural und der nun bald
russische Ararat, ja selbst der Baikalsee schweben mir als liebliche Bilder
vor." Sogleich kam auf Veranlassung des Zaren eine offizielle Einladung, und im
April 1829 fuhr er mit zwei Reisewagen nach Petersburg ab.
Humboldts asiatische Reise unterscheidet sich wesentlich von
der Amerikaexpedition. Er war jetzt der Preußische Wirkliche Geheime Rat mit dem
Titel Exzellenz, ein Mann von Weltruf, für den der ganze Staatsapparat
aufgeboten wurde, um alle Reiseschwierigkeiten zu beheben. Humboldt freut sich
dieser Fürsorge, aber bald wird ihm "die große und allzu gütige Sorgfalt der
Regierung für unsere Sicherheit" lästig. Auch in Amerika hatte er Förderung
durch die Behörden gefunden, konnte aber doch als Privatmann ganz nach eigenem
Belieben und dem Fortgang seiner Forschungen frei umherreisen. Hier in Russland
war das anders. "Ein ewiges Begrüßen, Vorreiten und Vorsorgen von Polizeileuten,
Administratoren, Kosacken, Ehrenwachen. Leider aber auch fast kein Augenblick
des Alleinseins; kein Schritt, ohne dass man wie Kranke unter der Achsel geführt
wird." In Barnaul am Ob erscheint plötzlich der kommandierende General von
Tomsk, um ihn 1.500 Werst längs der Grenzbefestigungslinie zu begleiten.
Der Geologe Helmersen, der im Dienst der russischen Regierung
tätig war, gibt ein Bild von Humboldts äußerer Erscheinung während der Reise: "Humboldt ging damals noch ziemlich gerade einher, den Kopf ein wenig nach vorn
geneigt. Wir haben ihn selbst auf der Reise, im Wagen, nie anders als in
dunkelbraunem oder schwarzem Frack, mit weißer Halsbinde und rundem Hute
gesehen, über den Frack zog er einen langen, ebenfalls dunkelfarbigen Überrock.
Sein Gang war gemessen, langsam, vorsichtig, aber sicher. Er ritt auf
Exkursionen nie; wo man im Fuhrwerk nicht weiter konnte, stieg er aus und ging
zu Fuß weiter, ohne sichtbare Ermüdung hohe Berge ersteigend oder über
Steinmeere kletternd. Man sah es diesen Bewegungen an, dass sie auf bösem
Terrain erlernt worden waren."
Die Reise führte über Petersburg und Moskau zunächst zum
Ural, dann durch das sibirische Tiefland zum Altaigebirge und zur Grenze der
chinesischen Dsungarei. Auf dem Rückweg durchquerte Humboldt die asiatische
Kirgisensteppe bis zur unteren Wolga, wo er auf den Spuren des jungen Forster
den Eltonsee und die deutschen Kolonien bei Saratow besuchte. Das alles wird in
unglaublich raschem Tempo erledigt. In Astrachan gönnt er sich eine kurze
Ruhepause. "Wir haben nun unsere 12.000 Werste seit Petersburg vollendet; und
die damit verknüpften achtundvierzigtausend Stöße (ich rechne bescheiden nur
vier gewaltsame Brückenauffahrten auf eine Werst) haben meinem Unterleib sehr
wohlgetan. Ich bilde mir ein, etwas weniger vom Magen zu leiden, ohnerachtet die
langen sibirischen Saucen und die Fruchtinfusionen (Wein genannt) wohl als Gift
angesprochen werden können. Fast in keinem Teile meines unruhigen Lebens habe
ich in kurzer Zeit (sechs Monaten) - aber freilich auf einem ungeheuer
ausgedehnten Räume - eine so große Masse von Beobachtungen und Ideen sammeln
können."
Mit solchen Superlativen nahm es Humboldt nicht sehr genau,
das Nächstliegende war ihm meist das Wichtigste. Wohl hatte er in kurzer Zeit
unendlich viel gesehen, aber die Ergebnisse der asiatischen Reise kamen nicht
entfernt an die der amerikanischen heran. Daran war nicht allein das Tempo
schuld. Der Sechzigjährige hatte nicht mehr die Frische und Aufnahmefähigkeit
wie der erlebnishungrige junge Forscher vor einem Menschenalter. Die Ansitze zu
allen entscheidenden Ideen, die sein geographisches Weltbild geformt haben,
gehen auf die fünf amerikanischen Jahre zurück. Doch gaben ihm die asiatischen
Eindrücke die Möglichkeit zum Vergleichen und überprüfen früherer Anschauungen.
In der Vorrede zum "Kosmos" sagt er: "Es ist mir ein Glück geworden, das wenige
wissenschaftliche Reisende in gleichem Maße mit mir geteilt haben: das Glück,
nicht bloß Küstenländer, wie auf den Erdumseglungen, sondern das Innere zweier
Kontinente in weiten Räumen, und zwar da zu sehen, wo diese Räume die
auffallendsten Kontraste der alpinischen Tropenlandschaft von Südamerika mit der
öden Steppennatur des nördlichen Asiens darbieten."
Kosmos
Alle wissenschaftlichen Spezialforschungen waren für Humboldt
nur Bausteine zur Erkenntnis des Ganzen der Natur. Sein Ziel war es, schließlich
zu einer umfassenden Darstellung von Erde und Weltall zu gelangen. Schon als
Siebenundzwanzigjähriger, im Jahre 1796, schrieb er an Pictet: "Je concus l'idée
d'une physique du monde", fügt aber gleich hinzu, dass das Material für ein so
umfassendes Gebäude noch allzu spärlich sei. "Man schadet der Erweiterung der
Wissenschaft, wenn man sich zu allgemeinen Ideen erheben und doch die einzelnen
Tatsachen nicht kennenlernen will." So mussten erst dreißig Jahre vergehen, die
der Reise und der Verarbeitung ihrer Ergebnisse gewidmet waren, ehe er sich an
diese Aufgabe machen konnte, die ihm als das eigentliche Werk seines Lebens vor
Augen stand.
Nach einem skizzenhaften Entwurf in Paris geschah das zum
ersten Male in einer Reihe von Vorlesungen, die er bald nach seiner Ankunft in
Berlin hielt. Als Mitglied der Akademie war er berechtigt, an der Universität
Vorgesungen zu halten. So kündigte er für das Wintersemester 1827 ein
öffentliches Kolleg über das Gesamtgebiet der physischen Geographie an. Zweimal
wöchentlich, gegen Semesterende fast täglich, breitete er vor den Hörern in
einundsechzig Vorlesungen einen umfassenden Überblick über das Ganze des
Erdkörpers, seinen geologischen Aufbau, die Klimazonen, die Verbreitung von
Pflanzen, Tieren und Menschenrassen aus. Der Zudrang war so groß, dass er in der
Neuen Singakademie, wo vor ihm August Wilhelm Schlegel über Theorie und
Geschichte der bildenden Künste gesprochen hatte, einen zweiten, für einen
breiteren Hörerkreis bestimmten Zyklus begann. Der Erfolg dieser Vorgesungen war
gewaltig. Beide Kurse wurden zusammen von eintausenddreihundert bis
eintausendvierhundert Hörnern besucht, einem "gemischten Publikum", das vom
König bis zum Maurermeister alle Stände und Berufe umfasste.
Über den Eindruck der Vorlesungen in der Singakademie schrieb
Holtei im Dezember 1827 an Goethe: "Alexander von Humboldt hat den allgemeinen
Bitten nachgegeben und außer seinem Universitätskursus noch einen zweiten -
ebenfalls über physikalische Geographie - im großen Saale der Singakademie
eröffnet. Ein solches Publikum ist - glaube ich - in Deutschland noch nicht vor
dem Katheder eines Gelehrten versammelt gewesen. Der König, der ganze Hof, die
höchsten Staatsbeamten und Militärpersonen nebst ihren Damen, alle Gelehrte,
Künstler pp von Bedeutung, die ganze schöne Welt - alle sind versammelt, um
Belehrung und Freude in den Worten zu finden, die der große Mann aus dem Schatze
seiner Erfahrungen und Kenntnisse spendet. Achthundert Menschen atmen kaum, um
den Einen zu hören. Es gibt keinen großartigeren Eindruck, als die irdische
Macht zu sehen, wie sie dem Geiste huldigt; und schon deshalb gehört Humboldts
jetziges Wirken in Berlin zu den erhebendsten Erscheinungen der Zeit."
Es gab auch eine kleine Zahl von Missvergnügten. Zu ihnen
gehörte Hegel, der sich bei Varnhagen bitter über einen Ausfall Humboldts gegen
die Naturphilosophie beschwerte, ferner einige Konservative, die befürchteten,
dass durch Humboldts Ansichten die Religion Schaden leiden könnte. Für die
gelehrte Welt und die Gebildeten waren die Vorlesungen die Sensation des
Winters. Selbst Damen nahmen lebhaften Anteil daran, wenn auch mit
unterschiedlichem Verständnis. Zelter schreibt an Goethe: "Eine Dame, welche
Humboldts Vorlesungen besucht, bestellt sich ein Kleid und verlangt, die
Oberärmel zwei Siriusweiten geräumig zu machen."
Die Kunde von dem Erfolg der Vorlesungen drang rasch zu dem
geschäftstüchtigen Freiherrn von Cotta, dem Stuttgarter Verleger, den Humboldt
"ein sonderbares Gemisch edelmütiger Großartigkeit und engen Geizes,
vielseitiger Tätigkeit und lästiger Geschäftsverwirrung" nennt. Er machte
sogleich ein Verlagsangebot, worüber Humboldt berichtet: "Herr von Cotta hat mir
den Vorschlag gemacht, das gesprochene Wort durch einen geübten Schnellschreiber
ans Papier zu heften, dessen Aufzeichnungen ihm nach Stuttgart zu schicken,
damit er es gleich in die Druckerei geben und bogenweise versenden könne. Er
verspricht sich von dieser Manipulation mit ganz frischer Ware einen großartigen
Erfolg und hat mir in dieser Hinsicht glänzende Propositionen gemacht."
Cotta schätzte den Umfang des Werkes auf fünfundvierzig Bogen und war bereit,
dafür fünftausend Taler zu zahlen. Aber Humboldt lehnte ab. "Ich habe ihm
geantwortet: Nicht alles, was man auf dem Katheder spreche, könne so ohne
weiteres gedruckt werden; was für die Presse und durch diese für eine längere
Zukunft bestimmt sei, müsse wohl und reiflich überlegt, dann niedergeschrieben,
überarbeitet, geläutert und gesichtet und mit Beweisstücken der Schriftsteller
in Noten und Zitaten beglaubigt werden, in dieser Richtung kenne er ja meine
Manier zu schreiben; ich würde aber auf Grundlage der Notizen, welche ich für
meine freien Vorträge benutze, ein Buch über physische Geographie abfassen."
In den nächsten Jahren kam er aber noch nicht dazu, sich
ernsthaft mit dieser Arbeit zu befassen. Zunächst beschäftigte ihn die
sibirische Reise, von der er nach der Bemerkung Zelters "voll wie ein siedender
Topf" zurückkam. Die Ergebnisse dieser Reise veröffentlichte er in zwei Werken,
den "Fragmenten einer Geologie und Klimatologie Asiens" 1832, und "Zentralasien.
Untersuchungen über die Gebirgsketten und die vergleichende Klimatologie", zwei
Bände 1843-44. Vor allem war er der Überzeugung, dass ein so umfassendes Werk,
wie es ihm vorschwebte, nur in Jahrzehnten wachsen und ganz langsam ausreifen
konnte. Wie die Arbeit am Faust Goethe durch alle Epochen seines Daseins
begleitete, so ging es Humboldt mit diesem Werk, das die Summe seiner ganzen
Lebensarbeit, ja aller bisherigen Naturforschung überhaupt ziehen sollte.
Im Jahre 1834 legte er Varnhagen mit einem ausführlichen Plan
des Ganzen das Manuskript zu den einleitenden Betrachtungen vor und bat ihn um
kritische Durchsicht. Den ersten Entwurf in Paris hatte er "Essai sur la
Physique du Monde" genannt; später wollte er es "Buch von der Natur" nennen.
Schließlich entschloss er sich, um schon im Namen des Werkes auf seine
Auffassung der Natur als ein harmonisch geordnetes Ganzes hinzuweisen, zu dem
endgültigen Titel: "Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung."
In dem Brief an Varnhagen skizziert er kurz den Inhalt: "Ich
habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den
Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur
Geographie der Moose auf den Granitfelsen wissen, alles in einem Werke
darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und
das Gemüt ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufglimmt, muss
neben den Tatsachen hier verzeichnet sein. Es muss eine Epoche der geistigen
Entwicklung der Menschheit - in ihrem Wissen von der Natur - darstellen. Das
Ganze ist nicht, was man gemeinhin "physikalische Erdbeschreibung" nennt: es
begreift Himmel und Erde, alles Geschaffene."
Bis zur Vollendung war noch ein weiter Weg. Humboldts
ursprüngliche Absicht, das gewaltige Thema in einem einzigen Bande zur
Darstellung zu bringen, da es "in dieser Kürze den großartigsten Eindruck
hinterlassen haben würde", erwies sich als undurchführbar. Während der Arbeit
wuchs es ihm zu einem fünfbändigen Werk. Die ersten vier Bände erschienen in den
Jahren 1845 bis 1858, der letzte blieb unvollendet und kam erst nach seinem Tode
heraus. Allein das Register der fünf Bände umfasst mehr als tausend Seiten.
In der Einleitung "über die Verschiedenartigkeit des
Naturgenusses und die wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze" wendet sich
Humboldt gegen das Vorurteil, "dass die Natur bei dem Forschen in das innere
Wesen der Kräfte von ihrem geheimnisvollen Zauber verliert, dass der Naturgenuss
durch das Naturwissen notwendig geschwächt werde." Die ersten beiden Bände sind
universeller Natur; ihnen gehört Humboldts besondere Liebe, sie enthalten die
eigentliche Kosmosidee. Der erste Band gibt in der Form eines "Naturgemäldes"
ein allgemeines physisches Weltbild. Der zweite bringt zunächst eine Geschichte
des Naturgefühls aller Zeiten und Völker, handelt von den Anregungsmitteln zum
Naturstudium, - wozu Humboldt auch die dichterische Naturbeschreibung, die
Landschaftsmalerei und die Kultur exotischer Gewächse rechnet, - und entwickelt
in einer Geschichte der physischen Weltanschauung die Hauptmomente der
allmählichen Entfaltung und Erweiterung des Begriffs vom Kosmos als einem
Naturganzen. Auf diese allgemeinen Teile folgen die speziellen: Die "Gebiete
kosmischer Erscheinungen", eine Physik des Weltalls, und die "Gebiete
tellurischer Erscheinungen", eine physische Geographie im engeren Sinne.
Die Ausarbeitung des Werkes beschäftigte ihn fast ein
Menschenalter lang. Immer neue Korrekturen und Nachprüfung einzelner Fragen
verzögerten die Arbeit unendlich. Der erste Band erschien erst zehn Jahre nach
dem etwas voreiligen Beginn des Druckes. Da das Werk "den Zustand des Wissens
und der herrschenden oder besonderer Aufmerksamkeit würdigen Ansichten über
Naturgegenstände in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ja numerische Angaben aller
Art mit der größten bis dahin erlangten Genauigkeit darlegen sollte", wollte
sich Humboldt nicht allein auf sein eigenes umfassendes Wissen und Gedächtnis
verlassen, sondern bat die hervorragendsten Vertreter der verschiedenen
Wissenschaften um ihre Ansicht zu einzelnen Punkten, ja selbst um Prüfung der
fertigen Druckbogen. Der Mathematiker Gauß, die Astronomen Bessel und Encke, der
Geologe Leopold von Buch, der Geograph Berghaus und viele andere wurden so zu
Mitarbeitern. Wenn sie auch nur winzige Bausteine lieferten, so versäumte
Humboldt doch nie, ihre Verdienste oft in überschwänglicher Weise
herauszustellen. "Wissbegierde hat gemacht, dass wohl wenige Menschen,
zweiundsechzig Jahre lang, so viel aus dem Umgange berühmter Zeitgenossen
geschöpft haben als ich! Fleiß, Wahrhaftigkeit und freundlichste Anerkennung des
Verdienstes derer, die mir gegeben, werden im Text und zahllosen Noten wohl
nicht verkannt werden."
"Ich übergebe am späten Abend eines vielbewegten Lebens dem
deutschen Publikum ein Werk, dessen Bild in unbestimmten Umrissen mir fast ein
halbes Jahrhundert lang vor der Seele schwebte. In manchen Stimmungen habe ich
dieses Werk für unausführbar gehalten: und bin, wenn ich es aufgegeben, wieder,
vielleicht unvorsichtig, zu demselben zurückgekehrt." Als es endlich zu
erscheinen begann, war alle Welt darüber einig, dass nur Humboldt unter allen
Lebenden eine solche Aufgabe lösen konnte. Bessel erklärte: "Die Gedanken und
die Schönheit ihres Ausdrucks machten den "Kosmos" klassisch." Friedrich Wilhelm
IV., dem das Werk gewidmet war und der durch seine grenzenlosen Ansprüche an
Humboldts Zeit so viel zur Verzögerung beigetragen hatte, zitierte beim Empfang
des ersten Bandes aus Goethes Tasso: "So halt' ich's endlich denn in meinen
Händen und nenn' es in gewissem Sinne mein."
Der buchhändlerische Erfolg war enorm. Der erste Band war in
zwei Monaten vergriffen, beim Erscheinen des zweiten wurde die Nachfrage noch
größer. Die Spekulation des inzwischen verstorbenen Freiherrn von Cotta erwies
sich als richtig. In einem Brief an Humboldt schrieb dessen Sohn Georg, dass der
"Kosmos" "in der Geschichte des Buchhandels wirklich Epoche macht." Seit den
besten Erscheinungen von Schiller und Goethe sei ein solcher Erfolg nicht mehr
dagewesen. "Der Commissionär der J. G. Cottaschen Buchhandlung kann nicht Worte
finden, den Sturm zu schildern, den sein Haus zu bestehen hatte, als dieser
zweite Band bei ihm ankam. Er musste sich recht eigentlich gegen das Andrängen
der Nachfragenden und Abholenden in Verteidigungszustand setzen, um nicht
beraubt zu werden und die Abgabe der Pakete in Ordnung zu vollbringen; und so
geschah es, dass Pakete, die nach Petersburg bestimmt waren, geradezu geplündert
wurden (ohne dass man es hindern konnte), um sie nach Wien oder Hamburg zu
schicken - oder umgekehrt." Schon 1851 gab Humboldt die Zahl der bis dahin
erschienenen Kosmosbände mit achtzigtausend an. Noch zu seinen Lebzeiten
erschienen Übersetzungen in zehn europäischen Sprachen. Im Vorwort zu der
Jubiläumsausgabe von 1869 meinte Cotta sogar, der "Kosmos" sei nach der Bibel
das verbreiteste Buch.
Humboldt war sich klar darüber, dass der "Kosmos", in dem er
das gesamte Wissen seiner Zeit von der Natur zusammenfassend dargestellt hatte,
in manchen Teilen rasch veralten musste. Als wahrer Forscher ließ er sich
dadurch nicht schrecken. "Wer von der echten Liebe zum Naturstudium und von der
erhabenen Würde desselben beseelt ist, kann durch nichts entmutigt werden, was
an eine künftige Vervollkommnung des menschlichen Wissens erinnert. Viele und
wichtige Teile dieses Wissens, in den Erscheinungen der Himmelsräume wie in den
tellurischen Verhältnissen, haben bereits eine feste, schwer zu erschütternde
Grundlage erlangt. In anderen Teilen werden allgemeine Gesetze an die Stelle der
particulären treten, neue Kräfte ergründet, für einfach gehaltene Stoffe
vermehrt oder zergliedert werden. Ein Versuch, die Natur lebendig und in ihrer
erhabenen Größe zu schildern, in dem wellenartigen wiederkehrenden Wechsel
physischer Veränderlichkeit das Beharrliche aufzuspüren, wird daher auch in
späteren Zeiten nicht ganz unbeachtet bleiben."
Humboldt war sechzig Jahre alt zur Zeit der sibirischen.
Reise, sechsundsiebzig beim Erscheinen des ersten Kosmosbandes. Auch neben
diesem Werk entwickelte er in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens eine
emsige literarische Tätigkeit. Es erschienen die beiden Untersuchungen über
Gebirgsbau und Klima von Asien, die letzten Teile des großen Amerika-Werkes und
viele Sonderarbeiten als Nachlese früherer Forschungen. Allein schon die
schriftstellerische Leistung dieses Lebenswerkes ist imponierend. Die
Gesamtbibliographie seiner Veröffentlichungen umfasst über sechshundert Titel,
darunter zahlreiche mehrbändige Werke.
Auch jetzt kann er nur durch systematische Nachtarbeit, "wenn
die störenden Potenzen der Feinde schlummerten", diese enorme Arbeitslast
bewältigen. Wohl klagt er immer wieder über die Bürde des Hoflebens, aber er tut
nichts, um diesen Zustand zu ändern. In einem Brief an Gauß schreibt er: "Mein
Leben ist ein mühselig zerrissenes, arbeitsames Leben, in dem fast nur
nächtliche Stunden zu literarischen Arbeiten übrig bleiben. Sie werden fragen,
warum ich aber - sechsundsiebzig Jahre alt - mir nicht eine andere Lage
verschaffe? Das Problem des menschlichen Lebens ist ein verwickeltes Problem.
Man wird durch Gemütlichkeit, ältere Pflichten, törichte Hoffnungen gehindert."
Schließlich hat er sich so sehr an dieses Doppelgesicht seines Lebens gewöhnt,
dass er es selbst nicht mehr entbehren kann. Im hohen Greisenalter war er nicht
mehr wie früher aktiver Führer der Forschung, sondern ihr Repräsentant und
Förderer, und die Stellung am Hofe gibt ihm die Plattform, von der aus er wirken
kann.
über den "gekrönten Monarchen der Wissenschaft" ergießt sich
eine Flut von Ehrungen. Viele davon sind nur äußere Embleme des Ruhms: der
Exzellenztitel, die Mitgliedschaft im Staatsrat und die Würde als
lebenslänglicher Kanzler des Ordens "Pour le Merite", dazu zahllose Orden der
verschiedensten Länder, die Ehrenmitgliedschaft in nahezu allen Akademien und
wissenschaftlichen Gesellschaften. Sein Name ging ein in die Landkarten mehrerer
Erdteile: Der Westküstenstrom Südamerikas, Meeresbuchten in Neuguinea,
Bergketten in Kalifornien und Zentralasien, dazu noch ein Fluss in Nordamerika
und eine Stadt in Argentinien wurden nach ihm genannt. Seine
Empfehlungsschreiben für andere Forschungsreisende waren die wirkungsvollsten
Geleitbriefe, "dergleichen kein Papst und kein Kaiser auszustellen vermochte" (Dove).
Mit der wachsenden Berühmtheit schwoll seine Korrespondenz
ins Ungemessene an. Um sie bewältigen zu können, antwortete er möglichst noch in
der laufenden Nacht, immer eigenhändig. Seine Handschrift war schlecht, in den
letzten Jahren oft schwer zu entziffern. Schließlich häuften sich die
Zuschriften auch von völlig Unbekannten so, dass er nicht mehr damit fertig
werden konnte. Seine Ausgaben für Postgeld betrugen fünf- bis sechshundert Taler
im Jahr. Wenige Wochen vor seinem Tode ließ er einen Notschrei in die "Vossische
Zeitung" einrücken: "Leidend unter dem Drucke einer immer noch zunehmenden
Korrespondenz, fast im Jahresmittel sechzehnhundert bis zweitausend Nummern
(Briefe, Druckschriften über mir ganz fremde Gegenstände, Manuskripte, deren
Beurteilung gefordert wird, Auswanderungs- und Kolonialprojekte, Einsendung von
Modellen, Maschinen und Naturalien, Anfragen über Luftschifffahrt, Vermehrung
autographischer Sammlungen, Anerbietungen, mich häuslich zu pflegen, zu
zerstreuen und zu erheitern u.s.w.), versuche ich einmal wieder die Personen,
welche mir ihr Wohlwollen schenken, öffentlich aufzufordern, dahin zu wirken,
dass man sich weniger mit meiner Person in beiden Kontinenten beschäftige und
mein Haus nicht als ein Adreß-Comptoir benutze, damit bei ohnedies abnehmenden
physischen und geistigen Kräften mir einige Ruhe und Muße zu eigener Arbeit
verbleibe. Möge dieser Ruf um Hilfe, zu dem ich mich ungern und spät
entschlossen habe, nicht lieblos gemissdeutet werden!"
Seit dem Tode seines Bruders im Jahre 1835 fühlte er sich als
Greis, spricht von seiner "Versteinerung", nennt sich "antediluvianisch" oder
den "Urmenschen". Von 1842 an wohnte er im ersten Stock eines kleinen Hauses in
der Oranienburger Straße, betreut von seinem Kammerdiener Seifert. Humboldt, der
allezeit Frauen aus seinem Leben fernhielt, geriet am Ende in eine seltsame
Abhängigkeit von diesem Bedienten, dem er schließlich sogar noch bei Lebzeiten
seinen gesamten Besitz übereignete. In der Wohnung musste stets eine tropische
Wärme von zwanzig Grad Reaumur herrschen. Seine Bücherei war nicht groß, sogar
die eigenen Werke besaß er nicht vollständig. Ein Naturalienkabinett, ein
Empfangssalon, die Bibliothek und ein kleines Arbeitszimmer waren die Welt, wo
seine letzten Werke entstanden und wenige auserwählte Besucher in von Seifert
wohlabgemessenen Audienzen empfangen wurden.
Bis zum Tode blieb seine Gesundheit unerschüttert. Ein
leichter Schlaganfall im Jahre 1857 ging ohne ernsthafte Folgen vorüber. Im
Frühjahr 1859 wurden seine Kräfte schwächer. Ende April konnte er das Bett nicht
mehr verlassen. Am Nachmittag des 6. Mai fand sanft und schmerzlos mit 90 Jahren
dies vielbewegte Leben sein Ende.
"Wir werden vielleicht mit noch Wenigen die Letzten sein
einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt", hatte Goethe 1825 an Zelter
geschrieben. Einer der Wenigen, der Letzte dieser Epoche, war Alexander von
Humboldt.
Das Humanitätszeitalter hatte den Blick auf die Welt alles Menschlichen
gerichtet; Humboldt lenkte ihn auf das Ganze der Natur. Alle seine Arbeiten
dienten dem einen Zweck: zu zeigen, "dass ein gemeinsames, gesetzliches und
darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlingt." Das Buch vom Kosmos,
das Werk seines Lebens, hat eine mächtige Wirkung in die Breite gefunden. Eine
eigentliche Nachfolge, die dem großen Vorbild gerecht geworden wäre, fand es
nicht.
Die Naturwissenschaften waren zu Anfang des 19. Jahrhunderts
noch keineswegs ein Gegenstand der allgemeinen Bildung. Erst durch Humboldt
wurden sie in glänzender Form dem breiteren Kreis der Gebildeten nahe gebracht.
Der "Kosmos" blieb durch Jahrzehnte das meistgelesene naturkundliche Werk und
gab den Anstoß für viele Bestrebungen zur Popularisierung der
Naturwissenschaften. Dies Resultat war durchaus im Sinne Humboldts. "Mit dem
Wissen", schreibt er einmal, "kommt das Denken, und mit dem Denken der Ernst und
die Kraft in die Menge." Aber Humboldt wollte ja weit mehr geben als nur ein
populärwissenschaftliches Weltbild. Der "Kosmos" sollte ein großer Versuch sein,
die Vielfalt der Erscheinungsformen in der Natur als notwendige Einheit zu
erfassen, "der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur
zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt."
Der spanische Philosoph Ortega y Gasset hat in seinem Buch
"Der Aufstand der Massen" mit eindringlichen Worten den Verfall geschildert, in
den der universale Charakter der wissenschaftlichen, vor allem der
naturwissenschaftlichen Arbeit im Laufe der letzten 150 Jahre geraten ist. Von
einer Generation zur anderen hat sich der Wissenschaftler auf ein immer engeres
geistiges Betätigungsfeld festgelegt und damit die Fühlung mit den übrigen
Gebieten, mit einer deutenden Durchdringung des ganzen Universums, verloren.
Ortega nennt das die Barbarei des Spezialistentums. Die Spezialisten, das sind
Leute, "die von allem, was man wissen muss, um ein verständiger Mensch zu sein,
nur eine bestimmte Wissenschaft und auch von dieser nur den kleinen Teil gut
kennen, in dem sie selbst gearbeitet haben. Sie proklamieren ihre Unberührtheit
von allem, was außerhalb dieses schmalen, von ihnen speziell bestellten Feldes
liegt, als Tugend und nennen das Interesse für die Gesamtheit des Wissens
Dilettantismus." Dieses Spezialistentum, auf dem ein Jahrhundert lang der
Fortschritt der Naturwissenschaften beruhte, hat zur Folge, dass es heute mehr "Gelehrte" gibt als je, aber weit weniger
"Gebildete" als etwa um 1800.
Es liegt eine tragische Ironie der geistesgeschichtlichen
Entwicklung in der Tatsache, dass gerade Humboldt es war, der unbewusst das
Aufkommen dieses Spezialistentums wesentlich gefördert hat. Zahlreiche
Sonderdisziplinen, die sich später zu selbständigen Bereichen der Wissenschaft
ausgebildet haben, sehen in ihm mit Recht den Begründer oder haben entscheidende
Anregungen von ihm empfangen. Als bald nach seinem Tode das Verlangen nach einer
umfassenden Biographie Humboldts immer dringender wurde, fand man keinen Mann,
der sich imstande glaubte, als einzelner Leben und Werk dieses umfassenden
Geistes in seiner ganzen Spannweite darzustellen. Die Biographie wurde
geschrieben, - sie erschien 1872 in drei Bänden, - aber als Gemeinschaftsarbeit
von elf Fachgelehrten, die sich in die Aufgabe teilten. Im Hinblick auf diese
Tragik des Spezialistentums ist der "Kosmos" tatsächlich das Ende einer Epoche.
Es hat von Humboldts Tod bis zur Gegenwart nicht an Versuchen
gefehlt, die ungeheuer angewachsene Masse der Erkenntnisse von Erde und Weltall
zu einem Gesamtbild zu vereinigen. Aber alle diese Unternehmungen blieben im
Enzyklopädischen stecken; sie zogen wohl die Summe, doch das lebendige Ganze
blieb ihnen verborgen. Den Rang von Humboldts großartigem Versuch, den Geist der
Natur zu ergreifen, haben sie nicht erreicht. Trotzdem sind diese Bemühungen ein
Beweis dafür, dass auch auf der gegenwärtigen Stufe der Welterkenntnis der
Menschengeist nicht darauf verzichten kann, immer von neuem den Wurf nach dem
großen Ziel zu versuchen, dem Humboldt in seinem Werk Gestalt gegeben hat.
Die Vergänglichkeit aller Werke des Menschen, die
Vergänglichkeit auch aller geprägten Formen des menschlichen Geistes ist ein
Gedanke, der Humboldt tief vertraut war. In den "Ansichten der Natur", bei der
Betrachtung der Wasserfälle des Orinoko und im Nachsinnen über die Bildung von
Steppen und Wüsten gibt er ihm Ausdruck: "So sterben dahin die Geschlechter der
Menschen. Es verhallt die rühmliche Kunde der Völker. Doch wenn jede Blüte des
Geistes welkt, wenn im Sturm der Zeiten die Werke schaffender Kunst zerstieben,
so entsprießt ewig neues Leben aus dem Schöße der Erde. Rastlos entfaltet ihre
Knospen die zeugende Natur: unbekümmert, ob der frevelnde Mensch - ein nie
versöhntes Geschlecht - die reifende Frucht zertritt."
In den Stürmen des Schicksals, unter allen Wandlungen des
Lebens bleibt dem Menschen nur Eines, was Bestand hat, die Natur. "Darum
versenkt, wer im ungeschlichteten Zwist der Völker nach geistiger Ruhe strebt,
gern den Blick in das stille Leben der Pflanzen und in der heiligen Naturkraft
inneres Wirken; oder, hingegeben dem angestammten Triebe, der seit Jahrtausenden
der Menschen Brust durchglüht, blickt er ahndungsvoll aufwärts zu den hohen
Gestirnen, welche in ungestörtem Einklang die alte, ewige Bahn vollenden." |