Aug 072014
 

Von Carl Paul

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Seid getrost und unverzagt, alle die ihr des Herrn harret! Ps. 81, 25.

Auf Bergeshöhen weitet sich der Blick. Wenn der Wanderer ins Hochgebirge steigt, wird der Ausblick von jeder erklommenen Höhe freier. Er sieht ins ferne, tiefe Tal zurück, aus dem er kommt. Steile Hänge oder Felswände, die ihn vorher schreckten, schrumpfen von oben gesehen zusammen. Die glücklich überwundenen Schwierigkeiten der Wanderung stärken seinen Mut. Er setzt nach kurzer Rast den Aufstieg zu dem von Wolken umlagerten Gipfel fort. 

In ähnlicher Lage ist unsere Mission bei der gegenwärtigen Jahreswende. Beim Rückblick auf 1916 wacht die Erinnerung an manche schwere Stunde auf, vor der uns bangte und bei deren Beginn wir uns krampfhaft an den Trost der Pilgrime Gottes hielten: „Ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ Wir sehen jetzt ruhigeren Blickes auf die Drangsale des vergangenen Jahres zurück, wollen aber nicht von ihnen scheiden, ohne die heilsame Lehre aus ihnen zu ziehen: „Seid getrost und unverzagt, die ihr des Herrn harret!“ Wir lassen die wichtigsten Erlebnisse noch einmal an unserem Geiste vorüberziehen. 

Unser Haus ist gegen Ende des Jahres ganz still geworden. Anfang Mai zog unser letzter Seminarist den Waffenrock an. Manche von den feldgrau gekleideten Brüdern kehrten zwar noch zu vorübergehendem Besuch ein, sei es, dass sie einen Heimaturlaub genossen oder zur Ausheilung ihrer Wunden von der Front hereingeschickt wurden. Sie nahmen dann ihren Weg, wenn es sein konnte, über Leipzig und sprachen sich mit uns über ihre äußeren und inneren Erlebnisse aus. Einer konnte, weil noch nicht wieder felddienstfähig, auch seine wissenschaftlichen Arbeiten hier wieder aufnehmen. Aber das Seminar blieb seit Ostern geschlossen. Wir sehen es als eine große Gnade Gottes an, dass von den Brüdern unseres Hauses in den furchtbaren Kämpfen des letzten Jahres nur einer gefallen ist. Die Zahl der Verwundeten war aber sehr groß. 

Ein reges Leben und Treiben brachten die mit der „Golconda“ von Indien heimgekehrten Missionarsfamilien für kurze Zeit in das Missionshaus. Sie kamen mit einer gewissen Besorgnis im Herzen. Die Zukunft lag in beängstigendem Dunkel vor ihnen. Da ebnete ihnen Gott die nächstliegenden Wege auf wunderbare Weise. Die jüngeren Missionare fanden schon nach einigen Wochen den erwünschten Wirkungskreis in der heimischen Kirche; die älteren oder von Krankheit geschwächten kamen einige Monate später an dieses Ziel; die Diakonissen fanden in ihren Mutterhäusern liebevolle Aufnahme und Verwendung, auch die beiden zurückgekehrten indischen Lehrerinnen brauchten nicht lange auf eine Anstellung zu warten. Hat auch der Übergang in das nordische Klima manchen von ihnen hart zugesetzt, so milderte das die Liebe der Heimat in wohltuendster Weise. Die bei der erzwungenen Heimkehr so vieler Brüder und Schwestern hervorgetretene Liebe der Missionsfreunde bleibt als eine der schönsten Erinnerungen aus dem vergangenen Jahre in uns haften. Wir haben sie auch in unserer Kasse zu fühlen bekommen. Zwar wurde die Höhe der Einnahme in den Friedensjahren nicht wieder erreicht, aber andererseits auch kein Mangel empfunden. Das hängt mit der zeitweiligen Verhinderung von Geldsendungen auf unsere Missionsfelder zusammen. Das deutsch-ostafrikanische hat die finanzielle Zufuhr am längsten entbehren müssen. Erst nach 2¼-jähriger Pause konnten wir eine größere Zahlung für dasselbe anbringen. Jetzt eröffnet sich uns wieder die Aussicht auf einen geregelten Geldverkehr mit der Kasse in Moschi. Damit wird ein schmerzlich empfundener Druck von den vereinsamten Missionarsfamilien wie von uns genommen.
Auf den Missionsfeldern wechselten Furcht und Trost miteinander ab. Das indische wurde durch die in den beiden Golcondafahrten gipfelnde Vertreibung der Unsrigen im Frühjahr aller seiner deutschen Pfleger und Pflegerinnen beraubt. Nur unsere Mitarbeiter, die die russische Staatsangehörigkeit haben, durften in Tätigkeit bleiben. Es war aber immerhin von einigem Werte, dass außer ihnen drei alte deutsche Ehepaare (Karl Pamperrien, Heinrich Beisenherz, Johann Karl Ernst Männig) im Lande gelassen wurden. Sie blieben als Berater der jetzt mit der Leitung des Werkes betrauten schwedischen Freunde in leicht erreichbarer Nähe. Auf den letztgenannten Männern liegt eine sehr schwere Last, die dadurch noch empfindlicher wurde, dass die indische Regierung einigen von ihnen, darunter dem verdienstvollen Superintendent Bexell, das Verbleiben auf unseren Stationen untersagte, weil sie vor dem Kriege in engeren Beziehungen zu den Leipziger Missionaren gestanden hätten. Das wirkt nach den früher geführten Keulenschlägen nur wie ein schmerzhafter Nadelstich. Sieht man den Vorgängen des letzten Jahres auf den Grund, so ist zwar eine starke Erschütterung der Tamulenmission festzustellen, die in einem kleinen Rückgang der Seelenzahl und einem etwas größeren der Schulstatistik auch zahlenmäßig zum Ausdruck kommt. Aber ebenso deutlich erkennbar ist die Bewährung der jungen Kirche, die wir in Indien gepflanzt haben. Mehr als je hat sich dort der Wert einer auf kirchlichen Grundsätzen ruhenden Missionstätigkeit gezeigt. Welchen Anteil unsere 39 indischen Pastoren an der Beharrungskraft der kirchlichen Einrichtungen in der Tamulenmission haben, lässt sich wegen der durch die Kriegslage beschränkten Berichterstattung jetzt noch nicht deutlich erkennen. Wir hoffen aber auch in dieser Hinsicht bald klarer zu sehen. Mag auch der Zeitpunkt noch fern sein, da die Mutterkirche ihre indische Tochter sich selbst überlassen kann, die Kriegserfahrungen bringen uns auf dem Wege dahin ein Stück vorwärts. Hier zeigt sich dem kundigen Auge schon etwas vom Segen, der aus der gegenwärtigen Trübsal zu holen ist. Für unsere deutsch-ostafrikanische Mission brachte das vergangene Jahr eine schwerwiegende Entscheidung. Nachdem alle anderen Kolonien durch feindliche Übermacht erdrosselt waren, richtete sich seit März 1916 ein konzentrischer Angriff englischer, portugiesischer und Kongostaat-Truppen gegen das von einer kleinen Verteidigungsschar bis dahin ruhmvoll beschützte Deutsch-Ostafrika. Der Einmarsch der feindlichen Heeressäulen wurde gerade an der Stelle der nördlichen Grenze erzwungen, an der alle unsere Niederlassungen mit Ausnahme von Ruruma liegen. Wenn wir an die schreckliche Behandlung deutscher Missionare durch Engländer und Franzosen in den anderen Kolonien, namentlich Kamerun, dachten, wollte uns das Blut in den Adern stocken, als wir in den telegraphischen Kriegsberichten die Namen einzelner unserer Stationen lasen. Dass diese Besorgnis nicht unbegründet war, hat uns der Fortgang der ostafrikanischen Kriegsereignisse gezeigt. Die im Südwesten der Kolonie liegenden Niederlassungen der Berliner und der Herrnhuter Mission sind schwer heimgesucht, die Missionarsfamilien in die Gefangenschaft außer Land geführt worden. Ein nicht minder trauriges Los hatten die Bielefelder und Neukirchener Missionare, die zwischen dem Tanganjika- und Viktoria-See wirkten. Sie wurden von den dort eindringenden belgischen Truppen in alle Winde zerstreut. Den Unsrigen blieb solches Herzeleid erspart. Angedroht wurde es ihnen auch. Senior Fuchs ist der Kriegsfurie, die über die seiner Leitung unterstellten Stationen dahinfuhr, zum Opfer gefallen. Er schmachtet in Ahmednagar. Aber weitere Verschleppungen sind nicht eingetreten. Der größere Teil der nicht ordinierten Männer und einige junge Missionare gingen mit der das Land verteidigenden Truppe zurück. Wo sie am Jahresschluss weilten, wissen wir noch nicht. Aber die im Spätherbst gekommenen Briefe brachten uns die befreiende Kunde, dass unsere Familien noch auf ihren Stationen weilen und dass auch an den Plätzen, an denen zurzeit kein Missionar wohnt, die Missionsarbeit fortgesetzt wird. Zwar sind unsere dortigen eingeborenen Helfer noch nicht zu selbständiger geistlicher Arbeit fähig, aber unter der Anleitung der auf dem Missionsfeld verbliebenen Missionare leisten auch sie schon schätzenswerte Dienste. So gleicht denn unsere deutsch-ostafrikanische Mission einem Getreidefeld, über das im Frühsommer ein Gewittersturm dahinbraust und dessen Halme sich nach dem Wetter wieder aufrichten. Nach den zu uns gedrungenen spärlichen Nachrichten sind auf den jüngeren Stationen im Westen des Kilimandjaro einige laue Elemente abgefallen, auch haben die Schulen, deren Betrieb durch Mangel an Geld und Lehrmitteln beeinträchtigt war, einen Teil der heidnischen Schüler verloren. Aber aufs Große und Ganze gesehen ist die Arbeit am Kilimandiaro, Meru und im Paregebirge unbeschädigt. Das ist mehr, als wir zu hoffen wagten. 

Unter solchen Umständen kann es uns nicht schwer werden, als getroste Pilger aus dem alten Jahr ins neue zu ziehen. Der Herr hat unverkennbar seine schützende Hand über unser Werk ausgebreitet, daheim und draußen. Wir wollen auch fernerhin unser Vertrauen auf ihn setzen. Zwar liegt die Fortsetzung unseres Weges im Dunkeln, wie der von Wolken verhüllte Gipfel vor den Blicken des Bergsteigers. Haben wir aber bisher schon so oft die selige Erfahrung machen dürfen: „Ich harrete des Herrn, und er neigte sich zu mir“, so wollen wir an alle kommenden Aufgaben und Schwierigkeiten mit einem getrosten Herzen herantreten. Wir haben einen Gott, der da hilft.


Evangelisch-lutherisches Missionsblatt, Jahrgang 1917, für die Evangelisch-lutherische Mission zu Leipzig unter Mitwirkung von Professor D. Paul, Missionsdirektor, herausgegeben von A. Gehring, Missionssenior, Verlag der Evang.-luth. Mission zu Leipzig, 72. Jahrg., Leipzig, den 1. Januar 1917 Nr. 1, Seite 1 – 4


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