Jan 252020
 
Angesichts sich verändernden politischen Entwicklungen zwischen Süd- und Nordkorea fragten die Initiatoren einer Peace Convention nach Erfahrungen in Einigungsprozessen in Südafrika, Irland und Deutschland. Hier ist der deutsche Beitrag auf der Konferenz in Seoul/Südkorea im Oktober 2018.

Deutsche Erfahrungen

Von Gerhard Rein, 2018

Englische Webseite

Das deutsche Volk hat sich das erste Mal 1933 dem Feind ergeben. Arbeiter, Kleinbürger, Wissenschaftler, Geschäftsleute, Künstler, Theologen, Professoren aller Art kapitulierten vor einer nationalistischen, rassistischen, antisemitischen Bewegung und ihrem Führer: Adolf Hitler. Das war der Feind. Und die Mehrheit der Deutschen verehrte Hitler. Das war unser Desaster. Hitler versprach ein Reich, das tausend Jahre lang bestehen sollte. Es endete nach zwölf Jahren. Es führte zum Zweiten Weltkrieg mit Millionen von Toten: Frauen, Männern und Kindern. 1945 folgte die zweite Kapitulation.

Die Deutschen wurden von russischen und amerikanischen und britischen und französischen Soldaten befreit. Der 8. Mai 1945 war keine Niederlage. Er war eine Befreiung. Eine Befreiung vom Feind im Inneren. Für diese Befreiung mussten wir einen hohen Preis zahlen.

Stalin, Roosevelt und Churchill teilten Deutschland in Zonen auf. Die amerikanische, die britische, die französische Zone bildeten zusammen das, was wir später Westdeutschland und dann die Bundesrepublik Deutschland nannten. Aus der russischen Zone wurde  die Deutsche Demokratische Republik, die DDR. Deutschland war geteilt. Ein Volk, zwei Staaten. Als Folge eines Weltkrieges, dessen sich Deutschland schuldig gemacht hatte.

Unter der Aufsicht der Westalliierten entwickelte sich Westdeutschland als eine mehr oder weniger liberale Gesellschaft, mit Pressefreiheit, Reisefreiheit, Geschäftsfreiheit, Bildungsfreiheit. Westdeutschland blühte in relativ wenigen Jahren nach dem Krieg zu einer Art reichem Land auf. Ostdeutschland, unter der Herrschaft der Sowjetunion, erfuhr eine sozial orientierte Regierung, aber keine Pressefreiheit, keine Reisefreiheit, keine Geschäftsfreiheit. Als Folge davon verliessen Hunderttausende, vielleicht eine Million Frauen, Männer und Kinder die DDR. Gut ausgebildete, qualifizierte Ärzte, Ingenieure, Arbeiter. Die Grenze zwischen Ost und West war mehr oder weniger offen. Aber die schweren Verluste an Arbeitskräften hatten eine schreckliche Auswirkung auf die gesamte Wirtschaftsstruktur. 1961 baute die DDR-Regierung die Berliner Mauer. Und ein Stacheldraht mit schwer bewaffneten Patrouillen von Norden bis Süden des Landes, von der Ostsee bis hinunter in die Tschechoslowakei.

Plötzlich wurden Familien mit Wurzeln in Ost und West getrennt. Ab 1963 konnten die Westdeutschen (Spitzname: Wessis) Familie und Freunde besuchen und einige Tage bei den Ostdeutschen (Spitzname: Ossis) bleiben, aber das war umgekehrt nicht möglich. Normalerweise sollte eine Grenze die eigenen Bürger schützen. Diese Grenze hatte eine andere Funktion. Sie war gegen die eigene Bevölkerung, gegen die Ossis, gerichtet.

Stacheldraht und Mauer existierten 28 Jahre lang. Trotzdem versuchten Menschen aus dem Osten zu fliehen. Mehr als tausend Frauen, Männer und Kinder wurden zwischen 1961 und 1989 von der eigenen Grenzpolizei erschossen. Aber 16 Millionen Menschen begannen, ihr Leben in der DDR zu ordnen. Es gab die Anhänger des sozialistischen Systems, das sich im ersten Jahrzehnt als stalinistisch erwies. Es gab eine Staatssicherheit, die fast jeden kontrollierte und beobachtete. Es gab eine schweigende -Mehrheit, die nicht vergass, dass die russischen Panzer 1953 einen Arbeiteraufstand brutal beendeten, so dass sie es nicht wagten, es noch einmal zu versuchen. Das Wirtschaftssystem hatte Arbeitsplätze für fast alle. Es gab keine Arbeitslosigkeit. Die Bezahlung war gering. In der DDR konnte sich kaum jemand bereichern. Unter dem Schatten eines autoritären quasi Einparteienstaates lebten und arbeiteten die Menschen, heirateten und liessen sich scheiden. Normales Familienleben. Sie gingen in Urlaub, aber natürlich nur in andere osteuropäische Länder unter sowjetischer Herrschaft, wie Ungarn oder die Tschechoslowakei oder Bulgarien.

Theodor Adorno, ein ziemlich berühmter deutscher Sozialphilosoph, bemerkte einmal:

„Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“

Aber die Menschen in Ostdeutschland erlebten gute und schlechte Tage, Solidarität mit Freunden, gemeinsames Verständnis, Liebe und Enttäuschung. Es gab richtiges Leben im falschen System. Und es gab, allen Widrigkeiten zum Trotz, Freundeskreise in der DDR, die sich mit einem politischen System nicht zufrieden gaben, das ihnen zu sagen versuchte, was sie denken, was sie tun, wie sie sich verhalten sollten.

Westdeutschland ging einen anderen Weg. Es wurde Teil der so genannten Freien Welt. Eine kapitalistische Gesellschaft mit freien Gewerkschaften, verschiedenen unabhängigen politischen Parteien, freien Wahlen. Mit erheblichem Einfluss der Großindustrie auf die Regierung. Nach der Katastrophe von Nazi-Deutschland wurde die Entwicklung Westdeutschlands oft als eine Art Wunder beschrieben. Die Wessis erforschten die Welt. Sie konnten sehr reich werden. Sie haben sogar die Fußballweltmeisterschaft gewonnen.

Aber mit dem Beginn der 1980er Jahre sahen wir in beiden deutschen Staaten die Entstehung einer sinnvollen Friedensbewegung. Eine nukleare Aufrüstung bedrohte die Welt, und es gab sowohl Protest gegen die amerikanische Aufrüstung als auch Protest gegen die russische Aufrüstung. Hunderttausende waren auf den Straßen in Bonn, Westdeutschland, und Hunderte in Ost-Berlin, wo es schwierig und gefährlich war zu demonstrieren.

Oftmals waren Christen die Initiatoren des Protestes.

In der Bundesrepublik Deutschland waren die evangelischen Kirchen ein fester Bestandteil des politischen Systems. Durch ein Kirchensteuer waren die Kirchen im Westen reich und hatten Möglichkeiten, die Politik, die öffentliche Debatte über moralische und ethische Fragen zu beeinflussen.

In der Deutschen Demokratischen Republik waren die evangelischen Kirchen arm. Sie hatten überhaupt keinen Einfluss. Das politische System erklärte den Atheismus zu seinem Ideal. Aber die Kirchen in der DDR waren die einzigen öffentlichen Organisationen, denen eine Art Unabhängigkeit zugestanden wurde. So konnten in ihren Kirchen, ihren Versammlungsräumen auch Nonkonformisten, kritische Jugendliche, Intellektuelle, die Reste einer Zivilgesellschaft zusammenkommen, einen Platz finden. Sie konnten ihre Probleme diskutieren und waren nicht gezwungen, zu beten.

Deutschland war geteilt, und die evangelischen Kirchen mussten sich offiziell entscheiden, ihre gemeinsame Organisation zu beenden. Beide waren Teil der ökumenischen Bewegung. Die reiche Kirche in Westdeutschland half den armen Schwestern und Brüdern im Osten finanziell erheblich, aber die christlichen Wessis beneideten die christlichen Ossis. Wieso?  In den Kreisen des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf waren die Christen aus der DDR lange Zeit die Lieblinge der ökumenischen Bewegung. Sie waren arm, aber sexy. Ihr Weg, als Christen in einer atheistischen Umgebung zu überleben, war interessant. Ihre Theologen waren oft kreativ und herausfordernd. Für die Christen in der DDR war die ökumenische Bewegung die Brücke zur Welt, ein neuer Horizont. Der ihnen eröffnete, dass es noch etwas Wichtigeres gab als den Ost-West-Konflikt im eigenen Land.

Um 1987 begann der neue Sowjetführer Michail Gorbatschow, seine Vision von Glasnost und Perestroika zu erläutern. Eine unerwartet neue Offenheit und Transparenz. Die Satellitenstaaten der Sowjetunion bekamen mehr Verantwortung für ihre eigene politische Agenda. Ungarn öffnete seine Grenze nach Westen.

Über Nacht verließen Tausende meist junge Familien ihre Heimat in der DDR und eilten nach Ungarn. Sie hofften auf ein besseres Leben im Westen. Sie ließen ihre kleinen Autos, ihre Freunde, ihren Arbeitsplatz, alles hinter sich, für immer. An den Bahnhöfen in der DDR warteten die Menschen auf Züge aus Budapest und Prag in den Westen. Sie schrien:

„Wir wollen raus, wir wollen raus.“

Und es gab auch Gegendemonstrationen,  auch junge Leute. Sie riefen :

„Wir bleiben hier, wir bleiben hier.“

Sie hofften, sie könnten helfen, die DDR in einen demokratischen sozialistischen Staat zu verwandeln. In eine demokratische Alternative zur Bundesrepublik Deutschland. Eine chaotische historische Situation. Diese neue Bewegung, die DDR über Ungarn zu verlassen, wurde von einigen Beobachtern als „Flucht ins Paradies“ bezeichnet. Sie trug auf seltsame Weise dazu bei, die innerdeutsche Debatte über die Zukunft der DDR zu schärfen.

Aus dieser Mischung heraus ist es nicht so verwunderlich, dass einige Theologen, einige christliche Friedensgruppen, einige protestantische Kirchen in Ostdeutschland eine entscheidende Rolle in einer friedlichen Revolution spielten, die zum Ende der DDR führte. Ich habe sie als eine protestantische Revolution beschrieben. Das erste Ziel der Demonstranten war eine bessere DDR. Doch dann, mit immer mehr Demonstrationen in fast jeder Stadt der DDR, kam die Einheit Deutschlands in Sicht. Es geschah nicht durch Entscheidungen auf einer Weltbühne. Es entwickelte sich von unten,von der Basis, initiiert von einer Minderheit. Die Protestmärsche gegen den DDR-Staat 1989 begannen alle in   evangelischen Kirchen.

Am Ende versammelten sich achtzigtausend friedliche Demonstranten in Leipzig. Sie schrien:

„Wir sind das Volk.“

Die Sowjetunion hat nicht eingegriffen. Das DDR-Regime brach zusammen und gab auf.

Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin. Überall Feuerwerk. Die 8-jährige Tochter von guten Freunden in Ost-Berlin war nicht in festlicher Stimmung. Sie hat es mir gesagt: „Ich habe gerade meine Heimat verloren.“ Für Millionen von Ossis fand im März 1990 die erste freie Wahl seit 1933 statt. Die Gewinner dieser Wahl im März 1990 waren nicht die mutigen neuen demokratischen Bewegungen, die die protestantische Revolution anführten, nicht die Frauen und Männer, die in der DDR alternative ökologische, anti-nukleare Friedensgruppen, Frauenrechtsgruppen aufbauten. Die Gewinner waren die großen alten Parteien aus dem Westen, die wie Kolonialisten in das Gebiet der DDR  einfielen. Sie haben alles gewonnen.

Die früher sich system-konform gebende Mehrheit der Ossis dachte offensichtlich, die Wessis wüssten besser über Geld, über Wirtschaft, über alles Bescheid. Es war keine Flucht ins Paradies, es war eine „Vertreibung ins Paradies“, schrieb eine kritische Journalistin in Ost-Berlin.

Es gab keine Grenze mehr zwischen West- und Ostdeutschland.

Als Journalist aus dem Westen, der über die DDR berichtete, überquerte ich fast täglich die Grenze. Von 1982 bis zum Ende der DDR im Jahr 1990. Paul Tillich, ein deutsch-amerikanischer Theologe und Philosoph, einer meiner heimlichen Helden, schrieb:

„Der Ort der Grenze ist der fruchtbarste Ort der Erkenntnis.“

Die Grenze zwischen Heimat und Fremde, zwischen Religion und Kultur, zwischen Sozialismus und Kapitalismus.

Deutschland ist wieder eins. Seit 28 Jahren schon. Sind wir uns einig?

Wenn Sie heute durch Ostdeutschland reisen, finden Sie intakte Straßen. Die durch den Sozialismus a la DDR verrotteten Altstädte werden wieder aufgebaut oder rekonstruiert.  Sie sind wieder höchst ansehbar.

Liest man den letzten offiziellen Bericht der Bundesregierung über den Zustand des Landes, vom September 2018, so finden sich darin positive Tendenzen erwähnt: Der Lebensstandard im Osten nähert sich dem Lebensstandard im Westen an. Die Bezahlung für vergleichbare Arbeitsplätze ist nicht auf dem gleichen Niveau, aber sie kommen sich näher. Die Arbeitslosigkeit ist im Osten höher als im Westen.

Der Transformationsprozess ist im Gange, aber attraktive und besser bezahlte Arbeitsplätze finden sich nach wie vor im Westen Deutschlands. Es gibt einen Solidaritätszuschlag zugunsten der Entwicklung der östlichen Regionen, der aber im kommenden Jahr auslaufen soll. Die Pensionskassen im Osten haben noch immer Mühe, auf das Niveau des Westens zu kommen.

Früher sprachen wir über die DDR als den am stärksten industrialisierten Staat Osteuropas. Doch nach der Vereinigung 1990 übernahmen die wirtschaftlich starken Unternehmen aus dem Westen die Macht und zerstörten die industriellen Strukturen im Osten. Sie wieder aufzubauen ist heute die wichtigste Aufgabe. Aber es gibt ziemlich große Hindernisse. Eines der Probleme: Junge qualifizierte Menschen, mehr Frauen als Männer, verlassen immer noch den Osten. Lebensstandard, besser bezahlte Arbeitsplätze, eine entspanntere Atmosphäre sind eine attraktive Alternative. Im DAX-30-Index ist kein einziges Unternehmen in Ostdeutschland verzeichnet. Und nur eines der vielen großen deutschen Industrieunternehmen hat seine Zentrale in Ostdeutschland.

Aber ich möchte es bei diesen offiziellen Daten belassen.
Deutschland ist wenigstens vereint, oder?

Nein, ist es nicht. Deutschland ist immer noch geteilt. Es ist geistig gespalten. 40 Jahre DDR-System haben die Menschen geprägt. Nicht nur die Auswirkungen einer Art von Gefangenschaft. Der Geruch des Landes. Die Erfahrung der Solidarität mit Freunden. Die gleiche allgemeine Armut. Das kreative Leben in Untergrund. Dichter und Schriftsteller des Landes, die ihre Werke nicht veröffentlichen durften. So wurden sie durch Gerüchte berühmt, und ihre Gedichte oder Romane wurden fotokopiert und heimlich verbreitet. Das dissidente Fluidum in Friedensgruppen innerhalb der Kirchen.

Jede Tendenz zur Nostalgie, zur Mythenbildung über die DDR wird heftig kritisiert. Die DDR war ja diktatorisch, aber es gibt eine Art Melancholie bei Menschen, die wussten, dass der Westen nicht das Paradies ist. Wer erlebte, dass „Ausländer“ alias – Wessis nach der Vereinigung rund 80 Prozent der Top-Jobs an Universitäten, in der Wirtschaft, im staatlichen Dienst bekamen. Ein Austausch von Eliten. Schriftsteller, Künstler haben ihre Bedeutung verloren. Das hinterließ Wunden, Enttäuschungen, Depressionen, Wut und Zorn. Die ehemalige russische Zone, damals DDR, ist heute eine „Zone der Verwundbarkeit“, wie ein ostdeutscher Politologe feststellte.

So meinen einige Ossis, wir müssten die DDR-Geschichte, unsere Geschichte, neu erzählen, um zu verhindern, dass unsere Identität zerstört wird. Das verstehe ich als Wessi sehr gut.

Doch aus der massiven Enttäuschung über die politische Entwicklung, insbesondere der Angst vor der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, der hohen Zahl der nach Deutschland kommenden Migranten, wenden sich Menschen im Osten von den demokratischen Parteien ab und nähern sich den Rechts- und Rechtsextremen an. Das ist ziemlich gefährlich. Wir wissen, dass dies heute in vielen Ländern ein Phänomen ist, aber in Deutschland, mit unserer Geschichte, kann ein neuer Nationalismus, ein neuer Rassismus, ein neuer Antisemitismus bedrohlich erinnern an einen neuen, alten Feind im Inneren.

Um herauszufinden, was wirklich schief gelaufen ist, und wie wir die Wunden heilen können, gibt es in Deutschland Stimmen, die einen Wahrheits- und Versöhnungsprozess für sinnvoll halten.


Anmerkung

„Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten, ein Zurückkehren, ein Wiederzurückkehren, ein Wiederüberschreiten, ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes, jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen.“

Paul Tillich 1962 in seiner Rede aus Anlass des Friedenspreises des deutschen Buchhandels


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