Jan 262020
 
Rede zur Befreiung des KZ Ebensee

Von Gerhard Rein, 10. Mai 2014

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Stellen Sie sich bitte Lisewo vor, ein kleines Dorf an der Wisla, der Weichsel. Lisewo. Zwei Kirchen, ein Anger, eine Bahnstation. Rosa und Louis Rein, meine Großeltern, haben in Lisewo einen kleinen Hof, ein Pferd, eine Kutsche und einen Pritschenwagen. Von der Bahnstation holen sie mit der Kutsche Reisende ab und mit dem Pritschenwagen transportieren sie Milchkannen von den Bauernhöfen in die Molkerei der nahen Kreisstadt Kulm/Chelmno. Rosa und Louis Rein haben sechs Kinder. National gesinnt wie ihre Eltern empfinden sie sich selbstverständlich als Deutsche. Sie ziehen nach Berlin, werden Beamte, verkaufen im Kaufhaus Hertie Klamotten oder Eis der Firma Weiss. Das jüngste Kind, Jahrgang 1904, darf nach den Versailler Verträgen noch nicht wählen zwischen Deutschland und Polen. Herbert bleibt bei den Eltern in Lisewo. Herbert wird mein Vater.

Als am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen überfallen, Hitler hatte einige Tage zuvor befohlen, die polnische katholische Intelligenz und die Juden zu vernichten, wurden schon kurze Zeit später Rosa und Louis Rein, meine Großeltern, in Lisewo auf ihrem Hof erschlagen. Wir wissen bis heute nicht genau, von wem sie getötet wurden. Von Wehrmachtssoldaten, von der SS, der Gestapo, vom volksdeutschen Selbstschutz oder von ihren christlichen Nachbarn. Vieles spricht dafür, dass es ihre Nachbarn waren. Aber wir wissen es nicht. Wir wissen kaum etwas, und ich sowieso nicht. Alles, was in und für unsere Familie wichtig war, wurde beschwiegen. Unsere Familie war ein Verschweige-Grab.

Herbert Rein hatte in Chelmno/Kulm eine überzeugte Christin geheiratet, meine Mutter. Sie hatten zusammen drei Kinder. Ich war das jüngste Kind. Jahrgang 1936. Meine Mutter hat mit ihren drei Kindern die Flucht in den Westen überlebt und uns, die Kinder, in ihre geliebte evangelische Kirche gedrängt, überredet. Als Zwang haben wir das nicht empfunden. Aus mir wurde ein frommer, ziemlich naiver Christ, der seine Aktivität und sein Interesse sogar früh gefördert sah und der später die Oekumenische Bewegung als seine eigentliche Heimat entdeckte.

Dass mein Vater Jude war, erfuhr ich, als ich 17 Jahre alt war. Das war eine Überraschung, aber kein Schock. Bis heute verstehe ich nicht, warum ich nur langsam und zögernd zu fragen begann. Die Standard-Antwort meiner Mutter auf meine Fragen lautete:

„Ach, wenn Du wüsstest.“

Aber ich wusste nichts. Mehr erzählte sie nicht. Wenns hoch kam, entschuldigte sie sich dafür, dass sie diesen Mann, unseren Vater, geheiratet hatte. Es habe doch in der Gegend zu der Zeit kaum andere Männer gegeben, die infrage gekommen wären. Gefallen hat mir diese Antwort nicht.

Dass ihr Bruder, mein Onkel, ein richtiger  Nazi war, entdeckte ich erst später. Das Schweigen wurde ja vererbt, auch auf die Kinder. Meine älteren Geschwister erzählten nichts, wenn sie etwas erfahren hatten. Jeder behielt in dieser Schweige-Familie alles für sich. Dadurch entstand ein Gewirr von Vermutungen, Gerüchten, Verdächtigungen, skurrilen Geschichten und bizarren Märchen.

Mein Vater verließ das Haus in Kulm/Chelmno, als ich zwei Jahre alt war. 1938. Haben ihn polnische Freunde versteckt? Haben ihn befreundete deutsche Soldaten geschützt?  Ist er als polnischer Offizier verhaftet, in Paris gesehen, früh erschossen worden? Was daran wahr oder erfunden ist, konnte ich nicht heraus bekommen.

Ich bin Journalist geworden und frage mich bis heute, woher die Scheu kommt, an die Geschichte meines Vaters, seiner Eltern, seiner Geschwister heranzugehen. Langsam aber ergab sich ein Bild. Zunächst von den fünf Geschwistern in Berlin. Georg, der älteste Bruder meines Vaters, ist im KZ Riga erschossen worden, seine Schwester Betty mit ihrem Mann in Auschwitz vergast. Bruder Leopold, von der Gestapo gesucht, erhängte sich in einem Berliner Hotel. Schwester Helene entkam mit ihrem Mann nach Australien, Bruder Hugo nach Brasilien. Mit ihren überlebenden Kindern, Cousinen und Cousins, wir gemeinsam die Enkel aus Lisewo, fühle ich mich heute verbunden wie nie zuvor. Mit Zipora und Zeev in Jerusalem (sel. Angedenkens), mit Eva und Sol in Melbourne, mit Peter und Tova in El Paso/Texas, mit Alicia und Billy in Montevideo-Uruguay.

Mein jüdischer Clan – über die Welt verstreut – den ich erst in den letzten Jahren entdeckt habe. Und was bin ich für sie? Ein nichtjüdischer Jude? Oder doch immer mehr auch ein nichtchristlicher Christ? Und weiterhin nichts von meinem Vater. Ich habe in Auschwitz und in Yad Vashem nach ihm gefragt. Keine Einträge, lauteten immer wieder die Antworten.

Und dann war da plötzlich, am 19 Juni 2006, vor also acht Jahren, im Informations-Zentrum des Berliner Holocaust-Denkmals im Computer ein Link nach Mauthausen und dann nach Ebensee. Eine Häftlings-Personal-Karte Nr. 121213 für Herbert Rein, mit korrekten Angaben zu seiner Geburt, seinem Geburtsort Lisewo und seiner Straße in Kulm, Friedrichstrasse 17.

Mit Hilfe des Ministeriums für Inneres in Wien, des Archivs der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, und mit Hilfe von Dr. Wolfgang Quatember hier in der Gedenkstätte Ebensee wurden die Angaben über meinen Vater bestätigt. Danach wurde Herbert Rein im Juli 1944 in Auschwitz eingeliefert. Zwei Wochen bevor die Rote Armee Auschwitz befreite, wurde mein Vater im Januar 1945 auf einen der sogenannten Todesmärsche befohlen und über Mauthausen am 25. Januar 1945 nach Ebensee gebracht. Wo er zwischen 1938 und seiner Einweisung in Auschwitz war, konnte ich nicht ermitteln. Mein Vater starb hier in Ebensee am 8. März 1945. Jeder Tod war ein Mord. Er war vierzig Jahre alt geworden. Die Mehrzahl der Überlebenden von Ebensee war sehr viel jünger als mein Vater.

Meine christliche wie mein jüdische Familie, die sich je mit ihrer Version des Schicksals meines Vaters abgefunden hatten, waren erschrocken und verwirrt, als ich sie über Mauthausen und Ebensee informierte. Mit meiner Frau bin ich gleich nach Ebensee gefahren. Dr. Quatember hat uns die Stollen im Berg gezeigt, und auf dem Friedhof haben wir Amateure, Nichtjuden, zitternd leise vor uns hin Kaddish gelesen. Von meinem Vater gibt es keine hinterlassene Notiz, keinen geschmuggelten Zettel, keinen Brief.

Immer wieder suche ich nach Texten von Menschen, die Konzentrationslager überlebt haben, von Menschen, die in Worte fassen konnten, was sie gesehen, gehört, erlitten haben. Wie mein Vater wohl auch.

„Da ist diese zusammengepferchte Masse von Leibern im Wagen, dieser stechende Schmerz im rechten Knie. Tage, Nächte… Nun gehen wir der vierten Nacht entgegen, dem fünften Tag… Aber ist es überhaupt noch richtig zu sagen, wir gingen? Wir sind ja unbeweglich, ineinandergekeilt, die Nacht vielmehr ist es, die über uns reglose künftige Leichen hereinbricht.“ 

So erinnert sich der Spanier Jorge Semprun.

„Wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng…

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland
Er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft

Dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng.“

So verdichtet der rumänisch-französische Poet Paul Celan, was ihm widerfahren ist.

Und über diesen einen, ich weiß, viel zitierten Satz, komme ich bis heute nicht hinweg: Den Satz des Italieners Primo Levi:

„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“

Ich lebe in Deutschland. Ich schätze die offene Gesellschaft, die überwiegend tolerante Grundhaltung, die der Bundesrepublik ein nach außen sympathisches Gesicht gibt. Aber dieses Deutschland ist mittlerweile der drittgrößte Waffen- und Rüstungsexporteur der Welt. Unsere Kanzlerin gibt skandalöse Waffenexporte in Spannungsgebiete als Teil deutscher Friedenspolitik aus. Der Bundespräsident hält seine deutschen Landsleute für „friedensverwöhnt“ , für „glückssüchtig“ und beschwert sich darüber, dass zu viele von ihnen „auf der Größe der deutschen Schuld“ beharren.

Ich beklage eine schleichende Militarisierung meines Landes, das die vom Grundgesetz gebotene  Friedensverpflichtung missachtet. Die politische Klasse meines Landes verlangt, dass die Neue Macht Bundesrepublik für verstärkte militärische Einsätze Verantwortung übernimmt und unsere Kultur der Zurückhaltung ein Ende haben müsse.

Dieser Wandel stellt alles auf den Kopf, was Deutsche nach dem Desaster des Zweiten Weltkrieges, nach 1945, an Friedfertigkeit mühsam gelernt hatten. Ich beklage eine schleichende Militarisierung unseres Denkens. Ich bin höchst besorgt. „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Meine Bekümmernis hat auch mit der Sorge zu tun, dass das, was meiner so normalen, so merkwürdigen Familie zwischen Polen und Deutschen, zwischen Juden und Christen widerfahren ist, sich jederzeit irgendwo wiederholen kann.

Von Rosa  und Louis, meinen Großeltern, von Herbert, meinem Vater, von Lisewo, dem kleinen Dorf an der Weichsel, habe ich so noch nie öffentlich gesprochen. Ebensee ist dafür der richtige Ort. Mein Vater ist in Ebensee nicht befreit worden. Wir haben ihn hier wiedergefunden. Tot. Aber sein Name ist hier aufbewahrt. Dies ist sein Ort.


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