Okt 312004
 

Von dem „Altwerden“ 

Von Terttu Pihlajamaa (18.02.1936 – 21.04.2009)

Ich habe vor einem Jahr an einer Busfahrt mit 50 Senioren teilgenommen. Während der Reise durften die Reisenden selbst Programm aufführen, singen, Witze erzählen, und viele haben es auch von ganzem Herzen gemacht. Eine Frau ist zum Beispiel aufgestiegen, das Mikrofon gegriffen und diese Erzählung über das Altern, uns zur großen Freude, gelesen:

Heute

Terttu Pihlajamaa in Tyresö, Sweden at midsummer 2007. She is wearing the traditional folk costume of Veteli, the village in Finland where Lauri was born and raised.

Terttu Pihlajamaa in Tyresö, Schweden
beim Mittsommerfest 2007. Sie trägt
das Trachtenkleid von Veteli, dem Geburtsort von Lauri.

liegt alles viel weiter weg als früher.

  • Zu der Straßenecke ist es ein zweimal so langer Weg als früher und ich habe es bemerkt, dass ein Hügel dazwischen gewachsen ist.
  • Ich laufe nie mehr zur Bushaltestelle. Der Bus fährt schneller als früher ab.
  • Es kommt mir so vor, dass die Treppen steiler als vorher gebaut sind.
  • Hast du es beobachtet, dass man heutzutage so kleine Buchstaben in den Zeitungen anwendet. Es lohnt sich nicht um jemanden vorzulesen bitten, denn alle sprechen so leise, dass ich sie nicht hören kam.
  • Das Kleidmaterial ist heute so unelastisch, besonders um die Lenden.
  • Es ist beinahe unmöglich nach den Schuhriemen zu ergreifen, und ich weiß nicht, warum.
  • Sogar die Menschen haben sich geändert. Sie sind viel jünger als vorher, da ich in ihrem Alter var. Und anderseits sind die Menschen in meinem Alter viel älter als ich. Ich habe neulich eine von meinen ehemaligen Schulkameraden getroffen. Ach, meine Güte! Sie war so unglaublich alt geworden, dass sie mich nicht einmal wieder erkannte.
  • Ich dachte an jenen armen Menschen, als ich an diesem Morgen mein Haar kämmte und zu dem Spiegel guckte. Denk mal, dass man nicht mehr einen richtigen Spiegel machen kann.

Ihr kennt diese Gefühle und Gedanken wieder, nicht wahr!

Die alte Dame in dieser Beschreibung findet unbequeme Angelegenheiten und unerklärliche Veränderungen in ihrer Lebensumgebung. Alles ist anders als vorher. Sowohl sie selbst als auch die Menschen haben sich verändert. Sogar der Spiegel hat sich geändert, nicht aber nur ihr Aussehen. Sie selbst hat keine Falten oder Verkrümmungen. Es ist einfach so, dass die Spiegel heute lügen. Es mag wohl so sein, oder wie?

Es wird aber gefährlich dann, wenn sie unter den Veränderungen ihre Sicherheit verliert.

Das kann jedem passieren. In dieser Erzählung finde ich es positiv, dass die alte Dame die ganze Zeit nur nicht sich selbst angesehen hat. Vielleicht hat jeder auch eine solche Phase in seinem Leben zu erwarten.

ABER warum erzählte sie nicht, wie angenehm es ist vormittags und nachmittags ein Schläfchen zu machen, wenn man will, und sogar mit dem guten Gewissen. Sie erzählte nicht, dass sie jetzt ihre eigenen Routinen in ihrem Leben behalten kann. Dass es ihr erlaubt ist allein mit sich selbst zu sprechen, wenn sie so will. Dass sie nun langsam und mit den kleinen Schritten spazieren darf Ohne irgendeine Eile! Und dass sie auf einer Parkbank mit ihren Erinnerungen so lange sitzen darf, wie sie will. Ohne Eile! Sogar ihre Zerstreutheit darf sie akzeptieren. Sicher!

Verschiedene Unvollkommenheiten wieder erkennen wir in unserem Leben. So gern möchte ich noch das kleine Mädchen sein, von welchem die Mutter sagte: „Als die anderen spazierten, ist Terttu immer gelaufen.“ So gern möchte ich immer noch in den Bäumen und Türmen, auf den Dächern und hohen Felsen klettern um alles Schönes besser von oben zu sehen! Aber mein physisches Altern hatte schon seit langem angefangen. Die vorzeitige Abnutzung führte zum Operation der beiden Hüftgelenke.

Aber statt des Willens um aufzugeben hat doch aus der Gnade Gottes mir ein neues Leben angefangen. Das neue Leben ist mit den neuen Aufgaben zu mir angekommen. Als ich pensioniert wurde, hat eine ganz neue Lebensphase für mich begonnen. Ich kann solche Arbeitsaufgaben leisten, die ich gern habe. Es bedeutet, dass ich eine neue Herausforderung und eine Verantwortung übernehmen konnte. Und ich fühle es sinnvoll. Die Arbeit bedeutet mir eine neue Berufung und ich versuche alles „zum Lob seiner herrlichen Gnade“ zu machen. Meine neue Berufung sind nun meine Kletterbäume, meine Dächer, Türme und Felsen.

Ist es so auch mit dir gegangen?

Ich vergleiche gern das Menschenleben mit dem Regenbogen. Er ist ebenso blendend schön vom Anfang zu Ende. Wer kann es bestimmen, dass nur der Frühling die einzige strahlende Jahreszeit ist? Ich fühle es so, dass der Herbst mit seinen Früchten ebenso berührend schön wie das Aufkeimen des Getreides im Frühling ist. Ja, der Herbst ist wenigstens ebenso schön, nicht wahr!

Warum ist der Herbst unseres Lebens so schön?

Weil der Alte sein Unglück in seiner Reife ruhig und besonnen übersteht. Wenn er zum Beispiel seiner Sorge Zeit genug gibt, wächst der kleine starke Punkt darauf, wo es aus der Sorge früher ein wunder Punkt gab. Wer seine eigene Sorge getragen und überwunden hat, der fürchtet sich nicht um die Sorgen des anderen zu tragen. Er sieht die Sonne, eilt sich gegen sie und findet eine neue, andere Meinung für sein Leben. Er lernt auf seine Nächsten und Mitmenschen zu hören, mit den Weinenden zu weinen. Und er macht es „zum Lob seiner Herrlichkeit„.

Beim stillen Bitten hat er eine neue, innere Berufung gefunden. Die Sorge hat das Dienen gelehrt und von seinen eigenen Lebenserfahrungen zu teilen.

Wie viel Schönes könnten unsere Lebensjahre einräumen, wenn wir nur die Pforten öffnen, alles Schönes hineinzukommen!

Vor einigen Jahren habe ich eine bewegungsunfähige Frau in der Sauna in Stockholm getroffen. Ich fragte sie:

Hast du Träume?

Sie wunderte sich über meine Frage und antwortete:

Träume! Wie könnte ich Träume haben? Ich habe wirklich keine Träume.

Ich habe später diese Frau beim Essen im Restaurant getroffen. Sie wollte mit mir sprechen. Und sie fragte:

Hör mal, kennst du jemanden, der meine Sammlung von Gedichte drucken könnte?

Welche große Wendung und Veränderung, welch ein Wunder! Sie hatte einen Traum gefunden! Und dieser Traum war nicht der letzte.

Gib nicht deine Träume auf! Denn wenn deine Träume verschwinden oder sterben, wirst du wie ein Vogel, der seine Flügel verletzt hat und nicht mehr fliegen kann.

Ich habe einige Alten zu fragen gehört, warum Gott nicht zulässt sie schon zu Ihm kommen. Vielleicht darum, dass es in der Welt mehr Hunger nach der Liebe als nach Brot gibt.

Er lässt uns noch hier bleiben, weil Er hier solche Mitmenschen braucht, die die Liebe Gottes weiterstrahlen. Die Mitmenschen, die bereit sind um Opfer zu bringen. Eine solche Liebe habe ich im Sprechen, in den Augen, im Lächeln und im Dasein bei vielen Alten getroffen. Der reife Mensch hält sich dazu bereit, dass die Liebe Opfer verlangt. Die wichtige Berufung des Alten ist um es zu bitten, dass das Wort des Herrn sich ausbreitet und verherrlicht wird. Wir haben Zeit zu bitten. Wir haben Zeit zu lieben.

Wenn ich das Zerbrechen irgendeines Herzen verhindern kann, bin ich mich nicht vergebens Existiert. Wenn ich die Schmerzen eines einzigen Menschen lindern kann oder die Angst eines einzigen Mitmenschen erleichtern kann, wenn ich einen kleinen erschöpften Vogel in dasNest aufheben kann, dann habe ich nicht vergebens gelebt.

Und wenn wir neue Kräfte brauchen um verschiedene Menschen zu treffen, können wir immer in die Stille des Hirtenpsalms fliehen: „Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser

Gebet der Theresa von Avila (1515 – 1582)

Herr, du weißt, dass ich von Tag zu Tag älter werde – und eines Tages alt. Bewahre mich vor dem Drang, bei jeder Gelegenheit etwas sagen zu müssen. Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegenheiten anderer zu ordnen.

Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch, hilfreich, aber nicht diktatorisch zu sein. Bei meiner ungeheuren Ansammlung an Weisheit tut es mir leid, sie nicht weitergeben zu können, aber du verstehst, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.

Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. Sie nehmen zu, und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr. Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen, mir Krankheitsschilderungen anderer mit Freuden anzuhören, aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen. Ich wage auch nicht, um ein besseres Gedächtnis zu bitten, nur um etwas mehr Bescheidenheit und etwas weniger Bestimmtheit, wenn mein Gedächtnis nicht mit dem anderer übereinstimmt.

Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass auch ich mich irren kann. Erhalte mich so liebenswürdig wie möglich. Ich weiß, dass ich kein Heiliger bin, aber ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.

Und Herr, lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken, und verleihe mir die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.