Aug 172015
 

Hermann Fischer erzählt von einem Refugium der Rechtlosigkeit

„Natürlich und heiter ist ihr Leben. Gleich nach dem Aufstehen geht jeder Insulaner zum Baden ins Meer. Einige tauchen nach Langusten, die sie mit bloßer Hand heraufholen. Andere harpunieren mit eigens dazu hergestellten Lanzen Fische mit unbeschreiblicher Sicherheit.“ Das schrieb im Jahr 1971 Frederico Felbermeyer über den Alltag der Rapa Nui auf der Osterinsel – jenem Eiland, das er von 1946 bis 1966 viele Male besucht hatte. Offenbar war ihm gar nicht aufgefallen, unter welch erniedrigenden Verhältnissen sich das Leben der Ureinwohner der Osterinsel in Wahrheit abgespielt hatte.

Die Chilenen hatten sie in ein Ghetto eingesperrt, dessen Tore abends geschlossen wurden. Kein Rapa Nui durfte danach seine Hütte verlassen; das Betreten des Farmlandes, das den größten Teil der Insel ausmacht, war ohne Sondergenehmigung verboten. Und auch sonst behandelte man die Nachkommen der Menschen, deren kulturelle Hinterlassenschaft heute die Touristen fasziniert, als praktisch rechtlose Kreaturen. Erst 1966 erhielten die Rapa Nui per Gesetz dieselben Rechte wie alle anderen chilenischen Staatsbürger. Wie sie bis dahin behandelt wurden, schildert Hermann Fischer in dem Buch „Schatten auf der Osterinsel“.

Das Schicksal der Rapa Nui war wohl schon besiegelt, als der holländische Admiral Jacob Roggeveen am Ostertag des Jahres 1722 als erster Weißer ihre knapp viertausend Kilometer westlich der chilenischen Küste gelegene Insel betrat, die sie „Te Pito o te Henua“ (Nabel der Welt) nannten. Don Felipe Gonzales nahm das Eiland 1770 für die spanische Krone in Besitz, was aber ohne praktische Folgen blieb. Als Stützpunkt war die Insel nämlich nicht geeignet. Freibeuter und Sklavenjäger regierten die Insel. Sie verschleppten einen großen Teil der Bewohner. Beim letzten großen Raubzug im Jahr 1863 dürfte die Zahl der Rapa Nui auf der Osterinsel von etwa viertausend auf rund 1400 geschrumpft sein. Den Rest pferchte ein französischer Kapitän, der sich König Juan I. der Osterinsel nannte, bald darauf in Hangaroa an der Westküste der Insel zusammen, wo sie fortan blieben.

Im Jahr 1888 traten die Häuptlinge der Osterinsel, deren Volk mittlerweile nur noch 170 bis 180 Personen zählte, die Souveränität des Eilandes auf Betreiben des Korvettenkapitäns Policarpo Toro an die Republik Chile ab. Dies dürfte nicht ganz freiwillig geschehen sein, auch war von dem Vorgang der Besitzstand eigentlich unberührt. Gleichwohl verpachtete Chile das Farmland, von dem die Rapa Nui vertrieben worden waren. Die Osterinsel wurde letztlich – wenn auch nicht rechtlich – eine Art Privatbesitz des Unternehmens Williamson & Balfour, das dort Schafe züchtete. Die Angehörigen dieser Firma führten sich als die eigentlichen Herren auf, daneben versuchten Staat und Missionskirche, ihren eigenen Rechten Geltung zu verschaffen. Die Verhältnisse waren in der Folgezeit recht verworren.

Im Grunde genommen hatte der chilenische Staat – wie seinerzeit Spanien – an der Insel kein Interesse. Das zeigt sich schon daran, daß erst 1933 ein Eintrag ins Grundbuch erfolgte. Pächter, Verwalter und Gouverneure benahmen sich als Glücksritter und Ausbeuter, dem Unrecht wurde Tür und Tor geöffnet. In Chile bemerkte man das erst 1914 nach einem Aufstand der Rapa Nui. Die Regierung hielt sich allerdings weiter zurück, obwohl sie immerhin 1917 die chilenische Rechtsprechung auf der Osterinsel einführte. Auch die Stimmen einiger weniger Forscher, die das Unrecht an die Öffentlichkeit brachten, hatten noch wenig Wirkung. Der französische Wissenschaftler Alfred Métraux beispielsweise berichtete in den dreißiger Jahren, auf der Insel herrsche ein solches Elend, daß man nicht vom Übergang aus einem primitiven Zustand zu unserer Zivilisation sprechen könne. Die Osterinsel sei inmitten eines ausweglosen Elends einfach verfault.

Hermann Fischer, ein pensionierter Lehrer aus Norddeutschland, der die Osterinsel mehrfach besucht und dort mit den Rapa Nui gesprochen hat, geht in seinem Buch vor allem auf die Geschichte der Osterinsel von 1888 bis 1966 ein. Er analysiert, wie die Gouverneure, die Kirche und die „Company“ ihre Interessen durchsetzten. Erst eine weitere Rebellion im Jahr 1964 unter dem Rapa Nui Alfonso Rapu rüttelte die chilenische Regierung auf. Im Parlament begannen Debatten, die zeigten, daß viele Senatoren und Abgeordnete von den miserablen Zuständen auf der Osterinsel keine Ahnung gehabt hatten. Im Jahr 1966 schließlich wurde das Gleichstellungsgesetz beschlossen, das die Rapa Nui aus ihrem Ghetto befreite. Die Rapa Nui durften ihren „Nabel der Welt“ wieder uneingeschränkt betreten. Doch ein Mitsprache- oder Nutzungsrecht am Regierungsland, das weiterhin 88 Prozent der Insel umfaßt, wurde ihnen auch mit diesem Gesetz nicht zuerkannt.

Fischers lobenswertes Engagement hat ihn allerdings dazu verleitet, sich in Details zu verbeißen. Dadurch konnte er zwar auch viele nicht unbedeutende Fakten zusammentragen, oft aber auf Kosten des roten Fadens. Unter diesen Umständen wäre ein Register nützlich gewesen. Bedauerlich ist, daß der neueren Geschichte nur wenige Seiten gewidmet sind – mit dem nicht sehr hilfreichen Hinweis, diese sei in anderen Büchern dargestellt.


Hermann Fischer: „Schatten auf der Osterinsel“. Plädoyer für ein vergessenes Volk. BIS-Verlag (Bibliotheks- und Informationssystem der Carl-von-Ossietzky-Universität), Oldenburg 1998. 248 S., br., 29,- DM.

Rezension von Günter Paul in der F.A.Z. vom 08.07.1998

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