Nov 252016
 
Die Suche nach der Seele einer Stadt

Von Willibald Jacob

Inhalt
I.
In der DDR

1. 1961 und die Folgen
2. Rabbiner Riesenburger in Treuenbrietzen
3. Ein unauflöslicher Komplex
4. Was ist die Bekennende Kirche?

II. Deutschland einig Vaterland
1. Die PDS in Treuenbrietzen 1994, Hellmut Päpke
2. Die unerledigte Aufgabe, Aaron Isaak
3. Ein Brief an Bürgermeister Carsten Cornelius 1997
4. Die nächste Generation: Projekttage gegen Gewalt am Gymnasium Treuenbrietzen 2001
Ausblick
Nachwort von Bodo Förster und Gianfranco Ceccanei

Anmerkungen
Links


Vorwort
Treuenbrietzen ist keine vergessene Kleinstadt von etwa 7000 Einwohnern zwischen Potsdam und Wittenberg. Treuenbrietzen ist ein Kulminationspunkt, ein zentraler Ort in der geistig-politischen Landschaft. Vielleicht wird man am Ende meiner Erzählung sagen, dass jeder Ort, jedes Dorf und jede Stadt in Deutschland ein solcher zentraler Ort ist, an dem wir zu uns selbst kommen. Lasst uns sehen.

Warum erzähle ich? Weil ich im Jahre 1959 als Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde nach Treuenbrietzen kam. Ich wurde damit in Dinge hineingezogen, die bis heute kein Ende gefunden haben.

Am Sonntag, 24. April 2016, wurde im Lichtspieltheater der Stadt die Brandenburger Premiere eines Films gezeigt. Sein Titel: „Im märkischen Sand“. Der Bürgermeister der Stadt Treuenbrietzen hatte eingeladen.

Eine Gruppe von jungen Leuten hatte diesen Film gedreht, ein Zeitzeugnis aus der Geschichte Treuenbrietzens, einen Ausschnitt aus der „Schlacht um Treuenbrietzen“, ein Geschehen am 23. April 1945. 127 italienische Zwangsarbeiter waren von der deutschen Wehrmacht erschossen worden.

Eine stattliche Anzahl von Besuchern war gekommen; Menschen aus ganz Deutschland, besonders aus Berlin, Italiener, unter ihnen der Botschafter der Republik Italien, auch einige Treuenbrietzener, unter ihnen zwei meiner Konfirmanden aus der Zeit vor etwa 55 Jahren.

Damals hatte ich nicht solch erlesenes Publikum. In einem meiner ersten Gottesdienste in der Nikolaikirche am Totensonntag kamen auffällig viele Frauen in Trauerkleidung. Mit einer stattlichen hageren Frau kam ich anschließend ins Gespräch. Sie erzählte von der Dramatik und Tragik des 23. April 1945. Viele deutsche Männer, Zivilisten, waren von der sowjetischen Armee erschossen worden.

Ich wollte mehr wissen. Ich wollte verstehen lernen. Eines war für mich allerdings klar: Die Alliierten waren nicht freiwillig und aus eigenem Antrieb nach Berlin, die Sowjetarmee nach Treuenbrietzen gekommen. Wir hatten sie „gerufen“. Meine theologischen Lehrer kamen aus der Bekennenden Kirche, u. a. Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer und Heinrich Vogel. Sie hatten mich gelehrt, die Judenheit und ihre Geschichte nicht zu vergessen.

Mein Lehrer im Alten Testament, Horst Dzubba, ein Ostpreuße, hatte den unvergessenen Satz gesagt: „Als 1938 die Synagogen brannten, wusste ich, dass ich meine ostpreußische Heimat verlieren würde“.

So suchte ich nach den Juden in Treuenbrietzen und ihrem Friedhof. Vielleicht konnte ich dort den Schlüssel finden, den Schlüssel für das unerklärliche Geschehen. Im Jahre 1950 hatte ich als 18-jähriger Student an der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in Berlin-Weißensee teilgenommen. Ihre zentrale Botschaft lautete: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.

Warum war der Krieg über die Stadt Treuenbrietzen und meine Gemeinde gekommen?

Im Laufe des Jahres 1960 fahre ich nach Berlin in das Büro der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße. Mich empfängt der Büroleiter Herr Schenk. Mein Wunsch: Rabbiner Riesenburger solle nach Treuenbrietzen kommen und zum Zustand des jüdischen Friedhofs Stellung nehmen. Meine Idee: Ein Denkmal zur Erinnerung an die ermordeten und vertriebenen Juden in Treuenbrietzen, Deutschland und Europa.

Wir kommen ins Gespräch. Herr Schenk erzählt mir, woher er Treuenbrietzen kennt und was ihm dort widerfahren sei. Jahre später notiere ich in meinen Erinnerungen1:

„Im Frühjahr 1945 kam er durch Treuenbrietzen. Zu Fuß. Auf dem Weg aus dem KZ nach Berlin. Der sowjetische Stadtkommandant hält ihn auf. Er bittet Schenk, zu Frauen zu sprechen. Auf dem Rathaus. Vor Witwen. Vor den Witwen der Erschossenen. – Ich frage: Was haben Sie gesagt? – Schenk: Ich habe erzählt, was ich, was wir erlebt haben. Berichtet, was ein Konzentrationslager der Nazis war. – Ich kann nichts sagen. Ich bin erstaunt und erschrocken, wie sich alles fügt. Ich bin jetzt 28 Jahre alt. Dieses Treffen im Rathaus. Unvorstellbar. Was trifft hier in Treuenbrietzen alles zusammen? Wie sollen wir damit fertig werden? – Und ich weiß noch nicht alles. Jahrzehnte später höre ich vom Schicksal der Zwangsarbeiter in Treuenbrietzen. Hellmut Päpke, ein alter Geschichtslehrer, erzählt mir Einzelheiten. Im Jahre 2005 sehe ich, wie italienische Delegationen ihre von Deutschen erschossenen Landsleute ehren und sich erinnern. Ich stehe daneben“.

I. In der DDR

1. 1961 und die Folgen

Die Zeit nach dem 13. August 1961 war eine spannungsreiche Periode. Der Bau der Berliner Mauer zeigte ruckartig, dass die Zweistaatlichkeit Deutschlands von Dauer sein würde. Die nicht öffentlichen, aber de facto wirksamen Debatten, z. B. in einer Kirchengemeinde und im Pfarrkonvent, zeigten einen Zwiespalt. Die einen hielten die Teilung Deutschlands für einen Garanten des Friedens in Europa, die anderen sagten, die Zweistaatlichkeit errege eine die Menschen trennende Dauerspannung, friedensgefährdend.

Ich fragte weiter nach den eigentlichen Ursachen für die deutsche Teilung. Im Jahre 2013 schrieb ich im Rückblick:

„Die Vertreibung und Ausrottung der Juden Europas und anderer Bevölkerungsgruppen hat Folgen, bis heute und in Zukunft. Uns allen wurden Lasten auferlegt, aber in allem steckt auch eine Chance. Wir dürfen weiterleben und unsere Verantwortung neu erlernen. Dazu gehört für mich, die Reihenfolge von Ursachen und Wirkungen bei der Beurteilung des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen nicht aus dem Blick zu verlieren“.2

Die inneren Spannungen unter den Menschen im Jahre 1961 sind erheblich. Beispiele: Ein Mann sagt zu mir: „Wenn es noch einmal anders kommen sollte, dann werden die Laternenpfähle zwischen Potsdam und Treuenbrietzen nicht ausreichen, an denen die Roten hängen werden“.

Ich lade Kirchenpräsident Dr. Martin Niemöller nach Treuenbrietzen ein. In der Nikolaikirche hält er am 26. Juli 1961 den Vortrag „Christ und Krieg“. Ein Ladenbesitzer reagiert: „Wenn Bischof Dibelius gekommen wäre, dann hätten wir unser Geschäft zugemacht und wären in die Kirche gekommen“. Otto Dibelius war der Gegenspieler Martin Niemöllers beim Thema Teilung Deutschlands u. a.

Im Oktober 1961 werden durch einen meiner Konfirmanden Grabsteine auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof in der Jüterboger Straße umgestoßen. Der 15-jährige wird verhaftet. Ich gehe zu Bürgermeister Karl Welsch und zum Vertreter des Ministeriums für Staatssicherheit in Jüterbog. Ich sage sinngemäß: Wir Erwachsenen sollten unsere Konflikte nicht auf dem Rücken der jungen Generation austragen. Sorgen Sie bitte dafür, dass der Junge entlassen wird. – Nach einigen Tagen ist der Konfirmand frei.

Ich gehe nochmals zum Bürgermeister. Ich erinnere ihn an die Geschehnisse im April 1945 und an die Trauernden bis heute. „Was öffentlich wird, kann anders verarbeitet werden. Gestatten Sie mir, an den Grabstätten der erschossenen Deutschen immer am Totensonntag – Ewigkeitssonntag – Andachten zu halten.“3 Der Bürgermeister sagt mir diesmal klar: „Das müssen die sowjetischen Behörden entscheiden.“ – Nach einigen Tagen kommt die Genehmigung. Ab November 1961 halte ich jährlich die Andachten; ein Brauch bis heute.

An den Gräbern der Erschossenen am Triftweg steht ein Gedenkstein mit den Namen der Toten. Der Bürgermeister von 1946, Herbert Heckei, hatte ihn nach Absprache mit der sowjetischen Besatzungsmacht setzen lassen.

2. Rabbiner Riesenburger in Treuenbrietzen

Ich suche nach dem jüdischen Friedhof. Man zeigt mir ein verwildertes Stück Wiese zwischen Stadtmauer und Nieplitz. Wie ich meine, stehe ich vor den handgreiflichen Ursachen der deutschen Misere.

Ich gehe wiederum zu Bürgermeister Welsch. Ich bitte ihn, mir zu gestatten mit Jugendlichen aus Treuenbrietzen und aus der internationalen Ökumene das Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofes in einen würdigen Zustand zu versetzen, eventuell einen Gedenkstein aufzurichten. Eine Erinnerungsstätte könnte entstehen. Auf dem Gedenkstein könnte stehen: „Friede sei über Israel. Zur Erinnerung an die unter uns ermordeten Juden 1933-1945“.

Meine Vorschläge wurden abgelehnt. Es bestünde die Gefahr, dass die Texte zionistisch verstanden werden. Gleichzeitig beginnt eine Abteilung sowjetischer Soldaten, die Fläche des jüdischen Friedhofes zu säubern und zu planieren. Eine große Rasenfläche wird angelegt, aber ohne Gedenkstein. Mein Pfarrerkollege Martin Richter bringt den Soldaten belegte Brote und kommentiert: „Wir haben doch erreicht, dass am ehemaligen jüdischen Friedhof etwas getan wird.“4

Nun, nachdem Martin Richter als weiterer Pfarrer nach Treuenbrietzen gekommen ist, gehen wir gemeinsam die brennenden Fragen unserer Zeit an.
Ich lade Rabbiner Riesenburger aus Berlin ein. Er findet unsere Initiativen gut und bestätigt, dass nicht mehr benutzte jüdische Friedhöfe oftmals von deutschen Mitbürgern zu Gedenkstätten umgestaltet werden. Wir bestätigen dem Rabbiner, dass die letzte jüdische Familie im Jahre 1938 aus Treuenbrietzen vertrieben worden ist.

3. Ein unauflöslicher Komplex

Im Jahre 2013 schreibe ich in meinen Erinnerungen: „Diese Begegnung mit den trauernden Frauen im November 1959 wird für mich zum eigentlichen Einstieg in die politische Geschichte Treuenbrietzens. Viele Gespräche folgen. Mir wurden Zeitungsartikel aus dem Westen zugesteckt, die von 700 toten deutschen Zivilisten sprechen. Die Zahlen schwanken. Klar scheint zu sein, dass der SS- Mann Schröder mit seinen Schüssen auf sowjetische Soldaten nach der Kapitulation der Stadt die Vergeltung durch die sowjetische Armee ausgelöst hat. Heute lebt dieser Mann sicher im Westen (1959). Irgendjemand erzählt mir, dass SS-Schröder den Offizier der einrückenden Panzerkolonne in seiner Turmluke erschossen habe. Daraufhin wurden alle deutschen Männer im Umkreis des Berliner Platzes, dem Ort des Geschehens, erschossen.

Mir wird klar, dass hier ein fast unauflöslicher Komplex auf den Menschen einer Stadt lastet. Die Suche nach der wahren Anzahl der Erschossenen ist dabei sinnlos. Es steht die Frage, warum uns dieses Schicksal widerfahren ist. Die Russen haben Unrecht getan. Und die wollen uns jetzt beglücken.

Ich spreche mit besonnenen Gemeindegliedern, mit überzeugten Christen der jüngeren und älteren Generation … Ich beginne den Zusammenhang herzustellen zwischen Vertreibung und Ermordung der Juden durch Deutsche und den Geschehnissen bei der Eroberung der Stadt 1945 durch den Feind.5 Ich beginne zu begreifen, dass nur die eigene Umkehr (metanoia, Buße nach Luther) die Last von uns nehmen kann, die auf uns liegt. Mir scheint, dass Treuenbrietzen für Menschen ein Kristallisationspunkt für eigenes Leid, militärische Niederlagen und dem Schuldigwerden des alten (und neuen) Gegners geworden ist. öffentlich kann dieser Komplex nicht thematisiert werden. Aber was kann die christliche Gemeinde tun?“6

In den Jahren bis zu meinem Weggang aus Treuenbrietzen im Jahre 1966 lässt mich diese Frage nicht los. Gemeinsam mit meinem Kollegen Martin

  • Richter organisieren wir von 1964 bis 1965 drei Veranstaltungen. Sie sind gut besucht.
  • Am 26. April 1964 zeigen wir den Film „Das Urteil von Nürnberg“.
  • Am 10. Dezember 1964 veranstalten wir eine Buchlesung: Andre Schwarz- Bart „Der Letzte der Gerechten“.

Vom 20. Januar bis 24. Februar 1965 findet ein Gemeindeseminar statt. Einmal in der Woche mittwochs treffen sich 33 Gemeindeglieder, die sich schriftlich angemeldet haben. Das Thema: „Israel und wir“. Die Einzelthemen:

–  Juden und Christen im Altertum und Mittelalter,
–  Luther und die Juden,
–  Von Jud Süß bis Adolf Stöcker,
–  Weimar, Nazistaat und Israel,
–  Kritische Stellen des Neuen Testaments und Römer 9-11,
–  Hebräisches Denken in der christlichen Gemeinde heute.

In der Einladung zu diesem Seminar heißt es: „Viele Gemeindeglieder sind beunruhigt durch die Tatsache, dass wir von unserer Vergangenheit nicht loskommen. Die junge Generation fragt, und wir empfinden, dass die Fragen an das Fundament der Kirche rühren. Wir ahnen aber auch, dass uns durch die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Kirche und Israel neue Erkenntnisse geschenkt werden sollen, die uns helfen zum Leben des Christen in dieser Welt.“7

4. Was ist die Bekennende Kirche?

Die Bekennende Kirche war der Teil der Evangelischen Kirchen, der Schritt für Schritt dem Naziregime kritisch gegenüberstand; aus Eigeninteresse, um sich nicht selbst zu demolieren. Nur wenige Pfarrer oder Gemeindekirchenräte standen den Pfarrern bei, die aus jüdischen Familien stammten. Dietrich Bonhoeffer war der einzige namhafte Theologe, der von Anfang an „Nein“ sagte. Entweder Jesus Christus oder Adolf Hitler ist das Heil der Welt.8
Neben der BK gab es die Deutschen Christen (DC) und die Neutralen, die sich heraushelfen wollten und schwiegen.

Gab es in Treuenbrietzen die Bekennende Kirche (BK)? Nein. Die BK gab es in Schialach und Dobbrikow.

Mein Freund Pfarrer Winfried Maechler arbeitete 1935 als illegaler Vikar der Bekennenden Kirche in Schialach. Er sprach Gebete und gab Informationen an die Gemeinden weiter, die von der DC- Kirchenregierung in Brandenburg verboten worden waren. Er wurde verhaftet und im Rathaus Treuenbrietzen inhaftiert. Haben die neutralen, liberalen Pfarrer, hat Superintendent Bauer den Mund aufgemacht? Nein. Es gibt in Treuenbrietzen keine kirchliche Überlieferung von ihren christlichen Nachbarn in Schlalach.

Und auch nicht von der BK-Gemeinde in Dobbrikow und ihrem Pfarrer Heinrich Vogel. Vogel war der Vorsitzende des Rates der BK in Brandenburg. Als ich einem Kirchenältesten davon erzähle und ihn frage, ob er die Begebenheiten kenne, sagt er mit einem missbilligenden Unterton: „Ja, Heinrich Vogel tauchte in einer der Treuenbrietzener Fabriken unter, um dem Wehrdienst zu entgehen.“9 An die Ostfront schicken, das war eine passable Methode der Nazis, die Pfarrer der BK loszuwerden.

Ich kenne die Arbeitersiedlungen am Rande der Altstadt von Treuenbrietzen, außerhalb des alten Mauerrings. Was in den Fabriken von Treuenbrietzen geschah, erfahre ich erst später durch den Atheisten Hellmut Päpke und durch das Massaker an den italienischen Zwangsarbeitern, neben den Italienern arbeiteten Zwangsarbeiter aus Polen, Russland, Frankreich, Holland, der Ukraine, Litauen und Lettland in Treuenbrietzen.

Warum erzähle ich von der Bekennenden Kirche? Weil an ihr und ihrer Geschichte klar wird, welches Defizit eine klassische, konservative oder liberale Kirchengemeinde mit sich herumschleppt.

  • Sie hat kein Verhältnis zur Judenheit,
  • Sie hat kein Verhältnis zur Arbeiterklasse,
  • Sie hat in der Regel ein gutes Verhältnis zu den Tonangebenden in Staat und Gesellschaft.

Wie kann sie dann dazu helfen, den Komplex aufzulösen, der auf der Stadt Treuenbrietzen lastet?

Was lernen die Konfirmanden 1946, 1960, 1992, 2016?

Wer erzählt von der Kirche vor 1945?

Nur der kann dazu beitragen, dass die Stadtgemeinde Treuenbrietzen erzählt und darüber diskutiert, was in ihr vor 1945 geschah.

Seit Kaiser Konstantin im Jahre 325 nach Christus das spezielle Bündnis von Thron und Altar etablierte, sind Staat und Kirche auch auf lokaler Ebene eng verflochten. Deshalb tragen die christlichen Gemeinden und ihre Mitarbeiter eine hohe Verantwortung. Von ihnen hängt es entscheidend ab, ob Städte und Dörfer zu Vereinigungen von freien Bürgern und Bauern werden.

Im Jahre 1960 besorge ich mir die Chronik der Stadt Treuenbrietzen, um herauszufinden, wie lange Juden in ihr lebten: Vom 22. Juli 1356 bis zum 9. November 1938, 582 Jahre lang, eine gute Strecke im konstantinischen Zeitalter. Sie durften weder Bauern noch Handwerker werden, allenfalls Geldhändler und, kurz vor ihrer Ausrottung, Juristen, Ärzte.

Im Jahr 1961 lade ich drei junge Theologen ein, die gewillt sind, in Treuenbrietzener Industriebetrieben bzw. im Krankenhaus zu arbeiten: Jutta Liesenhoff, Bernried Schliephacke, Hartmut Krienke. Sie wollen lernen, was es heißt „arbeiten zu gehen“. Im Jahre 1962 kommt der Pfarrer Helmut Lüdecke dazu. Er wird Hilfsschlosser und später Schlossermeister in Treuenbrietzen und Ludwigsfelde. Damit öffnet sich für kurze Zeit eine neue Dimension im kirchlichen Leben Treuenbrietzens, aber noch nicht die historisch-politische Dimension der Jahre seit 1990.10

II. Deutschland einig Vaterland

Ich habe einen doppelten Kulturschock hinter mir. Von 1968 bis 1982 habe ich in volkseigenen Betrieben gearbeitet, so wie Helmut Lüdecke und die anderen. Dann wurde ich durch meine Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg (Region Ost) für drei Jahre nach Indien geschickt (1985-1988).11 Meine Themen: Der Arbeitsplatz des Menschen und die sogenannten Entwicklungsländer. Die beiden Herausforderungen unserer Tage. Für Arbeitsplatz können wir getrost Arbeitslosigkeit sagen und für Entwicklungsländer Flüchtlingswanderungen. So sind wir aktuell. Wir fragen auch hier nicht nach den Ursachen und verdrängen sie wie die Geschichte Treuenbrietzens vor 1945. Warum die Erschossenen? Warum Arbeitslosigkeit? Warum Flüchtlinge?

Im Jahre 1992 werde ich Rentner. Die letzten drei Jahre offizieller Arbeitszeit bei der Kirche erlebe ich als Pfarrer der Gemeinde Hohenbruch bei Oranienburg. Ich lerne, was die politische Wende auf dem Lande bedeutet: Keine Rückkehr zum privaten Einzelbauern, sondern die Blüte des industriellen landwirtschaftlichen Großbetriebes, die alle Dimensionen übersteigt.

Ich gehöre zur Gewerkschaft aus VEB-Zeiten, jetzt zur ÖTV/Verdi. Ich lerne die Kollegen aus Bischofferode kennen, voran den Betriebsratsvorsitzenden Gerhard Jüttemann. Nach einem vergeblichen Kampf um den Erhalt der Kaligrube Bischofferode werden wir beide am Ende des Jahres 1993 Kandidaten für die Bundestagswahl 1994. Wir kandidieren für die PDS, die Partei des demokratischen Sozialismus, die Partei des SED-Unrechts. Jüttemann ist Katholik, ich bin Protestant, beide parteilos. Eine schöne Konstellation für Gysis bunte Truppe, neben Stefan Heym, Gerhard Zwerenz, dem roten Grafen Heinrich von Einsiedeln, Kampfflieger über Stalingrad, und anderen interessanten Frauen und Männern. Dazu gehört Maritta Böttcher. Sie wird MdB für den Wahlkreis, zu dem Jüterbog und Treuenbrietzen gehören.

1. Die PDS in Treuenbrietzen 1995 – Hellmut Päpke

Warum werde ich Abgeordneter für die PDS? Ein Pfarrer für die PDS? Das ist anstößig, wenn nicht abstoßend. Rote Socken, DDR- Unrecht. Ich lebe in einer Zeit, in der die eigentlichen Sünder erkannt worden sind. Ihre Verbrechen erfüllen den gesamten Erdkreis.

Ich lese nochmals meine Bibel und stelle fest, dass sich Jesus von Nazareth zu den Sündern und Zöllnern stellt. Er isst mit ihnen an einem Tisch. Und ich stelle in den Jahren 1995-1998 fest, dass diese modernen Sünder heftig miteinander diskutieren, mehr als andere Parteien, über ihre Fehler und über die Zukunft.

Ich werde Abgeordneter für die PDS in Mecklenburg-Vorpommern, in einer Gegend mit Dörfern und Kleinstädten zwischen Ostsee und Müritz, zwischen Rostock und Greifswald; die Insel Rügen gehört dazu. Mein unmittelbarer Nachfolger in Treuenbrietzen, Pfarrer Dr. Reinhard Glöckner, wird Oberbürgermeister von Greifswald. Zum Glück behauptet er nicht, ein Bürgerrechtler in Treuenbrietzen, Niebel, Nichel oder Frohnsdorf gewesen zu sein.

Mein erstes Wahlkreisbüro in der Kleinstadt Malchin befindet sich im Keller der ehemaligen Kreisleitung der SED, eine Strafaktion? Ich frage mich, in welchen Kellern wir Christen unsere Gottesdienste abhalten müssten, wenn die Verbrechen der Christenheit gesühnt werden müssten.

2. Die unerledigte Aufgabe: Aaron Isaak

Was ich im Jahre 1960 ff. für eine unerledigte Aufgabe angesehen hatte, gewinnt im Jahre 1993 eine unverhoffte Aktualität und eine neue Nuance. In meinen Erinnerungen notiere ich:

„Im Jahre 1993 erscheint im Jüdischen Verlag (Suhrkamp) in Frankfurt am Main ein kleines Buch von Bettina Simon ‚Jiddische Sprachgeschichte’. Eingebettet in komplizierte sprachwissenschaftliche Erläuterungen stoße ich beim Durchblättern in der Buchhandlung auf das Kapitel ,Die Memoiren des Aaron Isaak aus Treuenbrietzen – die Originalfassung im Vergleich zur modernen ostjiddischen Edition.’“- Ich bin fasziniert. Das hat es gegeben? Ich lese im Stehen weiter und erfahre folgendes:

„Aaron Isaak lebte von 1730 bis 1816. Sein Vater war der einzige Jude in Treuenbrietzen. ,Früh verlor Aaron den Vater, die Familie geriet in Not, und bereits als Vierzehnjähriger musste er zum Lebensunterhalt beitragen, indem er sich als Hausierer betätigte‘. Juden ist es verboten, die Handwerke zu erlernen, die in Zünften organisiert waren. Er erlernte als Autodidakt die damalige Stempelanfertigung, das sogenannte Petschaftstechen, denn es ist frei. Mit diesem Handwerk schlägt er sich durch und kommt 1751 nach Bützow in Mecklenburg. Dort lernt er schwedische Beamte und Offiziere kennen, denn ein Teil Norddeutschlands, das benachbarte Vorpommern ist schwedisch. Im Jahre 1774 wandert er nach Stockholm aus und wird der Begründer der Jüdischen Gemeinde in Schweden. ,Aaron bewährte sich als kluger und umsichtiger Gemeindepolitiker; er war gewandt im Umgang mit den Menschen und hatte auch viele christliche Freunde …“

So schreibt Bettina Simon. Im Jahre 1802 vollendet er im Alter von 71 Jahren seine Lebenserinnerungen und stirbt 86jährig in Stockholm.

Im Jahre 1994 erscheinen die Lebenserinnerungen von Aaron Isaak in deutscher Sprache, übersetzt aus dem Jiddischen/Hebräischen von Maria und Heinrich Simon.

So hat Treuenbrietzen einen weiteren großen Sohn, neben dem protestantischen Theologen Martin Chemnitz, den Musikern Friedrich Himmel, Christoph Nichelmann, neben Carl A. Paukert.

So könnte auch der ehemalige jüdische Friedhof in Treuenbrietzen sein Denkmal bekommen; in Erinnerung an alle jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen aus sechs Jahrhunderten, an die Vertreibung der letzten Juden aus der Stadt und im Gedenken an alles Leid, das wir selbst mit der Vernichtung der europäischen Judenheit über unser Land und auch über die Stadt Treuenbrietzen gebracht haben. Wir stehen vor einer unvollendeten Aufgabe.12

3. Ein Brief an Bürgermeister Carsten Cornelius 1997

Was an den Soldatenfriedhöfen in der Jüterboger Straße besonders beeindruckend ist, ist ihre räumliche und zeitliche Zuordnung: Im weiten Hintergrund die Siegessäule für die Gefallenen des Krieges gegen Frankreich 1870-71; davor das Löwendenkmal für die toten Soldaten aus Treuenbrietzen aus dem Ersten Weltkrieg; ganz im Vordergrund der Obelisk und die Gräber der sowjetischen Gefallenen aus der Schlacht um Treuenbrietzen im April 1945.

Das Besondere der Anlage: Der sowjetische Obelisk verstellt das deutsche Siegesdenkmal. Eine starke Aussage.

Der Obelisk wird im Zuge der Neugestaltung der Gedenkstätte abgerissen. In dieser Zeit beginnt der Jugoslawienkrieg mit deutscher Beteiligung. Kein Zufall, sondern eine klare Logik. Ein Menetekel an der Wand? Wie beim Propheten Daniel?13 Der Koloss, der sich wieder erhebt, steht auf tönernen Füßen.

Im Rückblick wird oft gesagt, dass zu DDR-Zeiten das Gespräch über die Geschichte der Stadt nicht möglich war. Meine Erfahrungen habe ich versucht zu schildern. Wie aber in Zeiten einer neuen Demokratie? Wie im Jahre 1997? Wie im Jahre 2016?

Im Jahre 1997 schreibe ich einen Brief an den Bürgermeister von Treuenbrietzen, Carsten Cornelius. Ich versuche meine derzeitigen Erkenntnisse zusammenzufassen. Es ist der Versuch, meinen Beitrag für das Gespräch zu liefern.

„Sehr geehrter Herr Bürgermeister Cornelius, durch Frau Maritta Böttcher, PDS-Bundestagsabgeordnete aus Jüterbog und Abgeordnete Ihres Wahlkreises, bin ich von der Diskussion um den sowjetischen Soldatenfriedhof in Treuenbrietzen unterrichtet worden. Ich bin ebenfalls Mitglied der PDS-Bundestagsgruppe und war von 1959 bis 1966 evangelischer Pfarrer in Ihrer Stadt. Damals bin ich in vielen persönlichen Gesprächen mit der Geschichte Treuenbrietzens, besonders der Jahre 1944-1946 vertraut worden …

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, ich erwähne dies alles als Vorgeschichte meines jetzigen Anliegens. Denn es könnte sein, dass der Stadtverordnetenversammlung von Treuenbrietzen heute ein ähnlicher Irrtum mit dem Sowjetischen Soldatenfriedhof unterläuft, wie damals dem Rat der Stadt mit dem jüdischen Friedhof. An dieser Stelle erwacht mein Interesse und meine Verantwortung, obwohl ich nicht mehr Bürger Treuenbrietzens bin. Die Erinnerung bzw. das Verdrängen, die an einem Ort geschehen, strahlen aus in die gesamte Gesellschaft. Mir läge daran, da ich an dieser Stelle ein klein wenig in die Geschichte Ihrer Stadt involviert war, dass beide Botschaften, die von diesen Friedhöfen, dem ehemaligen jüdischen Friedhof und dem Sowjetischen Soldatenfriedhof, ausgehen, auch wirklich hörbar werden bzw. bleiben. Beide Gedenkstätten hängen ursächlich miteinander zusammen.

Wenn die Judenheit in Deutschland und in Europa nicht durch Deutsche vernichtet worden wäre, wären die Alliierten nicht an die Elbe gekommen, hätte die Sowjetische Armee nicht Treuenbrietzen erobert. Ich möchte Sie bitten, den Zusammenhang zu beachten, ohne dass ich weiß, inwieweit der ehemalige jüdische Friedhof entsprechend gestaltet worden ist.

Für den Sowjetischen Soldatenfriedhof würde dann meines Erachtens gelten, dass die Gräber nicht verändert werden und das Monument in der Mitte des Friedhofs seine Aussage behält, einschließlich der Aufgabe, eine Geschichte zu unterbrechen, d. h. die Sicht auf ein deutsches Siegesmal zu verstellen. Wem diese Botschaft unangenehm ist, der sollte bedenken, was geschehen ist und dass die Sowjetischen Friedhöfe in unserem Land nicht nur Mahnung, sondern auch Warnung sind.

Ich würde mich gerne mit Frau Böttcher dafür einsetzen, dass die Embleme und Schriftzeichen des bisherigen Mahnmals an einem neuen Stein erhalten bleiben, und dass dieser Stein durchaus eine Unterbrechung der Sichtweise auf die Siegessäule sein kann. So erst würde deutlich werden, dass wir Deutschen, nach allem was geschehen ist, nicht mehr das sein können, was wir einst waren, bevor Mord und Völkermord in unserer Mitte geschahen.

Deshalb wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir mitteilen würden, in welchem Zustand sich das Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofs befindet und ob in der Zwischenzeit eine Gedenktafel errichtet wurde. Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich damals vorgeschlagen, die Inschrift zu wählen:

„Friede sei über Israel – Im Gedenken an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1933- 1945“

Da sich solche schwerwiegenden Themen am besten im persönlichen Gespräch besprechen lassen, bitte ich Sie um Nachricht, wann ich Sie in Ihrem Rathaus besuchen kann.

In der Erwartung eines baldigen persönlichen Kennenlernens bin ich mit herzlichen Grüßen Ihr Willibald Jacob.14

Bürgermeister Cornelius kann meinen Bitten nicht entsprechen. Er bittet mich aber um eine Spende für die Umgestaltung des sowjetischen Soldatenfriedhofs.

4. Die nächste Generation

Projekttage am Gymnasium Treuenbrietzen

In meinem Brief von 1997 an Bürgermeister Cornelius erwähne ich mit keinem Wort die erschossenen italienischen Zwangsarbeiter, auch nicht die Zwangsarbeiter aus anderen Nationen. Erst Hellmut Päpke wird mich aufklären.

Dann bekomme ich im Jahre 2005 eine Einladung zum Gedenken überden Gräbern in Treuenbrietzen. Ich schreibe in meinen Erinnerungen:

„Im Jahre 2005 sehe ich, wie italienische Delegationen ihre von Deutschen erschossenen Landsleute ehren und sich erinnern. Ich stehe daneben. Ich sehe Walter Alborg und Hellmut Päpke. Der Bürgermeister des Jahres 2005 hat eingeladen. Kaum Treuenbrietzener Bürger und Bürgerinnen sind gekommen, fast nur Auswärtige. Ein römisch-katholischer Pfarrer aus Italien betet am Rande einer Kiesgrube, in der die Italiener erschossen wurden, der evangelische Ortspfarrer an den Gräbern der erschossenen Deutschen. Der russische Konsul, der jetzige Bürgermeister von Treuenbrietzen und andere Politiker sprechen an den Gräbern der gefallenen sowjetischen Soldaten. Niemand geht zum Ort an der alten Stadtmauer, zum ehemaligen jüdischen Friedhof. Dieser Ort liegt nur 50 Schritte entfernt von den kriegerischen Gedenkstätten.

Ich bin jetzt 73 Jahre alt. Ich frage mich: Was werden die Väter und Mütter, die Großmütter und Großväter ihren Kindern und Enkeln erzählen? Und wer wird es hören?“15

Die Zeit nach der deutschen Vereinigung im Jahre 1990 hat gezeigt, dass auch eine parlamentarische Demokratie nicht zum Gespräch führen muss. Das Trauma lastet weiter auf der Stadt Treuenbrietzen.

Im Jahre 2001 werde ich gemeinsam mit Dr. Herrmann Simon, Leiter des Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße in Berlin in das Treuenbrietzen er Gymnasium eingeladen. Lehrer und Schüler planen Projekttage „Gegen Gewalt“ an ihrer Schule. Wir sollen jeweils über unser Thema referieren, Dr. Simon über die Geschichte des Judentums, ich über Gewalterfahrungen in Indien.

Wir lernen eine Gruppe von Jugendlichen und ihre Lehrerin Katrin Päpke kennen, die die Geschichte Treuenbrietzens studieren. Diese Gruppe wird zur Partnerin aller derer, die wissen möchten, was am 23. April 1945 geschah und die weiter fragen: Wo liegen die Ursachen für das Geschehen? Die Gruppe findet Nachfolger, und in den Jahren 2015/16 sind Jugendliche aus diesem Gymnasium Mitgestalter des Films „Im märkischen Sand“.
Sie studieren auch die Bücher zu Aaron Isaak.

Am 9. November 2013 stehe ich mit einigen Berliner Freunden und einem indischen Gast auf dem jüdischen Friedhof zwischen Stadtmauer und Nieplitz. Ein kleiner Stein mit der Aufschrift „Jüdischer Friedhof ist in den Wiesenboden eingelassen. Ein erster Schritt zum Gedenken an eine unbekannte Geschichte?

Im Jahre 2015 kommen weitere internationale Gäste nach Treuenbrietzen, Pfarrer Lauri Pihlajamaa aus Finnland und Bischof Johan Dang aus Indien. Beide sind Christen der lutherischen Tradition und kommen aus Wittenberg. Lauri Pihlajamaa war im Jahre 1963 beteiligt, als wir den jüdischen Friedhof neu gestalten wollten. Johan Dang möchte wissen, wie Deutsche ihre Geschichte bewältigen. Beide diskutieren mit den Jugendlichen der Geschichtswerkstatt. Der Finne kennt die antijüdischen Stellungnahmen Martin Luthers. Der Inder kennt die Gewalttätigkeit aus seinem eigenen Land, den Hindufaschismus.

Wieder steht die Frage zwischen uns: Wo liegen die Wurzeln des Rassismus in Deutschland und die Ursachen für den deutschen Faschismus?

Der Besuch von Lauri Pihlajamaa wird flankiert von drei kenntnisreichen Männern aus Treuenbrietzen; dem Stadtarchivar Peter Rabenhorst, dem pensionierten Ingenieur Lothar Wolf und Hellmut Päpke. Auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs kommt die Frage auf: Wo sind die Grabsteine geblieben? Beim Umbau der Badeanstalt am Nieplitzufer sind zwei gut erhaltene Stücke mit hebräischer Beschriftung geborgen und von Hellmut und Katrin Päpke in das Heimatmuseum gebracht worden. Unter dem Rasen des jüdischen Friedhofs schlummert ein zugeschütteter deutscher Bunker von vor 1945, wie von L. Wolf berichtet. Zum Verfüllen des Hohlraums sind wahrscheinlich viele jüdische Grabsteine verwendet worden, meint L. Wolf. Es würde sich lohnen, eine Grabung durchzuführen, ein Stück Stadtgeschichte zu rekonstruieren (sagt der Ortschronist).

Meine Ansicht: Das Heimatmuseum könnte eine ansehnliche Abteilung zur 582-jährigen Geschichte der Juden in Treuenbrietzen aufbauen. In Stockholm ist ein gemeinsames Denkmal für Aaron Isaak und Raoul Wallenberg aufgerichtet worden. Es ehrt den Sohn Treuenbrietzens und den Retter der ungarischen Juden vor den Nazis (so L. Pihlajamaa). Beides gehört zusammen: Die Geschichte des subtilen Rassismus und die Gewaltanwendung der Faschisten. Und: Die junge Generation hat begonnen, die Zusammenhänge zu studieren und zu verstehen.

Ausblick

Der Film „Im märkischen Sand“ hat uns, wie ich glaube, weitergebracht.

Er zeigt erstmalig in der Öffentlichkeit zwei Kontrahenten: Hellmut Päpke und Wolfgang Ucksche. Der eine ist Vorsitzender des Kulturbundes, der andere Leiter des Heimatmuseums Treuenbrietzen.

Ich sage es mit meinen Worten:

Päpke steht für die Forderung nach Umkehr, Ucksche für die Entschuldigung Aller, von Tätern und Opfern; Alle waren Opfer, also muss niemand umkehren. Beide haben die Zeit vor 1945 vor Augen.

Die Stichworte Umkehr und Entschuldigung stehen für zwei Konzeptionen von Geschichte. Dies müsste ausdiskutiert werden, denn hier fällt eine Entscheidung über die Zukunft. Wer Nazis zu Opfern macht, öffnet den Neonazis den Weg zu neuem Einfluss. Hochaktuell.

Angesichts der Alternative Umkehr oder Entschuldigung bleibt eigentlich nur die Entscheidung: Ja oder Nein.

Der Film fordert zur öffentlichen Debatte heraus. Versöhnung über den Gräbern geschieht durch Entscheidung.

Das öffentliche Gespräch ist schwer. Warum? Wir sind verstrickt in eine Geschichte der Verführung. Dafür stehen die Stadtrandsiedlungen rings um Treuenbrietzen und die Siedlung Frohnsdorf. Aber auch in Berlin-Weißensee, meiner Heimat, am Rande der Lutherstadt Wittenberg und in ganz Deutschland.

Schon im Jahre 1933 wurde sehr schnell die widerständige Arbeiterklasse verhaftet, gefoltert, ermordet oder in die Vernichtungslager verbracht. Im Prenzlauer Berg hallten die Schreie der Gefolterten weithin, zur Einschüchterung aller Anderen.

Was übrig blieb, war nicht nur eine eingeschüchterte, sondern auch eine verführte Arbeiterklasse. Es wurden schöne Häuschen gebaut, nicht nur Prora auf Rügen. Diese Arbeiterklasse und ihre Nachkommen schweigen bis heute. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Ausnahmen in dem Film „Im märkischen Sand“ sind zwei alte Bürgerinnen.

Angesichts der italienischen Ehrendelegation und der jungen Filmemacher bleibt mir ein Privileg. Ich darf und muss Vorschläge machen.

  1. Das Heimatmuseum Treuenbrietzen sollte eine Abteilung „Jüdische Geschichte in Treuenbrietzen von 1356 bis 1938“ einrichten.
  2. Aaron Isaak und allen jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen bis 1938 sollte auf dem Gelände am Nieplitzufer ein Denkmal gesetzt werden, ähnlich dem in Stockholm.

Bei den jährlichen Ehrungen für die Gefallenen und Erschossenen auf drei Friedhöfen sollte auch der jüdische Friedhof begangen werden. Wie in Stockholm steht er für die Vernichtung des europäischen Judentums durch Nazideutschland. Er steht damit für eine internationale Dimension.

Für weniger ist die Seele der Stadt Treuenbrietzen nicht wiederzugewinnen. Friedhöfe sind Symbole. Symbole wollen gedeutet werden. Deutet! Gedenket!

„Gedenke der vorigen Zeit bis hierher und habt acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht…“
Buch Mose, Kap. 32 Vers 7 Die Bibel

Nachwort

Gianfranco Ceccanei brachte im Jahre 1995 die Liste der Opfer des Massakers in Nichel (nahe Treuenbrietzen) aus Italien nach Berlin. Diese Liste hatte er von Don Luigi Fraccari erhalten, den er in S. Ambrogio al Valpolicella (Verona) besucht hatte.

Don Fraccari repräsentierte am Ende des Zweiten Weltkrieges in der Reichshauptstadt Berlin den italienischen Staat mit konsularischen Vollmachten, nachdem die Angehörigen der Botschaft die Stadt im Februar 1945 fluchtartig verlassen hatten. Er war es, der sich nach der Kapitulation um seine ermordeten Landsleute in Nichel kümmerte und deren menschenwürdige Beisetzung, erst vor Ort und dann in Berlin-Zehlendorf, organisierte.

Die Liste war ein Schlüsseldokument, zum ersten Mal konnten wir die Namen der 127 Opfer lesen.

Wir fuhren nach Nichel, fragten nach dem Gedenkstein und nach einer Fahrt über einen Feldweg standen wir davor. Eine gepflegte Gedenkstätte am Rand einer Sandgrube.

Als Nächstes informierten wir das Heimatmuseum in Treuenbrietzen und übergaben die Liste. Es entwickelte sich eine Zusammenarbeit, die in eine von Treuenbrietzen finanzierte Ausstellung über die italienischen Militärinternierten mündete. Bei einem Besuch der Ausstellung stellte sich allerdings heraus, dass neben den vom Grafiker Giorgio Visintainer gestalteten Tafeln eine weitere „handgemachte“ hing. Jemand hatte die Ereignisse dargestellt, die die Rote Armee und Treuenbrietzen am 23. April 1945 betrafen. Wir waren nicht konsultiert worden, immerhin war es eine Ausstellung, in der wir als Verantwortliche für das Copyright bzw. für den Inhalt verantwortlich zeichneten.

Die Aufarbeitung der Geschichte des Massakers in Nichel ging weiter und Gianfranco Ceccanei gelang es durch seine Kontakte in Italien, Familienangehörige der Opfer zu konsultieren, und er ermittelte sogar zwei Überlebende des Massakers, Edo Magnalardo und Antonio Ceseri.

Wir nahmen Kontakt mit dem italienischen Kulturinstitut auf (die Botschaft war seinerzeit noch in Bonn) und entwickelten mit dem damaligen Bürgermeister Cornelius die Absicht, zusammen mit den italienischen Betroffenen und Vertretern aus Treuenbrietzen eine Gedenkfeier am Stein in Nichel abzuhalten. Es kamen Edo Magna- lardo mit Familie aus Chiaravalle, Antonio Ceseri mit Tochter Patricia aus Florenz, Angelo Nuccetelli mit Mutter und Schwester aus Bologna, Carmine Mancini und sein Bruder aus Rom, Rita (geborene Verdolini) und Guiseppe Colamati aus Jesi, Adriana Paccini und ihr Ehegatte aus Livorno sowie die Familie Rango aus Rom. Die italienische „communita“ aus Berlin war zahlreich vertreten, auch Bürger und Bürgerinnen aus Berlin, aber wenige aus Treuenbrietzen. Es war eine beeindruckende und würdige Gedenkfeier, mit einem römisch-katholischen Gottesdienst unter freiem Himmel, die es den italienischen Freunden ermöglichte, ihre Trauer zu zeigen.

Wir sagen „Freunde“, denn das sind wir seitdem.

Dieser Zeremonie folgten viele und es werden weitere folgen. Auf Vorschlag des Treuenbrietzener Bürgermeisters Knape wurden die Gedenkfeiern um den deutschen Friedhof in der Triftstraße und den sowjetischen Ehrenfriedhof erweitert. Aber es gab auch Fragen, besonders bei den Italienern, die sie als Gäste nur höflich zurückhaltend formulierten: Wer ist auf dem deutschen Friedhof beigesetzt? Aktive ehemalige Nationalsozialisten, Antifaschisten, unschuldige Bürgerinnen und Bürger – wer war Opfer, wer war Täter? Vielleicht sogar Vorarbeiter bzw. Vorarbeiterinnen, die in den Fabriken von Kopp und Co. Zwangsarbeiter malträtiert hatten?

Warum wurde keine Klarheit geschaffen von Seiten der Administration? Warum wurde keine Forschungsarbeit über die Ereignisse, z. B. bei der Universität Potsdam, beantragt? Wir haben diese Idee im Rathaus vorgetragen, aber es passierte nichts. Auch eine Hinweistafel am Rathaus haben wir angeregt. Es gibt ein Gutachten des Historikers Weigelt, auch er verweist auf eine notwendige wissenschaftliche Forschungsarbeit.

Das blieben die einzigen Aktivitäten unserer Zusammenarbeit mit Treuenbrietzen, denn wir spürten, dass die Bereitschaft zur Aufarbeitung der gesamten Ereignisse vom 23. April 1945 nicht in Gang kam. Es gab Gräben in der Stadt, deren Hintergründe wir nicht kannten und über die nicht alle miteinander sprachen.

Auch die Bereitschaft zur offenen Zusammenarbeit mit uns schien nicht wirklich erwünscht. Ein Beispiel: Wir bekamen von einer Angehörigen eines Opfers in Nichel aus Italien eine Transportliste mit den Namen der Italiener im Sebaldushof. Woher hatte sie diese erhalten? Aus dem Heimatmuseum. Uns hatte niemand informiert bzw. die Liste zur Forschung übergeben. Die Frage muss daraufhin erlaubt sein: welche Dokumente sind noch vorhanden, und werden uns und anderen zur Forschungsarbeit vorenthalten? Wir plädieren für eine Öffnung des Archivs im Heimatmuseum durch externe Historiker.

Die Situation scheint sich seit der Gedenkfeier im April 2016 zu verändern. Engagierte Filmschaffende, Katalin Ambrus, Nina Mair und Matthias Neumann, haben über mehrere Jahre die Geschichte des Massakers in Nichel mit der Kamera verfolgt und sie haben eine eindrucksvolle Mediendokumentation produziert (www.imidoc.net). Sie haben sich nicht gescheut, die oben dargestellten Kontroversen aufzunehmen und einer Öffentlichkeit zu präsentieren. Bei der Premiere im Berliner Kino „Arsenal“ wurden die unterschiedlichen Auffassungen zum Massaker thematisiert, aber nach der Aufführung in Treuenbrietzen war das Gespräch natürlich authentischer. Im Publikum, in dem Treuenbrietzener kaum beteiligt waren, wurde eindeutig für die offene Aufarbeitung der Geschichte plädiert. Den Filmemachern sei Dank, sie haben endlich einen Prozess in Gang gesetzt. Sowohl der Film „Im märkischen Sand“ als auch „Die Suche nach der Seele der Stadt Treuenbrietzen“ in dieser Schrift von Willibald Jacob werden helfen, diesen Prozess in Gang zu halten. Jacob war von 1959 bis 1966 evangelischer Pfarrer in der Stadt und den umliegenden Dörfern.
Wie könnte dieser Prozess aussehen?

Es gibt bereits positive Beispiele, das soll nicht verschwiegen werden. Die aktiv gestaltete Städtepartnerschaft, die wir zu Beginn unterstützt und organisiert haben, mit der italienischen Stadt Chiaravalle, der Heimatstadt von Edo Magnalardo, ist inzwischen ein fester Bestandteil im städtischen Leben, und wer mit Jugendlichen arbeitet, der leistet einen wichtigen Beitrag für die Zukunft. Das Gleiche gilt für die Geschichts-AG des Gymnasiums in Treuenbrietzen unter Leitung ihrer Lehrerin Katrin Päpke, deren Mitglieder sich in ihrer Freizeit um die Gestaltung und Erhaltung eines Gedenkortes in der Nähe des Sebaldushofes kümmern. Dieser Gedenkort muss unbedingt erhalten und gefördert werden. Das gleiche sollte am ehemaligen Standort Selterhof entstehen. Es gibt dort keinen Hinweis auf das ehemalige Lager. Das Schicksal von Alberto Paccini im Selterhof war im Rathaus Treuenbrietzen bekannt. Aber es gibt keinen Hinweis auf die Leiden der Internierten, nur technische Erklärungen der Solarstromanlage. Auch dort sollte ein Erinnerungsort entstehen.

Auch das Schicksal der jüdischen Gemeinde von Treuenbrietzen bleibt im Dunkeln. Der Bürgermeister schlug leider nicht vor, neben den erwähnten Friedhöfen auch den jüdischen zu besuchen. Die Schüler des Gymnasiums haben in Projekttagen und in einer Initiativgruppe gearbeitet, aber ihre Arbeitsergebnisse wurden nicht aufgenommen und haben im öffentlichen Raum bisher wenig bewirkt.

Wir wünschen uns, dass in Treuenbrietzen offen über die Vergangenheit seit 1933 gesprochen wird, am 24. April 2016 hat es begonnen. An einem Runden Tisch, an dem alle gesellschaftlich relevanten Gruppen und interessierte Bürger und Bürgerinnen sitzen sollten. Die Zeitzeugen sollten ihre Geschichte erzählen, bevor sie mit ihnen verschwindet. Ihre Aussagen sind für die Generationen danach wertvoller als manch einer denkt. Es geht um das Alltagsleben damals, heute interessant und in der Zukunft als Nachlass wichtig.

Bodo Förster / Gianfranco Ceccanei Autoren der Publikation „Deportati italiani a Berlino e nel Brandeburgo Italienische Deportierte in Berlin und Brandenburg 1943- 1945“

Anmerkungen

1 Willibald Jacob, Am Rand die Mitte suchen, Erinnerungen Erster Teil, Ludwigsfelde 2013 S. 264

2 Dgl. S. 265

3 Dgl. S. 266

4 Dgl. S. 268

5 Hans-Joachim Kraus, Begegnung mit dem Judentum. Das Erbe Israels und die Christenheit, Hamburg 1963

6 Willibald Jacob, Erinnerungen Erster Teil, S. 263

7 Dgl. S. 268 f.

8 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Berlin 1952

9 Dgl. S. 259 f.; Winfried Maechler, Ein Christ in den Wirren des 20. Jahrhunderts, Berlin 1991; Heinrich Vogel, Die eiserne Ration eines Christen, Berlin 1954

10 Dgl. S. 325 ff., S. 413 ff.; Friedrich-Wilhelm Katzenbach, Christentum in der Gesellschaft, 2 Bände, Hamburg 1975/76

11 Willibald Jacob, Trittsteine im Fluß – Aus der indischen Gossner Kirche, Erlangen 1992; Die volkseigene Erfahrung, Erinnerungen Zweiter Teil, Ludwigsfelde 2015

12 Willibald Jacob, Am Rand die Mitte suchen, Erinnerungen Erster Teil, Berlin 2015

13 Der Prophet Daniel, Die Bibel, Stuttgart 1981 ff.

14 Willibald Jacob, Am Rand die Mitte suchen, Erinnerungen Erster Teil, Ludwigsfelde 2013, S. 271 ff.

15 Dgl. S. 264 f.


Links

treuenbrietzenISBN 978-3-933022-88-2