Feb 032012
 

Die Kraft des Lebensrückblicks

Nach Verena Kast: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben.

Die Bedeutung unserer Freundschaften

  • Bei einem Lebensrückblick wird man sich die verschiedenen Freundschaften in Erinnerung rufen. Waren es wirklich wohlwollende, tragende Freundschaften?
  • Sich befreunden kann man sich nur mit Menschen, die sich im Laufe der Zeit als vertrauenswürdig erweisen.
  • Vertrauen ermöglicht eine gute Nähe, ein Gefühl, dass wir uns auch in geheimen Regungen diesem Menschen zeigen dürfen, dass wir uns aber auch an diesen Menschen wenden können, wenn wir in irgendeiner Weise bedürftig sind, wenn wir emotional belastende Probleme haben.
  • Bei einem Lebensrückblick mit Blick auf die Freundschaften erleben wir die Dankbarkeit für die Freundschaften, die sich ereignet und die wir dann auch sorgsam gepflegt haben und die noch existieren, falls die Freundin, der Freund nicht verstorben ist. Aber wir erleben auch Wehmut über die Freundschaften, mit denen wir nicht sorgsam umgegangen sind, oder die sich ausgeschlichen haben. Manchmal weiß man gar nicht, warum eine Freundschaft ihre Intensität verloren hat.
  • Die Kontinuität ist auch wichtig für die Erfahrung der Identität. Manchmal sind Freunde und Freundinnen unser Gedächtnis: Sie wissen besser als wir selbst, was uns in einem bestimmten Lebensabschnitt als Persönlichkeiten auszeichnete. Was uns interessierte, wie ein Schicksalsschlag auf uns gewirkt hat, wie wir eine gewisse Entscheidung getroffen haben und vieles mehr. Gemeinsam kann man an der Erinnerung arbeiten. »Weißt du noch? …« So etwas schweißt zusammen.
  • Können wir uns vorstellen, neue Freundschaften einzugehen? Wenn nicht, warum nicht?

Der Sehnsucht Raum geben

  • Die Sehnsucht ist eine gute Wegweiserin auf dem Weg zu wirklich zentralen Lebensthemen, zum eigenen Weg, zu dem, was wirklich zu uns selbst gehört, was uns unabdingbar wichtig ist.
  • Die Sehnsucht ist eine Form der Bezogenheit auf die Zukunft. Sie transzendiert das Hier und Jetzt in weitem Maße. Wir ahnen etwas, das weit in der Zukunft liegt und das zu erreichen uns das Gefühl des gelungenen Lebens vermitteln würde. Die Sehnsucht lebt von der Imagination. In der Sehnsucht zeigen sich unsere Entwicklungsmöglichkeiten, unsere Potentiale, aber auch einfach, was noch aussteht oder ansteht, was fehlt zu einem Leben, das uns ganz und sinnvoll erscheint.
  • Die Sehnsucht ist ein Suchen und Fragen nach etwas, das ganz erfüllt. Sie schlägt eine Brücke vom noch nicht ganz erfüllten Hier und Jetzt zu einem als erfüllt gedachten »Später«. Wir streben nach Sinnerfahrung, Liebe, Freiheit, Geborgenheit, Intensität, nach Verbundenheit im weitesten Sinne.
  • Sehnsüchte zeigen sich als konkrete Wünsche. In diesem Begehren kommen uns unsere Entwicklungsmöglichkeiten entgegen, die wir dann in der äußeren Welt realisieren und die unser Leben verändern und bereichern und damit auch unsere Innenwelt.
  • Wonach sehnen wir uns? Was haben wir schon immer geopfert und bereuen es? Woran kann man diese Sehnsucht festmachen? Das leidenschaftliche Interesse an dem, woran sich unsere Sehnsucht festmacht, gibt Schub und bewirkt, dass die Lebensthemen im Laufe der Zeit konkret verwirklicht werden.

Religiöse und spirituelle Aspekte unserer Biografie

  • Ein wichtiger Aspekt jedes Lebensrückblicks ist die religiöse oder spirituelle Entwicklung, die man durchmachte, die Brüche darin und die Wandlungen. Wie war unsere religiöse Sozialisierung, oder die Erfahrung, dass wir nicht religiös sozialisiert worden sind, also anders waren als die anderen? Wie haben wir als Kind die »religiösen Gefühle« erlebt, wie haben wir sie ausgedrückt?
  • Mit der Ablösung von den Eltern wird oft auch der Kinderglaube, den wir mit uns tragen, zur Disposition gestellt. Es setzt eine neue Suche ein nach dem, was für uns »Gott« sein könnte. Das ist nicht etwas, das man findet, sondern etwas, das man immer wieder neu sucht. Es werden nicht nur die Eltern hinterfragt, sondern auch die religiösen Überzeugungen. Diese werden aber im Laufe des Lebens immer wieder hinterfragt, bezweifelt und auch verändert.
  • Spiritualität kann sich zeigen als Sehnsucht nach Erfahrungen von Einheit mit sich selbst, mit der Natur, mit der Umwelt, mit der Mitwelt. Sie zeigt sich im aktuellen Leben, mit dem aktuellen Leib, den Freuden und Leiden, die damit verbunden sind. Sie ist als Sehnsucht nach Sinn zu verstehen, nach Lebensfülle, nach Lebendigkeit. Sie zeichnet sich durch eine große Offenheit zur Außen- und zur Innenwelt aus: Bekennen statt Glauben, Handeln statt Hoffen, Liebe statt Furcht oder Unterwerfung.
  • Letztlich ist es für jeden Menschen interessant zu wissen, worin seine religiösen Überzeugungen wurzeln, wie sie sich verändert haben, und auch, wo das Gottesbild der frühen Kindheit geblieben ist. Wo ist die Hingabe geblieben, die damals so wunderschön war? Leben wir sie in einem anderen Lebensbereich? Oder haben wir sie verloren? Wo ist die Leidenschaft, wo die Geborgenheit geblieben? Gibt es Rituale, auf die ich in schweren Zeiten zurückgreife? Oder die ich dann schmerzlich vermisse? Gibt es überhaupt noch die Sehnsucht nach Spiritualität – oder gibt es nur noch die Materie? Und: Was verstehe ich unter Spiritualität? Verändert die Nähe zum Tod die Weltanschauung? Wenn ja, wie?

Mut zum Leben – Wie das Sich-Erinnern gut tut

Von Marina Plith

In ihrem neuen Buch widmet sich die schweizerische Psychotherapeutin Verena Kast dem Stichwort “Lebensrückblick”. Sie will dabei deutlich machen, wie wichtig es ist, gelebtes Leben mit seinem ganzen Reichtum zu würdigen und dabei keinerlei Erfahrungen auszusparen, auch nicht die des Scheiterns oder des In-die-Irre-Gehens. Wer nüchtern und respektvoll mit seiner Biographie umgeht, erhält nach Kast die Chance, Pfeiler der eigenen Identität (wieder) zu entdecken, darzustellen und so Selbstvergewisserung zu erlangen. Lebensrückblicke haben nicht zuletzt deshalb eine dem Leben dienliche, letztlich therapeutische Wirkung. Sie können Mut zum Leben machen und für die letzte Lebensphase erzeugen – beides unabhängig davon, ob sie als “Lebensrückblickstherapien” innerhalb eines genuin therapeutischen Settings erfolgen oder als “nachdenkliches Sammeln von Erinnerungen” im Alltag.

Einen besonderen Stellenwert in Kasts Publikation besitzen die Ausführungen zur narrativen Biographie. Sie vergegenwärtigen mit Hilfe gesprochener Beispiele die Tatsache, dass Lebensgeschichte durch Erzählen entwickelt und gestaltet wird und dass sie ebenso von Erinnerungen an Früheres lebt wie von Vorstellungen, die in die Zukunft weisen.

Dabei werden bestimmte Erzählmuster voneinander unterschieden, die Lebensgeschichte positiv oder negativ konnotieren: Wer in erster Linie “(Er-)Lösungsgeschichten” erzählt, produziert eine “Freudenbiographie”. In ihr kommen vor allem erinnerte Glückserfahrungen und Dankbarkeitsgefühle zum Tragen. Wer dagegen auf schmerzliche “Erinnerungsnester” eingeht, bringt “Kontaminationsgeschichten” hervor. Sie rücken immer wieder neu Bedrängendes und Bedrückendes in den Mittelpunkt und reduzieren auf diese Weise Lebensenergien.

Um Letzteres weitestgehend auszuschließen, erscheint es Kast sinnvoll, nach “Abrufsituationen für eigene Erinnerungen” zu suchen, wie Elternworte, Lebensmottos oder Metaphern, die bestimmte Bildfelder erschließen und aufbauend und stärkend wirken. Auf diese Weise können Geschichten erzählt werden, mit deren Hilfe Menschen gut und mitunter sogar besser leben als bisher. Aus “negativer Kontamination” wird so eine “positive Selbstansteckung”, die lebensförderlich wirkt.

Die damit verbundene Wandlung kann auch bei der Deutung von Träumen als “inneren Netzwerken” helfen. Sie bietet unter Umständen eine Basis dafür, grundsätzlich vorhandene Entwicklungsmöglichkeiten neu zu entdecken oder sich ihrer zu erinnern. Wo das der Fall ist, kann eine “traumhaft erschienene” Hoffnung auf Veränderung wirklich werden.

Dies betonend versäumt Kast allerdings nicht den Hinweis, dass es in zahlreichen (Er-)Lebenskontexten vielfältige “Entdeckungs- oder Erinnerungshemmnisse” gibt, die Wandlung und Veränderung erschweren. Sie nennt durch Beschämung hervorgerufene “Schamgefühle” und “Schamabwehr”, die sich durch Schamlosigkeit oder eine übermäßige (vermeintliche) Schamakzeptanz zeigt, sowie “Perfektionismus” als Herausforderung zur Schattenexistenz und “Schuldgefühle”, die mit Verdrängung und Projektion einhergehen. Wo sich diese oder ähnliche Störungen ausbreiten, kann eine einfache, selbstgesteuerte Alltagserinnerungsarbeit – wenn überhaupt – nur noch bedingt helfen. Erforderlich werden stattdessen komplexe therapeutische Maßnahmen, wie sie die von Kast entwickelte Lebensrückblickstherapie für ältere Menschen vorsieht.

Dass zu dieser am Ende des neuen Buches nur “Kernüberlegungen” und ein paar kurze Praxisbeispiele erwähnt werden, kann man kritisieren.

Das Schlusskapitel kann dagegen als eine im wahrsten Sinne des Wortes “weiterführende” Beigabe angesehen werden, die Lust auf Mehr hervorrufen soll und auch kann. Es bereichert als solche die vorhergehenden Ausführungen, die auch nicht psychologisch und therapeutisch Geschulten verständlich und anschaulich vermitteln: Erinnerung gehört zum Reichtum menschlichen Lebens und kann dazu beitragen, Lebensgeschichte(n) abzurunden und so zu bereichern.

Verena Kast: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben. Kreuz Verlag, Freiburg im Breisgau 2010, 180 Seiten, Euro 18,95.


Quelle: zeitzeichen, Februar 2011, Seite 68/9

 

  One Response to “Balance in meinem Leben”

  1. Dear Christoph Gäbler, dear Verena Kast,

    dies ist sehr interessant und hilflich; wenn ich die Zeit hätte, würde ich mich um die englische Übersetzung kümmern, aber wenn ich nicht im Klassenzimmer bin, muss ich dann an meinem Schreibtisch korriegieren, und wenn ich das Geld hätte, würde ich gerne zu dem Treffen kommen, aber so viel habe ich leider nicht. Irgenwann wird es leichter werden, aber das dauert noch ein dutzen Jahre.

    Der Kontakt ist mir aber sehr wichtig. Ich möchte nicht nur über die Vergangenheit sondern auch über unsere Zeit auf der Höhe bleiben. Vielen Dank für Ihre Arbeit.

    Yours,
    Peter Denimal
    ÖJD 1982-1997
    peter.denimal@univ-lille2.fr