Feb 012012
 

Demokratie ade?

Von Dirk Schümer

Auf dem Kontinent der Volkssouveränität hat die Epoche der Postdemokratie längst begonnen: Viele Staaten werden faktisch bereits von den Kassenprüfern der Banken regiert, egal, wen die Menschen wählen möchten. Europa ist der Kontinent der Demokratie. Das feierliche Selbstbewusstsein, das von dieser Überzeugung ausgeht, gehört unverbrüchlich zum europäischen Projekt. Der Wohlstand wurde in soliden Demokratien erwirtschaftet. Und die Anziehungskraft der Volkssouveränität im Westen – nicht nur der Reichtum – hat den Zusammenbruch des sowjetischen Imperialismus nach 1989 erst herbeigeführt. Doch die Zeiten ändern sich: Ein gutes halbes Jahrhundert nach der Formierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit Hilfe der Römischen Verträge und gut zwanzig Jahre nach dem triumphalen Beitritt junger Demokratien wie Polen, Ungarn, Tschechien, Rumänien befindet sich der Kontinent in einer schweren Verfassungskrise. Dass die mangelnde Legitimation ihrer politischen Entscheidungen unter dem Deckmantel einer anderen, nämlich einer staatlichen Konkursverschleppungskrise verschleiert wird, macht die Lage nicht gerade angenehmer: Das Projekt Europa als friedlicher Zusammenschluss unabhängiger Nationen ist gerade dabei, sich abzuschaffen. Es genügt ein Blick in Stammländer der Demokratie. So haben Griechenland und Italien demokratische Regierungen, doch die Ministerpräsidenten gehören zu keiner Partei, haben keinen Wahlkampf geführt, haben auch im Amt nicht vor, politische Bewegungen zu bilden und damit je um die Zustimmung der Bevölkerung zu werben. Es handelt sich um bloße Notstandsverwaltungen, die Reformen beschließen, Einsparungen durchsetzen, Personalentscheidungen treffen, zu denen über viele Jahre die demokratisch gewählten Regierungen der Parteien nicht fähig waren. Es ist eine bittere Ironie, wenn der griechische Finanzminister Venizelos erklärt, vor April könnten keine Wahlen stattfinden, denn vorher müsse die neue Expertenregierung noch die wichtigsten Reformen einführen. Worüber sollte das Volk, das unter Perikles die Demokratie erfand, denn abstimmen, wenn nicht über seine Schicksalsfragen?

Warum sich überhaupt einmischen?

Die Klasse der Politiker, die mit Klientelismus und Stimmenkauf ihre Länder an den Rand des Bankrotts geführt haben, ist „von den Märkten“ in die Wüste geschickt worden. Über Jahre hat man beispielsweise in Italien über frühe Rentenzahlungen, grassierenden Steuerbetrug, starre Gewerbeordnungen debattiert. Nun wird die durchaus vernünftige Reorganisation des maroden Systems ohne Debatten, ohne Wahlkämpfe, ohne Verantwortlichkeit der Zuständigen von Politikfremden in wenigen Tagen durch die Instanzen gepeitscht. Die wenig verheißungsvolle Botschaft: Die Parteiendemokratie übernimmt das Ruder erst, wenn die nötige Arbeit getan ist. Ist es ein Wunder, wenn sich immer mehr Menschen fragen, wozu sie sich in politische Debatten überhaupt einmischen sollten? Warum sie auf ideologische oder konfessionelle Schattierungen achten sollen, wenn am Schluss ein Bankier aus dem Nichts kommt, um die Gelder der auch von Bankiers verursachten Finanznot einzutreiben? Das schlimme Wort von der „Schwatzbude“ der Parlamente kam um 1930 auf, und wir wissen, wie es dann weiterging. Doch nicht nur die Schuldenfalle, auch die selbstzufriedene Gier der Parlamentarier (wie in Italien) oder die strukturelle Zerstrittenheit der Parteien (wie in Belgien) haben die Demokratie in manchen Ländern bereits an den Abgrund geführt. In Belgien brauchte man nach einer Volkswahl fast zwei Jahre, um aus diversen Wahlverlierern und Klientelisten eine neue Regierung zu formen. Während dieser 541 Tage führte die Administration das zerrissene Land mehr als achtbar. Jeder Politiker mit Anstand muss sich nach so einem Debakel eigentlich fragen, ob nicht sein ganzer Berufsstand abgeschafft werden könnte, ohne dass es irgendjemand mitbekäme. Besinnungslos selbstverliebte Volksvertreter wie die griechischen Parteistrategen à la Antonis Samaras, die noch am Abgrund des Bankrotts die alten Intrigen und Erpressungen durchspielen, erinnern fatal an den Comic „Asterix auf Korsika“. Dort erklärt der Inselhäuptling, wie man dortzulande die Chefs aussucht: „Wir werfen unsere Wahlzettel in eine Urne. Dann werfen wir die Urne ins Meer. Dann machen wir eine Prügelei, und der Stärkste wird Chef.“

Die Kapitulation der politischen Klasse spiegelt genau das Gegenteil der strategischen Ziele wider, die ursprünglich mit dem – notabene politischen – Projekt Euro verknüpft waren. Zu unendlich fernen Zeiten, da der deutsche Finanzminister noch von der SPD gestellt wurde und Oskar Lafontaine hieß, rechtfertigte der den Euro mit der Aussicht, nur mit einer gemeinsamen Währung in einem riesigen Wirtschaftsraum könne man die Spekulationen und Erpressungen der Finanzmärkte zügeln. Nun ist es genau umgekehrt gekommen: Die Finanzmärkte regeln das politische System im Euroraum nach Belieben. Es liegt auf der Hand, dass sich die anonymen Analysten der „Troika“ oder der Europäischen Zentralbank, schon gar die Börsianer von gesellschaftlichen Fragen, Parteipolitik oder demokratischer Fundierung ihres Tuns nicht leiten lassen. Sie sind Buchhalter, oder Gewinnmaximierer. Und Staaten wie Irland, Portugal, Spanien, Italien, Slowenien und Griechenland werden de facto bereits von diesen Kassenprüfern der Banken regiert, egal, wen die Menschen wählen möchten.

Welche Folgen die europäische Wirtschaftsregierung – in Wahrheit eine hektische Bettel- und Ausverkaufshysterie – für das Ansehen des europäischen Projekts, für die Glaubwürdigkeit der Demokratie an sich haben wird, das ist nicht pessimistisch genug abzuschätzen. Wenn sogar beim vermeintlichen Kassenprimus Deutschland die Notverordnungen aus Brüssel über Nacht im Finanzministerium eintrudeln, um dann samt Billiardenhaftungen morgens besinnungslos von einem überrumpelten Parlament abgesegnet zu werden, dann kann man das beim besten Willen nicht mehr demokratische Entscheidungsfindung nennen. Jahrelang mag ein wackerer Volksvertreter für Ökostrom oder Milchsubvention, Pendlerpauschale oder Krippenplätze gestritten und dicke Bretter gebohrt haben, um dann zuzusehen, wie ein Vieltausendfaches der fraglichen Summen im Handstreich aus der Kasse gegriffen wird. Müssten sich nicht alle Abgeordneten von diesem ökonomischen Putsch entwürdigt fühlen?

Die Anzahl der Menschen, die weder mehr wählen noch politische Debatten verfolgen, ist in Italien oder Griechenland derzeit noch nicht gestiegen; man will schließlich wissen, was mit dem Ersparten oder dem Arbeitsplatz geschieht. In gebeutelten Nationen ohne demokratische Tradition wie Ungarn oder Slowenien sieht das viel verheerender aus. Wie könnte ein beliebiger Parlamentarier auch einem slowakischen Rentner erklären, dass er am Existenzminimum sparen soll, um die viel reicheren Griechen zu finanzieren? Können undemokratisch ins Amt gehievte Brüsseler Kommissare mit noch so guten Argumenten dem ungarischen, demokratisch gewählten Premierminister Orban Verfassungsbruch vorwerfen?

Über Jahre schwelte in und um Brüssel die Debatte um die mangelnde Legitimation der europäischen Entscheidungsträger, die von den nationalen Regierungen kooptiert werden, um dann wieder von oben nationales Recht außer Kraft zu setzen. Nur mit äußerster Rabulistik konnte das deutsche Verfassungsgericht diese merkwürdige Rechtssetzung durchwinken. Aber die „demokratische Lücke“ sollte ja in einem behutsamen Verfassungsprozess geschlossen werden. Irgendwann – so die Vision – würde das Europäische Parlament eine europäische Regierung, einen Präsidenten gar wählen und kontrollieren, wohingegen die nationalen Vertretungen als eine Art Landtage den Föderalismus auf der nächst unteren Ebene fortsetzen würden: Im Geist des amerikanischen Verfassungsvaters James Madison würde sich schließlich ein „checks and balances“ autonomer und wehrhafter Verfassungsorgane im europäischen Bundesstaat herausbilden.

Bürger wenden sich mit Grausen ab

„Das beste Projekt, das die Menschheit jemals hatte“ nannte der überzeugte Europäer Mario Monti jüngst die EU. Und es gibt keinen Zweifel, dass bedrängte Reparaturarbeiter dieses Projekts wie Angela Merkel, Jose Manuel Barroso e tutti quanti das nicht anders sehen und keineswegs als machtgeile Zyniker agieren möchten. Recht haben sie, wenn sie ausrufen, in der gegenwärtigen Krise benötige die Politik nicht weniger, sondern viel mehr Europa. Doch wie soll die transnationale Ordnung denn legitim zustande kommen, wenn sie schon bei vollen Kassen im Stapellauf hängenblieb und sich nun immer mehr Bürger mit Grausen abwenden? Die derzeit einzige realistische Möglichkeit, nämlich per Ukas den vernünftigen Superstaat mit zentraler Steuerbehörde, Bank und generalbevollmächtigten Elitebeamten durchzupeitschen, wäre der Gnadenstoß für Europa.

Die demokratische Lücke war immer schon die größte Gefahr der EU. Statt sie zu schließen und den Kontinent gegenüber dem enthemmten, inhumanen Staatskapitalismus in China und Russland humanistisch zu legitimieren, übernehmen EU-Kommission und Zentralbank jetzt eine Rolle, wie sie in China das Zentralkomitee der kommunistischen Partei ausfüllt. Wenn sich nichts ändert, erleben wir wieder einmal die Implosion des so fragilen Unterfangens namens Demokratie. Was nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs würdig und klug begonnen hatte, um in einem Bund demokratischer Nationen den ideologischen und chauvinistischen Eigennutz sowie das Kapital an die Leine zu legen, würde dann von genau den Kräften niedergerungen, die das Projekt hatte bannen sollen. Europa – das Museum der Demokratie?

F.A.Z. vom 30.01.2012