Okt 042012
 

Bremens idealer Stadtphilosoph

Leopold Kohr und Bremen: Das passt perfekt zusammen. Der österreichische Philosoph und Nationalökonom beschäftigte sich mit der Frage nach dem rechten Maß. Sein Credo lautete, dass Größe ein Problem und keine Lösung ist. Welcher Bremer würde da widersprechen? Er hat inzwischen eine Menge Anhänger in der Stadt. Das „Haus der Wissenschaft“ zeigt eine Ausstellung über Kohrs Leben und Werk.

Von Theo Schlüter

Dass Bremen Leopold Kohr entdeckt hat, ist nicht erstaunlich. Erstaunlich ist eher, dass Bremen ihn so spät entdeckt hat. „Denn eigentlich“, sagt Bengt Beutler, „wäre dieser Mann, der zeitlebens für überschaubare wirtschaftliche und politische Einheiten gestritten hat, ein idealer Bremer Stadtphilosoph gewesen.“ Beutler, ein pensionierter Richter, ist Vorsitzender der Philosophischen Gesellschaft Bremen. Aber Kohr gelesen hat auch er erst vor ein paar Jahren, während ihm Kohrs Freund und Schüler Ernst Friedrich Schumacher, Autor des Buches „Small is Beauitful“, selbstverständlich bekannt war.

Wahrscheinlich war der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Dieter Senghaas ohnehin lange Zeit einer von ganz wenigen Bremern, die mit dem Namen Kohr etwas anfangen konnten. Er hatte bereits 1965 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Rezension über Kohrs Buch „Weniger Staat – Gegen Übergriffe der Obrigkeit“ geschrieben und darin besonders Kohrs Einsatz für dezentrale und föderalistische Staatsstrukturen gewürdigt. Aber zu der Zeit war Senghaas noch nicht einmal ein Bremer, er kam nämlich erst 1978 von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung an die Universität der Hansestadt.

Bremen entdeckt Kohr

Deswegen muss wohl als der eigentliche Bremer Kohr-Entdecker der Arzt Heinz Beckmann gelten. Zum ersten Mal aufmerksam geworden war er auf den Philosophen, als dieser 1983 den Alternativen Nobelpreis erhielt. Beckmann las daraufhin Kohrs Buch Das Ende der Großen und unterstrich gleich im Vorwort eine Passage, die ihn als Mediziner besonders beeindruckte; „Paracelsus, der Gründer der modernen Medizin, hat gesagt: Alles ist Gift. Ausschlaggebend ist nur die Dosis. Das gilt für Heilpflanzen, aber auch für Atome, für Heusciarecken und Nationen. Was die para-celsische Mengengrenze übersteigt, macht Medikamente zu Gift, das Gute zum Schlechten, Demokraten zu Tyrannen, Friedvolle zu Kriegshetzern, Wachstum zu Krebs.“

Bei jedem Wirtshausgespräch mit Kollegen und Freunden kam Beckmann fortan irgendwann auf Leopold Kohr zu sprechen und erreichte damit im Kiemen etwas, was im Großen gar nicht möglich wäre: eine engagierte und gleichzeitig lustvolle Auseinandersetzung am Biertisch über philosophische Fragen.

Leopold Kohr hätte sicher seine helle Freude daran gehabt. Denn das Wirtshaus spielt in seiner Staatsphilosophie, die er selbst als „Geselligkeitstheorie“ bezeichnet, eine wichtige Rolle. Eine Sammlung von Aufsätzen über die Aufgaben der Universitäten und deren ideale Größe, die Ideen der akademischen Freiheit und universitärer Demokratie veröffentlichte er unter dem Titel „Das akademische Wirtshaus„.

Gelegentlich lud er seine Studenten sogar zu Lehrveranstaltungen in ein Wirtshaus ein, das für ihn eine ideale „Denk-Stätte“ war – mit einem Diskussionsklima fernab von jeglichem elitären Habitus. „Wesentlich dabei“, schreibt der österreichische Berufsdiplomat Michael Breisky in einem neuen Buch über Kohr („Groß ist ungeschickt“), „ist die gleichmachende Ebene des Wirtshaustisches. Denn wo man einen Langweiler dadurch strafen kann, dass man sich an einen anderen Tisch setzt, sollten auch die hohlköpfigsten Professoren merken, dass an ihrer Argumentation etwas nicht stimmt. Akademische und andere Wirtshäuser sind also der Ort, wo Gedanken durch Konfrontierung mit den Überlegungen fairer Gesprächspartner einen letztlich konstruktiven Entwicklungs-Prozess erfahren können.“

Den Wirt verglich Kohr gern mit einer Regierung, wie sie aus seiner Sicht zu sein hätte: „Der Wirt dient den Menschen. Der Bürger ist kein Mitarbeiter – kein Tellerspüler oder Kellner – der Regierung, sondern er sitzt im Aufsichtsrat und ist Nutznießer.“

Für Dieter Senghaas stand Kohr mit dieser „Tavernenphilosophie“ immerhin in der Tradition der großen liberalen Denker des 19. Jahrhunderts. „Wie Tocqueville glaubt auch Kohr, dass der Föderalismus und die Dezentralisation, gerade heute wieder, als eine Chance für eine das Glück des Menschen in den Mittelpunkt stellende demokratische Herrschaffs- und Lebensform angesehen werden müssten.“

Kohr selbst nannte in einem Aufsatz den griechischen Phüosophen Protagoras als Vorbild. Besonders dessen Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ hatte es ihm angetan. Lange Zeit sei ihm dessen Bedeutung nicht klar gewesen, „bis mir bewusst wurde, dass der Akzent auf ‚Mensch‘ ruht.“ Daraus resultierte sein leidenschaftlicher Einsatz für die Freiheit des Individuums gegenüber dem Staat, seine Forderung einer menschengerechten Stadt- und Verkehrsplanung und sein Plädoyer für den Menschen angepasste Technologien -gerade auch in den Entwicklungsländern.

Es geht um den Menschen

„Alles was falsch ist, ist zu groß“, ist einer der Kohrschen Kernsätze. Er war überzeugt, dass sich Demokratie nur in kleinen Einheiten entfalten könne. Weshalb er es für grundverkehrt hielt, wirtschaftlich und politisch immer größere Einheiten anzustreben. Im Jahr 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, als andere einen dauerhaften Frieden nur durch eine Weltregierung für möglich hielten, plädierte er in der New Yorker Zeitschrift „The Commonweal“ unter der provozierenden Überschrift „Disunion now“ („Teilung jetzt“) für das genaue Gegenteil – für eine Teilung der großen Staaten nach dem Vorbild der Schweizer Kantone: „Der Bösewicht der Geschichte ist weder der Deutsche, noch der Amerikaner, noch der Russe, noch der Engländer. Der Bösewicht ist der zu mächtig Gewordene: der Großdeutsche, der Großbrite, der Großrusse, der Großnarr.“

Anfang der 1950er Jahre prognostizierte Kohr dann eine Auseinandersetzung zwischen den Großmächten, die sich zunächst auf einen Zweikampf der USA gegen das sowjetische Russland reduzieren werde, bei dem die USA aber letztlich siegreich bleiben würden. Für den Diplomaten Breisky war das eine „weltpolitische Vision“, die ihm heute angesichts des Irak-Krieges schon „geradezu unheimlich“ vorkommt.

Breisky schreibt: „Kohr, der die USA liebte und ihre Staatsbürgerschaft angenommen hatte, sah diesem Moment  edoch mit größter Sorge entgegen. Er fürchtete, dass die USA dann dem ‚täuschenden Mythos des Präventivkrieges‘ erliegen würde; sie würde dann über schwache Gegner herfallen, nur mit dem feierlich erklärten Ziel, deren Aggression zu verhindern.“

Das Wirtshaus als Welt

Zurück ins Wirtshaus nach Bremen: Die „Kohr-Brüder“ um den Mediziner Heinz Beckmann waren besonders von der Verachtung jeglichen Untertanengeistes des „alten Leopold“, wie sie ihn inzwischen nannten, begeistert. Und von seinem spannenden Leben, in dem er Theorie und Praxis immer wieder zu vereinen versucht hatte. Nach einem Studium in Innsbruck und an der London School of Economics ging der junge Salzburger mit 27 Jahren nach Spanien. Als Berichterstatter für verschiedene Zeitungen im spanischen Bürgerkrieg teilte er sich ein Büro mit Ernest Hemingway.

Mit dem Kaiser-Sohn Otto von Habsburg gründete er im Frühjahr 1938 in Paris eine Widerstandsgruppe gegen Hitler; dann floh er vor den Nazis nach Amerika – übrigens mit dem Dampfer Bremen -, arbeitete zunächst in einem Bergwerk in Kanada, bevor er erst in New Jersey und später in Puerto Rico eine Professur erhielt. In den 60er Jahren verhalf er der kleinen Karibik-Insel Anguilla zu einer größeren Autonomie vom britischen Mutterland. Nach seiner Emeritierung wurde er dann von Freunden nach Wales eingeladen und unterstützte dort erfolgreich eine Initiative, die für ein walisisches Regionalparlament kämpfte.

Bei einer derart bewegten Biografie wundert es kaum noch, dass er ausgerechnet von Wales aus wieder intensive Kontakte zu seiner Salzburger Heimat bekam. Dort nämlich stieß der Salzburger Kulturmanager Alfred Winter eher durch Zufall auf ihn, als er 1980 eine große Ausstellung über die Kelten vorbereitete. Mit Kohrs Hilfe wurde sie sogar ökonomisch ein Erfolg. Eine Ausstellung, an deren Ende kein Defizit, sondern ein Uberschuss in der Kasse war – eher eine Seltenheit.

Alfred Winter sei ein Freund geworden, der sein Leben noch einmal verändert habe, schrieb Kohr später. Wohl deswegen, weil der ihn motiviert hatte, wieder in seine österreichische Heimat zurückzukehren. Vor dem geplanten Umzug starb Kohr jedoch 1994 im englischen Gloucester, nahe der Grenze zu Wales. In Salzburg wird er heute geradezu verehrt, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er dort auf seine alten Tage noch einmal einen subversiven Einfluss auf die Gründung des Vereins Tauriska nahm, der wegen seiner ökologischen Ausrichtung anfangs recht skeptisch beobachtet wurde.

Inzwischen wird in den Kaffeehäusern der Mozartstadt stolz erzählt, dass das Ehepaar Vötter dank der Kohrschen Ideen in der Region Hohe Tauern die Zahl der regional produzierten Käsesorten wieder von drei auf vierzig erhöht hat. An der Salzburger Universität gibt es heute sogar ein Leopold Kohr-Forschungszentrum; und im vergangenen Jahr wurde der 100. Geburtstag des „Philosophen der Kleinheit“ im Salzburger Land fast unangemessen groß gefeiert.

Der Held der Salzburger

Ja – und in Bremen war die „Kohr-Gemeinde“ unterdessen auch nicht tatenlos. Vor vier Jahren organisierte sie mit der Philosophischen Gesellschaft und dem Salzburger Wissenschaftler Ewald Hiebl eine Diskussion im Bremer Presse-Club, aus der auch Bürgermeister Jens Böhrnsen als Kohr-Fan wieder herausging. Und im vergangenen Jahr infütrierte sie selbst den Vorstand der Sparkasse, sodass dieser die „Lehre vom rechten Maß“ zum Thema eines „Dialogs am Brill“ machte.

„Es kommt nicht oft vor“, schrieb Annemarie Struß-von Poellnitz im August 2009 im Weser-Kurier, „dass in der Sparkasse Bremen über einen Anarchisten diskutiert wird. Leopold Kohr hat es geschafft.“ Redner dort war Alfred Winter, der kurz nach seiner Kelten-Ausstellung zum „Beauftragten für kulturelle Sonderprojekte des Landes Salzburg“ avanciert war.

So also kam Leopold Kohr nach Bremen: Der Anarchist (Lexikon), der Vordenker der Umweltbewegung (auch Lexikon), der erste humanistische Okonomieprofessor (Sambias Ex-Präsident Kenneth Kaunda), ein Prophet (New York Times 1992), ein Mann von beispielhafter Demut (der Theologe und Philosoph Ivan Illich). Und schließlich noch: Ganz bestimmt ein großer Denker, aber ebenso auch ein liebenswerter Kauz {Alfred Winter, der ihn von allen Zitierten sicher am besten kannte).

Aber auch ein prominenter Kritiker Kohrs sollte noch erwähnt werden: Österreichs ehemaliger Bundeskanzler Bruno Kreisky, persönlich mit dem Philosophen durchaus freundschaftlich verbunden, nannte ihn mal in einer Diskussion einen „Sozialromantiker“. Was der ihm jedoch überhaupt nicht übel nahm.

Seine Antwort darauf: „Wir kommen aus Staub, wir enden im Staub. Und zwischendurch haben wir eine Menge Auslagen und Kosten. Für den Rationalisten ergibt das überhaupt keinen Sinn. Nur ein Romantiker sieht etwas in dem Regenbogen, der den Anfang mit dem Ende verbindet.“

Weser-Kurier/ Kurier am Sonntag, 4. Juli 2010

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